Ein Engländer in Paris
Mein Jahr mit den Franzosen
Mein Jahr mit den Franzosen. Für einen neuen Job zieht Paul West von London nach Paris. Sofort fühlt er sich wie auf einem anderen Planeten. Denn Frankreich ist gar nicht
so, wie in seinen Lieblingsfilmen »Die wunderbare Welt der Amélie« oder auch...
so, wie in seinen Lieblingsfilmen »Die wunderbare Welt der Amélie« oder auch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Engländer in Paris “
Mein Jahr mit den Franzosen. Für einen neuen Job zieht Paul West von London nach Paris. Sofort fühlt er sich wie auf einem anderen Planeten. Denn Frankreich ist gar nicht
so, wie in seinen Lieblingsfilmen »Die wunderbare Welt der Amélie« oder auch »Chocolat«. Kurz bevor Paul völlig verzweifelt, lernt er eine bezaubernde Französin kennen. Sie gibt ihr Bestes, um Paul in einen French Lover zu verwandeln... Eine »Buchsensation« (The Sunday Times), ein zum Kaputtlachen komischer Bericht: über die
Freuden und Qualen eines verliebten Engländers in Paris.
so, wie in seinen Lieblingsfilmen »Die wunderbare Welt der Amélie« oder auch »Chocolat«. Kurz bevor Paul völlig verzweifelt, lernt er eine bezaubernde Französin kennen. Sie gibt ihr Bestes, um Paul in einen French Lover zu verwandeln... Eine »Buchsensation« (The Sunday Times), ein zum Kaputtlachen komischer Bericht: über die
Freuden und Qualen eines verliebten Engländers in Paris.
Klappentext zu „Ein Engländer in Paris “
Paul West kommt für einen Job von London nach Paris, aber vor allem, weil er herausfinden will, ob Paris wirklich die Hauptstadt der atemberaubenden Unterwäsche ist. Von Tag eins an fühlt er sich wie auf einem anderen Planeten, und ganz und gar nicht wie im Frankreich seiner Lieblingsfilme "Chocolat" oder "Die wunderbare Welt der Amélie". Statt dessen entdeckt er, daß Sozialwohnungen grundsätzlich der Pariser Bourgeoisie vorbehalten sind, Salat schneiden eine Todsünde ist, Betrug hingegen eine quantité negligéable. Daß bei der vielen Küsserei unter Franzosen ein Herpesvirus ganze Unternehmen lahmlegen kann. Und wie man unter der Verwendung eines Geheimcodes vom unfreundlichsten Kellner doch bedient wird. Merde, alors! Doch kurz bevor Paul endgültig verzweifelt, gibt eine bezaubernde Französin ihr Bestes, ihn per Intensivkurs in einen French Lover zu verwandeln.
Lese-Probe zu „Ein Engländer in Paris “
Stephen ClarkeEin Engländer in Paris
Roman
Septembre
Entente cordiale - Fehlanzeige
Das Jahr beginnt nicht mit dem Januar. Jedenfalls nicht in Frankreich. Nur komplett ahnungslose Nicht-Franzosen können auf so eine Idee kommen.
Der eigentliche Jahresanfang fällt auf den ersten Montag im September. Dann kehren die Pariser aus ihrem vierwöchigen Augusturlaub in ihre Büros zurück und widmen sich umgehend der Planung ihrer Herbstferien. An diesem Tag fällt in Frankreich auch der Startschuß für Projekte aller Art, egal, ob es sich um eine neue Frisur oder ein neues Atomkraftwerk handelt. So stand ich also an diesem ersten Montag im September unweit der Champs-Elysées und beobachtete, wie sich rundherum die Leute abküßten.
Mein guter Freund Chris hatte mir gleich davon abgeraten, nach Frankreich zu gehen. Grandioser Lebensstil, hatte er gesagt, wunderbares Essen und absolut unpolitische Frauen in atemberaubender Unterwäsche.
Aber, hatte er mich gewarnt, das Leben mit den Franzosen ist die Hölle. Er hatte drei Jahre lang in der Londoner Niederlassung einer französischen Bank gearbeitet und mußte es also wissen. "Einen Tag nachdem wir die Franzosen aus der Fußball-Weltmeisterschaft gekickt haben, sind alle britischen Mitarbeiter entlassen worden", behauptete er. "Sag mir keiner, daß das ein Zufall war."
Seiner Theorie nach verhalten sich Franzosen wie verschmähte Frauen. Damals, 1940, hatten sie versucht, uns ihre Liebe anzutragen. Und wie hatten wir darauf reagiert? Wir hatten sie wegen ihres Akzents verspottet, uns über die große Nase von General de Gaulle lustig gemacht und seitdem nichts anderes im Sinn gehabt, als sie mit unserem ekelhaften Fraß zu vergiften und die französische Sprache auszurotten. Bis heute weigern sie sich eisern, unser Rindfleisch zu essen - Jahre nachdem es wieder als unbedenklich gilt. Sie hören überhaupt nicht mehr auf, es uns heimzuzahlen, erklärte Chris. Fahr da bloß nicht hin!
Trotzdem, erwiderte ich, mag
... mehr
ja sein, aber diese atemberaubende Unterwäsche muß ich unbedingt mal aus der Nähe sehen.
Ein Jobwechsel mit dem Motiv, lokale Dessous zu inspizieren, kann eigentlich nur direkt in die Katastrophe führen. Zunächst ließ sich mein auf ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis aber ganz vielversprechend an.
Ich fand rasch die Niederlassung meines neuen Arbeitgebers - ein imposantes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert in sanftgoldenem Sandstein mit allerlei Belle-Époque-Zierrat - und stolperte direkt in eine Orgie. Menschen küßten sich vor dem Lift. Andere wieder küßten sich vor einem Getränkeautomaten. Sogar die Empfangsdame beugte sich über ihren Schalter und küßte jemanden - eine Frau. Alle Achtung, dachte ich. Wenn sich hier irgendwann Herpes breitmacht, müssen sie aber ohne Ende Kopfkondome verteilen.
Ich hatte natürlich schon davon gehört, daß Franzosen auf Begrüßungsküßchen stehen, aber daß das solche Ausmaße annimmt, überraschte mich dann doch. War es Firmenphilosophie, sich vor Arbeitsbeginn ein paar Ecstasy-Pillen einzuschmeißen?
Ich trat näher an den Empfangsschalter heran. Die beiden Frauen hatten aufgehört, sich abzuküssen, und plauderten nun miteinander. Auf glamouröse Empfangsmädchen legte die Firma offenbar keinen Wert: Diese hier hatte recht maskuline Züge, die eher abschreckten. Zum Lächeln war die nicht geboren. Sie schimpfte über etwas, aber ich konnte es nicht verstehen.
Ich strahlte sie mit meinem besten "Hallo, ich bin der Neue"-Lächeln an. Keine Reaktion. Eine geschlagene Minute verbrachte ich in der "Will sich denn niemand um mich kümmern?"-Zone. Negativ. Also trat ich noch einen Schritt näher und sagte mein auswendig gelerntes Sprüchlein auf: "Bonjour, je suis Paul West. Je viens voir Monsieur Martin."
Die beiden Frauen plapperten weiter von ihrem déjeuner, womit sie, so viel wußte ich, das Mittagessen meinten. Erst nachdem sie mindestens ein halbes Dutzend "Ich ruf dich an"-Gesten gemacht hatten, wandte die Empfangsdame sich mir zu.
"Monsieur?" Nicht die Spur einer Entschuldigung. So herzlich sie zu der anderen war, so kalt ließ sie mich abblitzen. Ich nannte noch einmal meine Losung. Oder versuchte es zumindest. "Bonjour, je ..." Nein, die Wut war mir zu Kopf gestiegen, und in meiner Zunge war jetzt ein Knoten. "Paul West", sagte ich. "Monsieur Martin." Zur Hölle mit den Verben. Ich quälte mir ein freundliches Lächeln ab.
Die Empfangsdame - "Marianne" laut ihrem Namensschild, aber "Hannibal Lecter" hätte mich auch nicht gewundert - gab einen mißbilligenden Ton von sich. Ich konnte fast hören, was sie dachte: Kann kein Französisch. Denkt wahrscheinlich, de Gaulle hatte eine große Nase. Dreckskerl. "Ich rufe seine Sekretärin an", sagte sie. Zumindest vermutete ich das. Sie griff zum Telefon und hämmerte eine Nummer ein, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte. Offensichtlich genügte ich in ihren Augen nicht den erforderlichen Standards, um den Chef zu sprechen.
Mache ich wirklich einen so schlechten Eindruck, fragte ich mich. Dabei hatte ich mir die größte Mühe gegeben, mich so herauszuputzen, wie man es von einem Engländer in Paris erwarten konnte. Ich trug meinen besten und einzigen grauschwarzen Paul-Smith-Anzug. Mein Hemd war so weiß, wie man es nur erreicht, wenn die Seidenraupen mit Bleichmitteln gefüttert werden. Und von meiner Hermès-Krawatte ging derart viel Spannung aus, daß es für die Energieversorgung der gesamten Pariser Metro gereicht hätte. Ich hatte sogar meine schwarzseidenen Boxershorts angezogen, um meinem Selbstwertgefühl eine unsichtbare Stütze zu geben. Nicht nur französische Frauen verstehen sich auf Unterwäsche!
Auf keinen Fall hatte ich einen dermaßen vernichtenden Blick verdient. Schon gar nicht im Vergleich zu den meisten anderen, die ich das Gebäude betreten sah: Dilbert-Typen, Frauen in drögen Versandhauskostümen, dazu jede Menge Bequemschuhe.
"Christine? Hier ist ein Herr ...?" Marianne, meine Empfangsdame, blinzelte zu mir herüber.
Offenbar mein Stichwort. Aber was wollte sie?
"Votre nom?" fragte Marianne augenrollend; beim zweiten Wort schlug ihre Ungeduld angesichts meiner Begriffsstutzigkeit schon fast in Verzweiflung um.
"Paul West."
"Poll Wess", gab Marianne weiter, "für Monsieur Martin." Sie legte auf. "Nehmen Sie dort Platz", erklärte sie sehr langsam in einem Französisch für Alzheimer-Patienten.
Die hübschen Mädchen behielt der Boß offensichtlich lieber in seiner Nähe. Christine, die Sekretärin, die mich in den fünften Stock begleitete, war eine hochgewachsene Brünette mit Superfigur und einem Lächeln auf den dunkel geschminkten Lippen, das jedem Mann auf zwanzig Schritt Entfernung in die Hose fuhr. Ich aber stand im Lift nur wenige Zentimeter neben ihr, konnte ihr tief in die Augen schauen und hatte ihr Parfüm in der Nase. Es roch leicht nach Zimt. Nach etwas, das man gerne vernaschen würde.
Da denkst du natürlich: Na komm schon, Aufzug, bleib stecken, am besten zwischen zwei Stockwerken. Auf dem Klo war ich gerade erst gewesen, ich konnte es also eine Weile aushalten. Ein oder zwei Stunden, und die wehrlose Beute würde meinem Charme zum Opfer fallen.
Das Dumme war nur, ich hätte ihr zuerst Englisch beibringen müssen. Beim Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, lächelte sie mich nur wundervoll an und entschuldigte sich auf Französisch dafür, daß sie kein Wort verstand. Trotzdem - immerhin mal eine Pariserin, die mich nicht gleich verabscheute.
Der Korridor, auf dem wir ausstiegen, sah aus, als wäre ein Glastransporter in eine alte Villa gerast. Ein orientalisch anmutender Teppich bedeckte den Flurboden auf ganzer Länge, nur am Rand sahen die knarrenden, abgewetzten Dielen hervor. Wände und Decken waren mit Stuck verziert, allerdings hatte man die Originaltüren herausgerissen und durch Rauchglastüren im Stil der siebziger Jahre ersetzt. Als ob dieser Stilmix nachträglich kaschiert werden sollte, war der Korridor so üppig mit Grünzeug ausgestattet, daß es für einen Dschungelkrieg gereicht hätte.
Christine klopfte an eine der Glastüren. "Entrez!" erscholl die Stimme eines Mannes.
Ich trat ein und da saß er, hinter ihm reckte sich der Eiffelturm in den bewölkten Himmel. Mein neuer Chef erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch, um mich zu begrüßen.
"Monsieur Martin", sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. "Freut mich, Sie wiederzusehen."
"Sag einfach Jean-Marie", erwiderte er in ausgezeichnetem, fast akzentfreiem Englisch. Er ergriff meine Hand und zog mich so nahe an sich heran, daß ich schon dachte, jetzt geht gleich wieder die Küsserei los. Aber nein, er wollte mir nur auf die Schulter klopfen. "Willkommen in Frankreich", sagte er.
Alle Achtung, dachte ich mir. Schon zwei, die dich mögen.
Für einen Firmenchef sah Jean-Marie eigentlich ganz passabel aus. Er war um die Fünfzig, trotzdem hatten seine dunklen Augen Feuer. Sein Haar war zwar schon etwas licht, aber da er es nach hinten kämmte und ziemlich kurz hielt, fiel das nicht weiter auf. Sein königsblaues Hemd und seine goldfarbene Krawatte wirkten zwanglos elegant. Er hatte ein offenes und freundliches Gesicht.
Als er Kaffee kommen ließ, stellte ich fest, daß er Christine gegenüber tu verwendete, während sie zu ihm vous sagte. Wie das funktionierte, würde ich nie verstehen.
"Setz dich, Paul", sagte Jean-Marie. "Alles okay? Die Reise, das Hotel?"
"Aber ja, prima, danke ..." Es war ein wenig schlicht, hatte aber immerhin Kabelfernsehen.
"Gut, gut." Wenn er einen so ansah, hatte man das Gefühl, daß es für ihn in diesem Moment nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als einen glücklich zu machen. Scheiß auf den Treibhauseffekt! Die Frage des Tages lautet: Ist Paul mit seinem Hotelzimmer zufrieden?
"Jeder hier scheint richtig glücklich zu sein, alle küssen sich", bemerkte ich.
"Ach so, ja." Er warf einen Blick auf den Korridor, anscheinend um nachzuschauen, ob da jemand vorbeikäme, dem er einen Wangenkuß verpassen konnte. "Das ist die rentrée. So eine Art Rückkehr vom Weltraum auf die Erde. Alles, was weiter als zehn Kilometer von den Galeries Lafayette entfernt liegt, ist für uns Pariser auf einem fremden Planeten. Wir waren einen ganzen Monat lang von unseren Kollegen getrennt. Jetzt freuen wir uns über das Wiedersehen." Er schnaubte, als hätte er einen nur ihm verständlichen Witz gemacht. "Nun ja, manchmal sind wir auch nicht so glücklich darüber, aber ohne Küssen geht es nun mal nicht."
"Auch unter Männern?"
Jean-Marie lachte. "Hältst du französische Männer etwa für Weicheier?"
"Nein, nein, natürlich nicht." Ich fürchtete, einen Nerv getroffen zu haben.
"Gut."
Wenn jetzt Christine reinkommt, schoß es mir durch den Kopf, dann läßt er bestimmt die Hosen herunter und beweist auf der Stelle, was für ein Mann er ist.
Er klatschte in die Hände, wie um das in der Luft liegende Testosteron zu vertreiben. "Dein Büro ist gleich hier nebenan. Wir haben dieselbe Aussicht. Und was für eine Aussicht, nicht wahr?" Er streckte seinen Arm zum Fenster aus, um mir seinen Stargast zu präsentieren. Das war wirklich etwas ganz Besonderes. "Nicht jeder, der in Paris arbeitet, hat Blick auf den Eiffelturm", verkündete er stolz.
"Großartig", sagte ich.
"Ja, großartig. Du sollst dich bei uns wohl fühlen", sagte Jean-Marie. Und wahrscheinlich meinte er das in diesem Augenblick auch so.
Als ich ihn in London kennenlernte, sprach er von VianDiffusion, seiner Firma, wie von einer großen Familie. Seine Rolle schien eher die des Lieblingsonkels als die des Paten oder Big Brother zu sein. Er hatte den fleischverarbeitenden Betrieb vor zehn Jahren von seinem Vater, dem Firmengründer, übernommen, der noch als einfacher Metzger angefangen hatte. Mittlerweile besaß die Familie vier "Fabriken" (im Grunde nichts anderes als riesige Fleischwölfe - brüllende Tiere auf der einen Seite rein, Hackfleisch auf der anderen raus), dazu noch die Niederlassung in der Hauptstadt. Dank des grenzenlosen Appetits der Franzosen nach Hamburgern oder steaks hâchés, wie man sie hier patriotisch nennt, war der Umsatz recht ordentlich. Als Jean-Marie mich anwarb, hatte ich den Eindruck, mein Projekt solle die blutigen Ursprünge seines Unternehmens vergessen machen. Vielleicht begrüßte er mich deshalb jetzt so herzlich.
Blieb zu hoffen, daß mich auch meine Kollegen so freundlich in Empfang nehmen würden.
"Eine Frage, Jean-Marie", sagte ich, als er mich über den Korridor Richtung Konferenzraum geleitete - oder vielmehr schob. "Soll ich nun alle mit tu oder mit vous ansprechen?" Nicht daß ich in der Lage gewesen wäre, überhaupt Französisch mit ihnen zu reden.
"Ganz einfach. Jemand in deiner Position sagt zu allen tu. Außer vielleicht zu jemand, der älter ist. Oder wenn ihr einander noch nicht vorgestellt seid. Die meisten Mitarbeiter werden dich auch mit tu ansprechen. Manche werden aber vous sagen, wenn sie sehr viel jünger sind oder wenn sie dich noch nicht so gut kennen. Alles klar?"
"Ähm, ja." Klar wie Kloßbrühe.
"Aber in deinem Team wird ohnehin Englisch gesprochen."
"Englisch? Ich dachte, ich sollte mich eingliedern?"
Jean-Marie gab darauf keine Antwort. Er schob mich ein letztes Mal am Arm, und wir betraten den Konferenzraum. Der nahm die ganze Breite des Gebäudes ein und hatte Fenster nach vorne und nach hinten hinaus. Auf der einen Seite der Eiffelturm, auf der anderen ein Hof und ein modernes Bürogebäude mit Glasfront.
Vier Personen erwarteten uns. Ein Mann und eine Frau standen ins Gespräch vertieft am Fenster der Hofseite, ein anderer Mann und eine weitere Frau saßen schweigend an dem großen ovalen Tisch.
"Alle mal herhören, das ist Paul", verkündete Jean-Marie.
Meine neuen Arbeitskollegen wandten sich mir zu. Von den beiden Männern war der eine ziemlich groß und untersetzt, so um die Vierzig, der andere deutlich jünger und schlank, dafür aber kahlköpfig. Die eine Frau war etwa dreißig, naturblond mit strengem Pferdeschwanz und einem derart ausgeprägten Kinn, daß man ihr, wenn auch knapp, das Prädikat "schön" verweigern mußte. Die zweite Frau war eine rundgesichtige Fünfunddreißigjährige mit großen braunen Augen und einer unmodischen Bluse in Pink.
Ich schüttelte ihnen allen die Hand und vergaß umgehend ihre Namen.
Wir nahmen Platz. Jean-Marie und ich auf der einen Seite des Tisches, meine vier neuen Kollegen auf der anderen.
"Okay, alle miteinander. Das ist ein sehr spannender Moment", erklärte Jean-Marie. "Wir diversifizieren, neue Geschäftsfelder tun sich auf. Auf dem Restaurant-Sektor sind wir bereits sehr erfolgreich. Ohne unser Hackfleisch würde die französische Fast-food-Industrie alt aussehen. Jetzt wollen wir uns mit unseren English-Tea-Cafés einen neuen Markt erschließen. Und hier haben wir jemanden, der dieses Business kennt." Er zeigte stolz auf mich. "Wie ihr wißt, war Paul in England Marketingchef der französischen Café-Kette Voulez-Vous Café Avec Moi. Wie viele Cafés habt ihr aufgemacht, Paul?"
"Bei meinem Ausscheiden waren es 35. Aber das war vor zwei Wochen. Keine Ahnung, wie viele es inzwischen sind."
Das war natürlich nur ein Scherz, aber alle glotzten mich in vollem Glauben an den anglo-amerikanischen Dynamismus ehrfürchtig an.
"Ja", sagte Jean-Marie, der sich offensichtlich in meinem Glanz sonnte. "Ich habe ihren Erfolg genau beobachtet und wollte diesen Marketingchef haben. Also flog ich nach London, als Kopfgeldjäger. So sagt man doch?"
"Headhunter", berichtigte ich.
"Danke. Ich bin sicher, daß Paul unserer neuen Kette englischer Cafés in Frankreich den gleichen Erfolg bescheren wird, den er mit einem ähnlichen Konzept französischer Cafés in England erreicht hat. Aber vielleicht kannst du fortfahren und dich selbst vorstellen, Paul?" sagte er, sichtlich erschöpft von seinem letzten Satz.
"Gerne." Ich schaute meine Gegenüber mit der größtmöglichen kollegialen Wärme an. "Mein Name ist Paul West", begann ich. Ich konnte förmlich sehen, wie sie alle innerlich meinen Namen vor sich hin murmelten. "Ich bin Mitbegründer von Voulez-Vous Café Avec Moi. Wir starteten im Juli letzten Jahres - am 14. natürlich, dem Tag der Bastille - mit zunächst fünf Cafés in London und im Südosten. Danach haben wir uns auf die größeren Städte und Einkaufszentren ausgedehnt und in drei Schritten jeweils zehn weitere Cafés eröffnet. Ich habe einen Bericht mitgebracht, da könnt ihr die ganze Geschichte nachlesen. Davor habe ich für eine kleine Brauerei gearbeitet - eine Firma, die Bier produziert", ergänzte ich, als ich ihre zusammengekniffenen Augenbrauen sah. "Das ist meine Geschichte."
"Du biss simmlisch jung", sagte der Dürre. Nicht vorwurfsvoll, eher verwundert.
"Na ja, ich bin auch schon 27. Als Rockstar wäre ich schon steinalt."
Der Knabe wehrte entschuldigend ab. "Nein, nein. Aisch nisch wollen kritisierähn. Aisch meinen das ... bewundarlisch." Er hatte einen ziemlich seltsamen Akzent. Nicht unbedingt einen französischen. Ich kam nicht drauf.
"Ja, wir alle bewundern Paul, soviel steht fest." Wieder einmal sorgte Jean-Marie dafür, daß ich das Gefühl hatte, offenherzig gelobt zu werden. "Aber nun sollten auch wir uns vorstellen", sagte er. "Bernard, du fängst an!"
Bernard war der große Dickliche mit dem Bürstenschnitt und dem gepflegten blonden Schnurrbart. Er sah aus wie ein schwedischer Polizist, der es geschafft hatte, wegen seiner Plattfüße in Frührente zu kommen. Zu einem kränklich blauen Hemd trug er eine Krawatte, die sich vergeblich bemühte, rot zu erscheinen. Ihm fehlte eigentlich nur noch ein auf der Stirn eintätowiertes "hohl". Andererseits hätte ihn das vielleicht sogar wieder etwas interessant gemacht.
Bernard lächelte gequält und öffnete den Mund.
"Isch binn Bärrnahr, isch binn vehanntwottlisch fürr die Kommünikassjohsbereisch, äh..."
Ach du meine Güte, dachte ich, hatte Jean-Marie nicht gesagt, die Besprechung würde in meiner Sprache abgehalten? Wieso jetzt auf einmal in Ungarisch?
Bernard aus Budapest kauderwelschte einige Minuten unverständlich weiter. Dann wollte er offenbar etwas von allergrößter Wichtigkeit sagen - ich merkte es daran, daß er es herauspreßte wie jemand, der an chronischer Verstopfung leidet. "Isch freun misch serre su arbaite mitt dirr."
Puh, dachte ich. Ich spreche zwar keine osteuropäischen Sprachen, aber das habe ich verstanden. Er freut sich sehr darauf, mit mir zu arbeiten. Heiliger Babelfisch! Irgendwie so mußte sich in Urzeiten Sprache aus Schmatzen entwickelt haben.
"Danke, Bernard", sagte Jean-Marie und lächelte aufmunternd. Hatte er mir seine größte Niete vorgeführt, um sein eigenes erstklassiges Englisch zu betonen? Ich begann, mir Hoffnungen zu machen. "Bitte schön, Marc."
Marc war der glatzköpfige Dürre. Er trug ein dunkelgraues Hemd, der Kragen stand offen, und vom Bügeln schien er auch nicht viel zu halten. Ich erfuhr, daß er einige Jahre in den Südstaaten gelebt hatte, was seinen schrägen Akzent erklärte. Er hörte sich an wie Scarlett O'Hara mit Pernod-Schwips.
"Aisch binn Laita vonn dih Abbetailung Aihtieh", sagte er.
"Abbetailung Aihtieh", wiederholte ich anerkennend. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was das sein sollte. Hat vielleicht etwas mit "Tea" zu tun, dachte ich. Also was Wichtiges.
"Jaha. Kommpjutahsisstehme", bestätigte Marc.
"Ach so, I. T.", entfuhr es mir. Er warf mir einen finsteren Blick zu. "Dein Englisch ist ausgezeichnet", schob ich hastig nach. "Wie lange warst du in den Staaten?"
"Aisch wahren eine Jarre anne dih Uniwersihteh vonne Tschohtschja, anschlüsslisch funffe Jarre ahbaite furre eine Fasischerunkskompanie inne Attelannta. In die Abbetailung Aihtieh, natürrelische."
"Natürrelische", nickte ich.
"Danke, Marc. Stéphanie?" moderierte Showmaster Jean-Marie das nächste Sprachgenie an.
Stéphanie war die Blonde mit dem kantigen Kinn. Ihr Akzent war katastrophal, sie kam fast ohne Grammatik aus, aber langsam hörte ich mich ein. Stéphanie war im fleischverarbeitenden Zweig des Unternehmens die "Veahnwottlische füa diha Ainkauf". Sie war "seah glügglisch", nun die "vohaussischtlische Veahnwottlische füa diha Ainkauf" auch der geplanten Kette von "engelische salons-du-thé" zu werden.
Ganz offensichtlich fiel ihr das Sprechen ebenso schwer wie mir das Zuhören. Als sie geendet hatte, warf sie Jean-Marie einen Blick zu. "So, jetzt habe ich meine fünfzig Liegestütze gemacht. Zufrieden, du Sadist?" schien sie ihm sagen zu wollen.
"Danke, Stéphanie. Nicole, bitte."
Ein Jobwechsel mit dem Motiv, lokale Dessous zu inspizieren, kann eigentlich nur direkt in die Katastrophe führen. Zunächst ließ sich mein auf ein Jahr befristetes Arbeitsverhältnis aber ganz vielversprechend an.
Ich fand rasch die Niederlassung meines neuen Arbeitgebers - ein imposantes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert in sanftgoldenem Sandstein mit allerlei Belle-Époque-Zierrat - und stolperte direkt in eine Orgie. Menschen küßten sich vor dem Lift. Andere wieder küßten sich vor einem Getränkeautomaten. Sogar die Empfangsdame beugte sich über ihren Schalter und küßte jemanden - eine Frau. Alle Achtung, dachte ich. Wenn sich hier irgendwann Herpes breitmacht, müssen sie aber ohne Ende Kopfkondome verteilen.
Ich hatte natürlich schon davon gehört, daß Franzosen auf Begrüßungsküßchen stehen, aber daß das solche Ausmaße annimmt, überraschte mich dann doch. War es Firmenphilosophie, sich vor Arbeitsbeginn ein paar Ecstasy-Pillen einzuschmeißen?
Ich trat näher an den Empfangsschalter heran. Die beiden Frauen hatten aufgehört, sich abzuküssen, und plauderten nun miteinander. Auf glamouröse Empfangsmädchen legte die Firma offenbar keinen Wert: Diese hier hatte recht maskuline Züge, die eher abschreckten. Zum Lächeln war die nicht geboren. Sie schimpfte über etwas, aber ich konnte es nicht verstehen.
Ich strahlte sie mit meinem besten "Hallo, ich bin der Neue"-Lächeln an. Keine Reaktion. Eine geschlagene Minute verbrachte ich in der "Will sich denn niemand um mich kümmern?"-Zone. Negativ. Also trat ich noch einen Schritt näher und sagte mein auswendig gelerntes Sprüchlein auf: "Bonjour, je suis Paul West. Je viens voir Monsieur Martin."
Die beiden Frauen plapperten weiter von ihrem déjeuner, womit sie, so viel wußte ich, das Mittagessen meinten. Erst nachdem sie mindestens ein halbes Dutzend "Ich ruf dich an"-Gesten gemacht hatten, wandte die Empfangsdame sich mir zu.
"Monsieur?" Nicht die Spur einer Entschuldigung. So herzlich sie zu der anderen war, so kalt ließ sie mich abblitzen. Ich nannte noch einmal meine Losung. Oder versuchte es zumindest. "Bonjour, je ..." Nein, die Wut war mir zu Kopf gestiegen, und in meiner Zunge war jetzt ein Knoten. "Paul West", sagte ich. "Monsieur Martin." Zur Hölle mit den Verben. Ich quälte mir ein freundliches Lächeln ab.
Die Empfangsdame - "Marianne" laut ihrem Namensschild, aber "Hannibal Lecter" hätte mich auch nicht gewundert - gab einen mißbilligenden Ton von sich. Ich konnte fast hören, was sie dachte: Kann kein Französisch. Denkt wahrscheinlich, de Gaulle hatte eine große Nase. Dreckskerl. "Ich rufe seine Sekretärin an", sagte sie. Zumindest vermutete ich das. Sie griff zum Telefon und hämmerte eine Nummer ein, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte. Offensichtlich genügte ich in ihren Augen nicht den erforderlichen Standards, um den Chef zu sprechen.
Mache ich wirklich einen so schlechten Eindruck, fragte ich mich. Dabei hatte ich mir die größte Mühe gegeben, mich so herauszuputzen, wie man es von einem Engländer in Paris erwarten konnte. Ich trug meinen besten und einzigen grauschwarzen Paul-Smith-Anzug. Mein Hemd war so weiß, wie man es nur erreicht, wenn die Seidenraupen mit Bleichmitteln gefüttert werden. Und von meiner Hermès-Krawatte ging derart viel Spannung aus, daß es für die Energieversorgung der gesamten Pariser Metro gereicht hätte. Ich hatte sogar meine schwarzseidenen Boxershorts angezogen, um meinem Selbstwertgefühl eine unsichtbare Stütze zu geben. Nicht nur französische Frauen verstehen sich auf Unterwäsche!
Auf keinen Fall hatte ich einen dermaßen vernichtenden Blick verdient. Schon gar nicht im Vergleich zu den meisten anderen, die ich das Gebäude betreten sah: Dilbert-Typen, Frauen in drögen Versandhauskostümen, dazu jede Menge Bequemschuhe.
"Christine? Hier ist ein Herr ...?" Marianne, meine Empfangsdame, blinzelte zu mir herüber.
Offenbar mein Stichwort. Aber was wollte sie?
"Votre nom?" fragte Marianne augenrollend; beim zweiten Wort schlug ihre Ungeduld angesichts meiner Begriffsstutzigkeit schon fast in Verzweiflung um.
"Paul West."
"Poll Wess", gab Marianne weiter, "für Monsieur Martin." Sie legte auf. "Nehmen Sie dort Platz", erklärte sie sehr langsam in einem Französisch für Alzheimer-Patienten.
Die hübschen Mädchen behielt der Boß offensichtlich lieber in seiner Nähe. Christine, die Sekretärin, die mich in den fünften Stock begleitete, war eine hochgewachsene Brünette mit Superfigur und einem Lächeln auf den dunkel geschminkten Lippen, das jedem Mann auf zwanzig Schritt Entfernung in die Hose fuhr. Ich aber stand im Lift nur wenige Zentimeter neben ihr, konnte ihr tief in die Augen schauen und hatte ihr Parfüm in der Nase. Es roch leicht nach Zimt. Nach etwas, das man gerne vernaschen würde.
Da denkst du natürlich: Na komm schon, Aufzug, bleib stecken, am besten zwischen zwei Stockwerken. Auf dem Klo war ich gerade erst gewesen, ich konnte es also eine Weile aushalten. Ein oder zwei Stunden, und die wehrlose Beute würde meinem Charme zum Opfer fallen.
Das Dumme war nur, ich hätte ihr zuerst Englisch beibringen müssen. Beim Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, lächelte sie mich nur wundervoll an und entschuldigte sich auf Französisch dafür, daß sie kein Wort verstand. Trotzdem - immerhin mal eine Pariserin, die mich nicht gleich verabscheute.
Der Korridor, auf dem wir ausstiegen, sah aus, als wäre ein Glastransporter in eine alte Villa gerast. Ein orientalisch anmutender Teppich bedeckte den Flurboden auf ganzer Länge, nur am Rand sahen die knarrenden, abgewetzten Dielen hervor. Wände und Decken waren mit Stuck verziert, allerdings hatte man die Originaltüren herausgerissen und durch Rauchglastüren im Stil der siebziger Jahre ersetzt. Als ob dieser Stilmix nachträglich kaschiert werden sollte, war der Korridor so üppig mit Grünzeug ausgestattet, daß es für einen Dschungelkrieg gereicht hätte.
Christine klopfte an eine der Glastüren. "Entrez!" erscholl die Stimme eines Mannes.
Ich trat ein und da saß er, hinter ihm reckte sich der Eiffelturm in den bewölkten Himmel. Mein neuer Chef erhob sich und umrundete seinen Schreibtisch, um mich zu begrüßen.
"Monsieur Martin", sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen. "Freut mich, Sie wiederzusehen."
"Sag einfach Jean-Marie", erwiderte er in ausgezeichnetem, fast akzentfreiem Englisch. Er ergriff meine Hand und zog mich so nahe an sich heran, daß ich schon dachte, jetzt geht gleich wieder die Küsserei los. Aber nein, er wollte mir nur auf die Schulter klopfen. "Willkommen in Frankreich", sagte er.
Alle Achtung, dachte ich mir. Schon zwei, die dich mögen.
Für einen Firmenchef sah Jean-Marie eigentlich ganz passabel aus. Er war um die Fünfzig, trotzdem hatten seine dunklen Augen Feuer. Sein Haar war zwar schon etwas licht, aber da er es nach hinten kämmte und ziemlich kurz hielt, fiel das nicht weiter auf. Sein königsblaues Hemd und seine goldfarbene Krawatte wirkten zwanglos elegant. Er hatte ein offenes und freundliches Gesicht.
Als er Kaffee kommen ließ, stellte ich fest, daß er Christine gegenüber tu verwendete, während sie zu ihm vous sagte. Wie das funktionierte, würde ich nie verstehen.
"Setz dich, Paul", sagte Jean-Marie. "Alles okay? Die Reise, das Hotel?"
"Aber ja, prima, danke ..." Es war ein wenig schlicht, hatte aber immerhin Kabelfernsehen.
"Gut, gut." Wenn er einen so ansah, hatte man das Gefühl, daß es für ihn in diesem Moment nichts Wichtigeres auf der Welt gab, als einen glücklich zu machen. Scheiß auf den Treibhauseffekt! Die Frage des Tages lautet: Ist Paul mit seinem Hotelzimmer zufrieden?
"Jeder hier scheint richtig glücklich zu sein, alle küssen sich", bemerkte ich.
"Ach so, ja." Er warf einen Blick auf den Korridor, anscheinend um nachzuschauen, ob da jemand vorbeikäme, dem er einen Wangenkuß verpassen konnte. "Das ist die rentrée. So eine Art Rückkehr vom Weltraum auf die Erde. Alles, was weiter als zehn Kilometer von den Galeries Lafayette entfernt liegt, ist für uns Pariser auf einem fremden Planeten. Wir waren einen ganzen Monat lang von unseren Kollegen getrennt. Jetzt freuen wir uns über das Wiedersehen." Er schnaubte, als hätte er einen nur ihm verständlichen Witz gemacht. "Nun ja, manchmal sind wir auch nicht so glücklich darüber, aber ohne Küssen geht es nun mal nicht."
"Auch unter Männern?"
Jean-Marie lachte. "Hältst du französische Männer etwa für Weicheier?"
"Nein, nein, natürlich nicht." Ich fürchtete, einen Nerv getroffen zu haben.
"Gut."
Wenn jetzt Christine reinkommt, schoß es mir durch den Kopf, dann läßt er bestimmt die Hosen herunter und beweist auf der Stelle, was für ein Mann er ist.
Er klatschte in die Hände, wie um das in der Luft liegende Testosteron zu vertreiben. "Dein Büro ist gleich hier nebenan. Wir haben dieselbe Aussicht. Und was für eine Aussicht, nicht wahr?" Er streckte seinen Arm zum Fenster aus, um mir seinen Stargast zu präsentieren. Das war wirklich etwas ganz Besonderes. "Nicht jeder, der in Paris arbeitet, hat Blick auf den Eiffelturm", verkündete er stolz.
"Großartig", sagte ich.
"Ja, großartig. Du sollst dich bei uns wohl fühlen", sagte Jean-Marie. Und wahrscheinlich meinte er das in diesem Augenblick auch so.
Als ich ihn in London kennenlernte, sprach er von VianDiffusion, seiner Firma, wie von einer großen Familie. Seine Rolle schien eher die des Lieblingsonkels als die des Paten oder Big Brother zu sein. Er hatte den fleischverarbeitenden Betrieb vor zehn Jahren von seinem Vater, dem Firmengründer, übernommen, der noch als einfacher Metzger angefangen hatte. Mittlerweile besaß die Familie vier "Fabriken" (im Grunde nichts anderes als riesige Fleischwölfe - brüllende Tiere auf der einen Seite rein, Hackfleisch auf der anderen raus), dazu noch die Niederlassung in der Hauptstadt. Dank des grenzenlosen Appetits der Franzosen nach Hamburgern oder steaks hâchés, wie man sie hier patriotisch nennt, war der Umsatz recht ordentlich. Als Jean-Marie mich anwarb, hatte ich den Eindruck, mein Projekt solle die blutigen Ursprünge seines Unternehmens vergessen machen. Vielleicht begrüßte er mich deshalb jetzt so herzlich.
Blieb zu hoffen, daß mich auch meine Kollegen so freundlich in Empfang nehmen würden.
"Eine Frage, Jean-Marie", sagte ich, als er mich über den Korridor Richtung Konferenzraum geleitete - oder vielmehr schob. "Soll ich nun alle mit tu oder mit vous ansprechen?" Nicht daß ich in der Lage gewesen wäre, überhaupt Französisch mit ihnen zu reden.
"Ganz einfach. Jemand in deiner Position sagt zu allen tu. Außer vielleicht zu jemand, der älter ist. Oder wenn ihr einander noch nicht vorgestellt seid. Die meisten Mitarbeiter werden dich auch mit tu ansprechen. Manche werden aber vous sagen, wenn sie sehr viel jünger sind oder wenn sie dich noch nicht so gut kennen. Alles klar?"
"Ähm, ja." Klar wie Kloßbrühe.
"Aber in deinem Team wird ohnehin Englisch gesprochen."
"Englisch? Ich dachte, ich sollte mich eingliedern?"
Jean-Marie gab darauf keine Antwort. Er schob mich ein letztes Mal am Arm, und wir betraten den Konferenzraum. Der nahm die ganze Breite des Gebäudes ein und hatte Fenster nach vorne und nach hinten hinaus. Auf der einen Seite der Eiffelturm, auf der anderen ein Hof und ein modernes Bürogebäude mit Glasfront.
Vier Personen erwarteten uns. Ein Mann und eine Frau standen ins Gespräch vertieft am Fenster der Hofseite, ein anderer Mann und eine weitere Frau saßen schweigend an dem großen ovalen Tisch.
"Alle mal herhören, das ist Paul", verkündete Jean-Marie.
Meine neuen Arbeitskollegen wandten sich mir zu. Von den beiden Männern war der eine ziemlich groß und untersetzt, so um die Vierzig, der andere deutlich jünger und schlank, dafür aber kahlköpfig. Die eine Frau war etwa dreißig, naturblond mit strengem Pferdeschwanz und einem derart ausgeprägten Kinn, daß man ihr, wenn auch knapp, das Prädikat "schön" verweigern mußte. Die zweite Frau war eine rundgesichtige Fünfunddreißigjährige mit großen braunen Augen und einer unmodischen Bluse in Pink.
Ich schüttelte ihnen allen die Hand und vergaß umgehend ihre Namen.
Wir nahmen Platz. Jean-Marie und ich auf der einen Seite des Tisches, meine vier neuen Kollegen auf der anderen.
"Okay, alle miteinander. Das ist ein sehr spannender Moment", erklärte Jean-Marie. "Wir diversifizieren, neue Geschäftsfelder tun sich auf. Auf dem Restaurant-Sektor sind wir bereits sehr erfolgreich. Ohne unser Hackfleisch würde die französische Fast-food-Industrie alt aussehen. Jetzt wollen wir uns mit unseren English-Tea-Cafés einen neuen Markt erschließen. Und hier haben wir jemanden, der dieses Business kennt." Er zeigte stolz auf mich. "Wie ihr wißt, war Paul in England Marketingchef der französischen Café-Kette Voulez-Vous Café Avec Moi. Wie viele Cafés habt ihr aufgemacht, Paul?"
"Bei meinem Ausscheiden waren es 35. Aber das war vor zwei Wochen. Keine Ahnung, wie viele es inzwischen sind."
Das war natürlich nur ein Scherz, aber alle glotzten mich in vollem Glauben an den anglo-amerikanischen Dynamismus ehrfürchtig an.
"Ja", sagte Jean-Marie, der sich offensichtlich in meinem Glanz sonnte. "Ich habe ihren Erfolg genau beobachtet und wollte diesen Marketingchef haben. Also flog ich nach London, als Kopfgeldjäger. So sagt man doch?"
"Headhunter", berichtigte ich.
"Danke. Ich bin sicher, daß Paul unserer neuen Kette englischer Cafés in Frankreich den gleichen Erfolg bescheren wird, den er mit einem ähnlichen Konzept französischer Cafés in England erreicht hat. Aber vielleicht kannst du fortfahren und dich selbst vorstellen, Paul?" sagte er, sichtlich erschöpft von seinem letzten Satz.
"Gerne." Ich schaute meine Gegenüber mit der größtmöglichen kollegialen Wärme an. "Mein Name ist Paul West", begann ich. Ich konnte förmlich sehen, wie sie alle innerlich meinen Namen vor sich hin murmelten. "Ich bin Mitbegründer von Voulez-Vous Café Avec Moi. Wir starteten im Juli letzten Jahres - am 14. natürlich, dem Tag der Bastille - mit zunächst fünf Cafés in London und im Südosten. Danach haben wir uns auf die größeren Städte und Einkaufszentren ausgedehnt und in drei Schritten jeweils zehn weitere Cafés eröffnet. Ich habe einen Bericht mitgebracht, da könnt ihr die ganze Geschichte nachlesen. Davor habe ich für eine kleine Brauerei gearbeitet - eine Firma, die Bier produziert", ergänzte ich, als ich ihre zusammengekniffenen Augenbrauen sah. "Das ist meine Geschichte."
"Du biss simmlisch jung", sagte der Dürre. Nicht vorwurfsvoll, eher verwundert.
"Na ja, ich bin auch schon 27. Als Rockstar wäre ich schon steinalt."
Der Knabe wehrte entschuldigend ab. "Nein, nein. Aisch nisch wollen kritisierähn. Aisch meinen das ... bewundarlisch." Er hatte einen ziemlich seltsamen Akzent. Nicht unbedingt einen französischen. Ich kam nicht drauf.
"Ja, wir alle bewundern Paul, soviel steht fest." Wieder einmal sorgte Jean-Marie dafür, daß ich das Gefühl hatte, offenherzig gelobt zu werden. "Aber nun sollten auch wir uns vorstellen", sagte er. "Bernard, du fängst an!"
Bernard war der große Dickliche mit dem Bürstenschnitt und dem gepflegten blonden Schnurrbart. Er sah aus wie ein schwedischer Polizist, der es geschafft hatte, wegen seiner Plattfüße in Frührente zu kommen. Zu einem kränklich blauen Hemd trug er eine Krawatte, die sich vergeblich bemühte, rot zu erscheinen. Ihm fehlte eigentlich nur noch ein auf der Stirn eintätowiertes "hohl". Andererseits hätte ihn das vielleicht sogar wieder etwas interessant gemacht.
Bernard lächelte gequält und öffnete den Mund.
"Isch binn Bärrnahr, isch binn vehanntwottlisch fürr die Kommünikassjohsbereisch, äh..."
Ach du meine Güte, dachte ich, hatte Jean-Marie nicht gesagt, die Besprechung würde in meiner Sprache abgehalten? Wieso jetzt auf einmal in Ungarisch?
Bernard aus Budapest kauderwelschte einige Minuten unverständlich weiter. Dann wollte er offenbar etwas von allergrößter Wichtigkeit sagen - ich merkte es daran, daß er es herauspreßte wie jemand, der an chronischer Verstopfung leidet. "Isch freun misch serre su arbaite mitt dirr."
Puh, dachte ich. Ich spreche zwar keine osteuropäischen Sprachen, aber das habe ich verstanden. Er freut sich sehr darauf, mit mir zu arbeiten. Heiliger Babelfisch! Irgendwie so mußte sich in Urzeiten Sprache aus Schmatzen entwickelt haben.
"Danke, Bernard", sagte Jean-Marie und lächelte aufmunternd. Hatte er mir seine größte Niete vorgeführt, um sein eigenes erstklassiges Englisch zu betonen? Ich begann, mir Hoffnungen zu machen. "Bitte schön, Marc."
Marc war der glatzköpfige Dürre. Er trug ein dunkelgraues Hemd, der Kragen stand offen, und vom Bügeln schien er auch nicht viel zu halten. Ich erfuhr, daß er einige Jahre in den Südstaaten gelebt hatte, was seinen schrägen Akzent erklärte. Er hörte sich an wie Scarlett O'Hara mit Pernod-Schwips.
"Aisch binn Laita vonn dih Abbetailung Aihtieh", sagte er.
"Abbetailung Aihtieh", wiederholte ich anerkennend. Ich hatte nicht den leisesten Schimmer, was das sein sollte. Hat vielleicht etwas mit "Tea" zu tun, dachte ich. Also was Wichtiges.
"Jaha. Kommpjutahsisstehme", bestätigte Marc.
"Ach so, I. T.", entfuhr es mir. Er warf mir einen finsteren Blick zu. "Dein Englisch ist ausgezeichnet", schob ich hastig nach. "Wie lange warst du in den Staaten?"
"Aisch wahren eine Jarre anne dih Uniwersihteh vonne Tschohtschja, anschlüsslisch funffe Jarre ahbaite furre eine Fasischerunkskompanie inne Attelannta. In die Abbetailung Aihtieh, natürrelische."
"Natürrelische", nickte ich.
"Danke, Marc. Stéphanie?" moderierte Showmaster Jean-Marie das nächste Sprachgenie an.
Stéphanie war die Blonde mit dem kantigen Kinn. Ihr Akzent war katastrophal, sie kam fast ohne Grammatik aus, aber langsam hörte ich mich ein. Stéphanie war im fleischverarbeitenden Zweig des Unternehmens die "Veahnwottlische füa diha Ainkauf". Sie war "seah glügglisch", nun die "vohaussischtlische Veahnwottlische füa diha Ainkauf" auch der geplanten Kette von "engelische salons-du-thé" zu werden.
Ganz offensichtlich fiel ihr das Sprechen ebenso schwer wie mir das Zuhören. Als sie geendet hatte, warf sie Jean-Marie einen Blick zu. "So, jetzt habe ich meine fünfzig Liegestütze gemacht. Zufrieden, du Sadist?" schien sie ihm sagen zu wollen.
"Danke, Stéphanie. Nicole, bitte."
... weniger
Autoren-Porträt von Stephen Clarke
Stephen Clarke, geboren 1958, schrieb, am Anfang nur aus Spaß, seine fast wahren Abenteuer als Marketingexperte französischer Tee-Salons in Paris auf und druckte das Buch zweihundert Mal für Freunde. Nach einer Lesung wurde seine Parodie ein Must-have und war in ganz Paris und London in aller Munde. Inzwischen wurde der Überraschungsbestseller in siebzehn Länder verkauft. Clarke lebt weiterhin in Paris mit seiner französischen Verlobten und deren beeindruckender Dessous-Kollektion. Nach »Ein Engländer in Paris« erscheint im November 2006 auf deutsch die zu 64,3 Prozent wahre Geschichte »Ich bin ein Pariser«, die in England »Harry Potter« vom ersten Platz der Bestsellerliste verdrängte und in der Clarke erzählt, was sein Alter Ego sonst noch erlebt hat.
Bibliographische Angaben
- Autor: Stephen Clarke
- 2005, 2. Aufl., 315 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. Engl. v. Thomas Wollermann
- Verlag: Kabel
- ISBN-10: 3822506664
- ISBN-13: 9783822506660
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