Dummheit
Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissen
Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissen
In Zeiten der rasanten Zunahme von Informationen gewinnt der einzelne Mensch nicht etwa an Wissen, sondern verliert es dramatisch. Intuitives Wissen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das...
In Zeiten der rasanten Zunahme von Informationen gewinnt der einzelne Mensch nicht etwa an Wissen, sondern verliert es dramatisch. Intuitives Wissen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das...
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Produktinformationen zu „Dummheit “
Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissen
In Zeiten der rasanten Zunahme von Informationen gewinnt der einzelne Mensch nicht etwa an Wissen, sondern verliert es dramatisch. Intuitives Wissen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das Wissen um das menschliche Maß, Handlungswissen - was über Generationen überlebenswichtig war, werfen wir zugunsten von "immer mehr" und "immer schneller" über Bord.
In sieben Exkursen veranschaulichen Ernst Pöppel und Beatrice Wagner, warum wir in so vielen Bereichen so wenig wissen und plädieren für die Intelligenz der Langsamkeit, der Pausen, des Unperfekten. Anhand von prägnanten Beispielen entlarven sie größenwahnsinnige Projekte, aber auch individuelle Dummheiten. Die Dummheit ist nicht zu vermeiden, sie gehört zu unserem biologischen Erbe, ihre Fallen zu kennen, kann aber helfen.
In Zeiten der rasanten Zunahme von Informationen gewinnt der einzelne Mensch nicht etwa an Wissen, sondern verliert es dramatisch. Intuitives Wissen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das Wissen um das menschliche Maß, Handlungswissen - was über Generationen überlebenswichtig war, werfen wir zugunsten von "immer mehr" und "immer schneller" über Bord.
In sieben Exkursen veranschaulichen Ernst Pöppel und Beatrice Wagner, warum wir in so vielen Bereichen so wenig wissen und plädieren für die Intelligenz der Langsamkeit, der Pausen, des Unperfekten. Anhand von prägnanten Beispielen entlarven sie größenwahnsinnige Projekte, aber auch individuelle Dummheiten. Die Dummheit ist nicht zu vermeiden, sie gehört zu unserem biologischen Erbe, ihre Fallen zu kennen, kann aber helfen.
Klappentext zu „Dummheit “
Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissenIn Zeiten der rasanten Zunahme von Informationen gewinnt der einzelne Mensch nicht etwa an Wissen, sondern verliert es dramatisch. Intuitives Wissen, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das Wissen um das menschliche Maß, Handlungswissen - was über Generationen überlebenswichtig war, werfen wir zugunsten von "immer mehr" und "immer schneller" über Bord.
In sieben Exkursen veranschaulichen Ernst Pöppel und Beatrice Wagner, warum wir in so vielen Bereichen so wenig wissen und plädieren für die Intelligenz der Langsamkeit, der Pausen, des Unperfekten. Anhand von prägnanten Beispielen entlarven sie größenwahnsinnige Projekte, aber auch individuelle Dummheiten. Die Dummheit ist nicht zu vermeiden, sie gehört zu unserem biologischen Erbe, ihre Fallen zu kennen, kann aber helfen.
Lese-Probe zu „Dummheit “
Dummheit von Ernst Pöppel, Beatrice WagnerVorwort
»Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die
menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich
mir noch nicht ganz sicher.«
Albert Einstein
... mehr
Hat Einstein Recht? Man könnte es meinen, nach einem einzigen Blick in die Zeitung: Zwei kleine Länder schaffen es seit Jahrzehnten nicht, sich zu einem Friedensabkommen durchzuringen, lieber zerstören sie sich gegenseitig. Über Jahrmillionen entstandene Schönheiten der Natur werden innerhalb von wenigen Jahren dem Profit geopfert. Die Banken haben aus der Krise nichts gelernt, sie scheffeln weiterhin Geld wie bisher. Unsere Politiker sind auch nicht immer die kompetentesten Menschen, die ein Land hervorgebracht hat. Ein Mann war zu Unrecht in der Psychiatrie eingesperrt, und keiner wollte es zunächst ändern. ... Es läuft so viel schief, dass einem täglich nach der Morgenlektüre schlecht werden könnte.
Aber man selbst ist ja auch nicht besser. Jeder von uns könnte in seinem Leben viel mehr erreichen und bleibt doch hinter seinen Möglichkeiten zurück: Wir verletzen Menschen aus unserem Umfeld, pflegen unseren inneren Schweinehund, lassen uns von Finanzberatern die falschen Geldanlagen aufschwatzen und bekommen nicht einmal unsere Beziehungen richtig hin.
Und da sollen wir Menschen, mit all unseren Defiziten, die Krone der Schöpfung sein? Wir Autoren sagen energisch: Nein, Menschen sind eine Fehlkonstruktion! Menschen sind von Natur aus in sehr vielen Bereichen schlichtweg dumm.
Nach vielen Treffen, bei denen wir uns immer wieder darüber beklagt haben, was erneut um uns herum und in unseren Leben schiefgelaufen ist, nachdem wir schon müde wurden festzustellen, wie es in der großen und kleinen Politik menschelt, haben wir uns entschieden, der Dummheit endlich auf den Grund zu gehen. So ist dieses Buch entstanden.
Wir haben viele Beispiele von Dummheit gesammelt und analysiert. Dazu gehören gescheiterte Großprojekte, über die ganz Deutschland den Kopf schüttelt. Dazu gehört die Einsamkeit, die viele empfinden, obwohl sie doch Hunderte von Freunden in den sozialen Netzwerken haben. Dazu gehört, dass wir unserem eigenen Entscheidungsvermögen nicht mehr trauen, sondern auf zweifelhafte Experten hören. Oder dass wir jahrelang in unglücklichen Situationen verharren, weil wir zu keiner Entscheidung fähig sind. Dazu gehört auch, dass wir immer mehr Faktenwissen ansammeln, aber immer weniger Zusammenhänge verstehen.
Schließlich sind wir zu folgendem Schluss gekommen: Der Mensch ist von Natur aus schon fehlerhaft, aber darüber hinaus ist er so dumm, dass er seine Fehler immer weiter betont, anstatt seine Stärken auszuspielen. Wir versuchen uns an Leistungssteigerungen in allen Bereichen, obwohl wir doch schon vielerorts an unsere Grenzen gelangt sind. Menschen sind keine Computer, die sich beliebig aufrüsten lassen. Sie haben ihre natürlichen physiologischen Grenzen. Diese lassen sich ausweiten, aber nicht uferlos. Zumindest wenn man nicht an anderer Stelle einen viel höheren Preis dafür zahlen will.
Auf der anderen Seite schätzen wir das, was wir können, als nicht so wichtig ein: Wir haben ein intuitives Wissen, das wir ergänzend zum expliziten Wissen einsetzen könnten, um eine Situation umfassender zu beurteilen. Wir könnten einen Perspektivwechsel vornehmen, um ein Problem von allen Seiten her zu beleuchten. Wir könnten ein neues Bildungskonzept erstellen, das uns besser in der Welt verankert. Wir könnten die Umwelt, in der wir leben, wieder unmittelbar beobachten, anstatt alles immer nur indirekt über das Internet und über Zeitungen aufzunehmen. Wir könnten - kurz gesagt - wieder mehr Mensch sein, dessen Stärke gerade in der breiten Anlage vieler Kompetenzen liegt.
Die vermeintlich explosionsartige Wissenszunahme der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte ist übrigens kein Argument gegen unsere Überzeugung, dass der Mensch eine Fehlkonstruktion ist. Wir glauben, viel zu wissen - doch in Wahrheit werden wir immer dümmer. Zwar können wir heute bereits Flugzeuge bauen, die nahezu 1 000 Personen befördern. Wir können die Kernspaltung in Atomkraftwerken steuern und den Zeitpunkt des Urknalls berechnen, falls es ihn gegeben haben sollte. Allerdings kann niemand von uns all dies alleine. Die individuelle Wissensmenge eines jeden Einzelnen hat sich in den letzten 1 000 Jahren nicht vergrößert, nur umverteilt. Wir leben vielmehr in einer Gemeinschaft, die herausragende Leistungen nur zusammen erreicht.
Wie aber ist es um die Intelligenz des Einzelnen bestellt? Könnten wir heute noch in der Wildnis überleben? Könnten wir das Wetter lesen, einen Bären mit Pfeil und Bogen erlegen und uns mit Arzneimitteln, die in der Natur zu finden sind, selbst helfen? Vor Tausenden Jahren war es überlebensnotwendig, dass jeder Einzelne all dies konnte. Heute würde so gut wie niemand längere Zeit unter Steinzeitbedingungen überleben. Und das ist nicht der einzige Bereich, in dem wir immer dümmer anstatt klüger werden. Kaum jemand hat nämlich begriffen, was emotionale Intelligenz bedeutet. Und wer hat schon eine Ahnung von der Intelligenz der Langsamkeit?
Bevor wir Sie auf die Expedition ins Reich der menschlichen Dummheit schicken, noch ein paar Sätze zum Aufbau dieses Buches: In den ersten sieben Kapiteln erfahren Sie anhand von Beispielen und Analysen ausgemachter Dummheiten mehr über die Prinzipien unseres Hirns, die es uns oft so schwer machen, klug zu handeln und zu entscheiden. Außerdem geben wir Ihnen Tipps, was Sie selbst tun können, um Dummheitsfallen zu entgehen. In Kapitel acht finden Sie eine Zusammenfassung und eine darüber hinausgehende Vertiefung der wissenschaftlichen Hintergründe. Hier gehen wir darauf ein, warum der Mensch eine Fehlkonstruktion der Natur ist. Und Kapitel neun bietet Ihnen mit einem kommentierten Überblick über die Literatur zur Dummheit viele Anregungen zur weiterführenden Lektüre.
Noch eine Anmerkung zum Stil: Wenn zwei unterschiedliche Menschen, wie es die beiden Autoren sind, zusammen ein Buch schreiben, können sie nicht immer die »Wir-Form« verwenden. Denn »wir« sind zwei Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen. Deswegen haben wir uns dazu entschieden, über uns selbst aus der Vogelperspektive zu schreiben. So kommt es zu Sätzen wie: »Ernst Pöppel erkannte durch seine Forchung ...«, oder »Beatrice Wagner traf in ihrer Praxis ...«.
Und nun hoffen wir, dass Sie in diesem Buch viel über die wahren menschlichen Kompetenzen erfahren und dass Ihnen dieses Wissen vielleicht hilft, dem ewigen »schneller, höher, weiter« unserer Gesellschaft andere Werte entgegenzusetzen.
Ernst Pöppel & Beatrice Wagner
1
Zu viel Wissen macht dumm, denn wir verlernen zu denken
Wer einen hohen Intelligenzquotienten hat, der ist klug. Und wer nicht, der ist dumm. Ist das wirklich so? Was ist eigentlich Dummheit und was Intelligenz? Sind schlechte Schulnoten ein Beweis für Dummheit und ein breites Allgemeinwissen ein Zeichen für Intelligenz? War Einstein hochbegabt? Und was bringt uns eigentlich das PISA-Ranking? Zeit, mit einigen Vorurteilen aufzuräumen.
IQ-Tests - Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst
Äsop mit drei Jahren
Als Alice zwei Jahre und neun Monate alt war, arbeitete sie spielend eine Serie von Mathebüchern für Fünfjährige durch. Mit drei sprach sie fließend und sehr gewählt ihre Muttersprache Russisch und zudem die Fremdsprache Englisch. Außerdem konnte sie perfekt lesen - nach Aussage ihrer Mutter sogar die Tierfabeln von Äsop, über deren tieferen Sinn man immerhin erst einmal nachdenken muss. Doch das Denken war und ist kein Problem für das Mädchen. Vom Hochbegabten-Club Mensa in Großbritannien wurde sie im Jahr 2013 auf einen IQ von 162 getestet - der liegt damit angeblich höher als der von Albert Einstein (160), Napoleon (145), Sigmund Freud (156) und der des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton (137). Auch andere Kinder und Jugendliche der jüngsten Zeit machen Schlagzeilen, weil ihr IQ über 160 liegen soll, wenngleich nicht bereits mit drei Jahren.
Aber was hat es eigentlich auf sich mit der Intelligenz und der Dummheit? Lassen sich die Intelligenzquotienten tatsächlich so einfach vergleichen? Und wie aussagekräftig ist der IQ tatsächlich für das Denkvermögen eines Menschen?
Was der Intelligenztest aussagt
Mit einem IQ-Test kann man die Intelligenz eines Menschen bestimmen. Was aber ist eigentlich Intelligenz? Darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Das ursprüngliche Konzept der Intelligenz hat der Franzose Alfred Binet erstellt, der eine Reihe von Testaufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen entwickelte, etwa Labyrinthe lösen, Perlen auffädeln, Figuren abzeichnen, Worte nachsprechen. Damit wollte er den Entwicklungsstand von Kindern feststellen. Wer die Aufgaben schneller und besser löste, war intelligenter. Der deutsche Psychologe William Stern entwickelte aus diesem Konzept eine Maßeinheit, um die Intelligenz verschiedener Menschen vergleichbar zu machen: den Intelligenzquotienten. Damals, im Jahr 1912, berechnete man ihn folgendermaßen: Intelligenzalter dividiert durch Lebensalter plus 100. Das Intelligenzalter war ein künstlicher Wert, pro gelöster Aufgabe gab es zwei Punkte. Wenn ein Kind ein Intelligenzalter von 12 Jahren hat, aber tatsächlich nur 10 Jahre alt ist, dann wird 12 durch 10 dividiert, was 1,2 ergibt. Das wird mit 100 multipliziert; das Kind hat also einen IQ von 120. Die 100 wurde eingeführt, damit der Wert leichter zu verstehen ist.
Einige der heute gebräuchlichsten Tests gehen auf den US-amerikanischen Psychologen David Wechsler zurück. Sie heißen HAWIE-R: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (R = revidierte Form), HAWIK-R für Kinder, Hannover-Wechsler- Intelligenztest für das Vorschulalter. »Alle Wechsler-Tests sind unterteilt in einen Verbalteil zur Erfassung der sprachlich-theoretischen Intelligenz und in einen Handlungsteil, um die praktisch konkrete Intelligenz zu bestimmen«, erklärt Erich Kasten in seinem Lehrbuch »Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie «. Die Tests beinhalten zum einen Power-Aufgaben mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad, diese Aufgaben können ohne Zeitbegrenzung gelöst werden. Zum anderen gibt es auch Speed- Aufgaben mit etwa gleichem Schwierigkeitsgrad und knapper Zeitbegrenzung. Gemessen wird: Allgemeines Wissen, Allgemeines Verständnis, Zahlennachsprechen, Rechnerisches Denken, Gemeinsamkeiten finden, Wortschatz, Zahlen-Symbol-Test, Bilderordnen, Bilderergänzen, Mosaik-Test und Figuren legen.
Der Durchschnitt der Testergebnisse liegt bei einem IQ von 100. Man geht von einer Standardabweichung von +/- 15 Prozent aus, das heißt, etwa zwei Drittel aller Menschen haben einen IQ zwischen 85 und 115 - das ist also die Norm. Die Menschen darunter gelten als minderbegabt - oder flapsig gesagt als dumm; die darüber zunächst als talentiert und ab 130 als hochbegabt. In der Psychologie ist die »Dummheit« etwas anders definiert: Der IQ-Bereich von 70 bis 90 stellt eine Übergangszone dar, die in der Psychologie als Lernbehinderung bezeichnet wird. Ab einem IQ von weniger als 70 spricht man von Intelligenzminderung, Minderbegabung, Schwachsinn oder Oligophrenie. Etwa 5 Prozent der Gesamtbevölkerung weisen nach der psychologischen Definition eine Intelligenzminderung auf.
Ein IQ-Test muss immer wieder normiert werden. Dazu werden große Zahlen von Probanden, also 30 000 bis 50 000, durchgemessen. Die Ergebnisse, die genau in der Mitte liegen, erhalten die Bezeichnung IQ = 100. Offenbar werden die Menschen stetig intelligenter - zumindest nach Definition des Intelligenztests; dieses Phänomen wird als Flynn-Effekt bezeichnet. Deshalb ist ein gemessener IQ aus dem Jahr 1953 nicht mit dem gemessenen IQ aus dem Jahr 2013 zu vergleichen.
Doch warum brauchen wir überhaupt Intelligenztests? Trotz aller Fortschritte der Neurowissenschaft en ist es bisher nicht gelungen, den »Sitz« oder die physische Entsprechung der Intelligenz im Gehirn selbst zu finden. Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, über die Größe des Gehirns oder die Anzahl beziehungsweise das Aussehen seiner Windungen eine Aussage darüber zu machen, ob jemand mehr oder weniger intelligent ist (ein Beispiel hierzu stellen wir im Literaturverzeichnis vor: »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes«, von Paul Julius August Möbius), aber alle derartigen Versuche sind völlig fehlgeschlagen. Auch Einsteins Gehirn unterscheidet sich anatomisch nicht von denen anderer Menschen, das zeigte die postmortale Untersuchung. Vielmehr werden die verschiedenen Äußerungs- formen dessen, was man als Intelligenz bezeichnet und anhand von IQ-Tests misst, durch Faktoren bestimmt, die nicht an einzelne Hirnareale oder Prozesse in diesen gebunden sind, sondern jeweils raum-zeitliche Muster repräsentieren, das heißt, während eines Zeitauflaufs entstehen und verändern sich verschiedene Aktivierungsmuster. Im Hinblick auf bestimmte Leistungen ist es zwar möglich, Korrelationen zur Größe bestimmter Areale herzustellen: Klavierspieler und vermutlich auch Masseure haben dort vergrößerte Areale, wo die Finger im Gehirn vertreten sind. Bei Taxifahrern sind die Areale vergrößert, die etwas mit räumlicher Wahrnehmung zu tun haben.
Das Argument kann man jedoch nicht umdrehen: Wenn jemand irgendwo eine größere Ausprägung hat, folgt daraus nicht, dass er oder sie ein guter Taxifahrer oder ein begnadeter Pianist ist. Es ist nicht einmal sicher, dass die Vergrößerung eines Areals notwendig ist, um eine besondere Leistung zu erzielen, denn vielleicht stecken viel eher biochemische Prozesse dahinter. Vermutlich wird es eines Tages möglich sein, durch lokale Messung neurochemischer Prozesse in verschiedenen Hirnregionen, die für bestimmte Intelligenzleistungen zuständig sind, einen tieferen Einblick in die individuelle Intelligenzstruktur zu bekommen.
Verein für Hochbegabte
Ernst Pöppel wollte die Sache mit dem Intelligenzquotienten einmal genau wissen und hat fünf verschiedene IQ-Tests absolviert. Die Ergebnisse reichten von 105, was knapp über dem Durchschnitt von 100 liegt, bis 145, also hochbegabt. Das 145er-Ergebnis erzielte Pöppel in den USA, wo die Obergrenze bei 190 liegt. In Deutschland liegt bei vergleichbaren Tests die Obergrenze bei 145. »Darüber hinaus gibt es zu wenig Probanden, um solch hohe Testergebnisse valide zuzuordnen«, erzählt Matthias Moehl von Mensa in Deutschland e. V. (MinD). Mensa ist ein weltweiter Verein für hochbegabte Menschen, in den man ab einem IQ von 130 eintreten darf. 110 000 Menschen aus allen Alters- und Bevölkerungsgruppen haben dies weltweit geschafft, 10 000 davon leben in Deutschland.
Albert Einstein (1879-1955) gehörte dem im Jahr 1946 gegründeten Verein nicht an. »Er hat, soweit wir wissen, auch nie einen IQ-Test gemacht, und somit ist es reine Kaffeesatzleserei, ihm postmortal einen Intelligenzquotienten zuzuschreiben«, kritisiert Moehl. Einstein war offenbar nicht einmal besonders gut in Mathematik, das hat er selbst zugegeben. Bei der Entwicklung der mathematisch höchst anspruchsvollen allgemeinen Relativitätstheorie unterstützte ihn daher seine Studienkollegin und erste Ehefrau Mileva Maric. »Einsteins große Leistung war, sich von den Dogmen und Zwängen der damaligen Physik zu befreien. Er hat kreativ zerstört und alles in Frage gestellt. Hierbei ist hohe Intelligenz eventuell sogar hinderlich, was sicher auch bei manchen Hochbegabten zu beobachten ist«, meint Moehl. Viele sind beispielsweise brillant darin, technische Details zu durchdringen oder besonders schnell zu denken und zu rechnen. Solche Eigenschaften werden bei einem IQ-Test schließlich auch gemessen.
»Für Einstein aber kam es darauf an, das bereits vorhandene Wissen zu einer neuen Weltanschauung zusammenzukomponieren. Wer es nicht schafft, sich von Details zu lösen, kann so etwas nie zustande bringen«, sagt Moehl. Auch Stephen Hawking gelte übrigens nicht als Schnellrechner, doch er habe unglaublich viel Überblick und Phantasie. Das werde mit IQ-Tests aber nicht gemessen. Beim IQ-Test gehe es vielmehr darum, sich innerhalb vorgefertigter Strukturen und Gegebenheiten schnell zurechtzufinden. Wem das gut gelänge, der habe einen hohen IQ. Aber auch wenn ein solcher als erstrebenswerte Eigenschaft gilt, so sagt er doch nichts über den Wert des Menschen aus. »Das kann man mit Sport gut vergleichen«, so Moehl im Interview mit Beatrice Wagner. Auch ein begnadeter Sportler, der in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen habe, sei deshalb nicht automatisch auch ein guter Mensch und rechtschaffener Bürger. Fälle wie Uli Hoeneß oder Jan Ullrich zeigen das, und auch unter den hochintelligenten Menschen gibt es solche, die ihre Fähigkeiten für fragwürdige oder sogar kriminelle Zwecke einsetzen.
Laut Moehl ist es zudem kritisch, Kleinkinder von zwei oder drei Jahren auf ihre Intelligenz hin zu testen. In diesem Alter kann der gemessene IQ stark schwanken, weil die kindliche Entwicklung große Sprünge macht. »Insofern ist es problematisch, den IQ eines Kleinkindes mit dem eines Erwachsenen zu vergleichen, denn möglicherweise befindet sich das Kleinkind zum Messzeitpunkt nur gerade in einem Entwicklungsschub. Der hohe IQ ist dann einzig und allein auf den temporären Entwicklungsvorsprung zu den Gleichaltrigen zurückzuführen«, gibt Matthias Moehl zu bedenken.
Zerstörte Schulkarrieren - zu dumm oder nur zu wenig gefördert?
Aus der Praxis:
Zwischen debil und knapp vor hochbegabt
Die Geschichte der zwölfjährigen Anni aus Bayern zeigt uns, wie stark IQ-Werte schwanken können, sogar innerhalb von Minuten. Sie war zunächst keine Leuchte, nicht einmal in der Hauptschule. Dort gab es schon wieder eine Fünf in der »Ex«. Anni lacht trotzig. »Schule ist doch eh scheiße.« Zuhause pfeffert sie die Schulbücher in eine Ecke und läuft in ihr Zimmer. Erst einmal Facebook checken. »Wie war es denn, Schatz?« Die Mutter traut sich irgendwann doch in das heilige Reich ihrer Tochter. »Hast du die Mathearbeit zurück?« »Ja.« Das Mädchen schaut nicht einmal auf. »Und, was hast du bekommen?« »Na, was wohl? Eine Fünf natürlich.« Keine Regung im Gesicht. Nur die Finger flitzen weiter über die Tastatur, um die Nachrichten der Freunde zu beantworten. »Wollen wir nachher zusammen lernen?«, bietet die Mutter vorsichtig an. »Nein. Lass es einfach, o.k.? Ich bin zu dumm für die Hauptschule. Ich kann ja immer noch zu Aldi an die Kasse.«
»Finden Sie sich bitte damit ab. Ihre Tochter ist eine klassische Hauptschülerin. Sie soll dort ihren Weg gehen, sich bewähren, dann hat sie noch viele Chancen«, versuchte die Direktorin einer staatlichen Realschule der Mutter klarzumachen, bei der sie ein Vorstellungsgespräch für ihre Anni erwirkt hatte. Denn sie kennt ihre Tochter auch ganz anders: neugierig, kreativ, wissbegierig.
»Eine Fünf in allen Hauptfächern und in Ethik. In Ethik? Darin hat doch jeder zumindest eine Drei!« Auch der Direktor einer privaten Realschule schüttelte den Kopf. Solche Fälle kennt er zur Genüge - überspannte ehrgeizige Eltern, die nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind bestenfalls durchschnittlich begabt ist.
Schließlich absolvierte Anni einen Intelligenztest bei einem Schulpsychologen. Das Ergebnis sah bereits auf den ersten Blick katastrophal aus. Der Schulpsychologe, der ihr über die Schulter schaute, wollte es nicht glauben. »Schau dir das doch noch einmal an, das kannst du besser«, versuchte er Anni zu motivieren. Diese war erstaunt. Da traute ihr jemand tatsächlich etwas zu? Sie nahm den Stift zur Hand und überflog die Aufgaben noch einmal. Und verbesserte sie. Dies brachte ihr einen IQ-Wert von 128 ein. Ohne die Nachbearbeitung hätte er bei 80 gelegen. »Da sehen Sie einmal, in welcher Spanne sich ein IQ bewegen kann, zwischen debil bis knapp vor hochbegabt. Entscheidend ist, ob Motivation vorhanden ist«, erzählte der Psychologe begeistert Annis Mutter. Nachdem er Anni den Test erklärt hatte, habe das Mädchen zunächst mit einer Art schulischer Prüfung gerechnet, die sie sich sowieso nicht zutraute. Dementsprechend fielen ihre Resultate aus. Erst als sie daran glaubte, den Test bestehen zu können, und sich dementsprechend anstrengte, gelang ihr eine hervorragende Leistung.
Das war der Wendepunkt in Annis Leben. Sie wurde von einer privaten Realschule angenommen und zweifelte nicht mehr daran, dass sie dem Schulstoff gewachsen war. Die Fünfer in der Hauptschule, das Stigma der dummen Schülerin - alles ging wie ein böser Spuk vorbei. Einser, Zweier und Dreier zierten nun Annis Zeugnis. Und man fragt sich: Woran lag es, dass niemand das Potenzial der Schülerin erkannte? Waren die Lehrer blind? Sind die Lehrpläne schlecht? Sind die Verantwortlichen für die Lehrpläne dumm, weil sie die falschen Regeln aufstellen, nach denen Schüler bewertet werden?
Offenbar treffen alle drei Punkte zu, so Ernst Pöppel: »Es gibt bei uns keinen Platz für Schüler, die nicht nach dem Bildungsplan lernen können. Sie gehen einfach unter, wenn sie nicht Glück haben, wie Anni aus unserer Geschichte. Es wird wahnsinnig viel geistiges Potenzial verschleudert, nur weil unser Bildungsplan so dämlich ist.«
Offenbar gibt es zwei Formen von Dummheit. Einmal diejenige, von der Anni zunächst betroffen schien und die aus einem geringen geistigen Leistungsvermögen resultiert. Und dann diejenige, die wenig mit dem IQ zu tun hat. Diese zweite Form von Dummheit geht auf die Verweigerung zurück, den Menschen so zu erkennen, wie er eigentlich ist, mit all seinen Schwächen und Stärken, Begrenzungen und Potenzialen. Nicht nur Schulkarrieren werden auf diese Art und Weise beinahe oder sogar ganz zerstört.
Aus der Praxis:
Wie unbedachte Bemerkungen einen Lebensweg zerstören können
Auch dem heute 45-jährigen Claudio Keil ging es so. Seine Mutter konnte wenig mit ihm anfangen, und so landete er bei seinen Großeltern in einem Dorf im Schwarzwald. Diesen war es vor allem wichtig, dass der Kleine funktionierte - sonst gab es Arrest im dunklen Keller. In der Pubertät nahm ihn der Vater, der in einer Stadt wohnte, zu sich, doch das Verhältnis war nicht gerade von Herzlichkeit geprägt. Der Vater ließ ihn viel allein. Trotzdem fand Claudio endlich Freunde, die zu einer Art Ersatzfamilie wurden. Claudio versuchte, sich Respekt und Anerkennung unter ihnen zu verschaffen, und passte sich ihrem Auftreten an: lange Haare, Lederjacke, Zigaretten, Alkohol, später auch harte Drogen. Die Freunde schlossen sich einer bekannten Motorradgang an, Claudio machte dort »Karriere«. Wer sich ihm in den Weg stellte, wurde weggebügelt. Er hatte zwei sogenannte »Boxer« an seiner Seite - Mitglieder, die nur dazu da waren, Claudio zu beschützen und auf seine Feinde loszugehen.
Ein Lehrer hatte diese Laufbahn früh vorhergesehen: »Keil, aus dir wird sowieso nichts«, sagte er dem unsicheren Jungen, als der noch Schüler war und um die Anerkennung seines Vaters warb. Und aus Trotz schien sich der Spruch zu bewahrheiten, nach dem Motto: »Wenn ihr mich sowieso nicht wollt, dann mache ich euch das Leben wenigstens zur Hölle.« Claudio war gefürchtet - bis es ihn eines Tages bei einer Schießerei fast selbst erwischt hätte. Das war der Anlass für eine Lebensbilanz: »Wenn du jetzt draufgegangen wärst, hättest du dann wirklich ein erfülltes Leben gehabt? Du ruinierst deine Gesundheit, stehst ständig mit einem Fuß im Knast und setzt dein Leben aufs Spiel. War es das, was du dir erträumt hattest? Wolltest du nicht einmal Ingenieur werden?«
Nach unserer Definition von Intelligenz und Dummheit hat Claudio sich von hier an intelligent verhalten. Er hat die Zeichen richtig gedeutet und beschlossen, sein Leben radikal zu verändern. Er verließ den Schwarzwald, hörte mit den Drogen auf, ließ sich einen gefälligen Haarschnitt verpassen und begann, an einer Fachhochschule zu studieren. Sich selbst an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen war schwer, doch er fand neue Freunde, die ihm halfen. »Mich trieb an, dass ich ansonsten bald die Erdbeeren von unten gesehen hätte«, erklärte Claudio. Vielleicht wäre sein Weg anders verlaufen, hätte ihn der Lehrer nicht so vernichtend abgeurteilt. »Ich habe es mir nicht anmerken lassen, aber es hat mir damals viel ausgemacht. Im Nachhinein würde ich sagen, dass es eine dumme Aussage war, denn er kannte mich noch gar nicht. Hilfreicher wäre es gewesen, wenn jemand auch das Gute in mir gesehen hätte und nicht nur das Schlechte«, so Claudio Keil, der sich seinen Traum erfüllt hat und heute als Maschinenbauingenieur bei einer namhaften Firma arbeitet.
Wir sind soziale Wesen, die darauf angewiesen sind, von anderen Menschen Rückmeldung zu bekommen. Wir werden durch andere geformt, indem sie uns zu verstehen geben, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht. Daran passen wir uns nach dem Trial-and-Error-Prinzip an. Die Lehrer von Anni und Claudio haben den Kindern vor allem deutlich gemacht, was sie nicht können. Sie würdigten ihre Schüler herab. Motivation aber erhält man, wenn man ein Ziel vor Augen hat, das erreichbar scheint. Wenn das Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen jedoch zerstört wird, können sie keine Kräfte mehr entwickeln, um die Herausforderungen in der Schule zu bestehen. Schüler brauchen also eine Anerkennung ihrer Leistungen.
Über zwei Arten von Dummheit
»Diese höhere Dummheit ist die eigentliche Bildungskrankheit«, sagte der Schriftsteller Robert Musil 1937 in seinem Vortrag »Über die Dummheit«. Tatsächlich sind die beiden Formen von Dummheit, die wir gerade kennengelernt haben, sehr verschieden. Während die eine tatsächlich auf einen niedrigen Intelligenzquotienten zurückzuführen ist und in der heutigen Pädagogik aus Gründen der Stigmatisierung nicht mehr mit dem Begriff »dumm« bezeichnet wird, geht es bei der anderen Form von Dummheit um die Weigerung, etwas wahrzunehmen, was offenbar der Fall ist. Musil: Es gibt »eine ehrliche und schlichte Dummheit und eine andere, die, ein wenig paradox, sogar ein Zeichen von Intelligenz ist. Die erstere beruht eher auf einem schwachen Verstand, die letztere eher auf einem Verstand, der bloß im Verhältnis zu irgend etwas zu schwach ist, und diese ist die weitaus gefährlichere.«
Um die zweite Form der Dummheit geht es in diesem Buch, und sie zu beschreiben ist eine beinahe unendliche Aufgabe. Anni und Claudio haben Lehrer erlebt, die ignorierten, dass auch Schüler, die nicht folgsam und fleißig sind, ein intellektuelles Potenzial haben, welches es zu erwecken gilt. Beginnen wir damit, uns die Dummheit in unserem Bildungssystem, die »eigentliche Bildungskrankheit «, genauer anzuschauen.
PISA und Co. - der Ranking-Wahnsinn
Brauchen Schulen und Universitäten die Anerkennung von außen genauso wie Anni und Claudio? Oder läuft hier nicht etwas aus dem Ruder und führt womöglich erst zur Bildungsdummheit, wenn es nur noch um vergleichbare Zahlen und möglichst gute Werte geht? Anerkennung suchen derzeit viele Schulen und Universitäten, und zwar in Form eines hohen Platzes bei einem Ranking. Das bekannteste heißt PISA (Programme for International Student Assessment) und basiert auf den Schulstudien der OECD. Ein Pendant auf universitärer Ebene ist das weltweite Uniranking der TIMES (genauer: TIMES Higher Education - THE). Beide Rankings können zu absurden Situationen führen. Das sehen wir uns nun am Beispiel von PISA und dem jungen Studenten Kim aus Südkorea an.
Reproduktive versus kreative Intelligenz
Südkorea befindet sich regelmäßig in der Spitzengruppe bei der PISA-Auswertung. Im Jahr 2009 erreichte das Land in Mathematik Platz 4, Deutschland Platz 16. In den Naturwissenschaften kam Südkorea auf Platz 6, Deutschland auf Platz 13. In puncto Leseverständnis sah es so aus: Südkorea Platz 2, Deutschland Platz 20. Der südkoreanische Student Kim war nicht nur ein glänzender Schüler gewesen, sondern hatte auch das Studium der Neurowissenschaften mit Bravour zum Abschluss gebracht und kam zu einem Doktorandenstudiengang nach Deutschland. Im Humanwissenschaftlichen Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München erhielt er die Chance, unter Ernst Pöppel zu promovieren. Kim hatte ein unglaublich großes Wissen. Er kannte die Funktionsbereiche des Gehirns, die Arbeitsweise der Neuronen, die Anatomie der kleinsten Hirnwindungen und was sich noch alles an Geheimnissen unter unserer Schädeldecke verbirgt. Aber es war eine rein reproduktive Intelligenz. In der kreativen Phase als Wissenschaftler war er ein absoluter Versager. Er konnte sich keine ungewöhnlichen Zusammenhänge vorstellen, keine neuen Studien designen, keine eigenen Ideen entwickeln. Ein junger Wissenschaftler, randvoll mit Wissen - und trotzdem dumm?
»Das ist die PISA-Dummheit«, kritisiert Ernst Pöppel. »Es ist Dummheit, wenn wir nur solche Schüler produzieren, die in Mathe, Naturwissenschaften und im Lesen gut sind, in den Disziplinen eben, die mit PISA getestet werden.« Dahinter steht ein völlig missverstandenes Bild vom Menschen. Denn der Mensch braucht auch soziale Intelligenz, emotionale Intelligenz, er wendet sich den Künsten, den Geisteswissenschaften oder dem Sport zu. In der bayerischen Verfassung § 131 ist sogar festgelegt, dass junge Menschen in allen Anlagen gefördert werden sollen. In Absatz 1 steht explizit, dass es in den Schulen auch um Herzensbildung gehen soll. »Wenn wir das Bildungssystem nur danach ausrichten, uns im PISA-Ranking zu verbessern, lassen wir die vielen anderen Qualitäten eines Menschen verkommen. Und damit machen wir die Gesellschaft kaputt«, so Pöppel. Denn es kommt für eine stabile Gesellschaft nicht darauf an, dass wir alle gut in Mathe, Physik, Chemie und Lesen sind. Es braucht auch Menschen, die kreativ sind und neue Ideen haben. Es braucht Menschen, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern. Es braucht Menschen, die inspirieren, unterhalten, integrieren. Diese Fähigkeiten aber kommen durch die PISA-Dummheit zu kurz. Unsere Gesellschaft wird zu einem System von möglichst funktionalen Menschen ummodelliert, die sich am besten unauffällig in den Mainstream einordnen. Das ist nicht von Vorteil.
Kim aus Südkorea ist ein gutes Beispiel dafür, dass die rein reproduktive Intelligenz nichts Neues schafft.
© 2013 Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Hat Einstein Recht? Man könnte es meinen, nach einem einzigen Blick in die Zeitung: Zwei kleine Länder schaffen es seit Jahrzehnten nicht, sich zu einem Friedensabkommen durchzuringen, lieber zerstören sie sich gegenseitig. Über Jahrmillionen entstandene Schönheiten der Natur werden innerhalb von wenigen Jahren dem Profit geopfert. Die Banken haben aus der Krise nichts gelernt, sie scheffeln weiterhin Geld wie bisher. Unsere Politiker sind auch nicht immer die kompetentesten Menschen, die ein Land hervorgebracht hat. Ein Mann war zu Unrecht in der Psychiatrie eingesperrt, und keiner wollte es zunächst ändern. ... Es läuft so viel schief, dass einem täglich nach der Morgenlektüre schlecht werden könnte.
Aber man selbst ist ja auch nicht besser. Jeder von uns könnte in seinem Leben viel mehr erreichen und bleibt doch hinter seinen Möglichkeiten zurück: Wir verletzen Menschen aus unserem Umfeld, pflegen unseren inneren Schweinehund, lassen uns von Finanzberatern die falschen Geldanlagen aufschwatzen und bekommen nicht einmal unsere Beziehungen richtig hin.
Und da sollen wir Menschen, mit all unseren Defiziten, die Krone der Schöpfung sein? Wir Autoren sagen energisch: Nein, Menschen sind eine Fehlkonstruktion! Menschen sind von Natur aus in sehr vielen Bereichen schlichtweg dumm.
Nach vielen Treffen, bei denen wir uns immer wieder darüber beklagt haben, was erneut um uns herum und in unseren Leben schiefgelaufen ist, nachdem wir schon müde wurden festzustellen, wie es in der großen und kleinen Politik menschelt, haben wir uns entschieden, der Dummheit endlich auf den Grund zu gehen. So ist dieses Buch entstanden.
Wir haben viele Beispiele von Dummheit gesammelt und analysiert. Dazu gehören gescheiterte Großprojekte, über die ganz Deutschland den Kopf schüttelt. Dazu gehört die Einsamkeit, die viele empfinden, obwohl sie doch Hunderte von Freunden in den sozialen Netzwerken haben. Dazu gehört, dass wir unserem eigenen Entscheidungsvermögen nicht mehr trauen, sondern auf zweifelhafte Experten hören. Oder dass wir jahrelang in unglücklichen Situationen verharren, weil wir zu keiner Entscheidung fähig sind. Dazu gehört auch, dass wir immer mehr Faktenwissen ansammeln, aber immer weniger Zusammenhänge verstehen.
Schließlich sind wir zu folgendem Schluss gekommen: Der Mensch ist von Natur aus schon fehlerhaft, aber darüber hinaus ist er so dumm, dass er seine Fehler immer weiter betont, anstatt seine Stärken auszuspielen. Wir versuchen uns an Leistungssteigerungen in allen Bereichen, obwohl wir doch schon vielerorts an unsere Grenzen gelangt sind. Menschen sind keine Computer, die sich beliebig aufrüsten lassen. Sie haben ihre natürlichen physiologischen Grenzen. Diese lassen sich ausweiten, aber nicht uferlos. Zumindest wenn man nicht an anderer Stelle einen viel höheren Preis dafür zahlen will.
Auf der anderen Seite schätzen wir das, was wir können, als nicht so wichtig ein: Wir haben ein intuitives Wissen, das wir ergänzend zum expliziten Wissen einsetzen könnten, um eine Situation umfassender zu beurteilen. Wir könnten einen Perspektivwechsel vornehmen, um ein Problem von allen Seiten her zu beleuchten. Wir könnten ein neues Bildungskonzept erstellen, das uns besser in der Welt verankert. Wir könnten die Umwelt, in der wir leben, wieder unmittelbar beobachten, anstatt alles immer nur indirekt über das Internet und über Zeitungen aufzunehmen. Wir könnten - kurz gesagt - wieder mehr Mensch sein, dessen Stärke gerade in der breiten Anlage vieler Kompetenzen liegt.
Die vermeintlich explosionsartige Wissenszunahme der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte ist übrigens kein Argument gegen unsere Überzeugung, dass der Mensch eine Fehlkonstruktion ist. Wir glauben, viel zu wissen - doch in Wahrheit werden wir immer dümmer. Zwar können wir heute bereits Flugzeuge bauen, die nahezu 1 000 Personen befördern. Wir können die Kernspaltung in Atomkraftwerken steuern und den Zeitpunkt des Urknalls berechnen, falls es ihn gegeben haben sollte. Allerdings kann niemand von uns all dies alleine. Die individuelle Wissensmenge eines jeden Einzelnen hat sich in den letzten 1 000 Jahren nicht vergrößert, nur umverteilt. Wir leben vielmehr in einer Gemeinschaft, die herausragende Leistungen nur zusammen erreicht.
Wie aber ist es um die Intelligenz des Einzelnen bestellt? Könnten wir heute noch in der Wildnis überleben? Könnten wir das Wetter lesen, einen Bären mit Pfeil und Bogen erlegen und uns mit Arzneimitteln, die in der Natur zu finden sind, selbst helfen? Vor Tausenden Jahren war es überlebensnotwendig, dass jeder Einzelne all dies konnte. Heute würde so gut wie niemand längere Zeit unter Steinzeitbedingungen überleben. Und das ist nicht der einzige Bereich, in dem wir immer dümmer anstatt klüger werden. Kaum jemand hat nämlich begriffen, was emotionale Intelligenz bedeutet. Und wer hat schon eine Ahnung von der Intelligenz der Langsamkeit?
Bevor wir Sie auf die Expedition ins Reich der menschlichen Dummheit schicken, noch ein paar Sätze zum Aufbau dieses Buches: In den ersten sieben Kapiteln erfahren Sie anhand von Beispielen und Analysen ausgemachter Dummheiten mehr über die Prinzipien unseres Hirns, die es uns oft so schwer machen, klug zu handeln und zu entscheiden. Außerdem geben wir Ihnen Tipps, was Sie selbst tun können, um Dummheitsfallen zu entgehen. In Kapitel acht finden Sie eine Zusammenfassung und eine darüber hinausgehende Vertiefung der wissenschaftlichen Hintergründe. Hier gehen wir darauf ein, warum der Mensch eine Fehlkonstruktion der Natur ist. Und Kapitel neun bietet Ihnen mit einem kommentierten Überblick über die Literatur zur Dummheit viele Anregungen zur weiterführenden Lektüre.
Noch eine Anmerkung zum Stil: Wenn zwei unterschiedliche Menschen, wie es die beiden Autoren sind, zusammen ein Buch schreiben, können sie nicht immer die »Wir-Form« verwenden. Denn »wir« sind zwei Individuen mit unterschiedlichen Erfahrungen. Deswegen haben wir uns dazu entschieden, über uns selbst aus der Vogelperspektive zu schreiben. So kommt es zu Sätzen wie: »Ernst Pöppel erkannte durch seine Forchung ...«, oder »Beatrice Wagner traf in ihrer Praxis ...«.
Und nun hoffen wir, dass Sie in diesem Buch viel über die wahren menschlichen Kompetenzen erfahren und dass Ihnen dieses Wissen vielleicht hilft, dem ewigen »schneller, höher, weiter« unserer Gesellschaft andere Werte entgegenzusetzen.
Ernst Pöppel & Beatrice Wagner
1
Zu viel Wissen macht dumm, denn wir verlernen zu denken
Wer einen hohen Intelligenzquotienten hat, der ist klug. Und wer nicht, der ist dumm. Ist das wirklich so? Was ist eigentlich Dummheit und was Intelligenz? Sind schlechte Schulnoten ein Beweis für Dummheit und ein breites Allgemeinwissen ein Zeichen für Intelligenz? War Einstein hochbegabt? Und was bringt uns eigentlich das PISA-Ranking? Zeit, mit einigen Vorurteilen aufzuräumen.
IQ-Tests - Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst
Äsop mit drei Jahren
Als Alice zwei Jahre und neun Monate alt war, arbeitete sie spielend eine Serie von Mathebüchern für Fünfjährige durch. Mit drei sprach sie fließend und sehr gewählt ihre Muttersprache Russisch und zudem die Fremdsprache Englisch. Außerdem konnte sie perfekt lesen - nach Aussage ihrer Mutter sogar die Tierfabeln von Äsop, über deren tieferen Sinn man immerhin erst einmal nachdenken muss. Doch das Denken war und ist kein Problem für das Mädchen. Vom Hochbegabten-Club Mensa in Großbritannien wurde sie im Jahr 2013 auf einen IQ von 162 getestet - der liegt damit angeblich höher als der von Albert Einstein (160), Napoleon (145), Sigmund Freud (156) und der des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton (137). Auch andere Kinder und Jugendliche der jüngsten Zeit machen Schlagzeilen, weil ihr IQ über 160 liegen soll, wenngleich nicht bereits mit drei Jahren.
Aber was hat es eigentlich auf sich mit der Intelligenz und der Dummheit? Lassen sich die Intelligenzquotienten tatsächlich so einfach vergleichen? Und wie aussagekräftig ist der IQ tatsächlich für das Denkvermögen eines Menschen?
Was der Intelligenztest aussagt
Mit einem IQ-Test kann man die Intelligenz eines Menschen bestimmen. Was aber ist eigentlich Intelligenz? Darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Das ursprüngliche Konzept der Intelligenz hat der Franzose Alfred Binet erstellt, der eine Reihe von Testaufgaben mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen entwickelte, etwa Labyrinthe lösen, Perlen auffädeln, Figuren abzeichnen, Worte nachsprechen. Damit wollte er den Entwicklungsstand von Kindern feststellen. Wer die Aufgaben schneller und besser löste, war intelligenter. Der deutsche Psychologe William Stern entwickelte aus diesem Konzept eine Maßeinheit, um die Intelligenz verschiedener Menschen vergleichbar zu machen: den Intelligenzquotienten. Damals, im Jahr 1912, berechnete man ihn folgendermaßen: Intelligenzalter dividiert durch Lebensalter plus 100. Das Intelligenzalter war ein künstlicher Wert, pro gelöster Aufgabe gab es zwei Punkte. Wenn ein Kind ein Intelligenzalter von 12 Jahren hat, aber tatsächlich nur 10 Jahre alt ist, dann wird 12 durch 10 dividiert, was 1,2 ergibt. Das wird mit 100 multipliziert; das Kind hat also einen IQ von 120. Die 100 wurde eingeführt, damit der Wert leichter zu verstehen ist.
Einige der heute gebräuchlichsten Tests gehen auf den US-amerikanischen Psychologen David Wechsler zurück. Sie heißen HAWIE-R: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (R = revidierte Form), HAWIK-R für Kinder, Hannover-Wechsler- Intelligenztest für das Vorschulalter. »Alle Wechsler-Tests sind unterteilt in einen Verbalteil zur Erfassung der sprachlich-theoretischen Intelligenz und in einen Handlungsteil, um die praktisch konkrete Intelligenz zu bestimmen«, erklärt Erich Kasten in seinem Lehrbuch »Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie «. Die Tests beinhalten zum einen Power-Aufgaben mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad, diese Aufgaben können ohne Zeitbegrenzung gelöst werden. Zum anderen gibt es auch Speed- Aufgaben mit etwa gleichem Schwierigkeitsgrad und knapper Zeitbegrenzung. Gemessen wird: Allgemeines Wissen, Allgemeines Verständnis, Zahlennachsprechen, Rechnerisches Denken, Gemeinsamkeiten finden, Wortschatz, Zahlen-Symbol-Test, Bilderordnen, Bilderergänzen, Mosaik-Test und Figuren legen.
Der Durchschnitt der Testergebnisse liegt bei einem IQ von 100. Man geht von einer Standardabweichung von +/- 15 Prozent aus, das heißt, etwa zwei Drittel aller Menschen haben einen IQ zwischen 85 und 115 - das ist also die Norm. Die Menschen darunter gelten als minderbegabt - oder flapsig gesagt als dumm; die darüber zunächst als talentiert und ab 130 als hochbegabt. In der Psychologie ist die »Dummheit« etwas anders definiert: Der IQ-Bereich von 70 bis 90 stellt eine Übergangszone dar, die in der Psychologie als Lernbehinderung bezeichnet wird. Ab einem IQ von weniger als 70 spricht man von Intelligenzminderung, Minderbegabung, Schwachsinn oder Oligophrenie. Etwa 5 Prozent der Gesamtbevölkerung weisen nach der psychologischen Definition eine Intelligenzminderung auf.
Ein IQ-Test muss immer wieder normiert werden. Dazu werden große Zahlen von Probanden, also 30 000 bis 50 000, durchgemessen. Die Ergebnisse, die genau in der Mitte liegen, erhalten die Bezeichnung IQ = 100. Offenbar werden die Menschen stetig intelligenter - zumindest nach Definition des Intelligenztests; dieses Phänomen wird als Flynn-Effekt bezeichnet. Deshalb ist ein gemessener IQ aus dem Jahr 1953 nicht mit dem gemessenen IQ aus dem Jahr 2013 zu vergleichen.
Doch warum brauchen wir überhaupt Intelligenztests? Trotz aller Fortschritte der Neurowissenschaft en ist es bisher nicht gelungen, den »Sitz« oder die physische Entsprechung der Intelligenz im Gehirn selbst zu finden. Zwar hat es immer wieder Versuche gegeben, über die Größe des Gehirns oder die Anzahl beziehungsweise das Aussehen seiner Windungen eine Aussage darüber zu machen, ob jemand mehr oder weniger intelligent ist (ein Beispiel hierzu stellen wir im Literaturverzeichnis vor: »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes«, von Paul Julius August Möbius), aber alle derartigen Versuche sind völlig fehlgeschlagen. Auch Einsteins Gehirn unterscheidet sich anatomisch nicht von denen anderer Menschen, das zeigte die postmortale Untersuchung. Vielmehr werden die verschiedenen Äußerungs- formen dessen, was man als Intelligenz bezeichnet und anhand von IQ-Tests misst, durch Faktoren bestimmt, die nicht an einzelne Hirnareale oder Prozesse in diesen gebunden sind, sondern jeweils raum-zeitliche Muster repräsentieren, das heißt, während eines Zeitauflaufs entstehen und verändern sich verschiedene Aktivierungsmuster. Im Hinblick auf bestimmte Leistungen ist es zwar möglich, Korrelationen zur Größe bestimmter Areale herzustellen: Klavierspieler und vermutlich auch Masseure haben dort vergrößerte Areale, wo die Finger im Gehirn vertreten sind. Bei Taxifahrern sind die Areale vergrößert, die etwas mit räumlicher Wahrnehmung zu tun haben.
Das Argument kann man jedoch nicht umdrehen: Wenn jemand irgendwo eine größere Ausprägung hat, folgt daraus nicht, dass er oder sie ein guter Taxifahrer oder ein begnadeter Pianist ist. Es ist nicht einmal sicher, dass die Vergrößerung eines Areals notwendig ist, um eine besondere Leistung zu erzielen, denn vielleicht stecken viel eher biochemische Prozesse dahinter. Vermutlich wird es eines Tages möglich sein, durch lokale Messung neurochemischer Prozesse in verschiedenen Hirnregionen, die für bestimmte Intelligenzleistungen zuständig sind, einen tieferen Einblick in die individuelle Intelligenzstruktur zu bekommen.
Verein für Hochbegabte
Ernst Pöppel wollte die Sache mit dem Intelligenzquotienten einmal genau wissen und hat fünf verschiedene IQ-Tests absolviert. Die Ergebnisse reichten von 105, was knapp über dem Durchschnitt von 100 liegt, bis 145, also hochbegabt. Das 145er-Ergebnis erzielte Pöppel in den USA, wo die Obergrenze bei 190 liegt. In Deutschland liegt bei vergleichbaren Tests die Obergrenze bei 145. »Darüber hinaus gibt es zu wenig Probanden, um solch hohe Testergebnisse valide zuzuordnen«, erzählt Matthias Moehl von Mensa in Deutschland e. V. (MinD). Mensa ist ein weltweiter Verein für hochbegabte Menschen, in den man ab einem IQ von 130 eintreten darf. 110 000 Menschen aus allen Alters- und Bevölkerungsgruppen haben dies weltweit geschafft, 10 000 davon leben in Deutschland.
Albert Einstein (1879-1955) gehörte dem im Jahr 1946 gegründeten Verein nicht an. »Er hat, soweit wir wissen, auch nie einen IQ-Test gemacht, und somit ist es reine Kaffeesatzleserei, ihm postmortal einen Intelligenzquotienten zuzuschreiben«, kritisiert Moehl. Einstein war offenbar nicht einmal besonders gut in Mathematik, das hat er selbst zugegeben. Bei der Entwicklung der mathematisch höchst anspruchsvollen allgemeinen Relativitätstheorie unterstützte ihn daher seine Studienkollegin und erste Ehefrau Mileva Maric. »Einsteins große Leistung war, sich von den Dogmen und Zwängen der damaligen Physik zu befreien. Er hat kreativ zerstört und alles in Frage gestellt. Hierbei ist hohe Intelligenz eventuell sogar hinderlich, was sicher auch bei manchen Hochbegabten zu beobachten ist«, meint Moehl. Viele sind beispielsweise brillant darin, technische Details zu durchdringen oder besonders schnell zu denken und zu rechnen. Solche Eigenschaften werden bei einem IQ-Test schließlich auch gemessen.
»Für Einstein aber kam es darauf an, das bereits vorhandene Wissen zu einer neuen Weltanschauung zusammenzukomponieren. Wer es nicht schafft, sich von Details zu lösen, kann so etwas nie zustande bringen«, sagt Moehl. Auch Stephen Hawking gelte übrigens nicht als Schnellrechner, doch er habe unglaublich viel Überblick und Phantasie. Das werde mit IQ-Tests aber nicht gemessen. Beim IQ-Test gehe es vielmehr darum, sich innerhalb vorgefertigter Strukturen und Gegebenheiten schnell zurechtzufinden. Wem das gut gelänge, der habe einen hohen IQ. Aber auch wenn ein solcher als erstrebenswerte Eigenschaft gilt, so sagt er doch nichts über den Wert des Menschen aus. »Das kann man mit Sport gut vergleichen«, so Moehl im Interview mit Beatrice Wagner. Auch ein begnadeter Sportler, der in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen habe, sei deshalb nicht automatisch auch ein guter Mensch und rechtschaffener Bürger. Fälle wie Uli Hoeneß oder Jan Ullrich zeigen das, und auch unter den hochintelligenten Menschen gibt es solche, die ihre Fähigkeiten für fragwürdige oder sogar kriminelle Zwecke einsetzen.
Laut Moehl ist es zudem kritisch, Kleinkinder von zwei oder drei Jahren auf ihre Intelligenz hin zu testen. In diesem Alter kann der gemessene IQ stark schwanken, weil die kindliche Entwicklung große Sprünge macht. »Insofern ist es problematisch, den IQ eines Kleinkindes mit dem eines Erwachsenen zu vergleichen, denn möglicherweise befindet sich das Kleinkind zum Messzeitpunkt nur gerade in einem Entwicklungsschub. Der hohe IQ ist dann einzig und allein auf den temporären Entwicklungsvorsprung zu den Gleichaltrigen zurückzuführen«, gibt Matthias Moehl zu bedenken.
Zerstörte Schulkarrieren - zu dumm oder nur zu wenig gefördert?
Aus der Praxis:
Zwischen debil und knapp vor hochbegabt
Die Geschichte der zwölfjährigen Anni aus Bayern zeigt uns, wie stark IQ-Werte schwanken können, sogar innerhalb von Minuten. Sie war zunächst keine Leuchte, nicht einmal in der Hauptschule. Dort gab es schon wieder eine Fünf in der »Ex«. Anni lacht trotzig. »Schule ist doch eh scheiße.« Zuhause pfeffert sie die Schulbücher in eine Ecke und läuft in ihr Zimmer. Erst einmal Facebook checken. »Wie war es denn, Schatz?« Die Mutter traut sich irgendwann doch in das heilige Reich ihrer Tochter. »Hast du die Mathearbeit zurück?« »Ja.« Das Mädchen schaut nicht einmal auf. »Und, was hast du bekommen?« »Na, was wohl? Eine Fünf natürlich.« Keine Regung im Gesicht. Nur die Finger flitzen weiter über die Tastatur, um die Nachrichten der Freunde zu beantworten. »Wollen wir nachher zusammen lernen?«, bietet die Mutter vorsichtig an. »Nein. Lass es einfach, o.k.? Ich bin zu dumm für die Hauptschule. Ich kann ja immer noch zu Aldi an die Kasse.«
»Finden Sie sich bitte damit ab. Ihre Tochter ist eine klassische Hauptschülerin. Sie soll dort ihren Weg gehen, sich bewähren, dann hat sie noch viele Chancen«, versuchte die Direktorin einer staatlichen Realschule der Mutter klarzumachen, bei der sie ein Vorstellungsgespräch für ihre Anni erwirkt hatte. Denn sie kennt ihre Tochter auch ganz anders: neugierig, kreativ, wissbegierig.
»Eine Fünf in allen Hauptfächern und in Ethik. In Ethik? Darin hat doch jeder zumindest eine Drei!« Auch der Direktor einer privaten Realschule schüttelte den Kopf. Solche Fälle kennt er zur Genüge - überspannte ehrgeizige Eltern, die nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind bestenfalls durchschnittlich begabt ist.
Schließlich absolvierte Anni einen Intelligenztest bei einem Schulpsychologen. Das Ergebnis sah bereits auf den ersten Blick katastrophal aus. Der Schulpsychologe, der ihr über die Schulter schaute, wollte es nicht glauben. »Schau dir das doch noch einmal an, das kannst du besser«, versuchte er Anni zu motivieren. Diese war erstaunt. Da traute ihr jemand tatsächlich etwas zu? Sie nahm den Stift zur Hand und überflog die Aufgaben noch einmal. Und verbesserte sie. Dies brachte ihr einen IQ-Wert von 128 ein. Ohne die Nachbearbeitung hätte er bei 80 gelegen. »Da sehen Sie einmal, in welcher Spanne sich ein IQ bewegen kann, zwischen debil bis knapp vor hochbegabt. Entscheidend ist, ob Motivation vorhanden ist«, erzählte der Psychologe begeistert Annis Mutter. Nachdem er Anni den Test erklärt hatte, habe das Mädchen zunächst mit einer Art schulischer Prüfung gerechnet, die sie sich sowieso nicht zutraute. Dementsprechend fielen ihre Resultate aus. Erst als sie daran glaubte, den Test bestehen zu können, und sich dementsprechend anstrengte, gelang ihr eine hervorragende Leistung.
Das war der Wendepunkt in Annis Leben. Sie wurde von einer privaten Realschule angenommen und zweifelte nicht mehr daran, dass sie dem Schulstoff gewachsen war. Die Fünfer in der Hauptschule, das Stigma der dummen Schülerin - alles ging wie ein böser Spuk vorbei. Einser, Zweier und Dreier zierten nun Annis Zeugnis. Und man fragt sich: Woran lag es, dass niemand das Potenzial der Schülerin erkannte? Waren die Lehrer blind? Sind die Lehrpläne schlecht? Sind die Verantwortlichen für die Lehrpläne dumm, weil sie die falschen Regeln aufstellen, nach denen Schüler bewertet werden?
Offenbar treffen alle drei Punkte zu, so Ernst Pöppel: »Es gibt bei uns keinen Platz für Schüler, die nicht nach dem Bildungsplan lernen können. Sie gehen einfach unter, wenn sie nicht Glück haben, wie Anni aus unserer Geschichte. Es wird wahnsinnig viel geistiges Potenzial verschleudert, nur weil unser Bildungsplan so dämlich ist.«
Offenbar gibt es zwei Formen von Dummheit. Einmal diejenige, von der Anni zunächst betroffen schien und die aus einem geringen geistigen Leistungsvermögen resultiert. Und dann diejenige, die wenig mit dem IQ zu tun hat. Diese zweite Form von Dummheit geht auf die Verweigerung zurück, den Menschen so zu erkennen, wie er eigentlich ist, mit all seinen Schwächen und Stärken, Begrenzungen und Potenzialen. Nicht nur Schulkarrieren werden auf diese Art und Weise beinahe oder sogar ganz zerstört.
Aus der Praxis:
Wie unbedachte Bemerkungen einen Lebensweg zerstören können
Auch dem heute 45-jährigen Claudio Keil ging es so. Seine Mutter konnte wenig mit ihm anfangen, und so landete er bei seinen Großeltern in einem Dorf im Schwarzwald. Diesen war es vor allem wichtig, dass der Kleine funktionierte - sonst gab es Arrest im dunklen Keller. In der Pubertät nahm ihn der Vater, der in einer Stadt wohnte, zu sich, doch das Verhältnis war nicht gerade von Herzlichkeit geprägt. Der Vater ließ ihn viel allein. Trotzdem fand Claudio endlich Freunde, die zu einer Art Ersatzfamilie wurden. Claudio versuchte, sich Respekt und Anerkennung unter ihnen zu verschaffen, und passte sich ihrem Auftreten an: lange Haare, Lederjacke, Zigaretten, Alkohol, später auch harte Drogen. Die Freunde schlossen sich einer bekannten Motorradgang an, Claudio machte dort »Karriere«. Wer sich ihm in den Weg stellte, wurde weggebügelt. Er hatte zwei sogenannte »Boxer« an seiner Seite - Mitglieder, die nur dazu da waren, Claudio zu beschützen und auf seine Feinde loszugehen.
Ein Lehrer hatte diese Laufbahn früh vorhergesehen: »Keil, aus dir wird sowieso nichts«, sagte er dem unsicheren Jungen, als der noch Schüler war und um die Anerkennung seines Vaters warb. Und aus Trotz schien sich der Spruch zu bewahrheiten, nach dem Motto: »Wenn ihr mich sowieso nicht wollt, dann mache ich euch das Leben wenigstens zur Hölle.« Claudio war gefürchtet - bis es ihn eines Tages bei einer Schießerei fast selbst erwischt hätte. Das war der Anlass für eine Lebensbilanz: »Wenn du jetzt draufgegangen wärst, hättest du dann wirklich ein erfülltes Leben gehabt? Du ruinierst deine Gesundheit, stehst ständig mit einem Fuß im Knast und setzt dein Leben aufs Spiel. War es das, was du dir erträumt hattest? Wolltest du nicht einmal Ingenieur werden?«
Nach unserer Definition von Intelligenz und Dummheit hat Claudio sich von hier an intelligent verhalten. Er hat die Zeichen richtig gedeutet und beschlossen, sein Leben radikal zu verändern. Er verließ den Schwarzwald, hörte mit den Drogen auf, ließ sich einen gefälligen Haarschnitt verpassen und begann, an einer Fachhochschule zu studieren. Sich selbst an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf herauszuziehen war schwer, doch er fand neue Freunde, die ihm halfen. »Mich trieb an, dass ich ansonsten bald die Erdbeeren von unten gesehen hätte«, erklärte Claudio. Vielleicht wäre sein Weg anders verlaufen, hätte ihn der Lehrer nicht so vernichtend abgeurteilt. »Ich habe es mir nicht anmerken lassen, aber es hat mir damals viel ausgemacht. Im Nachhinein würde ich sagen, dass es eine dumme Aussage war, denn er kannte mich noch gar nicht. Hilfreicher wäre es gewesen, wenn jemand auch das Gute in mir gesehen hätte und nicht nur das Schlechte«, so Claudio Keil, der sich seinen Traum erfüllt hat und heute als Maschinenbauingenieur bei einer namhaften Firma arbeitet.
Wir sind soziale Wesen, die darauf angewiesen sind, von anderen Menschen Rückmeldung zu bekommen. Wir werden durch andere geformt, indem sie uns zu verstehen geben, welches Verhalten akzeptabel ist und welches nicht. Daran passen wir uns nach dem Trial-and-Error-Prinzip an. Die Lehrer von Anni und Claudio haben den Kindern vor allem deutlich gemacht, was sie nicht können. Sie würdigten ihre Schüler herab. Motivation aber erhält man, wenn man ein Ziel vor Augen hat, das erreichbar scheint. Wenn das Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen jedoch zerstört wird, können sie keine Kräfte mehr entwickeln, um die Herausforderungen in der Schule zu bestehen. Schüler brauchen also eine Anerkennung ihrer Leistungen.
Über zwei Arten von Dummheit
»Diese höhere Dummheit ist die eigentliche Bildungskrankheit«, sagte der Schriftsteller Robert Musil 1937 in seinem Vortrag »Über die Dummheit«. Tatsächlich sind die beiden Formen von Dummheit, die wir gerade kennengelernt haben, sehr verschieden. Während die eine tatsächlich auf einen niedrigen Intelligenzquotienten zurückzuführen ist und in der heutigen Pädagogik aus Gründen der Stigmatisierung nicht mehr mit dem Begriff »dumm« bezeichnet wird, geht es bei der anderen Form von Dummheit um die Weigerung, etwas wahrzunehmen, was offenbar der Fall ist. Musil: Es gibt »eine ehrliche und schlichte Dummheit und eine andere, die, ein wenig paradox, sogar ein Zeichen von Intelligenz ist. Die erstere beruht eher auf einem schwachen Verstand, die letztere eher auf einem Verstand, der bloß im Verhältnis zu irgend etwas zu schwach ist, und diese ist die weitaus gefährlichere.«
Um die zweite Form der Dummheit geht es in diesem Buch, und sie zu beschreiben ist eine beinahe unendliche Aufgabe. Anni und Claudio haben Lehrer erlebt, die ignorierten, dass auch Schüler, die nicht folgsam und fleißig sind, ein intellektuelles Potenzial haben, welches es zu erwecken gilt. Beginnen wir damit, uns die Dummheit in unserem Bildungssystem, die »eigentliche Bildungskrankheit «, genauer anzuschauen.
PISA und Co. - der Ranking-Wahnsinn
Brauchen Schulen und Universitäten die Anerkennung von außen genauso wie Anni und Claudio? Oder läuft hier nicht etwas aus dem Ruder und führt womöglich erst zur Bildungsdummheit, wenn es nur noch um vergleichbare Zahlen und möglichst gute Werte geht? Anerkennung suchen derzeit viele Schulen und Universitäten, und zwar in Form eines hohen Platzes bei einem Ranking. Das bekannteste heißt PISA (Programme for International Student Assessment) und basiert auf den Schulstudien der OECD. Ein Pendant auf universitärer Ebene ist das weltweite Uniranking der TIMES (genauer: TIMES Higher Education - THE). Beide Rankings können zu absurden Situationen führen. Das sehen wir uns nun am Beispiel von PISA und dem jungen Studenten Kim aus Südkorea an.
Reproduktive versus kreative Intelligenz
Südkorea befindet sich regelmäßig in der Spitzengruppe bei der PISA-Auswertung. Im Jahr 2009 erreichte das Land in Mathematik Platz 4, Deutschland Platz 16. In den Naturwissenschaften kam Südkorea auf Platz 6, Deutschland auf Platz 13. In puncto Leseverständnis sah es so aus: Südkorea Platz 2, Deutschland Platz 20. Der südkoreanische Student Kim war nicht nur ein glänzender Schüler gewesen, sondern hatte auch das Studium der Neurowissenschaften mit Bravour zum Abschluss gebracht und kam zu einem Doktorandenstudiengang nach Deutschland. Im Humanwissenschaftlichen Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München erhielt er die Chance, unter Ernst Pöppel zu promovieren. Kim hatte ein unglaublich großes Wissen. Er kannte die Funktionsbereiche des Gehirns, die Arbeitsweise der Neuronen, die Anatomie der kleinsten Hirnwindungen und was sich noch alles an Geheimnissen unter unserer Schädeldecke verbirgt. Aber es war eine rein reproduktive Intelligenz. In der kreativen Phase als Wissenschaftler war er ein absoluter Versager. Er konnte sich keine ungewöhnlichen Zusammenhänge vorstellen, keine neuen Studien designen, keine eigenen Ideen entwickeln. Ein junger Wissenschaftler, randvoll mit Wissen - und trotzdem dumm?
»Das ist die PISA-Dummheit«, kritisiert Ernst Pöppel. »Es ist Dummheit, wenn wir nur solche Schüler produzieren, die in Mathe, Naturwissenschaften und im Lesen gut sind, in den Disziplinen eben, die mit PISA getestet werden.« Dahinter steht ein völlig missverstandenes Bild vom Menschen. Denn der Mensch braucht auch soziale Intelligenz, emotionale Intelligenz, er wendet sich den Künsten, den Geisteswissenschaften oder dem Sport zu. In der bayerischen Verfassung § 131 ist sogar festgelegt, dass junge Menschen in allen Anlagen gefördert werden sollen. In Absatz 1 steht explizit, dass es in den Schulen auch um Herzensbildung gehen soll. »Wenn wir das Bildungssystem nur danach ausrichten, uns im PISA-Ranking zu verbessern, lassen wir die vielen anderen Qualitäten eines Menschen verkommen. Und damit machen wir die Gesellschaft kaputt«, so Pöppel. Denn es kommt für eine stabile Gesellschaft nicht darauf an, dass wir alle gut in Mathe, Physik, Chemie und Lesen sind. Es braucht auch Menschen, die kreativ sind und neue Ideen haben. Es braucht Menschen, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern. Es braucht Menschen, die inspirieren, unterhalten, integrieren. Diese Fähigkeiten aber kommen durch die PISA-Dummheit zu kurz. Unsere Gesellschaft wird zu einem System von möglichst funktionalen Menschen ummodelliert, die sich am besten unauffällig in den Mainstream einordnen. Das ist nicht von Vorteil.
Kim aus Südkorea ist ein gutes Beispiel dafür, dass die rein reproduktive Intelligenz nichts Neues schafft.
© 2013 Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Ernst Pöppel, Beatrice Wagner
Prof. Dr. Ernst Pöppel gilt als einer der führenden Hirnforscher Deutschlands. Er war Gründungsvorstand des Instituts für Medizinische Psychologie und des Humanwissenschaftlichen Zentrums an der Universität München. Seit langem befasst sich Pöppel auch mit Fragen des demographischen Wandels; so hat er in Bad Tölz das universitäre Projekt "Generation Research Program" (GRP) aufgebaut. Sein Anliegen ist, auf die Chancen hinzuweisen, die sich für die älter werdende Gesellschaft ergeben.Dr. Beatrice Wagner ist selbstständige Buchautorin, Medizinjournalistin und Lehrbeauftragte an der LMU München. Sie promovierte bei Prof. Dr. Pöppel und arbeitet für nationale und internationale Publikationen mit den Schwerpunkten Gerontologie, Liebe & Sexualität sowie Hirnforschung.
Autoren-Interview mit Ernst Pöppel
Ihr neues Buch widmen Sie der „Dummheit". Was hat Sie bewogen, sich diesem Thema zuzuwenden?Ernst Pöppel: Es war die Überlegung, dass einfach jeder von uns im Grunde dumm ist. Wenn Sie morgens aufwachen, weil der Wecker klingelt - wissen Sie, wie der funktioniert? Könnten Sie ihn herstellen? Sie kochen sich einen Kaffee - und haben keine Ahnung, wie Sie selbst eine Kaffeemaschine bauen könnten. Sie setzen sich an den Holztisch? - Könnten Sie ihn schreinern und drechseln und leimen?
Unsere eigene Dummheit ist also eklatant. Und gleichzeitig bilden wir uns ein, zu einer besonders klugen Spezies zu gehören. Da stimmt irgendetwas nicht.
Wie erklären Sie sich das?
Ernst Pöppel: Die Gesamtmenge an Wissen, die jeder von uns in sich trägt, hat in den letzten 1000 Jahren nicht wesentlich zugenommen. Aber unser Wissen hat sich stärker spezialisiert. Wir wissen mehr und tiefer in einem Teilbereich Bescheid, dies geht auf Kosten eines breiten Allgemeinwissens. Wenn wir in unserem Teilbereich, den wir überblicken können, gut Bescheid wissen, in anderen aber nicht, müssen wir uns darauf verlassen, dass andere Menschen, die andere Teilbereiche zu ihrer Spezialität erklären, es gut machen. Unsere Gesellschaft baut also sehr stark auf Vertrauen in andere Menschen. Nur so können wir überhaupt in ein Auto einsteigen, ohne darüber nachzudenken, ob es sich in Gang setzt, wenn wir auf das Gaspedal drücken.
Sie sagen, Dummheit ist nicht gleich Dummheit. Wie unterscheiden Sie hier?
Ernst Pöppel: Es gibt zwei Arten von Dummheit. Das eine ist die intelligenzmäßige Dummheit. Manche Menschen sind einfach weniger intelligent als andere. Darum geht es in unserem Buch nicht. Es geht um die andere Art von Dummheit, die darin besteht, dass wir uns weigern, unsere naturgemäßen Grenzen anzuerkennen.
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Wenn wir uns einbilden, einen komplizierten Sachverhalt durchschauen zu können, und unsere Beschränkungen nicht wahrhaben wollen.
Ein Charakteristikum unserer Zeit ist, dass sich viele Menschen bei den unendlichen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, für nichts entscheiden können. Warum ist das dumm und was könnte helfen?
Ernst Pöppel: Wir wollen uns immer maximieren und denken, es komme dabei nur auf unsere sogenannten richtigen Entscheidungen an. Wir können aber nicht in die Zukunft sehen und werden zum aktuellen Zeitpunkt nicht wissen, ob die Entscheidung für oder gegen eine neue Arbeitsstelle, eine neue Wohnung oder einen neuen Partner richtig ist. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist es sinnvoller, sich für irgendeine Möglichkeit zu entscheiden, anstatt den Stillstand zu wählen. Dabei kommt es auch darauf an, eine gute Balance zwischen rationalen Gründen und den gefühlsmäßigen Bewertungen zu treffen. Sich richtig zu entscheiden, ist eine Wissenschaft für sich.
Sie sagen, Expertendenken macht dumm und kann verheerende Folgen für uns haben. Sprichwörtlich sieht man hier den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Gibt es Strategien, mit deren Hilfe größere Katastrophen vermieden werden können?
Ernst Pöppel: Jeder Mensch muss sich natürlich auch im Alltag auf sogenannte Experten verlassen können. Diese beraten Sie in Ihren Finanzen und gesundheitlichen Angelegenheiten. Hier gibt es viele Blender, die Ihnen ein x für ein u vormachen wollen. Einen wahren Experten erkennen Sie daran, dass er sich die Mühe macht, Ihnen die Angelegenheit so lange zu erklären, bis Sie diese verstanden haben. Ein falscher Experte wird es vermeiden, bei Erklärungen in die Tiefe zu gehen, er wird bei kritischen Nachfragen schnell das Thema wechseln, oder nur noch mit Satzbausteinen oder Floskeln antworten.
Herr Pöppel, Sie als Hirnforscher nennen viele Beispiele dafür, dass wir immer wieder entgegen unseren natürlichen Voraussetzungen handeln. Z.B. ist das menschliche Gehirn evolutionsbedingt nur für den Kontakt zu etwa 150 Menschen ausgerichtet, doch wir legen uns sehr viel mehr Freunde zu als uns gut tun. Warum verhalten wir uns so dumm?
Ernst Pöppel: Echte Freundschaften können Sie nur zu einer Handvoll Menschen pflegen. Und auch im näheren Bekanntenkreis wird es schnell zu einer Belastung, wenn zu viele Menschen Aufmerksamkeit von ihnen einfordern. Doch das Vorhandensein von vielen Freunden oder Freundschaften führt dazu, dass man nur noch wenig Nähe zu einzelnen Menschen aufbauen kann. Diese nicht vorhandene Nähe wird als ein Mangel erlebt. Wenn wir uns im Modus „Freunde sammeln" befinden, versuchen wir den Mangel dadurch auszugleichen, dass wir noch mehr oberflächliche Freundschaften ansammeln. Ein Teufelskreis.
Sie machen deutlich, dass wir der Dummheit nicht entkommen können, haben Sie einen Tipp, mit dem es sich leichter mit der Dummheit leben lässt?
Ernst Pöppel: Unser Gehirn wurde nun einmal stümperhaft von der Natur ausgestattet. Eigentlich müssten wir uns selbst beim Schöpfer reklamieren und zurückgeben! Alternativ können wir versuchen zu verstehen, wo die größten Konstruktionsfehler sind, und damit bewusst umgehen. So neigen wir zum Beispiel dazu, dass wir uns immer damit zufrieden geben, wenn wir EINE Ursache für ein Problem gefunden haben. Das ist wie eine Krankheit, eine Monokausalitis. Aber meistens gibt es mehrere gleichberechtigte Ursachen, die alle zusammenkommen. Diese spezielle Fehlkonstruktion zu erkennen, schützt uns vor vielen dummen Handlungen. Außerdem sollten wir uns klar machen, dass wir uns gerne zwischen zwei Extremen einpendeln. Wir neigen zum entweder oder. Doch zum Verzicht gehört auch der Genuss, zur Lust auch der Schmerz. Ein weiteres Beispiel: Unser Wunsch, alles möge noch schneller gehen. Die Schnelligkeit, etwas zu verarbeiten, lässt sich nur bis zu einer bestimmten Grenze steigern, darüber hinaus wird Schnelligkeit zu Oberflächlichkeit. So führt also Schnelligkeit zu Dummheit. Hier sollten wir uns wieder bewusst die Zeit nehmen, die die Dinge eigentlich brauchen. Wir sollten die Grenzen erkennen, die uns unser Gehirn vorgibt. Und wir sollten ganz generell etwas fehlertoleranter mit uns selbst umgehen.
Ein Charakteristikum unserer Zeit ist, dass sich viele Menschen bei den unendlichen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, für nichts entscheiden können. Warum ist das dumm und was könnte helfen?
Ernst Pöppel: Wir wollen uns immer maximieren und denken, es komme dabei nur auf unsere sogenannten richtigen Entscheidungen an. Wir können aber nicht in die Zukunft sehen und werden zum aktuellen Zeitpunkt nicht wissen, ob die Entscheidung für oder gegen eine neue Arbeitsstelle, eine neue Wohnung oder einen neuen Partner richtig ist. Ab einem gewissen Zeitpunkt ist es sinnvoller, sich für irgendeine Möglichkeit zu entscheiden, anstatt den Stillstand zu wählen. Dabei kommt es auch darauf an, eine gute Balance zwischen rationalen Gründen und den gefühlsmäßigen Bewertungen zu treffen. Sich richtig zu entscheiden, ist eine Wissenschaft für sich.
Sie sagen, Expertendenken macht dumm und kann verheerende Folgen für uns haben. Sprichwörtlich sieht man hier den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Gibt es Strategien, mit deren Hilfe größere Katastrophen vermieden werden können?
Ernst Pöppel: Jeder Mensch muss sich natürlich auch im Alltag auf sogenannte Experten verlassen können. Diese beraten Sie in Ihren Finanzen und gesundheitlichen Angelegenheiten. Hier gibt es viele Blender, die Ihnen ein x für ein u vormachen wollen. Einen wahren Experten erkennen Sie daran, dass er sich die Mühe macht, Ihnen die Angelegenheit so lange zu erklären, bis Sie diese verstanden haben. Ein falscher Experte wird es vermeiden, bei Erklärungen in die Tiefe zu gehen, er wird bei kritischen Nachfragen schnell das Thema wechseln, oder nur noch mit Satzbausteinen oder Floskeln antworten.
Herr Pöppel, Sie als Hirnforscher nennen viele Beispiele dafür, dass wir immer wieder entgegen unseren natürlichen Voraussetzungen handeln. Z.B. ist das menschliche Gehirn evolutionsbedingt nur für den Kontakt zu etwa 150 Menschen ausgerichtet, doch wir legen uns sehr viel mehr Freunde zu als uns gut tun. Warum verhalten wir uns so dumm?
Ernst Pöppel: Echte Freundschaften können Sie nur zu einer Handvoll Menschen pflegen. Und auch im näheren Bekanntenkreis wird es schnell zu einer Belastung, wenn zu viele Menschen Aufmerksamkeit von ihnen einfordern. Doch das Vorhandensein von vielen Freunden oder Freundschaften führt dazu, dass man nur noch wenig Nähe zu einzelnen Menschen aufbauen kann. Diese nicht vorhandene Nähe wird als ein Mangel erlebt. Wenn wir uns im Modus „Freunde sammeln" befinden, versuchen wir den Mangel dadurch auszugleichen, dass wir noch mehr oberflächliche Freundschaften ansammeln. Ein Teufelskreis.
Sie machen deutlich, dass wir der Dummheit nicht entkommen können, haben Sie einen Tipp, mit dem es sich leichter mit der Dummheit leben lässt?
Ernst Pöppel: Unser Gehirn wurde nun einmal stümperhaft von der Natur ausgestattet. Eigentlich müssten wir uns selbst beim Schöpfer reklamieren und zurückgeben! Alternativ können wir versuchen zu verstehen, wo die größten Konstruktionsfehler sind, und damit bewusst umgehen. So neigen wir zum Beispiel dazu, dass wir uns immer damit zufrieden geben, wenn wir EINE Ursache für ein Problem gefunden haben. Das ist wie eine Krankheit, eine Monokausalitis. Aber meistens gibt es mehrere gleichberechtigte Ursachen, die alle zusammenkommen. Diese spezielle Fehlkonstruktion zu erkennen, schützt uns vor vielen dummen Handlungen. Außerdem sollten wir uns klar machen, dass wir uns gerne zwischen zwei Extremen einpendeln. Wir neigen zum entweder oder. Doch zum Verzicht gehört auch der Genuss, zur Lust auch der Schmerz. Ein weiteres Beispiel: Unser Wunsch, alles möge noch schneller gehen. Die Schnelligkeit, etwas zu verarbeiten, lässt sich nur bis zu einer bestimmten Grenze steigern, darüber hinaus wird Schnelligkeit zu Oberflächlichkeit. So führt also Schnelligkeit zu Dummheit. Hier sollten wir uns wieder bewusst die Zeit nehmen, die die Dinge eigentlich brauchen. Wir sollten die Grenzen erkennen, die uns unser Gehirn vorgibt. Und wir sollten ganz generell etwas fehlertoleranter mit uns selbst umgehen.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Ernst Pöppel , Beatrice Wagner
- 2013, 352 Seiten, 10 Abbildungen, Klappenbroschur, Deutsch
- Verlag: Riemann
- ISBN-10: 3570501590
- ISBN-13: 9783570501597
- Erscheinungsdatum: 21.10.2013
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