Ein Akt der Gewalt
Brutal, schockierend, berührend - ein literarisches Meisterwerk
Es ist vier Uhr früh, als sich Katrina Marino auf den Heimweg macht. Die Straßen sind menschenleer, trotzdem hat Katrina das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie sich...
Es ist vier Uhr früh, als sich Katrina Marino auf den Heimweg macht. Die Straßen sind menschenleer, trotzdem hat Katrina das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie sich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Akt der Gewalt “
Brutal, schockierend, berührend - ein literarisches Meisterwerk
Es ist vier Uhr früh, als sich Katrina Marino auf den Heimweg macht. Die Straßen sind menschenleer, trotzdem hat Katrina das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie sich wenig später ihrer Haustür nähert, nimmt sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr. Noch bevor sie reagieren kann, ist der Angreifer über ihr und sticht mit einem Messer auf sie ein. Katrina fängt an zu schreien. Katrinas Nachbarn hören ihre Schreie. Alle schauen aus ihren Fenstern, doch wer unternimmt etwas?
Auf dem Heimweg von der Arbeit wird Katrina Marino in den frühen Morgenstunden Opfer eines brutalen Überfalls. Der Angriff findet direkt vor ihrer Haustür statt - und unter den Augen ihrer Nachbarn, die fast ausnahmslos untätig bleiben. Jeder hat mit seinem eigenen kleinen Drama zu kämpfen. Der 19-jährige Patrick etwa, der zur Armee eingezogen werden soll, aber für seine kranke Mutter sorgen muss. Oder Diane, die sich mit ihrem Ehemann streitet, weil dieser sie betrügt. Sie hören Katrinas Schreie und sehen, dass vor ihrer Haustür etwas Schreckliches passiert. Katrina spürt die Betrachter und ihre Blicke und hofft auf Hilfe. Und sie kämpft gegen den Tod. "Ein Akt der Gewalt" basiert auf einer wahren Geschichte, dem Mord an Kitty Genovese, der 1964 weltweit für Schlagzeilen sorgte und dessen Umstände später unter dem Begriff Bystander-Effekt in die Kriminalgeschichte eingingen.
Es ist vier Uhr früh, als sich Katrina Marino auf den Heimweg macht. Die Straßen sind menschenleer, trotzdem hat Katrina das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie sich wenig später ihrer Haustür nähert, nimmt sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr. Noch bevor sie reagieren kann, ist der Angreifer über ihr und sticht mit einem Messer auf sie ein. Katrina fängt an zu schreien. Katrinas Nachbarn hören ihre Schreie. Alle schauen aus ihren Fenstern, doch wer unternimmt etwas?
Auf dem Heimweg von der Arbeit wird Katrina Marino in den frühen Morgenstunden Opfer eines brutalen Überfalls. Der Angriff findet direkt vor ihrer Haustür statt - und unter den Augen ihrer Nachbarn, die fast ausnahmslos untätig bleiben. Jeder hat mit seinem eigenen kleinen Drama zu kämpfen. Der 19-jährige Patrick etwa, der zur Armee eingezogen werden soll, aber für seine kranke Mutter sorgen muss. Oder Diane, die sich mit ihrem Ehemann streitet, weil dieser sie betrügt. Sie hören Katrinas Schreie und sehen, dass vor ihrer Haustür etwas Schreckliches passiert. Katrina spürt die Betrachter und ihre Blicke und hofft auf Hilfe. Und sie kämpft gegen den Tod. "Ein Akt der Gewalt" basiert auf einer wahren Geschichte, dem Mord an Kitty Genovese, der 1964 weltweit für Schlagzeilen sorgte und dessen Umstände später unter dem Begriff Bystander-Effekt in die Kriminalgeschichte eingingen.
Klappentext zu „Ein Akt der Gewalt “
Auf dem Heimweg von der Arbeit wird Katrina Marino in den frühen Morgenstunden Opfer eines brutalen Überfalls. Der Angriff findet direkt vor ihrer Haustür statt - und unter den Augen ihrer Nachbarn, die fast ausnahmslos untätig bleiben. Jeder hat mit seinem eigenen kleinen Drama zu kämpfen. Der 19-jährige Patrick etwa, der zur Armee eingezogen werden soll, aber für seine kranke Mutter sorgen muss. Oder Diane, die sich mit ihrem Ehemann streitet, weil dieser sie betrügt. Sie hören Katrinas Schreie und sehen, dass vor ihrer Haustür etwas Schreckliches passiert. Katrina spürt die Betrachter und ihre Blicke und hofft auf Hilfe. Und sie kämpft gegen den Tod. "Ein Akt der Gewalt" basiert auf einer wahren Geschichte, dem Mord an Kitty Genovese, der 1964 weltweit für Schlagzeilen sorgte und dessen Umstände später unter dem Begriff Bystander-Effekt in die Kriminalgeschichte eingingen.
Lese-Probe zu „Ein Akt der Gewalt “
Ein Akt der Gewalt von Ryan David JahnAus dem Englischen von Teja Schwaner
Auf einem Parkplatz fängt es an.
Der Parkplatz liegt hinter einer Sportbar, einem Backsteingebäude,
an dem im Laufe der Zeit so manche Beschädigungen
hässliche Narben hinterlassen haben. Betrunkene
Autofahrer, die rückwärtsfuhren statt vorwärts, haben es
gerammt, Initialen wurden in seine Wände geritzt, und es
ist von alkoholisierten Randalierern angegriffen worden.
Vor fünfzehn Jahren versuchte jemand, hier Feuer zu legen.
Leider hatte der Möchtegernbrandstifter nicht beachtet,
dass Regen angekündigt war. Also steht die Sportbar noch
immer.
Es ist fast vier Uhr morgens, drei Uhr achtundfünfzig,
die stockdunkle Zeit, in der noch kein Lichtschimmer den
östlichen Horizont berührt. Die pure Finsternis.
Aus der geschlossenen Bar dringt kein Laut.
... mehr
Nur drei Autos stehen auf dem sonst so belebten Parkplatz:
ein 1957er-Studebaker, ein 1953er-Oldsmobile und ein
1962er-Ford-Galaxie mit verbeultem Kotflügel. Zwei gehören
Gästen, von denen einer tagsüber von Tür zu Tür geht
und versucht, Staubsauger unter die Leute zu bringen, während
der andere arbeitslos ist und seine Tage damit verbringt,
auf die Deckenrisse der Wohnung zu starren, für die
er drei Monate Miete schuldig ist. Beide haben sich früher
am Abend einige Gläser zu viel gegönnt und daher auf Ausweichmöglichkeiten
zurückgegriffen, um nach Hause zu
kommen. Wahrscheinlich Taxifahrten. Besonders der arbeitslose
Barbesucher. Der Vertreter ist vielleicht von einem
Kumpel mitgenommen worden, aber der Arbeitslose hat
mit ziemlicher Sicherheit ein Taxi genommen. Wenn du
dreißig Dollar in der Tasche hast und die Miete achtzig beträgt,
ist alle Sparsamkeit sinnlos. Trink, bis du betrunken
bist, und zahl für die Taxifahrt nach Hause. Warum den Abstieg
nicht auf die bequeme Tour genießen? Wenn du aber
siebenundachtzig Dollar hast und die Miete achtzig beträgt,
ist Sparen angesagt.
Pappbecher und anderer Müll - Zeitungen und Verpackungen
- übersäen den verblichenen Asphalt. Eine Brise
treibt den Abfall pfeifend über den rissigen Bodenbelag
und ordnet ihn flüchtig um, bevor sie wieder abflaut.
Und dann stößt ein hübsches Mädchen - eigentlich bereits
eine Frau, obwohl sie sich noch nicht erwachsen fühlt -
die Eingangstür der Sportbar auf.
Sie heißt Katrina - Katrina Marino -, aber so gut wie alle
nennen sie Kat. Die einzigen Menschen, die sie Katrina
rufen, sind ihre Eltern, mit denen sie jeden Samstag telefoniert.
Sie wohnen vierhundert Meilen entfernt, aber schaffen
es immer noch mit Leichtigkeit, ihr auf die Nerven zu
gehen. Wann wirst du endlich vernünftig werden und den
Sündenpfuhl von Großstadt verlassen, Katrina? Es ist gefährlich
dort. Wann wirst du endlich mit einem netten jungen
Mann eine Familie gründen? In deinem Alter sollte ein
Mädchen nicht mehr unverheiratet sein. Du bist keine
zwanzig mehr, sondern gehst schon auf die dreißig zu,
nicht wahr? Schon bald bist du nicht mehr so jugendlich
frisch und schön, dass du dir einen anständigen Mann angeln
kannst, einen Arzt oder Anwalt, und dann musst du
dich mit weniger zufriedengeben. Du willst dich doch nicht
mit weniger zufriedengeben, oder, Katrina?
Von draußen reicht Kat noch einmal hinein und tastet
über die Wand. Sie findet den Schalter und legt ihn um.
Klick. Hinter den Scheiben, durch die man in die Sportbar
sieht, wird es dunkel, und das Licht, das sich auf den Parkplatz
ergossen und den grauen Asphalt weiß getüncht hat,
erlischt.
Kat stößt die Eingangstür zu und schließt ab. Um sicher
zu sein, prüft sie den Knauf, schlägt ein Metallgitter zu,
dass es knallt, und lässt ein Vorhängeschloss zuschnappen.
Das Metallgitter und das Vorhängeschloss sind noch
nicht einmal sechs Monate alt und passen nicht recht zum
heruntergekommenen Zustand des Hauses. Neu sind auch
die Gitterstäbe vor den Fenstern. Jemand war durch die
Hintertür eingebrochen, hatte die Kasse leergeräumt, eine
Kiste Whiskey mitgehen lassen und durchs Fenster das Weite
gesucht. Warum er nicht zur Tür hinaus verschwunden war,
weiß niemand.
Der Verlust an Whiskey und Bargeld war alles in allem
nicht der Rede wert gewesen. Aber die Reparaturkosten, die
hatten es in sich gehabt. Und dazu der Umsatzverlust. Der
Laden hatte zwei Tage geschlossen bleiben müssen.
Kat ist nur die Nachtmanagerin, aber fühlt sich trotzdem
für die Bar verantwortlich.
Erschöpft und müde von der langen Nacht steuert sie
auf ihren Studebaker zu, und es kommt ihr so vor, als hätte
der Wagen Schlagseite nach rechts. Anfangs kann sie nicht
sehen, warum oder ob es überhaupt so ist. Vielleicht handelt
es sich nur um eine Sinnestäuschung, hervorgerufen
durch das Spiel von Licht und Schatten.
Sie muss erst die halbe Entfernung bis zu ihrem Wagen
zurücklegen, bevor sie erkennt, dass er tatsächlich schräg
liegt. Dass ihre verflixte Karre einen Plattfuß hat.
»So ein Mist«, sagt sie, stampft zornig mit dem Fuß auf
den Asphalt und spürt prompt den Schlag bis hinauf ins
Knie.
Sie hastet zum Wagen, direkt zum Kofferraum. Sie schiebt
den Autoschlüssel ins zerkratzte Schlüsselloch, dreht ihn
nach links, falsch, dann nach rechts, hört, wie sich der Zylinder
bewegt, und stößt den Deckel nach oben.
Im Innern kann sie nichts erkennen.
Sie tastet nach der Taschenlampe, die sie links in einer
Ecke des Kofferraums aufbewahrt. Ihre Hand sucht eine
Weile im Dunkeln, bevor die Finger schließlich eine kalte
glatte Oberfläche spüren. Sie greift zu und knipst die Lampe
an. Sie leuchtet nur schwach und gelblich, aber sie leuchtet.
Jetzt, da sie zu sehen sind, greift Kat nach dem Reserverad
und dem Wagenheber. Dabei lächelt sie.
Kat ist schon immer ein selbstbewusster Mensch gewesen,
hat sich seit jeher auch mit Distanz betrachtet, und
jetzt sieht sie sich, keine eins sechzig, gerade mal fünfzig
Kilo, in einem blauen Wollkleid mit einem kurzen weißen
Mantel darüber, wie sie ein Reserverad schleppt, das fast so
groß ist wie sie selbst, und dazu einen schweren Wagenheber
- sie musste wirken wie ein Nilpferd im Ballettröckchen.
Bei dem Gedanken kräuselt ein Lächeln ihre Lippen.
Doch als ihr einfällt, welche Arbeit ihr bevorsteht, ist es
auch schon wieder erloschen.
Gleich darauf sitzt Kat in der Hocke, kurbelt ihren Wagen
hoch, damit sie das verflixte Rad wechseln kann, sieht zu,
wie sich der Reifen scheinbar immer weiter ausdehnt, während
das Rad fest auf dem Boden bleibt - doch dann endlich
hebt sich das Rad, aber die Unterseite des Reifens bleibt
platt. Er müsste sich doch eigentlich mit Luft füllen und
sich wieder ausdehnen, da kein Gewicht mehr auf ihm lastet.
Aber er tut es nicht.
Und dann - hinter ihr ein Geräusch.
Sie hält inne, bewegt sich nicht und hofft, dass es nichts
war, dass sich das Geräusch nicht wiederholt. Aber es wiederholt
sich, und sie dreht den Kopf, um über die Schulter
zu schauen, voller Angst vor dem, was sie vielleicht zu
sehen bekommt. Aber hinsehen muss sie trotzdem. Kat ist
eine von denen, die sich stets die Hände vor die Augen halten,
wenn sich auf der Leinwand im Drive-in-Kino die grässlichsten
Dinge abspielen, aber trotzdem zwischen den gespreizten
Fingern einen kurzen Blick riskieren.
Zeitungsseiten flattern über den Asphalt, tragen die Nachrichten
von gestern fort.
»Nur der Wind, Dummchen«, sagt sie. Nur der Wind.
Sie wendet sich wieder dem Wagen und ihrer Arbeit zu.
Kat verstaut den platten Reifen und den rautenförmigen
Wagenheber achtlos im Kofferraum und schlägt den Deckel
zu.
Ein Nagel hatte für den Schaden gesorgt. Erst als sie das
Rad ganz abmontiert hatte, fiel Kat der rostige Nagelkopf
auf, der an der Innenseite aus der Reifendecke ragte. Sie
erinnert sich undeutlich daran, auf dem Weg zur Arbeit
an einer Baustelle vorbeigefahren zu sein, wo Männer
mit braungebrannten Armen ein halb niedergebranntes
Reihenhaus instand setzten und zersplitterte Holzbohlen,
aus denen blanke Nägel ragten, auf einen Lastwagen
luden.
Ihre Hände sind schwarz von Dreck und Bremsstaub,
und sie mag sich nicht anfassen, weil sie Angst hat, ihr hellblaues
Kleid schmutzig zu machen oder ihren weißen Mantel.
Noch schmutziger. Denn als sie den Reifen zum Kofferraum
trägt, ist ihr Kleid bereits fleckig.
Dämlicher Mistplattfuß.
Sie möchte jetzt nur noch nach Hause, aus den Kleidern
schlüpfen und ein warmes Bad nehmen, sich waschen, bis
sie ganz sauber ist, und dann ins Bett schlüpfen, unter ihre
nachtkühle Bettdecke, wo sie vielleicht bis Mittag liegen
und schlafen kann, vielleicht sogar bis eins, und wenn sie
Glück hat, träumt sie süße Träume von dem Moment an,
wenn ihr Kopf aufs Kissen fällt, bis sie geweckt wird von der
Mittagssonne, die durchs Fenster scheint.
Doch zuerst muss sie nach Hause kommen.
Sie öffnet die Autotür und lässt sich auf den Fahrersitz
fallen, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und dreht ihn
in Uhrzeigerrichtung. Der Wagen räuspert sich wie ein Raucher,
der drei Packungen am Tag pafft. Der Motor dreht einmal
- ganz langsam.
»Komm schon, Kleiner«, sagt Kat.
Sie pumpt mit dem Gaspedal.
Der Motor dreht wieder, diesmal ein bisschen schneller.
Und noch einmal. Kommt auf Touren. Sie nimmt Gas weg.
Will den Motor nicht absaufen lassen. Er dreht wieder. Hustet.
Furzt. Und springt dann tatsächlich an.
Gott sei Dank. Kat wischt sich über die Stirn, froh, dass
sie kein Taxi rufen muss, und im selben Moment fällt ihr
ein, wie schmutzig ihre Hände sind. Sie wirft einen Blick in
den Rückspiegel und lacht.
Ein schwarzer Schmutzfleck, auf ihrer Stirn verschmiert
wie bei einem Landstreicher im Stummfilm.
Und sie kann ihn nicht einmal wegwischen; jeder Versuch
würde es schlimmer machen. Aber Kat kümmert es
nicht. Es war eine lange Nacht. Sie hat zehn Stunden durchgearbeitet
und ist müde. Aber jetzt muss sie ja nur noch
nach Hause.
Mehr hat sie nicht zu erledigen, bis die Sonne aufgeht.
Kat zieht einen Knopf am Armaturenbrett, und die Scheinwerfer
schicken zwei gelbe Lichtstrahlen in die Nacht. Sie
sieht Staubflocken und Insekten im Licht schaukeln und
erinnert sich an einen Augenblick in ihrer Kindheit, als
sie drei Jahre alt war oder vielleicht vier und im Bett ihrer
Eltern lag, das ihr riesig vorkam, so groß wie eine Insel.
Eigentlich sollte sie ihren Mittagsschlaf halten. Deswegen
hatte man sie aufs Bett gelegt. Aber sie war hellwach und
schaute auf einen Sonnenstrahl, der zum Fenster herein
auf ihre bloßen Beine fiel. Die Wärme tat gut, und sie sah
Staubflocken im Licht taumeln. Sie hielt sie für lebendig,
lachte darüber, wie sie tanzten, und griff nach ihnen, um
sie einzufangen, aber es wollte ihr nie gelingen. Sie wussten
immer ganz genau, wann Kat zugreifen wollte, und tanzten
in letzter Sekunde davon, bevor ihre pummeligen kleinen
Finger in Reichweite kamen und sich zur Faust schlossen.
Kat dreht an einem anderen Knopf und schaltet das
Radio ein. Eine kratzige Männerstimme, kehlig und tief,
sagt: »... und Präsident Johnson machte heute in einer Stellungnahme
deutlich, dass Kubas Entschluss, die Versorgung
des Flottenstützpunkts Guantánamo Bay mit Frischwasser
einzustellen, absolut inakzeptabel sei. Eine weitere Meldung
betrifft Jimmy Hoffa, der vergangene Woche des Versuchs
für schuldig befunden wurde, Geschworene eines
Bundesgerichts zu bestechen ...«
Kat verzieht das Gesicht und dreht am Senderknopf.
Die Nachrichten sind doch reines Blabla und bestätigen
nur immer wieder, dass sie selbst klein ist und die Welt
groß, dass sie nicht das Geringste tun kann, um den entscheidenden
Ereignissen Einhalt zu gebieten oder ihren
Lauf auch nur zu verändern. Kat ist es wichtig, sich auf
Dinge zu konzentrieren, die sie ändern kann, das Leben der
Menschen in ihrer Umgebung, ihr eigenes Leben. Kleinigkeiten,
erreichbare Ziele.
Einen Drink ausschenken zum Beispiel. Oder einen Reifen
wechseln.
»... ist eine nächtliche Tiefsttemperatur von fünf Grad zu
erwarten, ebenso wie frühmorgendliche Schauer, und ...«
Wieder dreht sie am Senderknopf.
»Und jetzt Buddy Holly und die Crickets mit ›Not Fade
Away‹, aufgenommen nur zwei Jahre vor Mr. Hollys allzu
frühem Tod. Kaum zu glauben, dass es schon fünf Jahre her
ist, oder? Hier ist Dino von WMCA, eurer Radiostation, und
sagt euch: Bei uns lebt Buddy weiter.« Und schon legen die
Crickets los, im Bo-Diddley-Beat, wie auf Pappkartons gehämmert.
Kat dreht die Musik auf und fährt los.
Während Buddy Holly von jenseits des Grabes singt und
verrät, »... how it's gonna be«, fährt Kat durch eine nächtlich
ausgestorbene Stadt. Sie kommt an einem Kino vorbei, auf
dessen Anzeigetafel für den Film Dr. Strangelove geworben
wird, an einem Buchladen, in dessen Schaufenster GoldMedal-
Paperbacks ausgelegt sind, und an einem Stapel taufeuchter
Morgenzeitungen, mit Bindfaden verschnürt und
vor einem Kiosk abgelegt, der über Nacht mit einem Vorhängeschloss
gesichert ist.
Noch eine Viertelstunde, dann wird ein fetter Kerl mit
zwanzig Jahre alten Aknenarben und ebenso alter Wut darüber,
dass man ihn schon in der ersten Klasse der Grundschule
verarscht hat, erscheinen, den Kiosk aufschließen
und den Bindfaden um den Zeitungsstapel zerschneiden.
Die Zeitungen behaupten, es sei der 13. März, aber Kat
braucht nur einen Blick durch die Windschutzscheibe auf
den dunklen Horizont zu werfen, um zu wissen, dass es
noch drei oder mehr Stunden dauert, bevor es für die meisten
Menschen 13. März wird - egal, was die Zeitungen
sagen.
Sie findet, es wäre prima, wenn sie nur anzuhalten und
in einer der Zeitungen zu lesen brauchte, um herauszu finden,
was heute, während sie den halben Tag verschläft,
geschehen wird, aber natürlich enthalten auch die Zeitungen
mit dem heutigen Datum nur alte Neuigkeiten, Neuigkeiten
über die Dinge, die bereits geschehen sind, Dinge, an
denen sich niemals mehr etwas wird ändern lassen. Auch
nicht um vier Uhr morgens.
Auf einem einsamen Straßenstück tauchen hinter Kat die
kleinen runden Scheinwerfer eines Wagens auf, die von Sekunde
zu Sekunde größer werden. Nach ungefähr einer halben
Minute ist ein hellblauer 1963er-Fiat-600 plötzlich
neben ihr und zischt mit gequält aufheulendem Motor
und zermürbt jaulenden Weißwand reifen vorbei.
Kurz nachdem er überholt hat, biegt Kat nach links in eine
nachtstille Straße ab und nimmt ihren gewohnten Heimweg
südwestlich zum Queens Boulevard.
Wäre sie geradeaus weitergefahren, hätte sie vielleicht
gesehen, wie der Fiat auf die nächste Kreuzung zusteuert.
Sie hätte vielleicht gesehen, wie die Ampel an der Kreu-
zung von Grün auf Gelb umspringt. Sie hätte vielleicht das
Aufheulen des Motors gehört, als der Fahrer des Fiats das
Gaspedal unbarmherzig bis zum Anschlag durchtritt, um
das Letzte aus dem Wagen herauszuholen. Sie hätte vielleicht
gesehen, wie Gelb zu Rot wird und wie der Fiat trotz
Rot auf die Kreuzung rast. Sie hätte vielleicht gesehen, dass
ein grüner Pick-up zur selben Zeit von rechts auf die Kreuzung
fährt, hätte gesehen, wie er in den Fiat kracht, direkt
in die Beifahrertür; hätte den Fiat schleudern gesehen,
hätte ihn sich überschlagen gesehen, weil der Fahrer das
Lenkrad zur falschen Zeit in die falsche Richtung bewegt,
hätte gesehen, wie er sich dreimal um die eigene Achse
dreht, bevor er am Straßenrand auf dem Dach liegen bleibt,
eine Spur aus Glassplittern und Metallteilen hinter sich
zurücklassend. Sie hätte vielleicht gesehen, wie er da liegt,
auf dem Rücken in der leeren Nacht wie ein Käfer im Irrlicht
des gelben Mondes, und wie sich seine armen kleinen
Räder wild drehen und doch nirgends Halt finden. Sie hätte
vielleicht gesehen, wie der Pick-up, der mit ihm zusammengestoßen
ist und jetzt nur noch einen heilen Scheinwerfer
besitzt, zurücksetzt, wieder die ursprüngliche Richtung
einschlägt und davonfährt. Sie hätte vielleicht gesehen, wie
sich das bleiche Gesicht des Fahrers im Kleinlaster kurz
dem Trümmerfeld zuwendet, bevor er wegfährt. Aber sie
hätte niemals erfahren, warum der Fahrer vom Unfallort
geflüchtet ist, wo es doch der Fiat gewesen ist, der die rote
Ampel nicht beachtet hat. Das wird niemand je wissen. Nur
der Fahrer des Pick-ups ganz allein.
Und außerdem fuhr Kat nicht geradeaus.
Sie bog nach links ab und fuhr weiter. Und ebendas tut
sie in diesem Moment. Sie fährt langsam, aber stetig ihrem
Zuhause entgegen, und zu beiden Seiten der Straße leisten
ihr die eigenen Spiegelbilder in den Fenstern der Gebäude
Gesellschaft. Drei Kats fahren in dieselbe Richtung. Den
Unfall hätte sie hier niemals sehen können. Und als das
Krachen des Zusammenpralls ertönt, weiß sie nicht, woher
es kommt.
Sie hört es, dreht kurz Buddy Holly leiser und sieht in
den Rückspiegel. Aber als sie dort nichts als Dunkelheit ausmachen
kann, nicht einmal ein Paar Scheinwerfer, die in
der Ferne wie Wolfsaugen blitzen, stellt sie die Musik wieder
lauter, vielleicht sogar noch ein wenig lauter als vor
dem verstörenden Lärm des Zusammenpralls. Und sie fährt
weiter.
Vielleicht war es nur ein Donnern, das sie gehört hat. Hat
nicht der Mann im Radio davon gesprochen, dass frühmorgendliche
Schauer zu erwarten seien?
Sie sieht hinauf in den Himmel. Im hellen Mondlicht sind
viele graue Wolken zu erkennen, die jedoch nicht regenschwer
aussehen. Bis jetzt noch nicht. Aber vielleicht irrt
sie sich. Wenn, dann kommt sie hoffentlich zu Hause an,
bevor der Regenguss beginnt.
Sie hat keinen Regenschirm dabei.
Kat lenkt ihren Wagen in die Austin Street.
Sie kann bereits ihr Apartmenthaus sehen.
Sie sieht auch, wie einer ihrer Nachbarn - sie erinnert sich
nicht an seinen Namen, ein Farbiger, der immer sehr nett
gewesen ist und der ihr einmal sogar Starthilfe gegeben hat -
mit seinem Buick Skylark vom Long-Island-Railroad-Parkplatz
biegt und ihr entgegenkommt.
Als ihre Autos aneinander vorbeifahren, winken die Nachbarn
sich zu.
Frank! Sie meint, Frank sei sein Name. Er fällt ihr sofort
ein, als sie sein Gesicht deutlich sieht, vor dem die orangefarbene
Glut seiner Zigarette umhergeistert wie ein gezähmtes
Glühwürmchen.
Sie fragt sich, was er wohl um vier Uhr morgens hier
draußen vorhaben mag. Sie weiß, dass Franks Frau Krankenschwester
ist und häufig Nachtdienst hat - wenn Kat
von der Arbeit in der Bar nach Hause kam, hat sie oft Licht
in der Wohnung gesehen. Aber sie ist keinem von beiden,
weder Frank noch seiner Frau, um diese Zeit auf der Straße
begegnet.
Kat steuert ihren Wagen auf den Long-Island-Railroad-
Parkplatz, der sich genau gegenüber den Hobart Apartments
befindet, in denen sie wohnt. Sie fährt mit ihrem
Studebaker auf den Platz, den Franks Buick gerade frei gemacht
hat, und stellt den Motor ab. Das Radio verstummt.
Erst einmal hat sie für den kurzen Heimweg von der Bar
mehr als ein paar Minuten - die Länge eines Songs - gebraucht.
Sie hatte damals einen anderen Weg genommen,
um einen der Stammgäste daheim abzuliefern, der sein
letztes Geld für einen Drink ausgegeben hatte und sich
kein Taxi mehr leisten konnte. Und auch kein Trinkgeld für
sie übrig hatte. Während der Fahrt war nichts Schlimmes
geschehen, aber es blieb doch das erste und letzte Mal, dass
Kat einen Gast nach Hause gefahren hat. Sie war die ganze
Zeit nervös gewesen, hatte mit schwitzenden Händen das
Lenkrad umklammert, aber entscheidender war das Gefühl
gewesen, eine Grenze überschritten zu haben, die nicht hätte
überschritten werden dürfen.
Ein leichter Wind bläst um die Äste der Eichen am Straßenrand.
Ein paar Blätter werden fortgeweht, aber die meisten
halten sich.
Als Kat sich aus dem Auto zwängt, sieht sie einen schwarzweißen
Streifenwagen, der leise an ihr vorbeischleicht. Das
Rotlicht springt aus seinem Dach hervor wie die Spitze
eines Lippenstifts. Sie erkennt im Wageninneren das blasse
Gesicht eines einzelnen Polizisten, der in ihre Richtung
sieht. Dann ist er fort. Sie schaut dem roten Glühen der
Rücklichter nach, bis der Wagen am Ende des Blocks um
eine Ecke biegt.
In der Ferne ertönt eine Autohupe.
Ein Hund heult den Mond an, dann ein lauter Ruf,
Schnauze, ein schallender Schlag, der Hund jault, und dann
Stille.
Sie ist müde. So verflixt müde.
Kat ist der Ansicht, die Menschen sollten Winterschlaf
halten wie die Bären. Der Winter zehrt an der Seele. Wenn
die Menschen ihn verschlafen könnten, würden sie im
Frühling erholt aufwachen, bereit für den Rest des Jahres.
Sie könnten ihm mit Hoffnung entgegensehen, vielleicht
sogar voller Optimismus. Aber nein, wenn sich der Frühling
anbahnt, wie er es jetzt tut, sind die Menschen mürbe
vom Winter. Kalt und mürbe. Und kurz davor, zu zerbrechen.
Kat schlägt die Wagentür zu, sieht, dass sie vergessen
hat abzuschließen, reißt die Tür nochmal auf, drischt den
Knopf runter und schließt sie wieder.
Sie kann es kaum abwarten, endlich in die Badewanne zu
steigen.
Aber Kat ist ihrer Wohnungstür, von der die Farbe abblättert,
gerade erst zwei kleine Schritte näher gekommen, als
sie wie angewurzelt stehen bleibt.
Sie schluckt angstvoll.
Plötzlich ist ihr Mund schrecklich trocken.
Im Dunkel der Nacht sieht sie eine grobschlächtige Gestalt
in der Nähe einer der vernarbten Eichen stehen, die
den Eingang der Hobart Apartments bewachen und sie von
ihrem warmen Bad trennen.
Die grobschlächtige Gestalt tritt aus dem Schatten der
Bäume hervor und kommt ihr entgegen.
Sie - er - scheint von ihr angezogen zu werden wie von
einem Magnet, er scheint nicht zu gehen, sondern ihr wie
ein Jo-Jo an seinem Faden entgegenzugleiten. Da ist nichts
zu merken von dem schwerfälligen Schlurfen, mit dem ein
ungeschlachter Mann sich normalerweise von einem Ort
zum anderen schleppt. Dieser Kerl fliegt auf sie zu, und es
wirkt bedrohlich.
Kat presst sich die Handtasche an die Brust wie eine Art
Talisman, einen Schutzschild gegen die Nacht, und möchte
sich am liebsten an dem Mann vorbeischlängeln, um
schnells tens in ihre Wohnung zu gelangen.
Und plötzlich ist alles grell hell. Und laut.
Sie sieht jedes Detail, sieht die Hautporen des Mannes,
groß und von Schmieröl verstopft, Mitesser, die seine Nase
übersäen. Der Fleck auf seinen Jeans hat die Form eines
der Staaten des Mittelwestens, deren Namen sie sich nie
merken kann, und ist kaffeebraun. Die Roststellen auf der
Klinge des Messers, das er in den Hand hält, erinnern an
Sommersprossen. Sie hört irgendwo ein Radio plärren. Gedämpfte
Stimmen. Drei Blocks weiter gibt gerade ein Motor
den Geist auf. Sie sieht eine Spinne an der Eingangstür
ihres Gartenapartments. Sie spinnt ihr Netz links oben in
der Ecke. Sie hört, wie drinnen das Badewasser einläuft, hinter
der Spinne und der Eingangstür, und die Wanne mit
warmem Wasser füllt, in das sie schon bald hineingleiten
wird.
Aber das stimmt doch nicht, oder? Das mit dem Bad ist
nicht wahr. Jedenfalls noch nicht. Und es wird niemals wahr
werden, wenn sie es nicht in ihre Wohnung schafft.
Der Mann mit dem Messer hält weiter auf sie zu.
Aber Kat ist jetzt an ihm vorbei, auf der Straße. Adrenalin
pulsiert durch ihre Adern. Auf der Suche nach ihren
Schlüsseln zerrt sie hektisch am Reißverschluss ihrer Tasche.
Sie fischt in deren offenem Schlund, und ein Lippenstift
fliegt heraus, landet klappernd auf der Straße, rollt ein
Stück und bleibt liegen. Sie hört, wie ihr Angreifer ihn unter
seinem derben Bauarbeiterstiefel zermalmt. Also geht er
tatsächlich, also muss er ein Mensch sein, obwohl er doch
zu schweben schien. Gespenster tragen keine schmutzigen
Jeans und haben weder verstopfte Hautporen noch Mitesser,
oder? Gespenster tragen keine braunen Bauarbeiterstiefel.
Und sie brauchen keine Messer. Ihre pinkfarbene
Puderdose springt dem Lippenstift hinterher, und als sie
auf den Boden prallt, meint Kat hören zu können, wie der
Spiegel im Innern zerplatzt.
Sieben Jahre Pech, denkt sie blödsinnigerweise. Dann bin
ich fünfunddreißig.
Aber jetzt spürt sie den Schlüsselbund in der rechten
Hand und steht vor der Eingangstür, und sie tastet sich
durch die Schlüssel, verzweifelt auf der Suche nach dem
richtigen. Sie ist schweißgebadet, obwohl die Nacht so
kühl ist, und dann hat sie ihn, den richtigen, den passenden
Schlüssel. Sie schiebt ihn in das Schloss des Türknaufs
und dreht ihn und stößt gegen die Tür. Und die
Tür schwingt auf und begrüßt sie, komm herein, Kat, willkommen
zu Hause. Sie macht einen Schritt in Richtung
Wohnzimmer, in die sichere Dunkelheit ihres Wohnzimmers,
die einladend lockt wie ein Schoß, wie die offenen
Arme einer Mutter. Schon bald wird sie die Tür vor den
Gefahren der Welt schließen und sich ins warme Badewasser
sinken lassen. Und alles vergessen, was hier geschehen
ist.
Nur dass eine grausame Hand sie an den Haaren packt
und zurückhält. Und diese Hand zerrt sie fort von der Eingangstür,
die offen stehen bleibt, der Schlüsselbund pendelnd
am Türknauf.
Ich wollte doch nur mein verdammtes Bad, denkt sie.
Und dann erhebt sich die andere Hand, die sie nicht am
Haarschopf gepackt hält, in die Nachtluft über ihr. Sie hält
ein Messer, ein großes Küchenmesser, dessen Klinge von
Rostflecken übersät ist.
Das Messer scheint für einen Moment in der Luft stillzustehen.
Kat kann es aus dem Augenwinkel sehen.
»Bitte«, sagt sie.
Und das bleibt alles, was sie sagt, bevor das Messer herabgestoßen
wird und sie gleich hinter dem Schlüsselbein trifft.
Metall knirscht am Knochen, es folgt ein ekelerregendes,
glitschiges Schmatzen ... und dann werden diese Laute über
tönt von einem Schrei. Jemand stößt einen lauten Schrei
aus.
Und dann wird das Messer herausgezogen aus dem Spalt,
den es in Kat geöffnet hat, und sie hört ein Geräusch, wie
wenn in einem Errol-Flynn-Film ein Schwert aus der Scheide
gezogen wird. Es hört sich unwirklich an. Dann sickert ihr
warme Flüssigkeit den Rücken hinab.
Sie riecht Kupfer.
Und plötzlich schrillt ein weiterer Schrei in die Stille.
Wer da wohl schreien mag, denkt Kat. Armes Ding.
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Ulf Müller
Gesetzt aus der 10,6/14,2 Punkt The Antiqua bei
C. Schaber, Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-453-26679-7
www.heyne-hardcore.de
Nur drei Autos stehen auf dem sonst so belebten Parkplatz:
ein 1957er-Studebaker, ein 1953er-Oldsmobile und ein
1962er-Ford-Galaxie mit verbeultem Kotflügel. Zwei gehören
Gästen, von denen einer tagsüber von Tür zu Tür geht
und versucht, Staubsauger unter die Leute zu bringen, während
der andere arbeitslos ist und seine Tage damit verbringt,
auf die Deckenrisse der Wohnung zu starren, für die
er drei Monate Miete schuldig ist. Beide haben sich früher
am Abend einige Gläser zu viel gegönnt und daher auf Ausweichmöglichkeiten
zurückgegriffen, um nach Hause zu
kommen. Wahrscheinlich Taxifahrten. Besonders der arbeitslose
Barbesucher. Der Vertreter ist vielleicht von einem
Kumpel mitgenommen worden, aber der Arbeitslose hat
mit ziemlicher Sicherheit ein Taxi genommen. Wenn du
dreißig Dollar in der Tasche hast und die Miete achtzig beträgt,
ist alle Sparsamkeit sinnlos. Trink, bis du betrunken
bist, und zahl für die Taxifahrt nach Hause. Warum den Abstieg
nicht auf die bequeme Tour genießen? Wenn du aber
siebenundachtzig Dollar hast und die Miete achtzig beträgt,
ist Sparen angesagt.
Pappbecher und anderer Müll - Zeitungen und Verpackungen
- übersäen den verblichenen Asphalt. Eine Brise
treibt den Abfall pfeifend über den rissigen Bodenbelag
und ordnet ihn flüchtig um, bevor sie wieder abflaut.
Und dann stößt ein hübsches Mädchen - eigentlich bereits
eine Frau, obwohl sie sich noch nicht erwachsen fühlt -
die Eingangstür der Sportbar auf.
Sie heißt Katrina - Katrina Marino -, aber so gut wie alle
nennen sie Kat. Die einzigen Menschen, die sie Katrina
rufen, sind ihre Eltern, mit denen sie jeden Samstag telefoniert.
Sie wohnen vierhundert Meilen entfernt, aber schaffen
es immer noch mit Leichtigkeit, ihr auf die Nerven zu
gehen. Wann wirst du endlich vernünftig werden und den
Sündenpfuhl von Großstadt verlassen, Katrina? Es ist gefährlich
dort. Wann wirst du endlich mit einem netten jungen
Mann eine Familie gründen? In deinem Alter sollte ein
Mädchen nicht mehr unverheiratet sein. Du bist keine
zwanzig mehr, sondern gehst schon auf die dreißig zu,
nicht wahr? Schon bald bist du nicht mehr so jugendlich
frisch und schön, dass du dir einen anständigen Mann angeln
kannst, einen Arzt oder Anwalt, und dann musst du
dich mit weniger zufriedengeben. Du willst dich doch nicht
mit weniger zufriedengeben, oder, Katrina?
Von draußen reicht Kat noch einmal hinein und tastet
über die Wand. Sie findet den Schalter und legt ihn um.
Klick. Hinter den Scheiben, durch die man in die Sportbar
sieht, wird es dunkel, und das Licht, das sich auf den Parkplatz
ergossen und den grauen Asphalt weiß getüncht hat,
erlischt.
Kat stößt die Eingangstür zu und schließt ab. Um sicher
zu sein, prüft sie den Knauf, schlägt ein Metallgitter zu,
dass es knallt, und lässt ein Vorhängeschloss zuschnappen.
Das Metallgitter und das Vorhängeschloss sind noch
nicht einmal sechs Monate alt und passen nicht recht zum
heruntergekommenen Zustand des Hauses. Neu sind auch
die Gitterstäbe vor den Fenstern. Jemand war durch die
Hintertür eingebrochen, hatte die Kasse leergeräumt, eine
Kiste Whiskey mitgehen lassen und durchs Fenster das Weite
gesucht. Warum er nicht zur Tür hinaus verschwunden war,
weiß niemand.
Der Verlust an Whiskey und Bargeld war alles in allem
nicht der Rede wert gewesen. Aber die Reparaturkosten, die
hatten es in sich gehabt. Und dazu der Umsatzverlust. Der
Laden hatte zwei Tage geschlossen bleiben müssen.
Kat ist nur die Nachtmanagerin, aber fühlt sich trotzdem
für die Bar verantwortlich.
Erschöpft und müde von der langen Nacht steuert sie
auf ihren Studebaker zu, und es kommt ihr so vor, als hätte
der Wagen Schlagseite nach rechts. Anfangs kann sie nicht
sehen, warum oder ob es überhaupt so ist. Vielleicht handelt
es sich nur um eine Sinnestäuschung, hervorgerufen
durch das Spiel von Licht und Schatten.
Sie muss erst die halbe Entfernung bis zu ihrem Wagen
zurücklegen, bevor sie erkennt, dass er tatsächlich schräg
liegt. Dass ihre verflixte Karre einen Plattfuß hat.
»So ein Mist«, sagt sie, stampft zornig mit dem Fuß auf
den Asphalt und spürt prompt den Schlag bis hinauf ins
Knie.
Sie hastet zum Wagen, direkt zum Kofferraum. Sie schiebt
den Autoschlüssel ins zerkratzte Schlüsselloch, dreht ihn
nach links, falsch, dann nach rechts, hört, wie sich der Zylinder
bewegt, und stößt den Deckel nach oben.
Im Innern kann sie nichts erkennen.
Sie tastet nach der Taschenlampe, die sie links in einer
Ecke des Kofferraums aufbewahrt. Ihre Hand sucht eine
Weile im Dunkeln, bevor die Finger schließlich eine kalte
glatte Oberfläche spüren. Sie greift zu und knipst die Lampe
an. Sie leuchtet nur schwach und gelblich, aber sie leuchtet.
Jetzt, da sie zu sehen sind, greift Kat nach dem Reserverad
und dem Wagenheber. Dabei lächelt sie.
Kat ist schon immer ein selbstbewusster Mensch gewesen,
hat sich seit jeher auch mit Distanz betrachtet, und
jetzt sieht sie sich, keine eins sechzig, gerade mal fünfzig
Kilo, in einem blauen Wollkleid mit einem kurzen weißen
Mantel darüber, wie sie ein Reserverad schleppt, das fast so
groß ist wie sie selbst, und dazu einen schweren Wagenheber
- sie musste wirken wie ein Nilpferd im Ballettröckchen.
Bei dem Gedanken kräuselt ein Lächeln ihre Lippen.
Doch als ihr einfällt, welche Arbeit ihr bevorsteht, ist es
auch schon wieder erloschen.
Gleich darauf sitzt Kat in der Hocke, kurbelt ihren Wagen
hoch, damit sie das verflixte Rad wechseln kann, sieht zu,
wie sich der Reifen scheinbar immer weiter ausdehnt, während
das Rad fest auf dem Boden bleibt - doch dann endlich
hebt sich das Rad, aber die Unterseite des Reifens bleibt
platt. Er müsste sich doch eigentlich mit Luft füllen und
sich wieder ausdehnen, da kein Gewicht mehr auf ihm lastet.
Aber er tut es nicht.
Und dann - hinter ihr ein Geräusch.
Sie hält inne, bewegt sich nicht und hofft, dass es nichts
war, dass sich das Geräusch nicht wiederholt. Aber es wiederholt
sich, und sie dreht den Kopf, um über die Schulter
zu schauen, voller Angst vor dem, was sie vielleicht zu
sehen bekommt. Aber hinsehen muss sie trotzdem. Kat ist
eine von denen, die sich stets die Hände vor die Augen halten,
wenn sich auf der Leinwand im Drive-in-Kino die grässlichsten
Dinge abspielen, aber trotzdem zwischen den gespreizten
Fingern einen kurzen Blick riskieren.
Zeitungsseiten flattern über den Asphalt, tragen die Nachrichten
von gestern fort.
»Nur der Wind, Dummchen«, sagt sie. Nur der Wind.
Sie wendet sich wieder dem Wagen und ihrer Arbeit zu.
Kat verstaut den platten Reifen und den rautenförmigen
Wagenheber achtlos im Kofferraum und schlägt den Deckel
zu.
Ein Nagel hatte für den Schaden gesorgt. Erst als sie das
Rad ganz abmontiert hatte, fiel Kat der rostige Nagelkopf
auf, der an der Innenseite aus der Reifendecke ragte. Sie
erinnert sich undeutlich daran, auf dem Weg zur Arbeit
an einer Baustelle vorbeigefahren zu sein, wo Männer
mit braungebrannten Armen ein halb niedergebranntes
Reihenhaus instand setzten und zersplitterte Holzbohlen,
aus denen blanke Nägel ragten, auf einen Lastwagen
luden.
Ihre Hände sind schwarz von Dreck und Bremsstaub,
und sie mag sich nicht anfassen, weil sie Angst hat, ihr hellblaues
Kleid schmutzig zu machen oder ihren weißen Mantel.
Noch schmutziger. Denn als sie den Reifen zum Kofferraum
trägt, ist ihr Kleid bereits fleckig.
Dämlicher Mistplattfuß.
Sie möchte jetzt nur noch nach Hause, aus den Kleidern
schlüpfen und ein warmes Bad nehmen, sich waschen, bis
sie ganz sauber ist, und dann ins Bett schlüpfen, unter ihre
nachtkühle Bettdecke, wo sie vielleicht bis Mittag liegen
und schlafen kann, vielleicht sogar bis eins, und wenn sie
Glück hat, träumt sie süße Träume von dem Moment an,
wenn ihr Kopf aufs Kissen fällt, bis sie geweckt wird von der
Mittagssonne, die durchs Fenster scheint.
Doch zuerst muss sie nach Hause kommen.
Sie öffnet die Autotür und lässt sich auf den Fahrersitz
fallen, steckt den Schlüssel ins Zündschloss und dreht ihn
in Uhrzeigerrichtung. Der Wagen räuspert sich wie ein Raucher,
der drei Packungen am Tag pafft. Der Motor dreht einmal
- ganz langsam.
»Komm schon, Kleiner«, sagt Kat.
Sie pumpt mit dem Gaspedal.
Der Motor dreht wieder, diesmal ein bisschen schneller.
Und noch einmal. Kommt auf Touren. Sie nimmt Gas weg.
Will den Motor nicht absaufen lassen. Er dreht wieder. Hustet.
Furzt. Und springt dann tatsächlich an.
Gott sei Dank. Kat wischt sich über die Stirn, froh, dass
sie kein Taxi rufen muss, und im selben Moment fällt ihr
ein, wie schmutzig ihre Hände sind. Sie wirft einen Blick in
den Rückspiegel und lacht.
Ein schwarzer Schmutzfleck, auf ihrer Stirn verschmiert
wie bei einem Landstreicher im Stummfilm.
Und sie kann ihn nicht einmal wegwischen; jeder Versuch
würde es schlimmer machen. Aber Kat kümmert es
nicht. Es war eine lange Nacht. Sie hat zehn Stunden durchgearbeitet
und ist müde. Aber jetzt muss sie ja nur noch
nach Hause.
Mehr hat sie nicht zu erledigen, bis die Sonne aufgeht.
Kat zieht einen Knopf am Armaturenbrett, und die Scheinwerfer
schicken zwei gelbe Lichtstrahlen in die Nacht. Sie
sieht Staubflocken und Insekten im Licht schaukeln und
erinnert sich an einen Augenblick in ihrer Kindheit, als
sie drei Jahre alt war oder vielleicht vier und im Bett ihrer
Eltern lag, das ihr riesig vorkam, so groß wie eine Insel.
Eigentlich sollte sie ihren Mittagsschlaf halten. Deswegen
hatte man sie aufs Bett gelegt. Aber sie war hellwach und
schaute auf einen Sonnenstrahl, der zum Fenster herein
auf ihre bloßen Beine fiel. Die Wärme tat gut, und sie sah
Staubflocken im Licht taumeln. Sie hielt sie für lebendig,
lachte darüber, wie sie tanzten, und griff nach ihnen, um
sie einzufangen, aber es wollte ihr nie gelingen. Sie wussten
immer ganz genau, wann Kat zugreifen wollte, und tanzten
in letzter Sekunde davon, bevor ihre pummeligen kleinen
Finger in Reichweite kamen und sich zur Faust schlossen.
Kat dreht an einem anderen Knopf und schaltet das
Radio ein. Eine kratzige Männerstimme, kehlig und tief,
sagt: »... und Präsident Johnson machte heute in einer Stellungnahme
deutlich, dass Kubas Entschluss, die Versorgung
des Flottenstützpunkts Guantánamo Bay mit Frischwasser
einzustellen, absolut inakzeptabel sei. Eine weitere Meldung
betrifft Jimmy Hoffa, der vergangene Woche des Versuchs
für schuldig befunden wurde, Geschworene eines
Bundesgerichts zu bestechen ...«
Kat verzieht das Gesicht und dreht am Senderknopf.
Die Nachrichten sind doch reines Blabla und bestätigen
nur immer wieder, dass sie selbst klein ist und die Welt
groß, dass sie nicht das Geringste tun kann, um den entscheidenden
Ereignissen Einhalt zu gebieten oder ihren
Lauf auch nur zu verändern. Kat ist es wichtig, sich auf
Dinge zu konzentrieren, die sie ändern kann, das Leben der
Menschen in ihrer Umgebung, ihr eigenes Leben. Kleinigkeiten,
erreichbare Ziele.
Einen Drink ausschenken zum Beispiel. Oder einen Reifen
wechseln.
»... ist eine nächtliche Tiefsttemperatur von fünf Grad zu
erwarten, ebenso wie frühmorgendliche Schauer, und ...«
Wieder dreht sie am Senderknopf.
»Und jetzt Buddy Holly und die Crickets mit ›Not Fade
Away‹, aufgenommen nur zwei Jahre vor Mr. Hollys allzu
frühem Tod. Kaum zu glauben, dass es schon fünf Jahre her
ist, oder? Hier ist Dino von WMCA, eurer Radiostation, und
sagt euch: Bei uns lebt Buddy weiter.« Und schon legen die
Crickets los, im Bo-Diddley-Beat, wie auf Pappkartons gehämmert.
Kat dreht die Musik auf und fährt los.
Während Buddy Holly von jenseits des Grabes singt und
verrät, »... how it's gonna be«, fährt Kat durch eine nächtlich
ausgestorbene Stadt. Sie kommt an einem Kino vorbei, auf
dessen Anzeigetafel für den Film Dr. Strangelove geworben
wird, an einem Buchladen, in dessen Schaufenster GoldMedal-
Paperbacks ausgelegt sind, und an einem Stapel taufeuchter
Morgenzeitungen, mit Bindfaden verschnürt und
vor einem Kiosk abgelegt, der über Nacht mit einem Vorhängeschloss
gesichert ist.
Noch eine Viertelstunde, dann wird ein fetter Kerl mit
zwanzig Jahre alten Aknenarben und ebenso alter Wut darüber,
dass man ihn schon in der ersten Klasse der Grundschule
verarscht hat, erscheinen, den Kiosk aufschließen
und den Bindfaden um den Zeitungsstapel zerschneiden.
Die Zeitungen behaupten, es sei der 13. März, aber Kat
braucht nur einen Blick durch die Windschutzscheibe auf
den dunklen Horizont zu werfen, um zu wissen, dass es
noch drei oder mehr Stunden dauert, bevor es für die meisten
Menschen 13. März wird - egal, was die Zeitungen
sagen.
Sie findet, es wäre prima, wenn sie nur anzuhalten und
in einer der Zeitungen zu lesen brauchte, um herauszu finden,
was heute, während sie den halben Tag verschläft,
geschehen wird, aber natürlich enthalten auch die Zeitungen
mit dem heutigen Datum nur alte Neuigkeiten, Neuigkeiten
über die Dinge, die bereits geschehen sind, Dinge, an
denen sich niemals mehr etwas wird ändern lassen. Auch
nicht um vier Uhr morgens.
Auf einem einsamen Straßenstück tauchen hinter Kat die
kleinen runden Scheinwerfer eines Wagens auf, die von Sekunde
zu Sekunde größer werden. Nach ungefähr einer halben
Minute ist ein hellblauer 1963er-Fiat-600 plötzlich
neben ihr und zischt mit gequält aufheulendem Motor
und zermürbt jaulenden Weißwand reifen vorbei.
Kurz nachdem er überholt hat, biegt Kat nach links in eine
nachtstille Straße ab und nimmt ihren gewohnten Heimweg
südwestlich zum Queens Boulevard.
Wäre sie geradeaus weitergefahren, hätte sie vielleicht
gesehen, wie der Fiat auf die nächste Kreuzung zusteuert.
Sie hätte vielleicht gesehen, wie die Ampel an der Kreu-
zung von Grün auf Gelb umspringt. Sie hätte vielleicht das
Aufheulen des Motors gehört, als der Fahrer des Fiats das
Gaspedal unbarmherzig bis zum Anschlag durchtritt, um
das Letzte aus dem Wagen herauszuholen. Sie hätte vielleicht
gesehen, wie Gelb zu Rot wird und wie der Fiat trotz
Rot auf die Kreuzung rast. Sie hätte vielleicht gesehen, dass
ein grüner Pick-up zur selben Zeit von rechts auf die Kreuzung
fährt, hätte gesehen, wie er in den Fiat kracht, direkt
in die Beifahrertür; hätte den Fiat schleudern gesehen,
hätte ihn sich überschlagen gesehen, weil der Fahrer das
Lenkrad zur falschen Zeit in die falsche Richtung bewegt,
hätte gesehen, wie er sich dreimal um die eigene Achse
dreht, bevor er am Straßenrand auf dem Dach liegen bleibt,
eine Spur aus Glassplittern und Metallteilen hinter sich
zurücklassend. Sie hätte vielleicht gesehen, wie er da liegt,
auf dem Rücken in der leeren Nacht wie ein Käfer im Irrlicht
des gelben Mondes, und wie sich seine armen kleinen
Räder wild drehen und doch nirgends Halt finden. Sie hätte
vielleicht gesehen, wie der Pick-up, der mit ihm zusammengestoßen
ist und jetzt nur noch einen heilen Scheinwerfer
besitzt, zurücksetzt, wieder die ursprüngliche Richtung
einschlägt und davonfährt. Sie hätte vielleicht gesehen, wie
sich das bleiche Gesicht des Fahrers im Kleinlaster kurz
dem Trümmerfeld zuwendet, bevor er wegfährt. Aber sie
hätte niemals erfahren, warum der Fahrer vom Unfallort
geflüchtet ist, wo es doch der Fiat gewesen ist, der die rote
Ampel nicht beachtet hat. Das wird niemand je wissen. Nur
der Fahrer des Pick-ups ganz allein.
Und außerdem fuhr Kat nicht geradeaus.
Sie bog nach links ab und fuhr weiter. Und ebendas tut
sie in diesem Moment. Sie fährt langsam, aber stetig ihrem
Zuhause entgegen, und zu beiden Seiten der Straße leisten
ihr die eigenen Spiegelbilder in den Fenstern der Gebäude
Gesellschaft. Drei Kats fahren in dieselbe Richtung. Den
Unfall hätte sie hier niemals sehen können. Und als das
Krachen des Zusammenpralls ertönt, weiß sie nicht, woher
es kommt.
Sie hört es, dreht kurz Buddy Holly leiser und sieht in
den Rückspiegel. Aber als sie dort nichts als Dunkelheit ausmachen
kann, nicht einmal ein Paar Scheinwerfer, die in
der Ferne wie Wolfsaugen blitzen, stellt sie die Musik wieder
lauter, vielleicht sogar noch ein wenig lauter als vor
dem verstörenden Lärm des Zusammenpralls. Und sie fährt
weiter.
Vielleicht war es nur ein Donnern, das sie gehört hat. Hat
nicht der Mann im Radio davon gesprochen, dass frühmorgendliche
Schauer zu erwarten seien?
Sie sieht hinauf in den Himmel. Im hellen Mondlicht sind
viele graue Wolken zu erkennen, die jedoch nicht regenschwer
aussehen. Bis jetzt noch nicht. Aber vielleicht irrt
sie sich. Wenn, dann kommt sie hoffentlich zu Hause an,
bevor der Regenguss beginnt.
Sie hat keinen Regenschirm dabei.
Kat lenkt ihren Wagen in die Austin Street.
Sie kann bereits ihr Apartmenthaus sehen.
Sie sieht auch, wie einer ihrer Nachbarn - sie erinnert sich
nicht an seinen Namen, ein Farbiger, der immer sehr nett
gewesen ist und der ihr einmal sogar Starthilfe gegeben hat -
mit seinem Buick Skylark vom Long-Island-Railroad-Parkplatz
biegt und ihr entgegenkommt.
Als ihre Autos aneinander vorbeifahren, winken die Nachbarn
sich zu.
Frank! Sie meint, Frank sei sein Name. Er fällt ihr sofort
ein, als sie sein Gesicht deutlich sieht, vor dem die orangefarbene
Glut seiner Zigarette umhergeistert wie ein gezähmtes
Glühwürmchen.
Sie fragt sich, was er wohl um vier Uhr morgens hier
draußen vorhaben mag. Sie weiß, dass Franks Frau Krankenschwester
ist und häufig Nachtdienst hat - wenn Kat
von der Arbeit in der Bar nach Hause kam, hat sie oft Licht
in der Wohnung gesehen. Aber sie ist keinem von beiden,
weder Frank noch seiner Frau, um diese Zeit auf der Straße
begegnet.
Kat steuert ihren Wagen auf den Long-Island-Railroad-
Parkplatz, der sich genau gegenüber den Hobart Apartments
befindet, in denen sie wohnt. Sie fährt mit ihrem
Studebaker auf den Platz, den Franks Buick gerade frei gemacht
hat, und stellt den Motor ab. Das Radio verstummt.
Erst einmal hat sie für den kurzen Heimweg von der Bar
mehr als ein paar Minuten - die Länge eines Songs - gebraucht.
Sie hatte damals einen anderen Weg genommen,
um einen der Stammgäste daheim abzuliefern, der sein
letztes Geld für einen Drink ausgegeben hatte und sich
kein Taxi mehr leisten konnte. Und auch kein Trinkgeld für
sie übrig hatte. Während der Fahrt war nichts Schlimmes
geschehen, aber es blieb doch das erste und letzte Mal, dass
Kat einen Gast nach Hause gefahren hat. Sie war die ganze
Zeit nervös gewesen, hatte mit schwitzenden Händen das
Lenkrad umklammert, aber entscheidender war das Gefühl
gewesen, eine Grenze überschritten zu haben, die nicht hätte
überschritten werden dürfen.
Ein leichter Wind bläst um die Äste der Eichen am Straßenrand.
Ein paar Blätter werden fortgeweht, aber die meisten
halten sich.
Als Kat sich aus dem Auto zwängt, sieht sie einen schwarzweißen
Streifenwagen, der leise an ihr vorbeischleicht. Das
Rotlicht springt aus seinem Dach hervor wie die Spitze
eines Lippenstifts. Sie erkennt im Wageninneren das blasse
Gesicht eines einzelnen Polizisten, der in ihre Richtung
sieht. Dann ist er fort. Sie schaut dem roten Glühen der
Rücklichter nach, bis der Wagen am Ende des Blocks um
eine Ecke biegt.
In der Ferne ertönt eine Autohupe.
Ein Hund heult den Mond an, dann ein lauter Ruf,
Schnauze, ein schallender Schlag, der Hund jault, und dann
Stille.
Sie ist müde. So verflixt müde.
Kat ist der Ansicht, die Menschen sollten Winterschlaf
halten wie die Bären. Der Winter zehrt an der Seele. Wenn
die Menschen ihn verschlafen könnten, würden sie im
Frühling erholt aufwachen, bereit für den Rest des Jahres.
Sie könnten ihm mit Hoffnung entgegensehen, vielleicht
sogar voller Optimismus. Aber nein, wenn sich der Frühling
anbahnt, wie er es jetzt tut, sind die Menschen mürbe
vom Winter. Kalt und mürbe. Und kurz davor, zu zerbrechen.
Kat schlägt die Wagentür zu, sieht, dass sie vergessen
hat abzuschließen, reißt die Tür nochmal auf, drischt den
Knopf runter und schließt sie wieder.
Sie kann es kaum abwarten, endlich in die Badewanne zu
steigen.
Aber Kat ist ihrer Wohnungstür, von der die Farbe abblättert,
gerade erst zwei kleine Schritte näher gekommen, als
sie wie angewurzelt stehen bleibt.
Sie schluckt angstvoll.
Plötzlich ist ihr Mund schrecklich trocken.
Im Dunkel der Nacht sieht sie eine grobschlächtige Gestalt
in der Nähe einer der vernarbten Eichen stehen, die
den Eingang der Hobart Apartments bewachen und sie von
ihrem warmen Bad trennen.
Die grobschlächtige Gestalt tritt aus dem Schatten der
Bäume hervor und kommt ihr entgegen.
Sie - er - scheint von ihr angezogen zu werden wie von
einem Magnet, er scheint nicht zu gehen, sondern ihr wie
ein Jo-Jo an seinem Faden entgegenzugleiten. Da ist nichts
zu merken von dem schwerfälligen Schlurfen, mit dem ein
ungeschlachter Mann sich normalerweise von einem Ort
zum anderen schleppt. Dieser Kerl fliegt auf sie zu, und es
wirkt bedrohlich.
Kat presst sich die Handtasche an die Brust wie eine Art
Talisman, einen Schutzschild gegen die Nacht, und möchte
sich am liebsten an dem Mann vorbeischlängeln, um
schnells tens in ihre Wohnung zu gelangen.
Und plötzlich ist alles grell hell. Und laut.
Sie sieht jedes Detail, sieht die Hautporen des Mannes,
groß und von Schmieröl verstopft, Mitesser, die seine Nase
übersäen. Der Fleck auf seinen Jeans hat die Form eines
der Staaten des Mittelwestens, deren Namen sie sich nie
merken kann, und ist kaffeebraun. Die Roststellen auf der
Klinge des Messers, das er in den Hand hält, erinnern an
Sommersprossen. Sie hört irgendwo ein Radio plärren. Gedämpfte
Stimmen. Drei Blocks weiter gibt gerade ein Motor
den Geist auf. Sie sieht eine Spinne an der Eingangstür
ihres Gartenapartments. Sie spinnt ihr Netz links oben in
der Ecke. Sie hört, wie drinnen das Badewasser einläuft, hinter
der Spinne und der Eingangstür, und die Wanne mit
warmem Wasser füllt, in das sie schon bald hineingleiten
wird.
Aber das stimmt doch nicht, oder? Das mit dem Bad ist
nicht wahr. Jedenfalls noch nicht. Und es wird niemals wahr
werden, wenn sie es nicht in ihre Wohnung schafft.
Der Mann mit dem Messer hält weiter auf sie zu.
Aber Kat ist jetzt an ihm vorbei, auf der Straße. Adrenalin
pulsiert durch ihre Adern. Auf der Suche nach ihren
Schlüsseln zerrt sie hektisch am Reißverschluss ihrer Tasche.
Sie fischt in deren offenem Schlund, und ein Lippenstift
fliegt heraus, landet klappernd auf der Straße, rollt ein
Stück und bleibt liegen. Sie hört, wie ihr Angreifer ihn unter
seinem derben Bauarbeiterstiefel zermalmt. Also geht er
tatsächlich, also muss er ein Mensch sein, obwohl er doch
zu schweben schien. Gespenster tragen keine schmutzigen
Jeans und haben weder verstopfte Hautporen noch Mitesser,
oder? Gespenster tragen keine braunen Bauarbeiterstiefel.
Und sie brauchen keine Messer. Ihre pinkfarbene
Puderdose springt dem Lippenstift hinterher, und als sie
auf den Boden prallt, meint Kat hören zu können, wie der
Spiegel im Innern zerplatzt.
Sieben Jahre Pech, denkt sie blödsinnigerweise. Dann bin
ich fünfunddreißig.
Aber jetzt spürt sie den Schlüsselbund in der rechten
Hand und steht vor der Eingangstür, und sie tastet sich
durch die Schlüssel, verzweifelt auf der Suche nach dem
richtigen. Sie ist schweißgebadet, obwohl die Nacht so
kühl ist, und dann hat sie ihn, den richtigen, den passenden
Schlüssel. Sie schiebt ihn in das Schloss des Türknaufs
und dreht ihn und stößt gegen die Tür. Und die
Tür schwingt auf und begrüßt sie, komm herein, Kat, willkommen
zu Hause. Sie macht einen Schritt in Richtung
Wohnzimmer, in die sichere Dunkelheit ihres Wohnzimmers,
die einladend lockt wie ein Schoß, wie die offenen
Arme einer Mutter. Schon bald wird sie die Tür vor den
Gefahren der Welt schließen und sich ins warme Badewasser
sinken lassen. Und alles vergessen, was hier geschehen
ist.
Nur dass eine grausame Hand sie an den Haaren packt
und zurückhält. Und diese Hand zerrt sie fort von der Eingangstür,
die offen stehen bleibt, der Schlüsselbund pendelnd
am Türknauf.
Ich wollte doch nur mein verdammtes Bad, denkt sie.
Und dann erhebt sich die andere Hand, die sie nicht am
Haarschopf gepackt hält, in die Nachtluft über ihr. Sie hält
ein Messer, ein großes Küchenmesser, dessen Klinge von
Rostflecken übersät ist.
Das Messer scheint für einen Moment in der Luft stillzustehen.
Kat kann es aus dem Augenwinkel sehen.
»Bitte«, sagt sie.
Und das bleibt alles, was sie sagt, bevor das Messer herabgestoßen
wird und sie gleich hinter dem Schlüsselbein trifft.
Metall knirscht am Knochen, es folgt ein ekelerregendes,
glitschiges Schmatzen ... und dann werden diese Laute über
tönt von einem Schrei. Jemand stößt einen lauten Schrei
aus.
Und dann wird das Messer herausgezogen aus dem Spalt,
den es in Kat geöffnet hat, und sie hört ein Geräusch, wie
wenn in einem Errol-Flynn-Film ein Schwert aus der Scheide
gezogen wird. Es hört sich unwirklich an. Dann sickert ihr
warme Flüssigkeit den Rücken hinab.
Sie riecht Kupfer.
Und plötzlich schrillt ein weiterer Schrei in die Stille.
Wer da wohl schreien mag, denkt Kat. Armes Ding.
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Ulf Müller
Gesetzt aus der 10,6/14,2 Punkt The Antiqua bei
C. Schaber, Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-453-26679-7
www.heyne-hardcore.de
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Autoren-Porträt von Ryan David Jahn
Ryan David Jahn wuchs in Arizona, Texas und Kalifornien auf. Mit sechzehn Jahren verließ er die Schule, um in einem Plattenladen zu arbeiten. Seit 2004 schreibt er als Drehbuchautor für Film und Fernsehen.Teja Schwaner studierte in Hamburg, Frankfurt und London. Sie arbeitete als Musik- und Filmjournalistin und übersetzte u.a. Hunter S. Thompson, Daniel Woodrell, Karin Slaughter und T.J. Forrester.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ryan David Jahn
- 2011, 269 Seiten, Maße: 13,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Schwaner, Teja
- Übersetzer: Teja Schwaner
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345326679X
- ISBN-13: 9783453266797
Rezension zu „Ein Akt der Gewalt “
"Ein superspannendes Lehrstück über Zivilcourage und menschliche Psyche, das in der heutigen Zeit aktueller denn je ist."
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