Duell
Reykjavík 1972, der russische Schachweltmeister Boris Spasski tritt mitten im Kalten Krieg gegen seinen amerikanischen Herausforderer Bobby Fischer an. In der aufgeheizten Stimmung wird ein Jugendlicher in einem Reykjavíker Kino brutal...
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Produktinformationen zu „Duell “
Reykjavík 1972, der russische Schachweltmeister Boris Spasski tritt mitten im Kalten Krieg gegen seinen amerikanischen Herausforderer Bobby Fischer an. In der aufgeheizten Stimmung wird ein Jugendlicher in einem Reykjavíker Kino brutal erschlagen. Warum bloß ermordet jemand einen Fünfzehnjährigen? Der Junge schien doch nur die Tonspur eines Films aufnehmen zu wollen ... Der aus den bisherigen Indriðason-Krimis bekannte Mentor von Kommissar Erlendur, Marian Briem, ermittelt in einem brisanten Fall. - Der Beginn einer neuen Krimiserie von Arnaldur Indriðason, Islands erfolgreichstem Krimiautor.
Lese-Probe zu „Duell “
Duell von Arnaldur Indri ason Übersetzung aus dem Isländischen von Coletta Bürling
Eins
Erst als nach Ende des Films das Licht wieder angegangen war und alle Besucher das Kino verlassen hatten, fand der Platzanweiser die Leiche.
Es geschah in einer Fünfuhrvorstellung mitten in der Woche. Die Kinokasse hatte wie gewöhnlich eine Stunde vor der Vorstellung aufgemacht, und der Junge hatte sich als Erster eine Karte gekauft. Die Frau an der Kasse hatte ihn kaum wahrgenommen. Sie war um die dreißig und trug ein blaues Seidenband im toupierten Haar. Ihre Zigarette qualmte in einem kleinen Aschenbecher vor sich hin. Sie hatte sich in eine dänische Illustrierte vertieft und kaum hochgeschaut, als er vor der Glasscheibe auftauchte.
»Eine Karte?«, fragte sie, und der Junge nickte.
Die Frau reichte ihm die Karte und das Wechselgeld. Das Programmheft schenkte sie ihm. Dann setzte sie ihre Lektüre fort, und er steckte das Wechselgeld in die eine Hosentasche, die Eintrittskarte in die andere und ging wieder nach draußen.
... mehr
Am liebsten ging er allein ins Kino, und zwar in die Fünfuhrvorstellung. Er kaufte sich immer eine Tüte Popcorn und dazu eine Flasche Limo. Er hatte einen Stammplatz in diesem Kino, genau wie in allen anderen Filmtheatern der Stadt. So wie die Kinos sich voneinander unterschieden, hatte er auch in jedem einen anderen Lieblingsplatz. Im Háskólabíó wollte er immer ziemlich weit links oben sitzen, denn es war bei weitem das größte Kino mit der größten Leinwand in der Stadt. Er saß dann gerne weiter von der Leinwand weg, damit ihm keine Details entgingen. Mit einer gewissen Entfernung zwischen sich und der Leinwand fühlte er sich auch sicherer, denn Filme konnten so sehr unter die Haut gehen, dass man sich völlig überwältigt fühlte. Im Nýja bíó setzte er sich immer auf einen Platz in der kurzen Bank im oberen Parkett direkt am Gang. Im Gamla bíó hingegen befand sich sein Lieblingsplatz im mittleren Parkett. Wenn er ins Austurbæjarbíó ging, saß er immer rechts, drei Reihen unterhalb des Eingangs. Im Tónabíó war die Reihe beim Eingang am besten, wo er die Beine ausstrecken konnte und die Leinwand in sicherer Entfernung war. Das Gleiche galt für das Laugarásbíó.
Im Hafnarbíó, dem Kino am Hafen, verhielt es sich etwas anders als in den anderen Kinos, und es hatte lange gedauert, bis er den richtigen Platz gefunden hatte. Es war das kleinste Kino von allen und von der Einrichtung her auch das schlichteste. Zunächst kam man in ein nicht sehr großes Foyer, in dem sich ein kleiner Stand mit Süßigkeiten befand. Rechts und links daneben waren die Eingangstüren zum Kinosaal. Der Saal selbst erstreckte sich schmal und lang unter einem Tonnengewölbe, das von einer Militärbaracke aus den Kriegsjahren stammte. Auf beiden Seiten der Sitzreihen befanden sich die Gänge, die zu den Ausgängen rechts und links neben der Leinwand führten. Einige Male hatte er ziemlich weit oben links gesessen, nur ein paar Plätze vom Gang entfernt, manchmal auch links direkt am Gang, bis er schließlich seinen festen Platz weiter hinten rechts gefunden hatte.
Es war noch etwas Zeit bis zum Beginn der Vorstellung, und er ging über die Skúlagata hinunter zum Meer, wo er sich auf einen großen, von der Sonne beschienenen Felsbrocken setzte. Er trug ein grünes Blouson und einen weißen Schal, und er hatte eine Schultasche dabei, in der sich ein relativ neuer Kassettenrekorder befand. Er nahm den Apparat heraus und platzierte ihn auf seinen Knien. Er hatte zwei Kassetten dabei, von denen er eine in das Gerät schob. Dann drückte er auf den roten Aufnahmeknopf und hielt das Mikrofon in Richtung Meer. Kurze Zeit später stoppte er die Aufnahme, spulte zurück, drückte auf Play und lauschte dem Geplätscher der Wellen. Er spulte ein weiteres Mal zurück. Die Probeaufnahme war beendet. Das Gerät war startklar.
Er hatte die Kassetten bereits mit dem Namen des Films beschriftet.
Den Rekorder hatte er vor mehr als einem Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen. Zunächst hatte er gar nicht gewusst, was er damit anfangen sollte. Er lernte aber schnell, ihn zu bedienen. Es war ja auch kinderleicht: aufnehmen und abspielen, vorwärts und rückwärts spulen, schnell oder langsam. Anfangs hatte er es witzig gefunden, seine eigene Stimme zu hören, so als käme sie aus einem Radio, aber das verlor schnell seinen Reiz. Er hatte sich Musikkassetten gekauft, unter anderem aus der Serie Top of the Pops der britischen Hitliste. Und eine Kassette mit Simon und Garfunkel. Da seine Eltern aber einen Plattenspieler besaßen, aus dessen Boxen alles viel besser klang, spielte er Musik lieber auf dem Plattenspieler. Er schnitt die Hitparade des isländischen Rundfunks mit, an anderen Sendungen hatte er kein Interesse. Er wollte gerne etwas Spannenderes aufnehmen, aber nachdem er alle möglichen Laute von sich selber aufgezeichnet und seine Eltern und die Nachbarn aus dem Block interviewt hatte, machte ihm das Gerät keinen Spaß mehr, und es verschwand in einer Schublade.
Bis er die Idee hatte, den Rekorder zu einem ganz anderen Zweck zu verwenden.
Was Spielfilme anging, war er sozusagen ein Allesfresser, ihm gefiel alles, und in jedem Film fand er etwas Interessantes, was den Preis für die Eintrittskarte wert war. Das Genre spielte keine Rolle, er mochte sowohl aufwendige Musical-Verfilmungen vor großartigen Kulissen mit unerhört gut aussehenden Stars als auch Western, die in vegetationslosen Wüsten spielten, in denen die Darsteller die Augen gegen die Sonne zusammenkniffen. Er interessierte sich aber auch für Filme, die in der Zukunft spielten, egal, ob in ihnen die Menschheit in einer atomaren Katastrophe ausgelöscht wurde oder irgendwelche Raumschiffe durch das schwarze All glitten, von nichts als der Fantasie angetrieben. All das drang durch seine im Dunkel des Kinos glänzenden Augen in ihn ein.
Und auch der Ton der Filme faszinierte ihn. Er konnte der Geräuschkulisse einer Großstadt lauschen, dem Stimmengewirr von Menschen, der Landung eines Düsenjets, knallenden Schüssen, Musik und Gesprächen. Einige Geräusche kamen aus längst vergangenen Zeiten, andere aus noch nicht erreichten. Manchmal war der Lärm ohrenbetäubend, ein anderes Mal schrie ihn die Stille förmlich an. Und so war ihm die Idee für eine neue Verwendungsmöglichkeit des Rekorders gekommen. Er konnte nicht den ganzen Film mitschneiden, aber er konnte den Ton aufnehmen und später den Film vor seinem inneren Auge noch einmal ablaufen lassen. Das hatte er schon einige Male getan, und er besaß bereits Tonmitschnitte von diversen Filmen.
Eine Viertelstunde vor der Vorführung öffnete der Platzanweiser die Tür und riss die Karte des Jungen ab. Ein junges Mädchen verkaufte am Kiosk im Foyer Süßigkeiten, doch bevor er zu ihr ging, sah er sich noch die Plakate mit den Filmen an, die demnächst gezeigt werden sollten. Auf einen wartete er besonders gespannt, Little Big Man mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle, einem seiner Lieblingsschauspieler. Angeblich sollte es ein ungewöhnlicher Western sein, und er freute sich schon sehr auf den Film. Der Filmvorführer schäkerte mit dem Mädchen, das die Süßigkeiten verkaufte. An der Kinokasse hatte sich inzwischen eine kleine Schlange gebildet.
Der Junge stellte seine Schultasche auf den Boden und holte das Wechselgeld von der Kinokarte aus der Hosentasche, von dem er sich Popcorn und Limo kaufte.
Er ging zu seinem Platz und setzte sich. Wie immer hatte er Popcorn und Limo schon auf, bevor der Film anfing. Er stellte den Rekorder auf den Sitz neben sich und befestigte das Mikrofon an der Lehne des Sitzes vor ihm. Er kontrollierte noch einmal, dass die Kassette eingelegt und der Rekorder aufnahmebereit war.
Die Lichter im Saal gingen aus. Er nahm immer alles auf, auch die Vorschau.
Der Film, der gezeigt werden sollte, war ein Western mit Gregory Peck, einem Schauspieler, den er sehr mochte. The Stalking Moon verkündete das Plakat im Eingangsbereich, und er war entschlossen, nach der Vorführung zu fragen, ob er ein Plakat bekommen könne. Vielleicht würden sie ihm auch ein paar Fotos überlassen, denn die sammelte er.
Die Leinwand belebte sich. Er hoffte, dass in der Vorschau kurze Ausschnitte aus Little Big Man gezeigt würden.
Die Fünfuhrvorstellung war schon geraume Zeit vorbei, als der Platzanweiser den Kinosaal betrat. Er war spät dran, denn er hatte für die Frau an der Kinokasse einspringen müssen, sie taten sich manchmal gegenseitig einen Gefallen. Zur Siebenuhrvorstellung waren ungewöhnlich viele Leute erschienen, und vor der Kasse hatte sich eine längere Schlange gebildet. Währenddessen konnte er niemanden in den Saal einlassen, also kontrollierte das Mädchen vom Kiosk die Karten. Sobald sich die Gelegenheit bot, beeilte er sich, in den Kinosaal zu kommen. Er musste die Türen am Ausgang für die Kinogäste öffnen und wieder schließen, damit niemand einfach sitzen blieb, um sich in die nächste Vorstellung zu schummeln, oder durch einen der Ausgänge hereinkam.
Wie immer, wenn er sich verspätete, hatten die Kinobesucher bereits selbst die Türen geöffnet. Also ging er den Gang hinunter und schloss erst die rechte Tür, dann durchquerte er den Raum und machte auch die linke Tür zu. Die Siebenuhrvorstellung würde gleich beginnen, und die Besucher warteten ungeduldig darauf, in den Saal gelassen zu werden. Auf dem Weg zurück ins Foyer ließ der Platzanweiser seinen prüfenden Blick über die Reihen schweifen.
Im Halbdunkel des Raums sah er, dass offensichtlich jemand nach der Vorstellung nicht gegangen war.
Der Junge mit der Schultasche saß immer noch auf seinem Platz, war aber irgendwie auf den Sitz neben ihm gesunken, weshalb er kaum zu sehen gewesen war. Er schlief anscheinend fest. Der Platzanweiser kannte ihn vom Sehen, genau wie die anderen regelmäßigen Kinobesucher, die zur Gewohnheit hatten, entweder nur ganz bestimmte Vorstellungen zu besuchen oder sich auf ganz bestimmte Sitzplätze zu setzen. Dieser Junge kam oft ins Kino, ihm war es völlig gleichgültig, was für Filme gezeigt wurden, er schien sich für alles zu interessieren. Der Junge hatte ihn manchmal gefragt, welche Filme als nächste gezeigt würden oder ob er Fotos bekommen konnte und anderes Werbematerial. Er wirkte ein wenig einfältig, um nicht zu sagen zurückgeblieben für einen Jungen seines Alters. Und er kam immer allein.
Der Platzanweiser rief dem Jungen etwas zu.
Als der Junge nicht reagierte, ging der Platzanweiser durch die Reihe zu ihm hin, stieß ihn an und forderte ihn auf, den Saal zu verlassen, da gleich die nächste Vorführung beginnen würde. Wieder zeigte der Junge keinerlei Reaktion. Der Platzanweiser bückte sich und sah, dass die Augen des Jungen halb geöffnet waren. Er stieß ihn fester an, aber der Junge regte sich nicht. Schließlich fasste er ihn an der Schulter, um ihn hochzuziehen, spürte jedoch, dass der Körper ungewöhnlich schwer und leblos wirkte. Er ließ ihn wieder los.
Auf dem Boden lagen eine leere Popcorntüte und eine Flasche Limo.
In diesem Augenblick gingen die Lichter im Saal an. Da erst sah er die Blutlache auf dem Boden.
Zwei
In Marian Briems Büro stand ein Sofa. Eigentlich hatten die wenigsten Mitarbeiter bei der Kriminalpolizei Interesse an einem solchen Luxus. Und dieses Sofa war noch nicht einmal ein besonders luxuriöses Möbel. Im Grunde genommen war es also verwunderlich, wie viel Aufsehen es erregt hatte. Es war alt und verschlissen, und der dünne Lederbezug war an den Ecken abgeschabt. Mit seinen drei Sitzen und den bequemen Seitenlehnen war es geradezu ideal für einen Mittagsschlaf. Einige der älteren Mitarbeiter ergriffen heimlich die Gelegenheit, wenn Marian nicht in der Stadt war. Sie passten jedoch höllisch auf, denn Marian konnte es einem sehr übel nehmen, wenn man unerlaubterweise das Büro betrat. Das Sofa war lange Zeit Anlass zum Streit unter den Kriminalbeamten gewesen, denn etliche Mitarbeiter waren neidisch darauf und fühlten sich benachteiligt, weil schließlich für alle dieselben Regeln zu gelten hätten. Marian Briem kümmerte sich so gut wie gar nicht darum, und die Vorgesetzten sahen darüber hinweg, aus Angst davor, eine der fähigsten Kräfte bei der Kriminalpolizei zu verärgern. Die Diskussion flammte aber in regelmäßigen Abständen wieder auf, wenn neue Mitarbeiter kamen und sich wichtigmachen wollten. Irgendwann einmal war ein Neuling so weit gegangen, in seinem Zimmer, das er sich mit zwei anderen Kollegen teilte, ein Sofa aufzustellen, mit der Begründung, dass er genau wie Marian Briem ein Anrecht auf ein Sofa im Büro hätte. Schon nach wenigen Tagen war das Sofa des Neulings verschwunden, und er selber ebenfalls, er war zur Verkehrspolizei zurückversetzt worden.
Marian Briem hatte sich hingelegt und schlief fest, als Albert das Büro betrat, um zu melden, dass jemand im Hafnarbíó erstochen worden sei. Albert teilte sich das Dienstzimmer mit Marian, und an dem Sofa hatte er nie Anstoß genommen. Er war Anfang dreißig, hatte Familie und wohnte in einem vierstöckigen Wohnblock an der Háaleitisbraut. Nach seiner ersten Beförderung hatte man ihn in Marian Briems Büro einquartiert. Marian hatte zwar Einspruch dagegen erhoben, jedoch ohne Erfolg. Das Hauptquartier der Kriminalpolizei platzte aus allen Nähten, jeder Raum wurde bis auf den letzten Quadratzentimeter genutzt. In dem nicht sehr großen Haus waren sowohl die Kriminalbeamten als auch die Kriminaltechniker von der Spurensicherung untergebracht, einer kleinen Abteilung, die aber ständig vergrößert werden musste. Albert hatte lange Haare und einen Vollbart, er trug am liebsten Jeans und lässige Hemden. Marian Briem fand, dass er aussah wie ein Hippie, und äußerte sich hin und wieder kritisch zu Alberts Haaren und seiner Aufmachung, vor allem, seitdem sich herausgestellt hatte, dass er über eine Seelenruhe und Langmut verfügte, wie sie nur wenigen gegeben war, und daher solche Bemerkungen an ihm abprallten. Albert wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis Marian Briem ihn akzeptierte. Sie waren gezwungen, sich das Büro zu teilen, das bis dahin ausschließlich Marians Reich gewesen war. Aber jetzt mussten sie eben das Beste aus dieser Situation machen. Ihn störte nur, dass Marian stark rauchte, besonders im Büro. Der große Aschenbecher war fast immer voller Kippen.
Albert hatte dreimal versucht, Marian Briem zu wecken, doch erst beim vierten Versuch regte sich etwas auf dem Sofa. Marian hatte fest geschlafen, und etwas aus dem Traum schien sich in den wachen Zustand fortzusetzen. Möglicherweise war es aber auch nur eine Erinnerung, die im Schlaf hochgekommen war. Mit den Jahren wurde es immer schwieriger, dazwischen zu unterscheiden. Aber da waren einfach immer noch diese altbekannten Bildfragmente aus einem dänischen Tuberkulosesanatorium: blütenweiße, im Sommerwind flatternde Bettwäsche; Stuhl an Stuhl in der halbkreisförmigen Liegehalle; Patienten, die bereits so gut wie am Ende ihrer Kräfte waren; und ein Tisch mit medizinischen Geräten, langen Nadeln, die dazu dienten, Luft in den Brustkorb zu pumpen, um die Lungentätigkeit zu deaktivieren.
»Marian«, sagte Albert ein wenig verärgert. »Hörst du nicht, was ich sage? Im Hafnarbíó wurde ein Junge erstochen. Sie warten auf uns. Die Spurensicherung ist schon auf dem Weg dorthin.«
»Erstochen? Im Hafnarbíó?«, fragte Marian und richtete sich auf. »Hat man den Täter schon fassen können?«
»Nein. Der Junge war ganz allein in diesem Kinosaal, als der Platzanweiser ihn fand«, sagte Albert.
Marian stand auf.
»Im Hafnarbíó?«
»Ja.«
»Hat dieser Junge sich einen Film angesehen?«
»Ja.«
»Und er wurde mitten im Film erstochen?«
»Ja.«
Marian Briem stand mit steifen Bewegungen auf. Die Meldung war kurz zuvor eingegangen. Der Platzanweiser hatte angerufen und mit sich überschlagender Stimme verlangt, dass die Polizei kommen solle, auf der Stelle. Der Mann in der Telefonzentrale musste sich zweimal erklären lassen, was passiert war. Zwei Streifenwagen und ein Krankenwagen waren bereits unterwegs, als die Meldung an die Kriminalpolizei weitergeleitet wurde. Albert nahm sie in Empfang, informierte seine Vorgesetzten, schickte die Kollegen von der Spurensicherung zum Tatort und weckte Marian Briem.
»Würdest du denen bitte sagen, dass sie vorsichtig sein sollen und nicht mit ihren dreckigen Schuhen auf allem herumtrampeln?«
»Wem soll ich das sagen?«
»Denjenigen, die sich bereits am Tatort befinden!«
Tatsächlich kam es nicht selten vor, dass diejenigen, die als Erste an einem Tatort eintrafen, dort gedankenlos herumstiefelten und auf diese Weise große Teile der Ermittlungsarbeit zunichtemachten.
Das Hafnarbíó wäre ohne Weiteres zu Fuß zu erreichen gewesen, doch angesichts der gebotenen Eile zogen Marian und Albert es vor, mit dem Dienstwagen zu fahren. Sie bogen vom Borgartún auf die Skúlagata ein und fuhren bis zur Ecke Barónsstígur, wo sich der Eingang zum Hafnarbíó befand. Das Kino war eine alte Militärbaracke mit Wellblechdach, eine Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das, was Island zu den Weltereignissen beigetragen hatte. Die Baracke war ursprünglich als Offizierskasino für das englische Militär errichtet worden. Das weiß gestrichene Foyer hatte Betonwände, alles andere bestand aus Blech und Holz.
»Wer ist das eigentlich, diese Mutter von Sylvia?«, fragte Marian urplötzlich auf dem Weg zum Kino.
»Wie bitte?«, sagte Albert, der am Steuer saß und sich auf das Fahren konzentrierte.
»Sylvias Mutter, von der die da dauernd im Radio singen, was für eine Sylvia ist das? Und was ist das für eine Geschichte mit ihrer Mutter? Worum geht's da eigentlich?«
Albert spitzte die Ohren, aus dem Radio erklang ein sehr bekannter amerikanischer Schlager, Sylvia's Mother. Er wurde bereits seit Wochen in der Popmusik- Hitparade des isländischen Rundfunks gespielt.
»Ich wusste gar nicht, dass du dir Schlager anhörst«, sagte er.
»Diesen kann man ja schlecht überhören. Sind das Männer, die da singen?«
»Ja, eine berühmte Band«, sagte Albert.
Er hielt vor dem Kino.
»Eigentlich nicht gut, dass ausgerechnet jetzt so etwas passiert«, sagte er, während er die Filmplakate in den Schaukästen des Kinos betrachtete.
»Dem Schachverband hilft es sicher nicht«, entgegnete Marian und stieg aus.
Alberts Bedenken galten einem Ereignis von Weltinteresse in Island. In Reykjavík wimmelte es derzeit von Reportern aus aller Herren Länder sowie von Vertretern der größten Nachrichtenagenturen, der Fernseh- und Rundfunkanstalten und der Zeitungen, die sich jetzt möglicherweise alle auf den Mord im Hafnarbíó stürzen würden. Außerdem hatten sich viele Schachstrategen und Schachanhänger aus den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und vielen anderen Ländern eingefunden, die sich nicht von der weiten Reise nach Island abschrecken ließen und sich den Flug geleistet hatten. Sie bereuten es nicht. Es schien, als würde die Menschheit mit angehaltenem Atem auf das Weltmeisterschaftsduell zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski warten, auf das Match des Jahrhunderts, wie es inzwischen genannt wurde, das in Reykjavík stattfinden sollte. Island war seit der Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so in den Schlagzeilen gewesen.
Allerdings stand immer noch keineswegs fest, ob dieses Match überhaupt stattfinden würde. Weltmeister Boris Spasski war zwar bereits eingetroffen, doch der Herausforderer Bobby Fischer machte den Veranstaltern das Leben schwer, indem er praktisch jeden Tag neue Forderungen stellte, vor allem was die Preisgelder betraf. Er hatte bereits mehrere Flugzeuge in New York lange auf sich warten lassen und dann doch in letzter Minute abgesagt. Spasski dagegen war die Höflichkeit in Person, er machte sich nicht viel aus dem Wirbel, den Fischer veranstaltete, er sei nach Island gekommen, um Schach zu spielen. Alles andere ginge ihn nichts an, es sei absolut nebensächlich. Das bescheidene Auftreten des Weltmeisters hatte sogar bei den entschiedensten Gegnern des Sowjetregimes das Eis zum Schmelzen gebracht. Westliche Medien verstiegen sich zu der Behauptung, dass es sich bei diesem Weltmeisterschaftsduell um einen Kampf zwischen Ost und West handele, zwischen den freien, demokratischen Ländern und den unterdrückten Staaten des Ostblocks. In den Schlagzeilen der isländischen Presse wurde es auf den Punkt gebracht: Kalter Krieg in Reykjavík.
Zeitweilig hatte auch der Konflikt zwischen Island und England wegen der Ausweitung der isländischen Hoheitsgewässer Schlagzeilen gemacht, denn die Briten hatten zum Schutz ihrer Trawler Kriegsschiffe in die isländischen Fischerzonen geschickt. Über die Scharmützel zwischen den isländischen Küstenwachbooten mit englischen Fregatten und Trawlern war weltweit berichtet worden, und nun kam noch die Schachweltmeisterschaft in Reykjavík hinzu.
Die Türen zum Kinosaal waren noch offen, als Marian Briem und Albert eintrafen. Vor dem Kino standen zwei Streifenwagen und ein Krankenwagen mit geöffneten Hecktüren. Auf dem Bürgersteig vor dem Kino befanden sich viele Menschen, diejenigen, die in die Siebenuhrvorstellung wollten, und andere, die für eine Karte für die Neunuhrvorstellung anstanden. Die Neugierigsten unter ihnen waren sogar bis ins Foyer vorgedrungen. Marian Briem scheuchte zunächst einmal die Polizisten aus dem Kinosaal, damit die Techniker von der Spurensicherung ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten, und sorgte dafür, dass die Eingangstüren geschlossen wurden. Unterdessen kümmerte sich Albert darum, dass die Leute vor dem Kino sich zerstreuten. Die Frau an der Kinokasse war zum Stand mit den Süßigkeiten gegangen. Auf ihre Frage, ob die Neunuhrvorstellung stattfinden könnte, teilte Albert ihr mit, dass es frühestens am nächsten Tag weitere Kinovorstellungen geben werde.
»Er ist so oft hier gewesen«, sagte die Frau, der anzusehen war, dass es ihr nicht gut ging. »So ein ganz Stiller. Ich begreife überhaupt nicht, wie jemand dazu in der Lage ist, einem Jungen wie ihm so etwas anzutun. «
»Kanntest du ihn?«, fragte Albert.
»Nein, das kann ich nicht sagen. Wie ich halt diejenigen so kenne, die häufiger ins Kino kommen. Er hat sich so gut wie alle Filme angeschaut. Es gibt noch ein paar andere, die das tun.«
»Kam er immer allein?«
»Ja, er war immer allein.«
»Ein paar andere, die was tun?«
»Die immer allein ins Kino gehen, und zwar meistens in die Fünfuhrvorstellung. Die mögen die späteren Vorstellungen einfach nicht, da ist es ihnen zu voll. Sie kommen, um den Film ungestört zu sehen.«
»Sind die Sitze nummeriert?«
»Ja, aber wenn es nur so wenige Zuschauer sind, können sie sich hinsetzen, wo sie wollen.«
»Ist dir irgendetwas an dem Jungen aufgefallen?«
»Nein, gar nichts«, sagte die Frau, die Kidd´y hieß.
»Überleg vielleicht noch mal.«
»Mir fällt nichts ein. Er hatte seine Schultasche dabei.«
»Er hatte eine Schultasche dabei?«
»Ja.«
»Im Sommer ist doch gar keine Schule.«
»Trotzdem hatte er seine Tasche dabei.«
Das Mädchen vom Kiosk stand daneben und hörte dem Gespräch zu. Sie war noch keine achtzehn, hatte geweint und wirkte sehr verstört, obwohl Kidd´y versucht hatte, sie zu trösten. Kaum einer hätte vor der Vorstellung etwas bei ihr gekauft, sagte sie, als Albert sie danach fragte. Sie hatte nur eine Frau unter den Zuschauern gesehen, die anderen Kinogäste waren alles Männer gewesen, die sie aber weder kannte noch beschreiben konnte. Sie konnte nicht bestätigen, dass der Junge eine Schultasche dabeigehabt hatte.
Marian Briem beobachtete die Techniker von der Spurensicherung bei ihrer Arbeit, als Albert hinzutrat und von der Schultasche erzählte. Man wartete auf stärkere Scheinwerfer, denn obwohl die gesamte Beleuchtung eingeschaltet war, reichte das Licht im Saal nicht. Die blutüberströmte Leiche hatte niemand angerührt, seitdem der Platzanweiser den Jungen angestoßen hatte. Auf dem Sitz und auf dem Fußboden war ebenfalls viel Blut. Die Kriminaltechniker behalfen sich mit Taschenlampen. Einer von ihnen fotografierte die Leiche, das Blut und die leere Popcorntüte, die auf dem Boden lag. Blitze zuckten in regelmäßigen Abständen auf, bis der Fotograf schließlich genügend Bilder gemacht hatte.
»Hier ist sehr viel Blut geflossen«, sagte der Arzt, der zum Tatort gerufen worden war und den Totenschein ausgestellt hatte. »Zwei Stiche direkt ins Herz. Wahrscheinlich ist kaum noch Blut im Körper.«
»Seht ihr da irgendwo eine Schultasche?«, rief Marian Briem den Technikern zu.
Einer von ihnen blickte hoch.
»Hier ist keine Schultasche«, rief er zurück.
»Er soll eine Schultasche dabei gehabt haben«, sagte Marian. »Könnt ihr das überprüfen?«
Ein anderer Kriminaltechniker war an den Reihen entlanggegangen und hatte sie mit einer starken Taschenlampe ausgeleuchtet. Er rief etwas, und Marian ging zu ihm. Dort, wo Zuschauer gesessen hatten, lagen allerlei Abfälle auf dem Boden, Popcorntüten, Limo- Flaschen oder Einwickelpapier von irgendwelchen Süßigkeiten. Auf diese Weise war es möglich festzustellen, wo die Zuschauer gesessen hatten, die sich vor der Vorstellung etwas am Kiosk gekauft hatten. Und Marian hatte auf dem Boden unter den Sitzen, die sich in direkter Nähe der Leiche befanden, weder Popcornkrümel noch andere Abfälle gesehen. Der Techniker hielt die Taschenlampe weit von sich und leuchtete mitten in eine Reihe im unteren Parkett, dort lag eine Flasche. Er ging hin und beleuchtete sie.
»Was ist das für eine Flasche?«, fragte Marian Briem.
»Rum«, antwortete der Techniker. »Eine leere Rumflasche. Sie könnte auch von weiter oben bis hierher gerollt sein, auch wenn die Schräge im Parkett sehr gering ist. Hier liegt nämlich sonst kein Abfall.«
»Nicht anfassen«, sagte Marian. »Wir müssen eine Zeichnung vom Saal anfertigen, um alles genau zu erfassen. «
»Ich glaube, ich habe genügend Material«, erklärte der Fotograf, nachdem er eine Aufnahme von der Flasche gemacht hatte. Er verließ das Kino durchs Foyer. Marian folgte ihm und winkte den Platzanweiser herbei, der Matthías hieß. Sie gingen zusammen zurück in den Saal, und Marian bat ihn, ganz genau zu beschreiben, wie er die Leiche vorgefunden hatte. Matthías beschrieb die Szene und versuchte, sich an alles zu erinnern, was seiner Meinung nach von Wichtigkeit sein könnte.
»Wie viele Karten wurden für die Fünfuhrvorstellung verkauft?«, fragte Marian.
»Ich habe vorhin Kiddý gefragt, sie hat fünfzehn Karten verkauft.«
»Kanntet ihr jemandem aus dem Publikum? Waren irgendwelche Stammgäste darunter?«
»Nur dieser Junge«, sagte der Platzanweiser. »Ich habe aber nicht so genau darauf geachtet. Hier wird im Moment ein amerikanischer Western gezeigt, der einigermaßen gut läuft. Ich glaube, die Besucher waren praktisch nur Männer. So ist es oft bei Western, vor allem in der Fünfuhrvorstellung, da kommen nicht viele Frauen.«
»Praktisch nur Männer?«, hakte Marian nach.
»Ja, es war nur eine Frau im Saal. Die ist mir noch nie zuvor aufgefallen. Außerdem waren da noch ein paar Jugendliche und irgendwelche Männer, die ich nicht kenne. Ja, und dann war da noch dieser Typ aus dem Fernsehen.«
»Wer war das?«
»Ach, ich hab vergessen, wie er heißt. Er ist aber bekannt, der macht die Wetternachrichten. Wie heißt er doch noch.«
»Ist er Nachrichtensprecher, oder ist er Meteorologe? «
»Er macht immer die Wettervorhersage. Der hat sich auch eine Kinokarte gekauft.«
»Ist dir im Zusammenhang mit ihm etwas aufgefallen? Kannte er den Jungen? Haben die beiden miteinander geredet?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich hab nichts bemerkt. Ich habe ihn bloß vom Fernsehen her erkannt. Wisst ihr schon, wer der Junge ist?«
»Nein«, sagte Marian, »noch nicht. Aber du kanntest ihn?
»Ja, er kam oft. Er hat sich alle Filme angesehen. Ein wirklich netter Junge, soweit ich das beurteilen kann. Er war immer höflich, aber er wirkte etwas merkwürdig. Er kam mir so vor, als sei er etwas einfältig oder zurückgeblieben, der arme Junge. Und er kam immer allein, nie mit anderen Jugendlichen zusammen. In den anderen Kinos kennen die ihn bestimmt auch, falls euch das hilft. Dort hat er wahrscheinlich auch seinen besonderen Platz gehabt. Es gibt viele Leute, die sich immer auf denselben Platz setzen.«
»Und zu denen gehörte dieser Junge?«
»Ja, er saß immer rechts, ziemlich weit oben.«
»Könnte jemand gewusst haben, dass er sich immer auf diesen Platz setzte?«, fragte Marian Briem.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Matthías achselzuckend. »Möglich wäre es.«
»Hast du bemerkt, ob der Junge eine Schultasche trug?«
»Ja, ich glaube schon. Er hatte eine Tasche dabei.«
»Ist der Western gut?«, fragte Marian Briem und deutete auf ein Plakat von The Stalking Moon.
»Ja, er ist ganz gut. Ist auch gut besucht gewesen. Interessierst du dich für Western? Viele Isländer mögen Western. Irgendwie erinnern sie an unsere isländischen Sagas.«
»Ja«, sagte Marian Briem. »The Searchers gehört zu meinen Lieblingsfilmen, auch wenn ich John Wayne nicht sonderlich mag.«
»Ich finde ihn klasse.«
»Fünfzehn Karten habt ihr verkauft, hast du gesagt?«
»Ja.«
»Wie heißt es doch in der Schatzinsel?«
»In der Schatzinsel?«
»Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste«, sagte Marian Briem. »Und 'ne Buddel voll Rum.«
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
Am liebsten ging er allein ins Kino, und zwar in die Fünfuhrvorstellung. Er kaufte sich immer eine Tüte Popcorn und dazu eine Flasche Limo. Er hatte einen Stammplatz in diesem Kino, genau wie in allen anderen Filmtheatern der Stadt. So wie die Kinos sich voneinander unterschieden, hatte er auch in jedem einen anderen Lieblingsplatz. Im Háskólabíó wollte er immer ziemlich weit links oben sitzen, denn es war bei weitem das größte Kino mit der größten Leinwand in der Stadt. Er saß dann gerne weiter von der Leinwand weg, damit ihm keine Details entgingen. Mit einer gewissen Entfernung zwischen sich und der Leinwand fühlte er sich auch sicherer, denn Filme konnten so sehr unter die Haut gehen, dass man sich völlig überwältigt fühlte. Im Nýja bíó setzte er sich immer auf einen Platz in der kurzen Bank im oberen Parkett direkt am Gang. Im Gamla bíó hingegen befand sich sein Lieblingsplatz im mittleren Parkett. Wenn er ins Austurbæjarbíó ging, saß er immer rechts, drei Reihen unterhalb des Eingangs. Im Tónabíó war die Reihe beim Eingang am besten, wo er die Beine ausstrecken konnte und die Leinwand in sicherer Entfernung war. Das Gleiche galt für das Laugarásbíó.
Im Hafnarbíó, dem Kino am Hafen, verhielt es sich etwas anders als in den anderen Kinos, und es hatte lange gedauert, bis er den richtigen Platz gefunden hatte. Es war das kleinste Kino von allen und von der Einrichtung her auch das schlichteste. Zunächst kam man in ein nicht sehr großes Foyer, in dem sich ein kleiner Stand mit Süßigkeiten befand. Rechts und links daneben waren die Eingangstüren zum Kinosaal. Der Saal selbst erstreckte sich schmal und lang unter einem Tonnengewölbe, das von einer Militärbaracke aus den Kriegsjahren stammte. Auf beiden Seiten der Sitzreihen befanden sich die Gänge, die zu den Ausgängen rechts und links neben der Leinwand führten. Einige Male hatte er ziemlich weit oben links gesessen, nur ein paar Plätze vom Gang entfernt, manchmal auch links direkt am Gang, bis er schließlich seinen festen Platz weiter hinten rechts gefunden hatte.
Es war noch etwas Zeit bis zum Beginn der Vorstellung, und er ging über die Skúlagata hinunter zum Meer, wo er sich auf einen großen, von der Sonne beschienenen Felsbrocken setzte. Er trug ein grünes Blouson und einen weißen Schal, und er hatte eine Schultasche dabei, in der sich ein relativ neuer Kassettenrekorder befand. Er nahm den Apparat heraus und platzierte ihn auf seinen Knien. Er hatte zwei Kassetten dabei, von denen er eine in das Gerät schob. Dann drückte er auf den roten Aufnahmeknopf und hielt das Mikrofon in Richtung Meer. Kurze Zeit später stoppte er die Aufnahme, spulte zurück, drückte auf Play und lauschte dem Geplätscher der Wellen. Er spulte ein weiteres Mal zurück. Die Probeaufnahme war beendet. Das Gerät war startklar.
Er hatte die Kassetten bereits mit dem Namen des Films beschriftet.
Den Rekorder hatte er vor mehr als einem Jahr zum Geburtstag geschenkt bekommen. Zunächst hatte er gar nicht gewusst, was er damit anfangen sollte. Er lernte aber schnell, ihn zu bedienen. Es war ja auch kinderleicht: aufnehmen und abspielen, vorwärts und rückwärts spulen, schnell oder langsam. Anfangs hatte er es witzig gefunden, seine eigene Stimme zu hören, so als käme sie aus einem Radio, aber das verlor schnell seinen Reiz. Er hatte sich Musikkassetten gekauft, unter anderem aus der Serie Top of the Pops der britischen Hitliste. Und eine Kassette mit Simon und Garfunkel. Da seine Eltern aber einen Plattenspieler besaßen, aus dessen Boxen alles viel besser klang, spielte er Musik lieber auf dem Plattenspieler. Er schnitt die Hitparade des isländischen Rundfunks mit, an anderen Sendungen hatte er kein Interesse. Er wollte gerne etwas Spannenderes aufnehmen, aber nachdem er alle möglichen Laute von sich selber aufgezeichnet und seine Eltern und die Nachbarn aus dem Block interviewt hatte, machte ihm das Gerät keinen Spaß mehr, und es verschwand in einer Schublade.
Bis er die Idee hatte, den Rekorder zu einem ganz anderen Zweck zu verwenden.
Was Spielfilme anging, war er sozusagen ein Allesfresser, ihm gefiel alles, und in jedem Film fand er etwas Interessantes, was den Preis für die Eintrittskarte wert war. Das Genre spielte keine Rolle, er mochte sowohl aufwendige Musical-Verfilmungen vor großartigen Kulissen mit unerhört gut aussehenden Stars als auch Western, die in vegetationslosen Wüsten spielten, in denen die Darsteller die Augen gegen die Sonne zusammenkniffen. Er interessierte sich aber auch für Filme, die in der Zukunft spielten, egal, ob in ihnen die Menschheit in einer atomaren Katastrophe ausgelöscht wurde oder irgendwelche Raumschiffe durch das schwarze All glitten, von nichts als der Fantasie angetrieben. All das drang durch seine im Dunkel des Kinos glänzenden Augen in ihn ein.
Und auch der Ton der Filme faszinierte ihn. Er konnte der Geräuschkulisse einer Großstadt lauschen, dem Stimmengewirr von Menschen, der Landung eines Düsenjets, knallenden Schüssen, Musik und Gesprächen. Einige Geräusche kamen aus längst vergangenen Zeiten, andere aus noch nicht erreichten. Manchmal war der Lärm ohrenbetäubend, ein anderes Mal schrie ihn die Stille förmlich an. Und so war ihm die Idee für eine neue Verwendungsmöglichkeit des Rekorders gekommen. Er konnte nicht den ganzen Film mitschneiden, aber er konnte den Ton aufnehmen und später den Film vor seinem inneren Auge noch einmal ablaufen lassen. Das hatte er schon einige Male getan, und er besaß bereits Tonmitschnitte von diversen Filmen.
Eine Viertelstunde vor der Vorführung öffnete der Platzanweiser die Tür und riss die Karte des Jungen ab. Ein junges Mädchen verkaufte am Kiosk im Foyer Süßigkeiten, doch bevor er zu ihr ging, sah er sich noch die Plakate mit den Filmen an, die demnächst gezeigt werden sollten. Auf einen wartete er besonders gespannt, Little Big Man mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle, einem seiner Lieblingsschauspieler. Angeblich sollte es ein ungewöhnlicher Western sein, und er freute sich schon sehr auf den Film. Der Filmvorführer schäkerte mit dem Mädchen, das die Süßigkeiten verkaufte. An der Kinokasse hatte sich inzwischen eine kleine Schlange gebildet.
Der Junge stellte seine Schultasche auf den Boden und holte das Wechselgeld von der Kinokarte aus der Hosentasche, von dem er sich Popcorn und Limo kaufte.
Er ging zu seinem Platz und setzte sich. Wie immer hatte er Popcorn und Limo schon auf, bevor der Film anfing. Er stellte den Rekorder auf den Sitz neben sich und befestigte das Mikrofon an der Lehne des Sitzes vor ihm. Er kontrollierte noch einmal, dass die Kassette eingelegt und der Rekorder aufnahmebereit war.
Die Lichter im Saal gingen aus. Er nahm immer alles auf, auch die Vorschau.
Der Film, der gezeigt werden sollte, war ein Western mit Gregory Peck, einem Schauspieler, den er sehr mochte. The Stalking Moon verkündete das Plakat im Eingangsbereich, und er war entschlossen, nach der Vorführung zu fragen, ob er ein Plakat bekommen könne. Vielleicht würden sie ihm auch ein paar Fotos überlassen, denn die sammelte er.
Die Leinwand belebte sich. Er hoffte, dass in der Vorschau kurze Ausschnitte aus Little Big Man gezeigt würden.
Die Fünfuhrvorstellung war schon geraume Zeit vorbei, als der Platzanweiser den Kinosaal betrat. Er war spät dran, denn er hatte für die Frau an der Kinokasse einspringen müssen, sie taten sich manchmal gegenseitig einen Gefallen. Zur Siebenuhrvorstellung waren ungewöhnlich viele Leute erschienen, und vor der Kasse hatte sich eine längere Schlange gebildet. Währenddessen konnte er niemanden in den Saal einlassen, also kontrollierte das Mädchen vom Kiosk die Karten. Sobald sich die Gelegenheit bot, beeilte er sich, in den Kinosaal zu kommen. Er musste die Türen am Ausgang für die Kinogäste öffnen und wieder schließen, damit niemand einfach sitzen blieb, um sich in die nächste Vorstellung zu schummeln, oder durch einen der Ausgänge hereinkam.
Wie immer, wenn er sich verspätete, hatten die Kinobesucher bereits selbst die Türen geöffnet. Also ging er den Gang hinunter und schloss erst die rechte Tür, dann durchquerte er den Raum und machte auch die linke Tür zu. Die Siebenuhrvorstellung würde gleich beginnen, und die Besucher warteten ungeduldig darauf, in den Saal gelassen zu werden. Auf dem Weg zurück ins Foyer ließ der Platzanweiser seinen prüfenden Blick über die Reihen schweifen.
Im Halbdunkel des Raums sah er, dass offensichtlich jemand nach der Vorstellung nicht gegangen war.
Der Junge mit der Schultasche saß immer noch auf seinem Platz, war aber irgendwie auf den Sitz neben ihm gesunken, weshalb er kaum zu sehen gewesen war. Er schlief anscheinend fest. Der Platzanweiser kannte ihn vom Sehen, genau wie die anderen regelmäßigen Kinobesucher, die zur Gewohnheit hatten, entweder nur ganz bestimmte Vorstellungen zu besuchen oder sich auf ganz bestimmte Sitzplätze zu setzen. Dieser Junge kam oft ins Kino, ihm war es völlig gleichgültig, was für Filme gezeigt wurden, er schien sich für alles zu interessieren. Der Junge hatte ihn manchmal gefragt, welche Filme als nächste gezeigt würden oder ob er Fotos bekommen konnte und anderes Werbematerial. Er wirkte ein wenig einfältig, um nicht zu sagen zurückgeblieben für einen Jungen seines Alters. Und er kam immer allein.
Der Platzanweiser rief dem Jungen etwas zu.
Als der Junge nicht reagierte, ging der Platzanweiser durch die Reihe zu ihm hin, stieß ihn an und forderte ihn auf, den Saal zu verlassen, da gleich die nächste Vorführung beginnen würde. Wieder zeigte der Junge keinerlei Reaktion. Der Platzanweiser bückte sich und sah, dass die Augen des Jungen halb geöffnet waren. Er stieß ihn fester an, aber der Junge regte sich nicht. Schließlich fasste er ihn an der Schulter, um ihn hochzuziehen, spürte jedoch, dass der Körper ungewöhnlich schwer und leblos wirkte. Er ließ ihn wieder los.
Auf dem Boden lagen eine leere Popcorntüte und eine Flasche Limo.
In diesem Augenblick gingen die Lichter im Saal an. Da erst sah er die Blutlache auf dem Boden.
Zwei
In Marian Briems Büro stand ein Sofa. Eigentlich hatten die wenigsten Mitarbeiter bei der Kriminalpolizei Interesse an einem solchen Luxus. Und dieses Sofa war noch nicht einmal ein besonders luxuriöses Möbel. Im Grunde genommen war es also verwunderlich, wie viel Aufsehen es erregt hatte. Es war alt und verschlissen, und der dünne Lederbezug war an den Ecken abgeschabt. Mit seinen drei Sitzen und den bequemen Seitenlehnen war es geradezu ideal für einen Mittagsschlaf. Einige der älteren Mitarbeiter ergriffen heimlich die Gelegenheit, wenn Marian nicht in der Stadt war. Sie passten jedoch höllisch auf, denn Marian konnte es einem sehr übel nehmen, wenn man unerlaubterweise das Büro betrat. Das Sofa war lange Zeit Anlass zum Streit unter den Kriminalbeamten gewesen, denn etliche Mitarbeiter waren neidisch darauf und fühlten sich benachteiligt, weil schließlich für alle dieselben Regeln zu gelten hätten. Marian Briem kümmerte sich so gut wie gar nicht darum, und die Vorgesetzten sahen darüber hinweg, aus Angst davor, eine der fähigsten Kräfte bei der Kriminalpolizei zu verärgern. Die Diskussion flammte aber in regelmäßigen Abständen wieder auf, wenn neue Mitarbeiter kamen und sich wichtigmachen wollten. Irgendwann einmal war ein Neuling so weit gegangen, in seinem Zimmer, das er sich mit zwei anderen Kollegen teilte, ein Sofa aufzustellen, mit der Begründung, dass er genau wie Marian Briem ein Anrecht auf ein Sofa im Büro hätte. Schon nach wenigen Tagen war das Sofa des Neulings verschwunden, und er selber ebenfalls, er war zur Verkehrspolizei zurückversetzt worden.
Marian Briem hatte sich hingelegt und schlief fest, als Albert das Büro betrat, um zu melden, dass jemand im Hafnarbíó erstochen worden sei. Albert teilte sich das Dienstzimmer mit Marian, und an dem Sofa hatte er nie Anstoß genommen. Er war Anfang dreißig, hatte Familie und wohnte in einem vierstöckigen Wohnblock an der Háaleitisbraut. Nach seiner ersten Beförderung hatte man ihn in Marian Briems Büro einquartiert. Marian hatte zwar Einspruch dagegen erhoben, jedoch ohne Erfolg. Das Hauptquartier der Kriminalpolizei platzte aus allen Nähten, jeder Raum wurde bis auf den letzten Quadratzentimeter genutzt. In dem nicht sehr großen Haus waren sowohl die Kriminalbeamten als auch die Kriminaltechniker von der Spurensicherung untergebracht, einer kleinen Abteilung, die aber ständig vergrößert werden musste. Albert hatte lange Haare und einen Vollbart, er trug am liebsten Jeans und lässige Hemden. Marian Briem fand, dass er aussah wie ein Hippie, und äußerte sich hin und wieder kritisch zu Alberts Haaren und seiner Aufmachung, vor allem, seitdem sich herausgestellt hatte, dass er über eine Seelenruhe und Langmut verfügte, wie sie nur wenigen gegeben war, und daher solche Bemerkungen an ihm abprallten. Albert wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis Marian Briem ihn akzeptierte. Sie waren gezwungen, sich das Büro zu teilen, das bis dahin ausschließlich Marians Reich gewesen war. Aber jetzt mussten sie eben das Beste aus dieser Situation machen. Ihn störte nur, dass Marian stark rauchte, besonders im Büro. Der große Aschenbecher war fast immer voller Kippen.
Albert hatte dreimal versucht, Marian Briem zu wecken, doch erst beim vierten Versuch regte sich etwas auf dem Sofa. Marian hatte fest geschlafen, und etwas aus dem Traum schien sich in den wachen Zustand fortzusetzen. Möglicherweise war es aber auch nur eine Erinnerung, die im Schlaf hochgekommen war. Mit den Jahren wurde es immer schwieriger, dazwischen zu unterscheiden. Aber da waren einfach immer noch diese altbekannten Bildfragmente aus einem dänischen Tuberkulosesanatorium: blütenweiße, im Sommerwind flatternde Bettwäsche; Stuhl an Stuhl in der halbkreisförmigen Liegehalle; Patienten, die bereits so gut wie am Ende ihrer Kräfte waren; und ein Tisch mit medizinischen Geräten, langen Nadeln, die dazu dienten, Luft in den Brustkorb zu pumpen, um die Lungentätigkeit zu deaktivieren.
»Marian«, sagte Albert ein wenig verärgert. »Hörst du nicht, was ich sage? Im Hafnarbíó wurde ein Junge erstochen. Sie warten auf uns. Die Spurensicherung ist schon auf dem Weg dorthin.«
»Erstochen? Im Hafnarbíó?«, fragte Marian und richtete sich auf. »Hat man den Täter schon fassen können?«
»Nein. Der Junge war ganz allein in diesem Kinosaal, als der Platzanweiser ihn fand«, sagte Albert.
Marian stand auf.
»Im Hafnarbíó?«
»Ja.«
»Hat dieser Junge sich einen Film angesehen?«
»Ja.«
»Und er wurde mitten im Film erstochen?«
»Ja.«
Marian Briem stand mit steifen Bewegungen auf. Die Meldung war kurz zuvor eingegangen. Der Platzanweiser hatte angerufen und mit sich überschlagender Stimme verlangt, dass die Polizei kommen solle, auf der Stelle. Der Mann in der Telefonzentrale musste sich zweimal erklären lassen, was passiert war. Zwei Streifenwagen und ein Krankenwagen waren bereits unterwegs, als die Meldung an die Kriminalpolizei weitergeleitet wurde. Albert nahm sie in Empfang, informierte seine Vorgesetzten, schickte die Kollegen von der Spurensicherung zum Tatort und weckte Marian Briem.
»Würdest du denen bitte sagen, dass sie vorsichtig sein sollen und nicht mit ihren dreckigen Schuhen auf allem herumtrampeln?«
»Wem soll ich das sagen?«
»Denjenigen, die sich bereits am Tatort befinden!«
Tatsächlich kam es nicht selten vor, dass diejenigen, die als Erste an einem Tatort eintrafen, dort gedankenlos herumstiefelten und auf diese Weise große Teile der Ermittlungsarbeit zunichtemachten.
Das Hafnarbíó wäre ohne Weiteres zu Fuß zu erreichen gewesen, doch angesichts der gebotenen Eile zogen Marian und Albert es vor, mit dem Dienstwagen zu fahren. Sie bogen vom Borgartún auf die Skúlagata ein und fuhren bis zur Ecke Barónsstígur, wo sich der Eingang zum Hafnarbíó befand. Das Kino war eine alte Militärbaracke mit Wellblechdach, eine Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und das, was Island zu den Weltereignissen beigetragen hatte. Die Baracke war ursprünglich als Offizierskasino für das englische Militär errichtet worden. Das weiß gestrichene Foyer hatte Betonwände, alles andere bestand aus Blech und Holz.
»Wer ist das eigentlich, diese Mutter von Sylvia?«, fragte Marian urplötzlich auf dem Weg zum Kino.
»Wie bitte?«, sagte Albert, der am Steuer saß und sich auf das Fahren konzentrierte.
»Sylvias Mutter, von der die da dauernd im Radio singen, was für eine Sylvia ist das? Und was ist das für eine Geschichte mit ihrer Mutter? Worum geht's da eigentlich?«
Albert spitzte die Ohren, aus dem Radio erklang ein sehr bekannter amerikanischer Schlager, Sylvia's Mother. Er wurde bereits seit Wochen in der Popmusik- Hitparade des isländischen Rundfunks gespielt.
»Ich wusste gar nicht, dass du dir Schlager anhörst«, sagte er.
»Diesen kann man ja schlecht überhören. Sind das Männer, die da singen?«
»Ja, eine berühmte Band«, sagte Albert.
Er hielt vor dem Kino.
»Eigentlich nicht gut, dass ausgerechnet jetzt so etwas passiert«, sagte er, während er die Filmplakate in den Schaukästen des Kinos betrachtete.
»Dem Schachverband hilft es sicher nicht«, entgegnete Marian und stieg aus.
Alberts Bedenken galten einem Ereignis von Weltinteresse in Island. In Reykjavík wimmelte es derzeit von Reportern aus aller Herren Länder sowie von Vertretern der größten Nachrichtenagenturen, der Fernseh- und Rundfunkanstalten und der Zeitungen, die sich jetzt möglicherweise alle auf den Mord im Hafnarbíó stürzen würden. Außerdem hatten sich viele Schachstrategen und Schachanhänger aus den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und vielen anderen Ländern eingefunden, die sich nicht von der weiten Reise nach Island abschrecken ließen und sich den Flug geleistet hatten. Sie bereuten es nicht. Es schien, als würde die Menschheit mit angehaltenem Atem auf das Weltmeisterschaftsduell zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski warten, auf das Match des Jahrhunderts, wie es inzwischen genannt wurde, das in Reykjavík stattfinden sollte. Island war seit der Besatzungszeit während des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so in den Schlagzeilen gewesen.
Allerdings stand immer noch keineswegs fest, ob dieses Match überhaupt stattfinden würde. Weltmeister Boris Spasski war zwar bereits eingetroffen, doch der Herausforderer Bobby Fischer machte den Veranstaltern das Leben schwer, indem er praktisch jeden Tag neue Forderungen stellte, vor allem was die Preisgelder betraf. Er hatte bereits mehrere Flugzeuge in New York lange auf sich warten lassen und dann doch in letzter Minute abgesagt. Spasski dagegen war die Höflichkeit in Person, er machte sich nicht viel aus dem Wirbel, den Fischer veranstaltete, er sei nach Island gekommen, um Schach zu spielen. Alles andere ginge ihn nichts an, es sei absolut nebensächlich. Das bescheidene Auftreten des Weltmeisters hatte sogar bei den entschiedensten Gegnern des Sowjetregimes das Eis zum Schmelzen gebracht. Westliche Medien verstiegen sich zu der Behauptung, dass es sich bei diesem Weltmeisterschaftsduell um einen Kampf zwischen Ost und West handele, zwischen den freien, demokratischen Ländern und den unterdrückten Staaten des Ostblocks. In den Schlagzeilen der isländischen Presse wurde es auf den Punkt gebracht: Kalter Krieg in Reykjavík.
Zeitweilig hatte auch der Konflikt zwischen Island und England wegen der Ausweitung der isländischen Hoheitsgewässer Schlagzeilen gemacht, denn die Briten hatten zum Schutz ihrer Trawler Kriegsschiffe in die isländischen Fischerzonen geschickt. Über die Scharmützel zwischen den isländischen Küstenwachbooten mit englischen Fregatten und Trawlern war weltweit berichtet worden, und nun kam noch die Schachweltmeisterschaft in Reykjavík hinzu.
Die Türen zum Kinosaal waren noch offen, als Marian Briem und Albert eintrafen. Vor dem Kino standen zwei Streifenwagen und ein Krankenwagen mit geöffneten Hecktüren. Auf dem Bürgersteig vor dem Kino befanden sich viele Menschen, diejenigen, die in die Siebenuhrvorstellung wollten, und andere, die für eine Karte für die Neunuhrvorstellung anstanden. Die Neugierigsten unter ihnen waren sogar bis ins Foyer vorgedrungen. Marian Briem scheuchte zunächst einmal die Polizisten aus dem Kinosaal, damit die Techniker von der Spurensicherung ungestört ihrer Arbeit nachgehen konnten, und sorgte dafür, dass die Eingangstüren geschlossen wurden. Unterdessen kümmerte sich Albert darum, dass die Leute vor dem Kino sich zerstreuten. Die Frau an der Kinokasse war zum Stand mit den Süßigkeiten gegangen. Auf ihre Frage, ob die Neunuhrvorstellung stattfinden könnte, teilte Albert ihr mit, dass es frühestens am nächsten Tag weitere Kinovorstellungen geben werde.
»Er ist so oft hier gewesen«, sagte die Frau, der anzusehen war, dass es ihr nicht gut ging. »So ein ganz Stiller. Ich begreife überhaupt nicht, wie jemand dazu in der Lage ist, einem Jungen wie ihm so etwas anzutun. «
»Kanntest du ihn?«, fragte Albert.
»Nein, das kann ich nicht sagen. Wie ich halt diejenigen so kenne, die häufiger ins Kino kommen. Er hat sich so gut wie alle Filme angeschaut. Es gibt noch ein paar andere, die das tun.«
»Kam er immer allein?«
»Ja, er war immer allein.«
»Ein paar andere, die was tun?«
»Die immer allein ins Kino gehen, und zwar meistens in die Fünfuhrvorstellung. Die mögen die späteren Vorstellungen einfach nicht, da ist es ihnen zu voll. Sie kommen, um den Film ungestört zu sehen.«
»Sind die Sitze nummeriert?«
»Ja, aber wenn es nur so wenige Zuschauer sind, können sie sich hinsetzen, wo sie wollen.«
»Ist dir irgendetwas an dem Jungen aufgefallen?«
»Nein, gar nichts«, sagte die Frau, die Kidd´y hieß.
»Überleg vielleicht noch mal.«
»Mir fällt nichts ein. Er hatte seine Schultasche dabei.«
»Er hatte eine Schultasche dabei?«
»Ja.«
»Im Sommer ist doch gar keine Schule.«
»Trotzdem hatte er seine Tasche dabei.«
Das Mädchen vom Kiosk stand daneben und hörte dem Gespräch zu. Sie war noch keine achtzehn, hatte geweint und wirkte sehr verstört, obwohl Kidd´y versucht hatte, sie zu trösten. Kaum einer hätte vor der Vorstellung etwas bei ihr gekauft, sagte sie, als Albert sie danach fragte. Sie hatte nur eine Frau unter den Zuschauern gesehen, die anderen Kinogäste waren alles Männer gewesen, die sie aber weder kannte noch beschreiben konnte. Sie konnte nicht bestätigen, dass der Junge eine Schultasche dabeigehabt hatte.
Marian Briem beobachtete die Techniker von der Spurensicherung bei ihrer Arbeit, als Albert hinzutrat und von der Schultasche erzählte. Man wartete auf stärkere Scheinwerfer, denn obwohl die gesamte Beleuchtung eingeschaltet war, reichte das Licht im Saal nicht. Die blutüberströmte Leiche hatte niemand angerührt, seitdem der Platzanweiser den Jungen angestoßen hatte. Auf dem Sitz und auf dem Fußboden war ebenfalls viel Blut. Die Kriminaltechniker behalfen sich mit Taschenlampen. Einer von ihnen fotografierte die Leiche, das Blut und die leere Popcorntüte, die auf dem Boden lag. Blitze zuckten in regelmäßigen Abständen auf, bis der Fotograf schließlich genügend Bilder gemacht hatte.
»Hier ist sehr viel Blut geflossen«, sagte der Arzt, der zum Tatort gerufen worden war und den Totenschein ausgestellt hatte. »Zwei Stiche direkt ins Herz. Wahrscheinlich ist kaum noch Blut im Körper.«
»Seht ihr da irgendwo eine Schultasche?«, rief Marian Briem den Technikern zu.
Einer von ihnen blickte hoch.
»Hier ist keine Schultasche«, rief er zurück.
»Er soll eine Schultasche dabei gehabt haben«, sagte Marian. »Könnt ihr das überprüfen?«
Ein anderer Kriminaltechniker war an den Reihen entlanggegangen und hatte sie mit einer starken Taschenlampe ausgeleuchtet. Er rief etwas, und Marian ging zu ihm. Dort, wo Zuschauer gesessen hatten, lagen allerlei Abfälle auf dem Boden, Popcorntüten, Limo- Flaschen oder Einwickelpapier von irgendwelchen Süßigkeiten. Auf diese Weise war es möglich festzustellen, wo die Zuschauer gesessen hatten, die sich vor der Vorstellung etwas am Kiosk gekauft hatten. Und Marian hatte auf dem Boden unter den Sitzen, die sich in direkter Nähe der Leiche befanden, weder Popcornkrümel noch andere Abfälle gesehen. Der Techniker hielt die Taschenlampe weit von sich und leuchtete mitten in eine Reihe im unteren Parkett, dort lag eine Flasche. Er ging hin und beleuchtete sie.
»Was ist das für eine Flasche?«, fragte Marian Briem.
»Rum«, antwortete der Techniker. »Eine leere Rumflasche. Sie könnte auch von weiter oben bis hierher gerollt sein, auch wenn die Schräge im Parkett sehr gering ist. Hier liegt nämlich sonst kein Abfall.«
»Nicht anfassen«, sagte Marian. »Wir müssen eine Zeichnung vom Saal anfertigen, um alles genau zu erfassen. «
»Ich glaube, ich habe genügend Material«, erklärte der Fotograf, nachdem er eine Aufnahme von der Flasche gemacht hatte. Er verließ das Kino durchs Foyer. Marian folgte ihm und winkte den Platzanweiser herbei, der Matthías hieß. Sie gingen zusammen zurück in den Saal, und Marian bat ihn, ganz genau zu beschreiben, wie er die Leiche vorgefunden hatte. Matthías beschrieb die Szene und versuchte, sich an alles zu erinnern, was seiner Meinung nach von Wichtigkeit sein könnte.
»Wie viele Karten wurden für die Fünfuhrvorstellung verkauft?«, fragte Marian.
»Ich habe vorhin Kiddý gefragt, sie hat fünfzehn Karten verkauft.«
»Kanntet ihr jemandem aus dem Publikum? Waren irgendwelche Stammgäste darunter?«
»Nur dieser Junge«, sagte der Platzanweiser. »Ich habe aber nicht so genau darauf geachtet. Hier wird im Moment ein amerikanischer Western gezeigt, der einigermaßen gut läuft. Ich glaube, die Besucher waren praktisch nur Männer. So ist es oft bei Western, vor allem in der Fünfuhrvorstellung, da kommen nicht viele Frauen.«
»Praktisch nur Männer?«, hakte Marian nach.
»Ja, es war nur eine Frau im Saal. Die ist mir noch nie zuvor aufgefallen. Außerdem waren da noch ein paar Jugendliche und irgendwelche Männer, die ich nicht kenne. Ja, und dann war da noch dieser Typ aus dem Fernsehen.«
»Wer war das?«
»Ach, ich hab vergessen, wie er heißt. Er ist aber bekannt, der macht die Wetternachrichten. Wie heißt er doch noch.«
»Ist er Nachrichtensprecher, oder ist er Meteorologe? «
»Er macht immer die Wettervorhersage. Der hat sich auch eine Kinokarte gekauft.«
»Ist dir im Zusammenhang mit ihm etwas aufgefallen? Kannte er den Jungen? Haben die beiden miteinander geredet?«
»Nein, das glaube ich nicht. Ich hab nichts bemerkt. Ich habe ihn bloß vom Fernsehen her erkannt. Wisst ihr schon, wer der Junge ist?«
»Nein«, sagte Marian, »noch nicht. Aber du kanntest ihn?
»Ja, er kam oft. Er hat sich alle Filme angesehen. Ein wirklich netter Junge, soweit ich das beurteilen kann. Er war immer höflich, aber er wirkte etwas merkwürdig. Er kam mir so vor, als sei er etwas einfältig oder zurückgeblieben, der arme Junge. Und er kam immer allein, nie mit anderen Jugendlichen zusammen. In den anderen Kinos kennen die ihn bestimmt auch, falls euch das hilft. Dort hat er wahrscheinlich auch seinen besonderen Platz gehabt. Es gibt viele Leute, die sich immer auf denselben Platz setzen.«
»Und zu denen gehörte dieser Junge?«
»Ja, er saß immer rechts, ziemlich weit oben.«
»Könnte jemand gewusst haben, dass er sich immer auf diesen Platz setzte?«, fragte Marian Briem.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Matthías achselzuckend. »Möglich wäre es.«
»Hast du bemerkt, ob der Junge eine Schultasche trug?«
»Ja, ich glaube schon. Er hatte eine Tasche dabei.«
»Ist der Western gut?«, fragte Marian Briem und deutete auf ein Plakat von The Stalking Moon.
»Ja, er ist ganz gut. Ist auch gut besucht gewesen. Interessierst du dich für Western? Viele Isländer mögen Western. Irgendwie erinnern sie an unsere isländischen Sagas.«
»Ja«, sagte Marian Briem. »The Searchers gehört zu meinen Lieblingsfilmen, auch wenn ich John Wayne nicht sonderlich mag.«
»Ich finde ihn klasse.«
»Fünfzehn Karten habt ihr verkauft, hast du gesagt?«
»Ja.«
»Wie heißt es doch in der Schatzinsel?«
»In der Schatzinsel?«
»Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste«, sagte Marian Briem. »Und 'ne Buddel voll Rum.«
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln.
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Autoren-Porträt von Arnaldur Indridason
Der preisgekrönte Schriftsteller Arnaldur Indriðason, geboren 1961, war Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung. Heute lebt er als freier Autor in Reykjavik.Coletta Bürling ist die langjährige ehemalige Leiterin des Goethe-Instituts Reykjavik. Seit dessen Schließung übersetzte sie bereits zahlreiche Werke aus dem Isländischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arnaldur Indridason
- 2014, 428 Seiten, Maße: 13 x 22,5 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4026411367231
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