Ein Haus für vier Schwestern
Jessie Parker Reed hat ein bewegtes Leben geführt. Nun geht dieses Leben dem Ende zu, und er möchte seine Töchter noch einmal sehen: Elizabeth, die es nie verwunden hat, dass sie ohne Vater aufwachsen musste. Ginger, die einen verheirateten...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
3.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Haus für vier Schwestern “
Jessie Parker Reed hat ein bewegtes Leben geführt. Nun geht dieses Leben dem Ende zu, und er möchte seine Töchter noch einmal sehen: Elizabeth, die es nie verwunden hat, dass sie ohne Vater aufwachsen musste. Ginger, die einen verheirateten Mann liebt und alle ihre Beziehungen überdenken muss. Rachel, die von seiner Existenz am gleichen Tag erfährt wie von der Geliebten ihres Mannes. Und Christine, die junge Filmemacherin, die ein paar kostbare Erinnerungen an ihn in ihrem Herzen trägt. Keine von ihnen weiß, dass er noch lebt. Und vor allem: Keine weiß, dass sie Schwestern hat …
Lese-Probe zu „Ein Haus für vier Schwestern “
Ein Haus für vier Schwestern von Georgia BockovenAus dem Amerikanischen von Claudia Krader
Prolog
Oktober 2011
Elizabeth trat in den Schatten einer riesigen, denkmalgeschützten Eiche, das Wahrzeichen dieses Friedhofs, der fast so alt war wie der Baum. Auf ihm lag die Elite der Stadt begraben, die historisch wichtigen und bedeutenden Persönlichkeiten von Sacramento in Kalifornien. Das parkähnliche Gelände, die stattlichen Grabmäler und die schlichten, aber durchaus kostspieligen Granitgrabsteine zeigten deutlich, dass die weniger vom Leben Bevorzugten kaum Chancen hatten, einen ihrer Lieben in einer solch illustren Gesellschaft zur letzten Ruhe zu betten. Die Regeln für eine Aufnahme waren streng und wurden unerbittlich eingehalten. Eine öffentliche Diskussion über ihren Sinn war undenkbar.
Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, da hätte Elizabeth diese Regeln hingenommen, ohne darüber nachzudenken. Doch heute war sie eine andere Frau als vor zehn Jahren.
Sie war sehr zeitig zu diesem letzten Abschied erschienen, um mit ihren Gedanken allein zu sein, bevor die anderen kamen. Erinnerungen schienen ihr ein schwacher Trost für eine tiefe und bereichernde Freundschaft zu sein - und doch waren sie alles, was ihr blieb. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie nicht mehr sofort zum Telefon griff, um etwas zu erzählen, was sie beide zum Lachen brachte oder in eine wehmütige Stimmung versetzte? Wann würde dieses stechende Gefühl des Verlusts seine Spitze verlieren?
... mehr
Eine kaum merkliche Bewegung bei den Azaleensträuchern erregte ihre Aufmerksamkeit: ein Monarchfalter in Orange und Schwarz. Die Schmetterlinge kamen jedes Jahr durch dieses Tal. Sie waren auf dem Weg zu einem Eukalyptuswäldchen an der Küste, ihrem Winterquartier. Dort ruhten sie sich aus und paarten sich, um vier Monate später den fast dreitausend Kilometer langen Rückweg in die Berge anzutreten. Vier Schmetterlingsgenerationen später begann der Kreislauf dann von Neuem.
Elizabeth hatte gelesen, dass ein Zeitreisender theoretisch die Geschehnisse der Zukunft verändern konnte, indem er den Flugweg eines einzigen Schmetterlings beeinflusste. War das mit ihnen geschehen? War das der Grund dafür, dass ihr Leben vor elf Jahren aus den Fugen geraten war und sich dann völlig neu geordnet hatte? Nicht einmal ihre Vergangenheit war dieselbe geblieben.
Früher hätte Elizabeth über die Vorstellung von Zeitreisenden und Schmetterlingen nur gelacht. Inzwischen war ihr das Lachen vergangen. Etwas hatte zu den Ereignissen des Jahres geführt, in dem sich alles veränderte - Schmetterlinge, schicksalhafte Fügungen oder unaufhaltsame Entwicklungen.
Etwas hatte sie auf diesen Friedhof gebracht, wo sie plante, das Gesetz zu brechen.
1
Lucy
März 2000
Lucy stand in der Tür des mit Kirschholz getäfelten Büros und starrte den einzigen Mann an, den sie je geliebt hatte. Nachdem sie zwanzig Jahre lang allein zu Bett gegangen war, stellte sie immer noch allnächtlich ihre Entscheidung infrage, ihm nichts zu sagen. Und jedes Mal stand sie am nächsten Morgen in dem Bewusstsein auf, dass Schweigen der einzige Weg war, ihn in ihrem Leben zu behalten. Was Frauen anging, gab es keine Kompromisse mit Jessie Reed - es gab nur Sex oder Freundschaft. Und Frauen hatte es wahrlich genug gegeben.
Der Sex wäre mit ziemlicher Sicherheit gut gewesen. Besser als gut. So, wie sie ihn sich als Mädchen erträumt und später zu vergessen versucht hatte, als die Wirklichkeit ihren romantischen Vorstellungen nicht gerecht wurde.
An dem Tag, an dem Jessie Reed damals in ihrer Anwaltskanzlei aufgetaucht war, hatte sie neununddreißig Lenze gezählt und versucht, ihren bevorstehenden vierzigsten Geburtstag zu verdrängen. Er wiederum war nach seiner zweiten Scheidung erst vor Kurzem nach Sacramento gezogen.
Seine Intelligenz und die Unbeirrbarkeit seines Strebens nach Reichtum hatten ihn grundlegend von den Obdachlosen am Busbahnhof unterschieden, an denen sie jeden Morgen vorbeigekommen war. Seine Ziele hatte er mit einer Durchtriebenheit und Furchtlosigkeit verfolgt, die an Fanatismus grenzten. Muße war des Teufels und Freizeit eine Todsünde gewesen.
Doch wie er jetzt seinen Kopf an das Lederpolster des Stuhls lehnte, mit seinem dicken silbergrauen Haar, das ihm über die Ohren reichte, und mit verschleiertem Blick, sah er verletzlich aus. Ein Wort, das normalerweise in Beschreibungen seiner Person ebenso wenig vorkam wie das Wort »wankelmütig«.
Er öffnete seine Augen und sah Lucy durchdringend an. »Du bist spät dran«, sagte er. Die Verärgerung ließ seinen weichen Südstaatenakzent härter klingen.
»Die Sitzung hat länger gedauert als geplant.«
Seine Hand fuhr über sein Haar, er richtete sich auf und bedeutete ihr ungeduldig, sich zu setzen. »Was hast du herausgefunden? «
Sie würde ihn nie belügen. Sogar die kleinen Notlügen und Ausreden, mit denen Freunde die Wahrheit bemäntelten, blieben ihr verwehrt. Er wiederum würde sie nie bitten, in einer Angelegenheit Partei für ihn zu ergreifen, die sie für töricht hielt. Es blieben ihm noch ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr, wenn er dem Krebs ebenso die Stirn bot wie anderen Widrigkeiten seines Daseins. Aber das war nicht genug Zeit. Nicht genug, um all seine Pläne umzusetzen.
»Bisher noch nichts«, sagte sie schließlich. Das war keine Lüge, sondern eine Ausrede.
»Das dauert alles zu lange. Schick einen zusätzlichen Privatdetektiv los.« Er rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Zum Teufel noch mal, es gibt Menschen, die dir im Fernsehen garantieren, dass sie jeden, wirklich jeden, innerhalb von einer Woche finden.«
»Seit wann schaust du fern?«
»Darum geht es doch nicht.«
»Das weiß ich. Ich möchte aber trotzdem wissen, warum du deine Zeit mit Fernsehschauen ...«
Wie konnte sie nur so eine blöde Frage stellen? Sie hatten beide nicht geahnt, wie schnell und problemlos er sich aus seinen diversen Geschäften würde zurückziehen können - und wie leer sein Leben danach sein würde.
Vor dreieinhalb Monaten, an Thanksgiving, war Jessie zum Sterben ins Krankenhaus gegangen, tief enttäuscht darüber, dass er das neue Jahrhundert mit den vorausgesagten Computerzusammenbrüchen und Atomkatastrophen nicht mehr begrüßen konnte. Doch eine Woche später wurde er wieder entlassen. Sein Krebs befand sich offensichtlich auf dem Rückzug, was keiner für möglich gehalten hatte. Grimmig akzeptierte er, dass ihm der von den Ärzten vorhergesagte schnelle Tod verwehrt wurde.
Zwei Tage später tauchte er in ihrer Kanzlei auf und übergab ihr ein Testament, das ein anderer Anwalt aufgesetzt hatte. Als er ihr sagte, er hätte sich zuerst an einen Kollegen gewandt, war sie verwirrt und verletzt gewesen. Doch sie hatte sorgfältig darauf geachtet, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sie hatte die Unterlagen durchgesehen und die Details überflogen. Überzeugt davon, etwas falsch verstanden zu haben, hatte sie dann noch einmal von vorn angefangen. Als sie damit fertig gewesen war, hatte sie sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und den Mann angestarrt, den sie so gut zu kennen glaubte. Sie war völlig verblüfft und sprachlos über die Enthüllungen gewesen.
»Das Fernsehen ist informativ«, sagte Jessie jetzt. »Ich habe eine völlig neue Welt entdeckt, von der ich bisher nichts wusste. Zeit wurde es. Ich denke, ich weiß, was seine Anziehungskraft ausmacht. Es ist, als würde man Leute dabei beobachten, wie sie nach einem Zugunglück aus dem Fenster springen und klauen, was auf die Gleise gefallen ist. Du kannst nicht glauben, was du siehst, und fühlst dich deswegen schuldig, kannst aber trotzdem nicht wegschauen oder abschalten.«
»Das kommt mir bekannt vor. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich es eines Tages von dir zu hören bekomme.«
»Sei nicht so streng mit mir Lucy.« Er lächelte sie unschuldig an. »Es hält mich vom Grübeln ab und beschäftigt mich.«
»Auf andere Weise, als ich dir vorgeschlagen habe.«
Ein neugieriger Blick traf sie. »Ich erinnere mich nicht, was das gewesen sein sollte.«
Dieses Eingeständnis brach ihr fast das Herz.
Jessy war vierundsechzig gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, wäre aber locker als Mittvierziger durchgegangen. Sein Verstand hatte schneller und zielgerichteter gearbeitet als bei anderen Menschen. Er war groß und schlank gewesen. Sein Aussehen hatte an Männer erinnert, die ihr Leben auf dem Rücken eines Pferdes verbrachten. Wenn er gelächelt hatte, bildete sich ein kleines Grübchen neben dem linken Mundwinkel. War er in diesem Moment besonders konzentriert, endete das Lächeln immer mit einem Zwinkern. Sie war ihm bereits verfallen gewesen, bevor ihr erstes Gespräch fünf Minuten alt gewesen war. Seit jenem Tag bildete er die Messlatte, an der sie andere Männer maß.
»Besuch die Wohltätigkeitsorganisationen, die du in deinem Testament bedacht hast«, erinnerte sie ihn vorsichtig. »Gib ihnen eine Chance, dir persönlich zu danken.«
»Warum sollte ich das tun?« »Sie würden sich darüber freuen.«
»Bei Weitem nicht so sehr wie über einen Scheck.«
»Darum geht es doch nicht. Lass mich wenigstens ein Treffen vorbereiten. Wenn es dir überhaupt nicht gefällt, dann ...«
Jessie beugte sich vornüber und hielt sich die Seite, als ob er so den Schmerz auf eine Stelle beschränken könnte. »Nein.«
»Also gut. Was ist mit einer Reise? Nichts Langes oder Anstrengendes, nur einen oder zwei Tage.« Sie hielt inne. »Golden Gate im Nebel, Lake Tahoe, die kalifornischen Weinbaugebiete. Mein Bruder arbeitet für einen berühmten Winzer. Ich könnte eine private Führung organisieren.«
Jessie lächelte ironisch. »Hast du jemals dieses Spiel gespielt, bei dem man sagen muss, was man tun würde, wenn man nur noch einen Monat zu leben hätte?« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, legte den Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhls und stützte das Kinn auf seine Hand. »Das ist einfach, wenn es um nichts geht. Doch jetzt kommt mir alles wie Zeitverschwendung vor. Mein ganzes Leben lang bin ich wegen der Erinnerungen gereist und wegen der Erfahrungen, die man dabei macht. Aber was bringt mir das in meiner Situation?«
»Ich könnte Urlaub nehmen.« Das unmerkliche Zögern in ihrer Stimme verhinderte, dass der Vorschlag so beiläufig klang wie beabsichtigt. »Wir könnten etwas zusammen unternehmen.«
Sein Blick durchbohrte sie. »Werd bitte nicht rührselig, Lucy. Ich habe ein erfülltes Leben gelebt, größtenteils selbstbestimmt. Es war länger als das vieler anderer Menschen. Ich jammere nicht. Was ich brauche, ist ein eleganter Abgang.«
»Wie kann ich dir dabei helfen?«
»Du hilfst mir doch. Es muss nur alles ein bisschen schneller gehen.«
»Und es gibt keine Möglichkeit, dir dieses Projekt auszureden? «
Sie konnte das Bedürfnis nachempfinden, vor seinem Tod das Verhältnis zu seinen Töchtern zu regeln. Zu Töchtern, von denen Lucy bis vor drei Monaten nichts gewusst hatte. Sie konnte ihm nur nicht klarmachen, dass sein Projekt ein Ding der Unmöglichkeit war. Er suchte Vergebung. Seine Töchter dagegen suchten Antworten und Erklärungen für lebenslanges Leid.
Lucy war ein Scheidungskind und wusste um das Gefühl des Verlassenwerdens. Sie verstand, was Jessies Töchter durchgemacht hatten und immer noch durchmachten. In ihrer Wut würden sie ihm das Herz brechen und sich dabei auch noch im Recht fühlen. Es war einfach zu wenig Zeit. Wahrscheinlich wäre es sogar zu wenig gewesen, wenn Jessie weitere zwanzig Jahre gehabt hätte.
»Nichts, was du sagst, wird an meinem Wunsch etwas ändern«, sagte er leise. »Ich weiß, du denkst, irgendwo in meinen Hinterkopf existiert die Vorstellung, dass sie sich in meine Arme stürzen und laut ›Daddy‹ rufen. Nichts liegt mir ferner. Ich will sie treffen, weil ich es nicht ertragen kann, zu sterben, ohne mich ihnen zu erklären. Ohne ihnen zu sagen, dass ich nicht der Dreckskerl bin, für den sie mich zu Recht halten. Ich mag sie verlassen haben, aber vergessen habe ich sie nie.«
Er erhob sich mit Unterstützung der Armlehnen. Nicht nur der Krebs, sondern auch seine Gefühlsregungen ließen ihn so alt erscheinen, wie er wirklich war. »Als ich mich entschloss, die Sache anzupacken, wollte ich mir einreden, ich täte das, um ihnen ihren Seelenfrieden zurückzugeben, solange ich noch konnte - ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für mich. Ich wünschte heute, ich wäre so selbstlos.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich tue das für mich. Damit ich zumindest ein bisschen Frieden finden kann.«
Jessie ging zum Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Blatt Papier heraus. »Das ist die Adresse, die ich von Elizabeth hatte, als ich vor ein paar Jahren versucht habe, sie zu kontaktieren.«
Lucy nahm das Blatt. Vor fünfzehn Jahren hatte Jessie erfahren, dass seine älteste Tochter in Fresno lebte, und sie angerufen. Sie weigerte sich, etwas mit ihm zu tun zu haben, und drohte ihm an, ein gerichtliches Umgangsverbot zu erzwingen, sollte er versuchen, sie zu treffen. Seine Briefe waren ungeöffnet zurückgekommen. Nach einem Jahr hatte er aufgegeben.
Während sie die Informationen über Jessies vier Töchter für einen privaten Ermittler zusammengestellt hatten, hatte Lucy ihn gefragt, ob Elizabeth die Einzige gewesen war, zu der er je Kontakt aufnehmen wollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann, den sie so gut kannte, seine Kinder verlassen würde, wie sie von ihrem Vater verlassen worden war. Jessie hatte mit seiner Antwort gezögert. Die Frage irritierte ihn offensichtlich. Sie ließ es damals dabei bewenden.
Heute entschied Lucy sich dafür, es noch einmal zu versuchen. »Du hast außer bei Elizabeth nie versucht, eine andere deiner Töchter zu finden?«
Er sah an ihr vorbei auf die Bücherregale hinter seinem Schreibtisch. Auf diesen Regalen lagen Trophäen und Erinnerungsstücke aus einem Leben in unglaublichem Reichtum und erbärmlicher Armut: Erstausgaben von Hemingway und Twain neben Pfeilspitzen von der Farm seiner Familie in Oklahoma und einer Kugel aus der Schlacht von Gettysburg.
Ein Regal unterschied sich von den anderen; dorthin sah er jetzt. In der Mitte stand ein kleines Kästchen auf einer Art Holzpodest. Es enthielt das Purple Heart, das amerikanische Verwundetenabzeichen. Der Orden hing an einem rot-weiß gestreiften Band, das Bronzerelief war ziemlich abgegriffen. Vor vielen Jahren war Lucy einmal versucht gewesen zu fragen, wofür er es erhalten hatte. Sein Blick hatte dafür gesorgt, dass ihr die Frage ihm Hals stecken geblieben war. Seitdem war der Fall für sie erledigt.
»Vor einer Weile habe ich von einem mexikanischen Geschäftspartner erfahren, dass Christina zurück in den Staaten ist und in Arizona das College besucht. Doch nach dem Erlebnis mit Elizabeth war ich ...« Jessie hielt inne. »Ich konnte sie nicht einfach anrufen oder so. Also bin ich hingefahren, um mir ein Stück anzusehen, in dem sie eine Rolle hatte.«
»Und?« Lucy wollte, dass er weitererzählte.
»Ich habe sie nicht erkannt und musste im Programmheft nachsehen, wen sie spielte. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie vielleicht drei oder vier Jahre alt. Es ist ziemlich dämlich gewesen, dort aufzutauchen und zu denken, ich würde nach einer so langen Zeit das kleine Mädchen von damals wiedererkennen. Und sie konnte schon gar nicht wissen, wer ich bin.«
Er zuckte mit den Schultern, unterstrich damit seine Entscheidung.
»Trotzdem habe ich es versucht. Blöd von mir, ich weiß. Ich bin nach der Vorstellung zu der Fragerunde geblieben, wo das Publikum mit den Schauspielern sprechen konnte. Dabei habe ich sie lange beobachtet, bis mir etwas einfiel, was ich sagen konnte, ohne sie völlig zu verstören. Ich habe sie also gefragt, ob sie ihr Talent vielleicht geerbt hätte. Sie hat mir ohne zu zögern und ohne ein Anzeichen des Erkennens geantwortet. Ich habe keine Möglichkeit gesehen, ihr zu sagen, wer ich bin.« Er seufzte tief, begleitet von einem traurigen Lächeln.
»Und die anderen beiden, Ginger und Rachel?«
»Die habe ich nie zu finden versucht. Na ja, zumindest nicht mehr, seit sie keinen kleinen Kinder mehr sind. In Anbetracht der Umstände war mir klar, dass sie mich als Erwachsene nie würden treffen wollen.« Sie schwieg. »Sag mir, was du denkst, Lucy.«
Endlich, nach zwanzig Jahren, bekam sie eine Vorstellung davon, woher Jessies zielgerichtetes Streben und sein übermächtiges Bedürfnis nach einem eigenen Imperium rührten. Nicht vom Verlangen nach Geld oder Erfolg. Nein, er brauchte etwas, was ihn vor den Geistern der Vergangenheit und vor seinen Schuldgefühlen schützte.
»Ich kann dir die Sache nicht ausreden?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich muss das einfach machen.«
Sie gab klein bei. »Dann muss ich sehen, was ich tun kann, um dem Ermittler Feuer unterm Hintern zu machen.«
»Verdopple sein Honorar.«
»Ich glaube nicht, dass ...«
»Mach es einfach, Lucy.« Dann sprach er in gemäßigtem Tonfall weiter. »Ich glaube an Neuanfänge, Lucy. Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich das nicht tun würde.« Er lächelte sie an und zwinkerte. »Diesmal ist das Schicksal offensichtlich auf meiner Seite. Diese Jahrtausendwende war etwas Besonderes, oder? Etwas, was im Gedächtnis bleibt. Es muss einen Grund dafür geben, dass ich sie erlebt habe.«
2
Ginger
Verletzt und verärgert zugleich, ging Ginger Reynolds aus ihrem Wohnzimmer nach oben ins Schlafzimmer. Auf dem Weg dahin löschte sie Duftkerzen im Wert von mehreren hundert Dollar. Zarte schwarze Rauchfahnen stiegen zur Decke auf - die dunklen Wolken passten gut zu ihrer Stimmung.
Die Prämie für ihre Autoversicherung würde nach ihrem jüngsten Zusammentreffen mit einem Betonpfeiler ziemlich in die Höhe schnellen. Da sollte sie eigentlich kein Geld für etwas Überflüssiges wie Kerzen ausgeben. Aber es war so lang her gewesen, dass sie für etwas Verrücktes und vollkommen Sinnloses Geld ausgegeben hatte, um mit Marc ein bisschen Spaß zu haben. Seit sie vor einem Jahr von Kansas City nach San José, Kalifornien, gezogen war, schien das zu einer Gewohnheit zu werden.
Sogar wenn der Artikel in der Frauenzeitschrift mit seiner Empfehlung der Kerzen als erotische Muntermacher völlig falsch gelegen hätte - Marc hätte sich trotzdem gefreut. Er mochte es, wenn sie etwas Neues ausprobierte. Das bedeutete, dass sie an ihn dachte und an ihrer Beziehung arbeitete.
Aber wozu machte sie sich die ganze Mühe, wenn Marc in letzter Minute absagte?
Sie ging ins Badezimmer und drückte die Flammen der Wachslichter um die Wanne herum aus. Notfälle waren eine Sache, die Entschuldigung für heute Abend eine andere. Er hätte seit Wochen wissen müssen, dass heute das Klavierkonzert seiner Tochter stattfinden würde. Seine Frau erinnerte ihn ständig an solche Dinge, hinterließ Nachrichten auf seinem Handy und dem Anrufbeantworter, klebte Notizzettel ans Lenkrad und den Badezimmerspiegel. Sie behandelte ihn wie ein Kind. Das war einer der Gründe, weswegen er sie vor anderthalb Jahren verlassen hatte.
Für sechs Monate.
Einen Monat länger als vor drei Jahren. Damals hatte Ginger ihn bei Freunden kennengelernt und angenommen, seine Scheidung sei schon über die Planungsphase hinaus. Marc Osborne brachte alles mit, was eine Frau von einem Mann erwarten konnte. Er war zärtlich, sexy, intelligent, aufmerksam. Zumindest redete sie sich das damals ein. Der größte Pluspunkt in ihren Augen: Er bewunderte ihren Geist mehr als ihren Körper. Er hatte es sogar geschafft, ihr während des Gesprächs in die Augen und nicht auf den Busen zu sehen, und er hatte sie zum Lachen gebracht. Richtig zum Lachen. Es war nicht dieses künstliche Gackern gewesen, mit dem sie Männern sonst das Gefühl gab, klug und witzig zu sein, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatten über ihre Arbeit gesprochen, über ihre Träume, und darüber, wo sie in zehn Jahren sein wollte. Er war in allen Punkten anders gewesen als die Männer, an die sie zuletzt ihr Herz und ihre Zeit verschwendet hatte. Keine Stunde nach Beginn des ersten Gesprächs war sie bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen.
Sie liebte ihn so sehr, dass sie schließlich Kompromisse eingehen musste. Sie bewunderte ihn sogar, als er wegen seines fünfjährigen Sohnes und seiner achtjährigen Tochter in den ehelichen Haushalt zurückkehrte. Um ihnen zu zeigen, dass eine Scheidung nichts an seinem Verhältnis zu ihnen ändern würde. Doch aus den geplanten Monaten waren schließlich Jahre geworden, den Gesetzen einer heimtückischen, unwiderstehlichen Beziehungslogik folgend. Ein Ultimatum und ein Versprechen folgte dem anderen - und alle wurden auf dem Altar guter Absichten geopfert.
Ginger öffnete die Tür zu ihrem Schrankzimmer und schlüpfte aus den hochhackigen Sandaletten. Marc mochte solche Schuhe, er fand ihre Beine damit sexy. Dann zog sie die schwarze Spitzenunterwäsche aus. Das wäre eigentlich sein Part gewesen.
Verdammt. Er wusste, dass sie etwas Besonderes geplant hatte. In ihrer Mittagspause war sie extra nach Los Gatos gefahren, um seinen Lieblingskäse und eine Flasche Merlot zu kaufen, die der Weinhändler aus seinen privaten Beständen geholt hatte.
Heute war ihr Jahrestag - zumindest hatte sie ihn auf dieses Datum verschoben. Der eigentliche Tag lag bereits drei Wochen zurück. Aber da war Marcs Schwester operiert worden. Danach hatte es eine Marketingkrise gegeben, die eine Geschäftsreise zur Zentrale in Kansas City notwendig machte. Warum nur hängte sie ihr Herz immer an Männer, die sie zwar liebten, sich aber nie zum letzten Schritt aufraffen konnten? Mit dreiundzwanzig hatte sie aus sich die Frau gemacht, die Bruce sich wünschte, nur damit dieser sechs Monate später einen völlig anderen Typ heiratete. Tom hatte stets betont, sie wäre perfekt für ihn, wie sie war. Kaum zogen sie zusammen, fing er jedoch an, sie zu betrügen.
Sie wusste, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein dastand. All ihre Freundinnen hatten Ähnliches durchgemacht - zumindest die Singles. Es gab ein paar glückliche Ehen, aber wenn Kinder kamen, endeten in der Regel die Freundschaften. Freie Zeit schien dann genauso knapp zu werden, wie es geschiedene Männer waren, die in einer neuen Ehe nichts gegen weitere Kinder einzuwenden hatten.
Das Telefon läutete. Ihr Herz machte einen komischen kleinen Hüpfer in der Erwartung, Marc hätte einen Weg gefunden, doch noch zu kommen. Er überraschte sie gern, und sie gab ihm das Gefühl, gern überrascht zu werden. Sie hechtete übers Bett und griff nach dem Hörer. »Hi.« Ihre Stimme klang tief, sexy und fröhlich.
Schweigen. Dann eine Frauenstimme. »Ich habe das Gefühl, du hast mit jemand anderem gerechnet.«
»Mom - hallo.« Sie konnte ihre Enttäuschung nicht ganz verbergen. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Natürlich ist alles in Ordnung.« Ihre Mutter Delores hatte damals alles getan, um zu verhindern, dass Ginger ihr Haus verkaufte, ihre Arbeitsstelle und ihren Freundeskreis aufgab, um Marc nach Kalifornien zu folgen. Fast hätten sie sich damals zerstritten. Um alte Wunden nicht wieder aufzureißen, blieb seitdem das Thema Marc außen vor.
Auf der Suche nach einem sicheren Gesprächsthema schlug Ginger einen leichten Ton an. »Wie geht es euch?«
»Dein Vater hätte gern gewusst, ob dein Auto repariert ist.«
Ginger und ihren Vater trennten nicht eine, sondern zwei Generationen. Als sie auf die Welt gekommen war, hatte er die Vierzig überschritten gehabt. Er kommunizierte mit ihr so, wie sein Vater mit ihm kommuniziert hatte - über die Frauen in der Familie. Hatte er Fragen oder wollte er Ginger etwas sagen, lief das über ihre Mutter.
»Noch nicht«, musste Ginger eingestehen.
Die Hand über der Sprechmuschel dämpfte, was ihre Mutter weitergab. »Sie sagt, noch nicht, Jerome.«
Ginger wartete ab.
»Dein Vater sagt, es sei wichtig, das so schnell wie möglich machen zu lassen. Erst heute Abend haben sie in den Nachrichten gebracht, dass ein Unfallauto Feuer gefangen hat. Die ganze Familie ist umgekommen. Sechs Menschen. Es war schrecklich.«
»Ich rufe morgen früh sofort die Werkstatt an.«
»Das hast du das letzte Mal auch schon gesagt.«
Sie wälzte sich auf den Rücken und bedeckte ihre Augen mit der Hand. »Ich schreibe mir gleich einen Zettel.«
Sie wusste, dass ihre Eltern nervten, weil sie ihr nur so zeigen konnten, wie sehr sie sie liebten. Ihr Elternhaus war nicht gerade berühmt für seinen emotionalen Überschwang. Berührungen waren so selten gewesen wie Regen in der Wüste.
»Habe ich dir schon gesagt, dass Bill zu Dads Geburtstag kommt?«
Ungefähr hundert Mal. »Ja, Mom, ich weiß Bescheid. Ich habe dir doch gesagt, dass ich auch komme, wenn ich ein paar Tage freinehmen kann.«
»Eine Woche wäre nett.«
»Das wird nicht gehen. Ich bekomme keinen Urlaub, solange ich nicht ein volles Jahr dort gearbeitet habe. Ich versuche aber, den Freitag und den Montag für ein langes Wochenende freizuschaufeln.«
»Wenn das so ist, dann ist das eben so.«
»Mom, ich muss los. Ich habe eine Verabredung.«
»Eine Verabredung?«
»Mit einer Freundin.«
Es herrschte gespannte Stille. Dann versuchte es Delores mit einem Scherz. »Hat diese Freundin vielleicht einen Bruder?«
»Hat sie tatsächlich.« Gingers Geduldsfaden drohte zu reißen. »Der ist aber schwul.«
Wie aus der Pistole geschossen, kam Delores' Antwort. »Ich dachte, es gibt inzwischen Einrichtungen, in denen solche Menschen geheilt werden können?«
Ginger war zuerst sprachlos, musste dann aber lachen. »Macht es gut, Mom. Ich melde mich in ein paar Tagen wieder, wenn ich mehr Zeit habe.«
»Denk an die Reparatur.«
»Mache ich. Tschüs.«
Lang saß sie auf der Bettkante und starrte blicklos auf den Parkplatz hinter ihrem Apartment. Sie wollte nicht einfach nur mit Marc zusammen sein, sie brauchte ihn. Nicht nur für den Sex. Ihre Freunde waren in Kansas City zurückgeblieben. Sie hatten alle versucht, ihr den Umzug nach Kalifornien auszureden. Und hier hatte sie noch keine neuen Freundschaften geschlossen. Dazu war sie viel zu schüchtern.
Sie fühlte sich allein gelassen und brauchte dringend einen Menschen, dem sie sich anvertrauen und mit dem sie reden konnte. An ihrem Arbeitsplatz und im Fitnessstudio hatte sie zwar Frauen getroffen, die sie mochte. Aber die hatten alle ein ausgefülltes Leben mit Familie, Freunden und Beruf. Mehr als Kaffeetrinken und ein gemeinsames Mittagessen war da nicht drin. Freundschaft, wie Ginger sie verstand, brauchte Zeit und musste gepflegt werden. Darüber sprach sie nie, auch nicht mit Marc. Wer einsam war, brauchte Trost. Dieses Eingeständnis fand sie armselig.
Außerdem hörte sie die biologische Uhr immer lauter ticken. Egal, wie oft sie trainierte: Ihr Busen sackte langsam nach unten. Egal, wie andächtig sie ihre Haut mit teuren Cremes und Lotionen massierte: Die feinen Linien in ihren Augenwinkeln kamen ihr jedes Mal tiefer vor, wenn sie in den Spiegel blickte. Das Alter machte sich bemerkbar. Nicht auf die beiläufige Art und Weise wie bei den Frauen, die Kinderwagen schoben und ihre Brut zwischen Schule, Musikunterricht und Sportverein hin- und herkarrten. Nein, eher beschleunigt durch ihre Anstrengungen, die Anzeichen zu bekämpfen.
In vier Jahren wurde sie vierzig. Allein der Gedanke daran machte sie krank. Wahrscheinlich ging sie dann immer noch für Mitte dreißig durch - so wie jetzt für Anfang dreißig. Aber sechsunddreißig schien gleichaltrigen Männern zu alt zu sein. Wenn die dann vierzig wurden und eine Familie wollten, beschlossen sie meist, sich an die süßen jungen Dinger zu halten, die durch Geld und Erfahrung leicht zu beeindrucken waren. Und die keine künstliche Befruchtung brauchten, um schwanger zu werden.
Gingers Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie das Mittagessen ausgelassen hatte. Sie war hungrig. Gefährlich hungrig. Weil ihre Seele nach Nahrung verlangte. Wenn sie nicht aufpasste, könnte sie etwas ziemlich Dummes anstellen. Beispielsweise die Hundertfünfzig-Kilo-Frau füttern, die in ihrem Fünfundfünfzig-Kilo-Körper lebte. Die Frau, die sie jede Stunde des Tages bekämpfen musste.
Ginger ignorierte schließlich sowohl den Hunger des Körpers als auch den der Seele, zog sich die Sportsachen an und rannte nach unten. Gerade hatte sie sich den Hausschlüssel eingesteckt und dehnte ihre Beinmuskulatur, als es an der Tür klingelte. Sie weigerte sich, an Marc zu glauben.
Er war es auch nicht.
»Tut mir leid, Sie zur Essenszeit zu stören«, sagte der Hausverwalter und strich sich mit der Hand über seine Glatze. »Meine Frau hat vergessen, mir das sofort zu geben. Das ist heute für Sie gekommen. Ich habe gedacht, es ist vielleicht wichtig.« Er übergab ihr eine Expresslieferung.
Ginger sah auf den Absender. Eine Anwaltskanzlei in Sacramento - sie kannte niemanden dort.
»Ich hoffe, es sind keine schlechten Nachrichten«, sagte der Verwalter.
»Was? Nein, sicher nicht. Meine Firma hat Kontakte nach Sacramento. Jemand muss versehentlich meine Privatadresse benutzt haben.«
Der Überbringer machte keine Anstalten zu gehen. »Ich wäre ja eher damit gekommen, aber meine Frau hat heute Geburtstag. Deswegen haben wir beide es, um ehrlich zu sein, völlig vergessen.«
Ginger lächelte. »Kein Problem. Bitte gratulieren Sie ihr von mir.«
»Mache ich.«
Sie ging in die Wohnung und warf den Umschlag auf das Sofa. Wenn sie nicht bald auf die Laufstrecke kam, würde sie sie mit den Kerlen vom örtlichen Wrestlingclub teilen und knietief im Testosteron waten müssen. Fast war sie schon wieder an der Tür, als ihre Neugier doch noch siegte. Schließlich bekam sie nicht jeden Tag eine Expresssendung von einer Kanzlei. Um genau zu sein, hatte sie noch nie Post von einem Anwalt bekommen.
Sie setzte sich aufs Sofa, legte die Füße auf den Couchtisch und machte sich einen virtuellen Knoten ins Taschentuch: Sie brauchte dringend neue Laufschuhe.
»Sehr schön.« Sie zog zwei Briefe aus dem Umschlag, einen von dem Anwalt, den anderen von einem Reisebüro. Den vom Anwalt öffnete sie zuerst.
Sehr geehrte Mrs Reynolds,
ich schreibe Ihnen im Auftrag Ihres leiblichen Vaters, Jessie Patrick Reed. Es tut mir leid, Sie darüber unterrichten zu müssen, dass Mr Reed bald sterben wird. Er äußerte den Wunsch, Sie zu treffen. Angesichts der Tatsache, dass die ihm verbleibende Zeit sehr knapp bemessen ist, werden Sie die Dringlichkeit der Angelegenheit sicher verstehen. Er bat mich, Ihnen zu sagen, dass er eventuelle Vorbehalte Ihrerseits durchaus verstehen könnte und dass er alles tun würde, um Sie zu einem Treffen zu bewegen.
Ginger fühlte sich gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Der Brief war offensichtlich nicht für sie bestimmt. Ein ziemlich trauriges Zeichen dafür, wie wenig sich in ihrem Leben ereignete.
Um Ihnen eine reibungslose Anreise nach Sacramento zu ermöglichen, liegt diesem Schreiben ein Rückflugticket bei. Außerdem steht Ihnen nach Ihrer Ankunft ein Wagen mit Fahrer zur Verfügung. Eine Bestätigung der Daten Ihrerseits ist nicht notwendig. Sollten Sie jedoch Fragen haben, rufen Sie mich bitte jederzeit an.
Mit freundlichen Grüßen
Lucy Hargreaves
Ginger faltete das Schreiben zusammen und legte es auf ihre Aktenmappe. Sie würde morgen von der Arbeit aus dort anrufen und der Anwältin erklären, dass sie die falsche Ginger Reynolds sei.
Ginger drehte ihre Runden völlig in Gedanken. Die Frau, für die dieser Brief bestimmt war, beschäftigte sie. Sie fragte sich, wer sie wohl war und warum sie denselben Namen trugen. Als sie wieder nach Hause kam, klingelte das Telefon.
Sie hob in der Küche ab und meldete sich.
»Ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen«, sagte Marc.
Der Anrufbeantworter blinkte, wie sie mit einem Blick feststellte. »Ich war im Park.« Früher waren sie zusammen laufen gegangen - bevor die gemeinsame Zeit zu knapp wurde, um sie mit etwas so Alltäglichem zu verschwenden. »Ist das Konzert schon vorbei?«
Er stöhnte. »Nicht mal annähernd. Wir sind noch auf der ersten Seite des Programms, und Jenny steht auf der dritten. Ich habe mich davongeschlichen, um dich anzurufen. Ich wollte deine Stimme hören und fragen, ob alles in Ordnung ist.«
Sie lehnte sich gegen die Küchentheke und sah auf die Uhr. Halb neun. Kein Überraschungsbesuch heute Abend. Es war bescheuert, sich ständig solche Hoffnungen zu machen. »Mir geht's gut.« Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Du musst stolz auf Jenny sein. Die Besten kommen am Ende.«
»Und dir fällt immer etwas ein, damit es mir gleich besser geht. Du bist eine wunderbare Frau. Ich muss in meinem vergangenen Leben ein ziemlich toller Hecht gewesen sein, dass ich dich diesmal abbekommen habe.« Er machte eine Pause. »Es tut mir leid, Ginger. Ich weiß, wie viel dir der heutige Abend bedeutet«, flüsterte er gequält.
Sie ließ sich ein wenig erweichen. Hätte er gesagt, wie viel dieser Abend für sie beide bedeutet, würde sie ihm sofort vergeben. So musste er warten, bis sie sich trafen. »Es werden noch andere Jahrestage kommen.«
»Du bist zu gut für mich.«
Ja, das war sie. Aber vielleicht würde sich das eines Tages ändern. »Ich habe heute einen total seltsamen Brief bekommen. Von einer Anwältin aus Sacramento.«
»Davon wirst du mir ein anderes Mal erzählen müssen, Schätzchen. Ich muss zurück, bevor Judy mich sucht. Morgen zum Beispiel, okay?«
»Ist nicht so wichtig.«
»Ist es doch. Sonst hättest du nichts gesagt. Geh nach oben, nimm ein schönes Bad und bedauere mich, dass ich hier festsitze und nicht bei dir sein kann.«
Er hätte den Brief morgen vergessen, und sie würde ihn nicht daran erinnern. Ihn ständig an etwas zu erinnern war typisch für Judy Osborne. Und Ginger mied jede Ähnlichkeit in den Beziehungsmustern wie der Teufel das Weihwasser.
»Mache ich.«
Sie verabschiedete sich, behielt jedoch den Hörer in der Hand. In Denver war es jetzt halb zehn Uhr abends. Ihr Vater würde sicher schon im Bett sein, aber ihre Mutter blieb in der Regel bis Mitternacht auf. Der Brief war eine der seltenen Gelegenheiten, sie an ihrem Leben teilhaben zu lassen, und hatte nichts mit Marc zu tun. Ginger wählte ihre Nummer.
Bevor sie überhaupt zum Grund ihres späten Anrufs kommen konnte, musste sie Delores davon überzeugen, dass nichts Schlimmes passiert war. »Mom, du musst dir keine Sorgen machen. Ich wollte dir nur von einem seltsamen Brief erzählen, den ich heute bekommen habe.«
»Belästigt dich jemand?«
Ginger lachte. »Nein, überhaupt nicht.«
»Ich habe nur gerade gelesen, wie gefährdet Singlefrauen durch Stalker sind.«
»Mich belästigt niemand, Mom. Der Brief ist von einer Anwältin. Sie vertritt einen Mann, der denkt, er sei mein Vater.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Mom?«, fragte Ginger.
Es vergingen weitere Sekunden, bevor Delores antwortete. »Ja?«
»Findest du das nicht lustig?«
»Was steht noch in dem Brief?«
Diese Reaktion hatte Ginger nicht erwartet. »Er wird bald sterben und will mich treffen. Nein, nicht mich. Seine Tochter.«
»Steht ein Name im Brief?«
Sie langte nach dem Schreiben. »James Reed. Nein, nicht James. Jessie.«
Erneutes Schweigen. »Was wirst du machen?«
Verwirrt wünschte sich Ginger, sie hätte nicht angerufen. Sie hatte auf ein bisschen Unterhaltung gehofft, nicht auf eine inquisitorische Befragung. »Ich denke, ich werde dort anrufen und der Anwältin sagen, dass ich die Falsche bin. Dann kann sie weitersuchen.«
»Du musst da nicht anrufen. Dazu bist du nicht verpflichtet. Sie weiß sowieso, was los ist, wenn du dich nicht meldest.«
»Der Typ wird sterben, Mom. Ich möchte nicht schuld daran sein, sollte seine Tochter nicht rechtzeitig gefunden werden.«
»Misch dich da nicht ein, Ginger.« Das klang nicht nach einem Vorschlag, sondern wie ein Befehl. »Wirf den Brief weg und vergiss das Ganze.«
»Ich muss das Flugticket zurückgeben oder ihnen zumindest sagen, dass ich es nicht nutzen werde. Der Mann will seine Tochter schnellstmöglich treffen. Deswegen liegt dem Schreiben ein Rückflugticket von San José nach Sacramento bei. Mit dem Auto wäre ich wahrscheinlich schneller dort.«
»Dann schick es zurück. Ruf aber auf keinen Fall dort an.«
»Warum? Was sollte das für einen Unterschied ausmachen? «
»Es geht um deine Sicherheit. Ich habe von Leuten gelesen, die auf diese Art Betrügern aufgesessen sind.«
»Mom, der Brief ist nicht für mich. Du macht viel zu viel Wind deswegen. Hätte ich geahnt, dass du dich so aufregst, hätte ich dich nicht angerufen.«
»Ich weiß, wie schnell etwas passiert. Ich lese mehr darüber als du.«
»Ich werde diese Anwältin anrufen und ihr sagen, dass ich die Falsche bin. Das ist alles.«
»Zum Donner noch eins, Ginger, würdest du bitte sofort aufhören, mir zu widersprechen? Mach bitte ein einziges Mal, was ich dir sage.«
Ginger blinzelte. Weder erhob ihre Mutter normalerweise die Stimme, noch fluchte sie. Da war etwas im Busch. Und es hatte nichts mit Betrügern und Stalkern zu tun. »Also gut. Wenn dir das so wichtig ist, werde ich einfach die Tickets zurückschicken.«
»Danke.« Delores Erleichterung war fast mit Händen zu greifen.
»Ich lege jetzt auf und gehe duschen.« Damit Delores dieser blitzartige Abschied nicht merkwürdig vorkam, fügte Ginger hinzu: »Ich war gerade laufen und muffle ziemlich.«
»Ich hab dich lieb, mein Kind.«
»Ja, Mom, mach's gut. Küsschen«, entgegnete sie automatisch.
»Ginger, ich meine, was ich sage. Ich liebe dich wirklich über alles. Ich weiß nicht, was ich machen würde, sollte dir etwas zustoßen.«
»Mach dir bitte keine Sorgen meinetwegen. Und hör auf, komische Zeitschriftenartikel zu lesen.«
»Geh duschen.«
Ginger legte auf, schnappte sich eine Pflaume von der Theke und ging nach oben. Die Pflaume schmeckte sauer. Sie aß sie trotzdem als Abendessen. So sparte sie ein paar Kalorien für das Wochenende. Sie wollte Marc überreden, sie in ein Wellnesshotel in Sonoma einzuladen, von dem sie in der Wochenendausgabe der Zeitung gelesen hatte.
Sie stand unter der Dusche und plante ihre Taktik gegenüber Marc, als die Stimme ihrer Mutter ihre Gedankengänge unterbrach. Zum Donner noch eins, Ginger, mach bitte ein einziges Mal, was ich dir sage.
Warum dieses einzige Mal? Was war an diesem Brief so wichtig?
Die Antwort kam bruchstückhaft aus ihrem Unterbewusstsein. Zu schmerzlich, um glaubhaft zu sein, zu offensichtlich, um verdrängt zu werden. Eine Ahnung wurde zum Verdacht. Sie konnte ihn nicht in Worte fassen und schon gar nicht laut aussprechen.
Das konnte nicht stimmen. Auf keinen Fall. Ihr ganzes Leben lang war ihr erzählt worden, dass sie ihre dunkelblauen Augen von Tante Louisa geerbt hätte. Dass sie das Temperament ihres Vaters besitzen würde. Das sie Kalzium nehmen sollte, weil die Frauen der Reynolds zu Osteoporose neigten. Über die Linie ihrer Urgroßmutter stammte sie von John Quincy Adams ab, dem sechsten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ihre Mutter würde sie doch nicht belügen.
Sie spülte sich das Shampoo aus den Haaren und redete sich ein, das flaue Gefühl in ihrem Magen käme von der Pflaume. Sobald sie aus der Dusche kam, würde sie noch einmal ihre Mutter anrufen. Sie würden gemeinsam darüber lachen, dass Ginger für einen winzigen Augenblick geglaubt hatte, sie wäre nicht das Kind von Delores und Jerome und Billy wäre nicht ihr Bruder. Und sie nicht von John Quincy Adams abstammte.
In Denver war es schon spät, deshalb verkürzte sie ihre übliche Pflegeprozedur nach dem Duschen und rief gleich nach dem Abtrocknen bei ihrer Mutter an. »Hallo, ich bin's noch mal.« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine Pause entstand. »Ich habe über dieses Schreiben nachgedacht. «
»Das dachte ich mir«, sagte Delores.
Sie klammerte sich an den letzten Strohhalm und gab ihrer Mutter die Chance, den Irrtum aufzuklären. »Warum hat dich das so aufgeregt?«
»Ich bin müde. Es war ein langer Tag.«
»Da steckt noch etwas anderes dahinter. Bitte sag mir, was. Ist es denn wahr?« Sie erstickte fast an den nächsten Worten. »Ist dieser Mann mein Vater?«
»Dein Vater ist oben im Schlafzimmer.«
Für einen winzigen Augenblick kam ihre Welt wieder ins Gleichgewicht. Aber die nächste Frage war unvermeidlich, um die Sache abschließen zu können. »Ist er auch mein Erzeuger?«
»Das spielt dabei keine Rolle.«
Eiseskälte kroch Gingers Rückgrat hoch. »Also stimmt es.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Ihr habt mich adoptiert?«
»Das spielt keine Rolle«, wiederholte Delores.
»Das stimmt nicht.«
»Warum?«
»Weil es bedeuten würde, dass mein Leben eine Lüge ist.« Ginger stand auf, ging im Zimmer herum und blieb wieder stehen.
»Ich verstehe, dass du verärgert bist, aber ...«
»Wie konntet ihr mich die ganze Zeit anlügen?« Die Wut verhinderte, dass der Schmerz sie niederstreckte. »Ich habe euch vertraut.«
»Wir mussten schwören, dass wir es niemals preisgeben. Niemandem, auch nicht dir gegenüber. Das war eine der Bedingungen für die Adoption.«
»Was für ein Schwachsinn! Das mag damals wichtig gewesen sein, aber doch nicht sechsunddreißig Jahre später. Was hätten sie euch denn tun können?«
»Ich habe überlegt, ob ich es dir erzähle.«
»Wer ist sie?«
»Sie ist tot, Ginger. Sie starb, da warst du sieben.«
»Also dann: Wer war sie?«
Keine Antwort.
»Was passiert, wenn du es mir sagst?«
»Barbara Winston.«
Irgendwie kam Ginger der Name bekannt vor. »Wer?« Da fiel der Groschen. »Die Sängerin?« Nicht irgendeine Sängerin, nein, eine engelsgleiche Schönheit. Sie eroberte ihren Platz im Musikhimmel durch den frühen Tod bei einem Flugzeugabsturz - auf dem Weg zur Oscar-Verleihung, auf der sie singen sollte.
»Genau.«
»Und Jessie Reed ist mein Vater?«
»Ja.«
Langsam drang zu ihr durch, dass ihr Vater noch am Leben war. »Hat er der Adoption zugestimmt? Wollte er mich auch nicht?«
»Wir kennen nur seinen Namen. Er wusste aber, was vor sich ging. Der Anwalt sagte uns, er hätte eine Vereinbarung unterzeichnet, keinen Kontakt zu dir aufzunehmen.«
»Na, dann hat er seine Meinung anscheinend geändert.«
»Was wirst du jetzt machen?«
»Weiß ich nicht.«
»Flieg nicht. Du würdest es bereuen.«
Nach sechsunddreißig Jahren hatte ihre Mutter immer noch nicht begriffen, wie man sie dazu brachte, etwas zu tun. Indem man es ihr verbot.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Eine kaum merkliche Bewegung bei den Azaleensträuchern erregte ihre Aufmerksamkeit: ein Monarchfalter in Orange und Schwarz. Die Schmetterlinge kamen jedes Jahr durch dieses Tal. Sie waren auf dem Weg zu einem Eukalyptuswäldchen an der Küste, ihrem Winterquartier. Dort ruhten sie sich aus und paarten sich, um vier Monate später den fast dreitausend Kilometer langen Rückweg in die Berge anzutreten. Vier Schmetterlingsgenerationen später begann der Kreislauf dann von Neuem.
Elizabeth hatte gelesen, dass ein Zeitreisender theoretisch die Geschehnisse der Zukunft verändern konnte, indem er den Flugweg eines einzigen Schmetterlings beeinflusste. War das mit ihnen geschehen? War das der Grund dafür, dass ihr Leben vor elf Jahren aus den Fugen geraten war und sich dann völlig neu geordnet hatte? Nicht einmal ihre Vergangenheit war dieselbe geblieben.
Früher hätte Elizabeth über die Vorstellung von Zeitreisenden und Schmetterlingen nur gelacht. Inzwischen war ihr das Lachen vergangen. Etwas hatte zu den Ereignissen des Jahres geführt, in dem sich alles veränderte - Schmetterlinge, schicksalhafte Fügungen oder unaufhaltsame Entwicklungen.
Etwas hatte sie auf diesen Friedhof gebracht, wo sie plante, das Gesetz zu brechen.
1
Lucy
März 2000
Lucy stand in der Tür des mit Kirschholz getäfelten Büros und starrte den einzigen Mann an, den sie je geliebt hatte. Nachdem sie zwanzig Jahre lang allein zu Bett gegangen war, stellte sie immer noch allnächtlich ihre Entscheidung infrage, ihm nichts zu sagen. Und jedes Mal stand sie am nächsten Morgen in dem Bewusstsein auf, dass Schweigen der einzige Weg war, ihn in ihrem Leben zu behalten. Was Frauen anging, gab es keine Kompromisse mit Jessie Reed - es gab nur Sex oder Freundschaft. Und Frauen hatte es wahrlich genug gegeben.
Der Sex wäre mit ziemlicher Sicherheit gut gewesen. Besser als gut. So, wie sie ihn sich als Mädchen erträumt und später zu vergessen versucht hatte, als die Wirklichkeit ihren romantischen Vorstellungen nicht gerecht wurde.
An dem Tag, an dem Jessie Reed damals in ihrer Anwaltskanzlei aufgetaucht war, hatte sie neununddreißig Lenze gezählt und versucht, ihren bevorstehenden vierzigsten Geburtstag zu verdrängen. Er wiederum war nach seiner zweiten Scheidung erst vor Kurzem nach Sacramento gezogen.
Seine Intelligenz und die Unbeirrbarkeit seines Strebens nach Reichtum hatten ihn grundlegend von den Obdachlosen am Busbahnhof unterschieden, an denen sie jeden Morgen vorbeigekommen war. Seine Ziele hatte er mit einer Durchtriebenheit und Furchtlosigkeit verfolgt, die an Fanatismus grenzten. Muße war des Teufels und Freizeit eine Todsünde gewesen.
Doch wie er jetzt seinen Kopf an das Lederpolster des Stuhls lehnte, mit seinem dicken silbergrauen Haar, das ihm über die Ohren reichte, und mit verschleiertem Blick, sah er verletzlich aus. Ein Wort, das normalerweise in Beschreibungen seiner Person ebenso wenig vorkam wie das Wort »wankelmütig«.
Er öffnete seine Augen und sah Lucy durchdringend an. »Du bist spät dran«, sagte er. Die Verärgerung ließ seinen weichen Südstaatenakzent härter klingen.
»Die Sitzung hat länger gedauert als geplant.«
Seine Hand fuhr über sein Haar, er richtete sich auf und bedeutete ihr ungeduldig, sich zu setzen. »Was hast du herausgefunden? «
Sie würde ihn nie belügen. Sogar die kleinen Notlügen und Ausreden, mit denen Freunde die Wahrheit bemäntelten, blieben ihr verwehrt. Er wiederum würde sie nie bitten, in einer Angelegenheit Partei für ihn zu ergreifen, die sie für töricht hielt. Es blieben ihm noch ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr, wenn er dem Krebs ebenso die Stirn bot wie anderen Widrigkeiten seines Daseins. Aber das war nicht genug Zeit. Nicht genug, um all seine Pläne umzusetzen.
»Bisher noch nichts«, sagte sie schließlich. Das war keine Lüge, sondern eine Ausrede.
»Das dauert alles zu lange. Schick einen zusätzlichen Privatdetektiv los.« Er rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Zum Teufel noch mal, es gibt Menschen, die dir im Fernsehen garantieren, dass sie jeden, wirklich jeden, innerhalb von einer Woche finden.«
»Seit wann schaust du fern?«
»Darum geht es doch nicht.«
»Das weiß ich. Ich möchte aber trotzdem wissen, warum du deine Zeit mit Fernsehschauen ...«
Wie konnte sie nur so eine blöde Frage stellen? Sie hatten beide nicht geahnt, wie schnell und problemlos er sich aus seinen diversen Geschäften würde zurückziehen können - und wie leer sein Leben danach sein würde.
Vor dreieinhalb Monaten, an Thanksgiving, war Jessie zum Sterben ins Krankenhaus gegangen, tief enttäuscht darüber, dass er das neue Jahrhundert mit den vorausgesagten Computerzusammenbrüchen und Atomkatastrophen nicht mehr begrüßen konnte. Doch eine Woche später wurde er wieder entlassen. Sein Krebs befand sich offensichtlich auf dem Rückzug, was keiner für möglich gehalten hatte. Grimmig akzeptierte er, dass ihm der von den Ärzten vorhergesagte schnelle Tod verwehrt wurde.
Zwei Tage später tauchte er in ihrer Kanzlei auf und übergab ihr ein Testament, das ein anderer Anwalt aufgesetzt hatte. Als er ihr sagte, er hätte sich zuerst an einen Kollegen gewandt, war sie verwirrt und verletzt gewesen. Doch sie hatte sorgfältig darauf geachtet, ihre Gefühle nicht zu zeigen. Sie hatte die Unterlagen durchgesehen und die Details überflogen. Überzeugt davon, etwas falsch verstanden zu haben, hatte sie dann noch einmal von vorn angefangen. Als sie damit fertig gewesen war, hatte sie sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und den Mann angestarrt, den sie so gut zu kennen glaubte. Sie war völlig verblüfft und sprachlos über die Enthüllungen gewesen.
»Das Fernsehen ist informativ«, sagte Jessie jetzt. »Ich habe eine völlig neue Welt entdeckt, von der ich bisher nichts wusste. Zeit wurde es. Ich denke, ich weiß, was seine Anziehungskraft ausmacht. Es ist, als würde man Leute dabei beobachten, wie sie nach einem Zugunglück aus dem Fenster springen und klauen, was auf die Gleise gefallen ist. Du kannst nicht glauben, was du siehst, und fühlst dich deswegen schuldig, kannst aber trotzdem nicht wegschauen oder abschalten.«
»Das kommt mir bekannt vor. Allerdings hätte ich nie gedacht, dass ich es eines Tages von dir zu hören bekomme.«
»Sei nicht so streng mit mir Lucy.« Er lächelte sie unschuldig an. »Es hält mich vom Grübeln ab und beschäftigt mich.«
»Auf andere Weise, als ich dir vorgeschlagen habe.«
Ein neugieriger Blick traf sie. »Ich erinnere mich nicht, was das gewesen sein sollte.«
Dieses Eingeständnis brach ihr fast das Herz.
Jessy war vierundsechzig gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, wäre aber locker als Mittvierziger durchgegangen. Sein Verstand hatte schneller und zielgerichteter gearbeitet als bei anderen Menschen. Er war groß und schlank gewesen. Sein Aussehen hatte an Männer erinnert, die ihr Leben auf dem Rücken eines Pferdes verbrachten. Wenn er gelächelt hatte, bildete sich ein kleines Grübchen neben dem linken Mundwinkel. War er in diesem Moment besonders konzentriert, endete das Lächeln immer mit einem Zwinkern. Sie war ihm bereits verfallen gewesen, bevor ihr erstes Gespräch fünf Minuten alt gewesen war. Seit jenem Tag bildete er die Messlatte, an der sie andere Männer maß.
»Besuch die Wohltätigkeitsorganisationen, die du in deinem Testament bedacht hast«, erinnerte sie ihn vorsichtig. »Gib ihnen eine Chance, dir persönlich zu danken.«
»Warum sollte ich das tun?« »Sie würden sich darüber freuen.«
»Bei Weitem nicht so sehr wie über einen Scheck.«
»Darum geht es doch nicht. Lass mich wenigstens ein Treffen vorbereiten. Wenn es dir überhaupt nicht gefällt, dann ...«
Jessie beugte sich vornüber und hielt sich die Seite, als ob er so den Schmerz auf eine Stelle beschränken könnte. »Nein.«
»Also gut. Was ist mit einer Reise? Nichts Langes oder Anstrengendes, nur einen oder zwei Tage.« Sie hielt inne. »Golden Gate im Nebel, Lake Tahoe, die kalifornischen Weinbaugebiete. Mein Bruder arbeitet für einen berühmten Winzer. Ich könnte eine private Führung organisieren.«
Jessie lächelte ironisch. »Hast du jemals dieses Spiel gespielt, bei dem man sagen muss, was man tun würde, wenn man nur noch einen Monat zu leben hätte?« Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, legte den Ellbogen auf die Armlehne seines Stuhls und stützte das Kinn auf seine Hand. »Das ist einfach, wenn es um nichts geht. Doch jetzt kommt mir alles wie Zeitverschwendung vor. Mein ganzes Leben lang bin ich wegen der Erinnerungen gereist und wegen der Erfahrungen, die man dabei macht. Aber was bringt mir das in meiner Situation?«
»Ich könnte Urlaub nehmen.« Das unmerkliche Zögern in ihrer Stimme verhinderte, dass der Vorschlag so beiläufig klang wie beabsichtigt. »Wir könnten etwas zusammen unternehmen.«
Sein Blick durchbohrte sie. »Werd bitte nicht rührselig, Lucy. Ich habe ein erfülltes Leben gelebt, größtenteils selbstbestimmt. Es war länger als das vieler anderer Menschen. Ich jammere nicht. Was ich brauche, ist ein eleganter Abgang.«
»Wie kann ich dir dabei helfen?«
»Du hilfst mir doch. Es muss nur alles ein bisschen schneller gehen.«
»Und es gibt keine Möglichkeit, dir dieses Projekt auszureden? «
Sie konnte das Bedürfnis nachempfinden, vor seinem Tod das Verhältnis zu seinen Töchtern zu regeln. Zu Töchtern, von denen Lucy bis vor drei Monaten nichts gewusst hatte. Sie konnte ihm nur nicht klarmachen, dass sein Projekt ein Ding der Unmöglichkeit war. Er suchte Vergebung. Seine Töchter dagegen suchten Antworten und Erklärungen für lebenslanges Leid.
Lucy war ein Scheidungskind und wusste um das Gefühl des Verlassenwerdens. Sie verstand, was Jessies Töchter durchgemacht hatten und immer noch durchmachten. In ihrer Wut würden sie ihm das Herz brechen und sich dabei auch noch im Recht fühlen. Es war einfach zu wenig Zeit. Wahrscheinlich wäre es sogar zu wenig gewesen, wenn Jessie weitere zwanzig Jahre gehabt hätte.
»Nichts, was du sagst, wird an meinem Wunsch etwas ändern«, sagte er leise. »Ich weiß, du denkst, irgendwo in meinen Hinterkopf existiert die Vorstellung, dass sie sich in meine Arme stürzen und laut ›Daddy‹ rufen. Nichts liegt mir ferner. Ich will sie treffen, weil ich es nicht ertragen kann, zu sterben, ohne mich ihnen zu erklären. Ohne ihnen zu sagen, dass ich nicht der Dreckskerl bin, für den sie mich zu Recht halten. Ich mag sie verlassen haben, aber vergessen habe ich sie nie.«
Er erhob sich mit Unterstützung der Armlehnen. Nicht nur der Krebs, sondern auch seine Gefühlsregungen ließen ihn so alt erscheinen, wie er wirklich war. »Als ich mich entschloss, die Sache anzupacken, wollte ich mir einreden, ich täte das, um ihnen ihren Seelenfrieden zurückzugeben, solange ich noch konnte - ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für mich. Ich wünschte heute, ich wäre so selbstlos.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich tue das für mich. Damit ich zumindest ein bisschen Frieden finden kann.«
Jessie ging zum Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Blatt Papier heraus. »Das ist die Adresse, die ich von Elizabeth hatte, als ich vor ein paar Jahren versucht habe, sie zu kontaktieren.«
Lucy nahm das Blatt. Vor fünfzehn Jahren hatte Jessie erfahren, dass seine älteste Tochter in Fresno lebte, und sie angerufen. Sie weigerte sich, etwas mit ihm zu tun zu haben, und drohte ihm an, ein gerichtliches Umgangsverbot zu erzwingen, sollte er versuchen, sie zu treffen. Seine Briefe waren ungeöffnet zurückgekommen. Nach einem Jahr hatte er aufgegeben.
Während sie die Informationen über Jessies vier Töchter für einen privaten Ermittler zusammengestellt hatten, hatte Lucy ihn gefragt, ob Elizabeth die Einzige gewesen war, zu der er je Kontakt aufnehmen wollte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann, den sie so gut kannte, seine Kinder verlassen würde, wie sie von ihrem Vater verlassen worden war. Jessie hatte mit seiner Antwort gezögert. Die Frage irritierte ihn offensichtlich. Sie ließ es damals dabei bewenden.
Heute entschied Lucy sich dafür, es noch einmal zu versuchen. »Du hast außer bei Elizabeth nie versucht, eine andere deiner Töchter zu finden?«
Er sah an ihr vorbei auf die Bücherregale hinter seinem Schreibtisch. Auf diesen Regalen lagen Trophäen und Erinnerungsstücke aus einem Leben in unglaublichem Reichtum und erbärmlicher Armut: Erstausgaben von Hemingway und Twain neben Pfeilspitzen von der Farm seiner Familie in Oklahoma und einer Kugel aus der Schlacht von Gettysburg.
Ein Regal unterschied sich von den anderen; dorthin sah er jetzt. In der Mitte stand ein kleines Kästchen auf einer Art Holzpodest. Es enthielt das Purple Heart, das amerikanische Verwundetenabzeichen. Der Orden hing an einem rot-weiß gestreiften Band, das Bronzerelief war ziemlich abgegriffen. Vor vielen Jahren war Lucy einmal versucht gewesen zu fragen, wofür er es erhalten hatte. Sein Blick hatte dafür gesorgt, dass ihr die Frage ihm Hals stecken geblieben war. Seitdem war der Fall für sie erledigt.
»Vor einer Weile habe ich von einem mexikanischen Geschäftspartner erfahren, dass Christina zurück in den Staaten ist und in Arizona das College besucht. Doch nach dem Erlebnis mit Elizabeth war ich ...« Jessie hielt inne. »Ich konnte sie nicht einfach anrufen oder so. Also bin ich hingefahren, um mir ein Stück anzusehen, in dem sie eine Rolle hatte.«
»Und?« Lucy wollte, dass er weitererzählte.
»Ich habe sie nicht erkannt und musste im Programmheft nachsehen, wen sie spielte. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie vielleicht drei oder vier Jahre alt. Es ist ziemlich dämlich gewesen, dort aufzutauchen und zu denken, ich würde nach einer so langen Zeit das kleine Mädchen von damals wiedererkennen. Und sie konnte schon gar nicht wissen, wer ich bin.«
Er zuckte mit den Schultern, unterstrich damit seine Entscheidung.
»Trotzdem habe ich es versucht. Blöd von mir, ich weiß. Ich bin nach der Vorstellung zu der Fragerunde geblieben, wo das Publikum mit den Schauspielern sprechen konnte. Dabei habe ich sie lange beobachtet, bis mir etwas einfiel, was ich sagen konnte, ohne sie völlig zu verstören. Ich habe sie also gefragt, ob sie ihr Talent vielleicht geerbt hätte. Sie hat mir ohne zu zögern und ohne ein Anzeichen des Erkennens geantwortet. Ich habe keine Möglichkeit gesehen, ihr zu sagen, wer ich bin.« Er seufzte tief, begleitet von einem traurigen Lächeln.
»Und die anderen beiden, Ginger und Rachel?«
»Die habe ich nie zu finden versucht. Na ja, zumindest nicht mehr, seit sie keinen kleinen Kinder mehr sind. In Anbetracht der Umstände war mir klar, dass sie mich als Erwachsene nie würden treffen wollen.« Sie schwieg. »Sag mir, was du denkst, Lucy.«
Endlich, nach zwanzig Jahren, bekam sie eine Vorstellung davon, woher Jessies zielgerichtetes Streben und sein übermächtiges Bedürfnis nach einem eigenen Imperium rührten. Nicht vom Verlangen nach Geld oder Erfolg. Nein, er brauchte etwas, was ihn vor den Geistern der Vergangenheit und vor seinen Schuldgefühlen schützte.
»Ich kann dir die Sache nicht ausreden?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich muss das einfach machen.«
Sie gab klein bei. »Dann muss ich sehen, was ich tun kann, um dem Ermittler Feuer unterm Hintern zu machen.«
»Verdopple sein Honorar.«
»Ich glaube nicht, dass ...«
»Mach es einfach, Lucy.« Dann sprach er in gemäßigtem Tonfall weiter. »Ich glaube an Neuanfänge, Lucy. Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich das nicht tun würde.« Er lächelte sie an und zwinkerte. »Diesmal ist das Schicksal offensichtlich auf meiner Seite. Diese Jahrtausendwende war etwas Besonderes, oder? Etwas, was im Gedächtnis bleibt. Es muss einen Grund dafür geben, dass ich sie erlebt habe.«
2
Ginger
Verletzt und verärgert zugleich, ging Ginger Reynolds aus ihrem Wohnzimmer nach oben ins Schlafzimmer. Auf dem Weg dahin löschte sie Duftkerzen im Wert von mehreren hundert Dollar. Zarte schwarze Rauchfahnen stiegen zur Decke auf - die dunklen Wolken passten gut zu ihrer Stimmung.
Die Prämie für ihre Autoversicherung würde nach ihrem jüngsten Zusammentreffen mit einem Betonpfeiler ziemlich in die Höhe schnellen. Da sollte sie eigentlich kein Geld für etwas Überflüssiges wie Kerzen ausgeben. Aber es war so lang her gewesen, dass sie für etwas Verrücktes und vollkommen Sinnloses Geld ausgegeben hatte, um mit Marc ein bisschen Spaß zu haben. Seit sie vor einem Jahr von Kansas City nach San José, Kalifornien, gezogen war, schien das zu einer Gewohnheit zu werden.
Sogar wenn der Artikel in der Frauenzeitschrift mit seiner Empfehlung der Kerzen als erotische Muntermacher völlig falsch gelegen hätte - Marc hätte sich trotzdem gefreut. Er mochte es, wenn sie etwas Neues ausprobierte. Das bedeutete, dass sie an ihn dachte und an ihrer Beziehung arbeitete.
Aber wozu machte sie sich die ganze Mühe, wenn Marc in letzter Minute absagte?
Sie ging ins Badezimmer und drückte die Flammen der Wachslichter um die Wanne herum aus. Notfälle waren eine Sache, die Entschuldigung für heute Abend eine andere. Er hätte seit Wochen wissen müssen, dass heute das Klavierkonzert seiner Tochter stattfinden würde. Seine Frau erinnerte ihn ständig an solche Dinge, hinterließ Nachrichten auf seinem Handy und dem Anrufbeantworter, klebte Notizzettel ans Lenkrad und den Badezimmerspiegel. Sie behandelte ihn wie ein Kind. Das war einer der Gründe, weswegen er sie vor anderthalb Jahren verlassen hatte.
Für sechs Monate.
Einen Monat länger als vor drei Jahren. Damals hatte Ginger ihn bei Freunden kennengelernt und angenommen, seine Scheidung sei schon über die Planungsphase hinaus. Marc Osborne brachte alles mit, was eine Frau von einem Mann erwarten konnte. Er war zärtlich, sexy, intelligent, aufmerksam. Zumindest redete sie sich das damals ein. Der größte Pluspunkt in ihren Augen: Er bewunderte ihren Geist mehr als ihren Körper. Er hatte es sogar geschafft, ihr während des Gesprächs in die Augen und nicht auf den Busen zu sehen, und er hatte sie zum Lachen gebracht. Richtig zum Lachen. Es war nicht dieses künstliche Gackern gewesen, mit dem sie Männern sonst das Gefühl gab, klug und witzig zu sein, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Sie hatten über ihre Arbeit gesprochen, über ihre Träume, und darüber, wo sie in zehn Jahren sein wollte. Er war in allen Punkten anders gewesen als die Männer, an die sie zuletzt ihr Herz und ihre Zeit verschwendet hatte. Keine Stunde nach Beginn des ersten Gesprächs war sie bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen.
Sie liebte ihn so sehr, dass sie schließlich Kompromisse eingehen musste. Sie bewunderte ihn sogar, als er wegen seines fünfjährigen Sohnes und seiner achtjährigen Tochter in den ehelichen Haushalt zurückkehrte. Um ihnen zu zeigen, dass eine Scheidung nichts an seinem Verhältnis zu ihnen ändern würde. Doch aus den geplanten Monaten waren schließlich Jahre geworden, den Gesetzen einer heimtückischen, unwiderstehlichen Beziehungslogik folgend. Ein Ultimatum und ein Versprechen folgte dem anderen - und alle wurden auf dem Altar guter Absichten geopfert.
Ginger öffnete die Tür zu ihrem Schrankzimmer und schlüpfte aus den hochhackigen Sandaletten. Marc mochte solche Schuhe, er fand ihre Beine damit sexy. Dann zog sie die schwarze Spitzenunterwäsche aus. Das wäre eigentlich sein Part gewesen.
Verdammt. Er wusste, dass sie etwas Besonderes geplant hatte. In ihrer Mittagspause war sie extra nach Los Gatos gefahren, um seinen Lieblingskäse und eine Flasche Merlot zu kaufen, die der Weinhändler aus seinen privaten Beständen geholt hatte.
Heute war ihr Jahrestag - zumindest hatte sie ihn auf dieses Datum verschoben. Der eigentliche Tag lag bereits drei Wochen zurück. Aber da war Marcs Schwester operiert worden. Danach hatte es eine Marketingkrise gegeben, die eine Geschäftsreise zur Zentrale in Kansas City notwendig machte. Warum nur hängte sie ihr Herz immer an Männer, die sie zwar liebten, sich aber nie zum letzten Schritt aufraffen konnten? Mit dreiundzwanzig hatte sie aus sich die Frau gemacht, die Bruce sich wünschte, nur damit dieser sechs Monate später einen völlig anderen Typ heiratete. Tom hatte stets betont, sie wäre perfekt für ihn, wie sie war. Kaum zogen sie zusammen, fing er jedoch an, sie zu betrügen.
Sie wusste, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein dastand. All ihre Freundinnen hatten Ähnliches durchgemacht - zumindest die Singles. Es gab ein paar glückliche Ehen, aber wenn Kinder kamen, endeten in der Regel die Freundschaften. Freie Zeit schien dann genauso knapp zu werden, wie es geschiedene Männer waren, die in einer neuen Ehe nichts gegen weitere Kinder einzuwenden hatten.
Das Telefon läutete. Ihr Herz machte einen komischen kleinen Hüpfer in der Erwartung, Marc hätte einen Weg gefunden, doch noch zu kommen. Er überraschte sie gern, und sie gab ihm das Gefühl, gern überrascht zu werden. Sie hechtete übers Bett und griff nach dem Hörer. »Hi.« Ihre Stimme klang tief, sexy und fröhlich.
Schweigen. Dann eine Frauenstimme. »Ich habe das Gefühl, du hast mit jemand anderem gerechnet.«
»Mom - hallo.« Sie konnte ihre Enttäuschung nicht ganz verbergen. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Natürlich ist alles in Ordnung.« Ihre Mutter Delores hatte damals alles getan, um zu verhindern, dass Ginger ihr Haus verkaufte, ihre Arbeitsstelle und ihren Freundeskreis aufgab, um Marc nach Kalifornien zu folgen. Fast hätten sie sich damals zerstritten. Um alte Wunden nicht wieder aufzureißen, blieb seitdem das Thema Marc außen vor.
Auf der Suche nach einem sicheren Gesprächsthema schlug Ginger einen leichten Ton an. »Wie geht es euch?«
»Dein Vater hätte gern gewusst, ob dein Auto repariert ist.«
Ginger und ihren Vater trennten nicht eine, sondern zwei Generationen. Als sie auf die Welt gekommen war, hatte er die Vierzig überschritten gehabt. Er kommunizierte mit ihr so, wie sein Vater mit ihm kommuniziert hatte - über die Frauen in der Familie. Hatte er Fragen oder wollte er Ginger etwas sagen, lief das über ihre Mutter.
»Noch nicht«, musste Ginger eingestehen.
Die Hand über der Sprechmuschel dämpfte, was ihre Mutter weitergab. »Sie sagt, noch nicht, Jerome.«
Ginger wartete ab.
»Dein Vater sagt, es sei wichtig, das so schnell wie möglich machen zu lassen. Erst heute Abend haben sie in den Nachrichten gebracht, dass ein Unfallauto Feuer gefangen hat. Die ganze Familie ist umgekommen. Sechs Menschen. Es war schrecklich.«
»Ich rufe morgen früh sofort die Werkstatt an.«
»Das hast du das letzte Mal auch schon gesagt.«
Sie wälzte sich auf den Rücken und bedeckte ihre Augen mit der Hand. »Ich schreibe mir gleich einen Zettel.«
Sie wusste, dass ihre Eltern nervten, weil sie ihr nur so zeigen konnten, wie sehr sie sie liebten. Ihr Elternhaus war nicht gerade berühmt für seinen emotionalen Überschwang. Berührungen waren so selten gewesen wie Regen in der Wüste.
»Habe ich dir schon gesagt, dass Bill zu Dads Geburtstag kommt?«
Ungefähr hundert Mal. »Ja, Mom, ich weiß Bescheid. Ich habe dir doch gesagt, dass ich auch komme, wenn ich ein paar Tage freinehmen kann.«
»Eine Woche wäre nett.«
»Das wird nicht gehen. Ich bekomme keinen Urlaub, solange ich nicht ein volles Jahr dort gearbeitet habe. Ich versuche aber, den Freitag und den Montag für ein langes Wochenende freizuschaufeln.«
»Wenn das so ist, dann ist das eben so.«
»Mom, ich muss los. Ich habe eine Verabredung.«
»Eine Verabredung?«
»Mit einer Freundin.«
Es herrschte gespannte Stille. Dann versuchte es Delores mit einem Scherz. »Hat diese Freundin vielleicht einen Bruder?«
»Hat sie tatsächlich.« Gingers Geduldsfaden drohte zu reißen. »Der ist aber schwul.«
Wie aus der Pistole geschossen, kam Delores' Antwort. »Ich dachte, es gibt inzwischen Einrichtungen, in denen solche Menschen geheilt werden können?«
Ginger war zuerst sprachlos, musste dann aber lachen. »Macht es gut, Mom. Ich melde mich in ein paar Tagen wieder, wenn ich mehr Zeit habe.«
»Denk an die Reparatur.«
»Mache ich. Tschüs.«
Lang saß sie auf der Bettkante und starrte blicklos auf den Parkplatz hinter ihrem Apartment. Sie wollte nicht einfach nur mit Marc zusammen sein, sie brauchte ihn. Nicht nur für den Sex. Ihre Freunde waren in Kansas City zurückgeblieben. Sie hatten alle versucht, ihr den Umzug nach Kalifornien auszureden. Und hier hatte sie noch keine neuen Freundschaften geschlossen. Dazu war sie viel zu schüchtern.
Sie fühlte sich allein gelassen und brauchte dringend einen Menschen, dem sie sich anvertrauen und mit dem sie reden konnte. An ihrem Arbeitsplatz und im Fitnessstudio hatte sie zwar Frauen getroffen, die sie mochte. Aber die hatten alle ein ausgefülltes Leben mit Familie, Freunden und Beruf. Mehr als Kaffeetrinken und ein gemeinsames Mittagessen war da nicht drin. Freundschaft, wie Ginger sie verstand, brauchte Zeit und musste gepflegt werden. Darüber sprach sie nie, auch nicht mit Marc. Wer einsam war, brauchte Trost. Dieses Eingeständnis fand sie armselig.
Außerdem hörte sie die biologische Uhr immer lauter ticken. Egal, wie oft sie trainierte: Ihr Busen sackte langsam nach unten. Egal, wie andächtig sie ihre Haut mit teuren Cremes und Lotionen massierte: Die feinen Linien in ihren Augenwinkeln kamen ihr jedes Mal tiefer vor, wenn sie in den Spiegel blickte. Das Alter machte sich bemerkbar. Nicht auf die beiläufige Art und Weise wie bei den Frauen, die Kinderwagen schoben und ihre Brut zwischen Schule, Musikunterricht und Sportverein hin- und herkarrten. Nein, eher beschleunigt durch ihre Anstrengungen, die Anzeichen zu bekämpfen.
In vier Jahren wurde sie vierzig. Allein der Gedanke daran machte sie krank. Wahrscheinlich ging sie dann immer noch für Mitte dreißig durch - so wie jetzt für Anfang dreißig. Aber sechsunddreißig schien gleichaltrigen Männern zu alt zu sein. Wenn die dann vierzig wurden und eine Familie wollten, beschlossen sie meist, sich an die süßen jungen Dinger zu halten, die durch Geld und Erfahrung leicht zu beeindrucken waren. Und die keine künstliche Befruchtung brauchten, um schwanger zu werden.
Gingers Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie das Mittagessen ausgelassen hatte. Sie war hungrig. Gefährlich hungrig. Weil ihre Seele nach Nahrung verlangte. Wenn sie nicht aufpasste, könnte sie etwas ziemlich Dummes anstellen. Beispielsweise die Hundertfünfzig-Kilo-Frau füttern, die in ihrem Fünfundfünfzig-Kilo-Körper lebte. Die Frau, die sie jede Stunde des Tages bekämpfen musste.
Ginger ignorierte schließlich sowohl den Hunger des Körpers als auch den der Seele, zog sich die Sportsachen an und rannte nach unten. Gerade hatte sie sich den Hausschlüssel eingesteckt und dehnte ihre Beinmuskulatur, als es an der Tür klingelte. Sie weigerte sich, an Marc zu glauben.
Er war es auch nicht.
»Tut mir leid, Sie zur Essenszeit zu stören«, sagte der Hausverwalter und strich sich mit der Hand über seine Glatze. »Meine Frau hat vergessen, mir das sofort zu geben. Das ist heute für Sie gekommen. Ich habe gedacht, es ist vielleicht wichtig.« Er übergab ihr eine Expresslieferung.
Ginger sah auf den Absender. Eine Anwaltskanzlei in Sacramento - sie kannte niemanden dort.
»Ich hoffe, es sind keine schlechten Nachrichten«, sagte der Verwalter.
»Was? Nein, sicher nicht. Meine Firma hat Kontakte nach Sacramento. Jemand muss versehentlich meine Privatadresse benutzt haben.«
Der Überbringer machte keine Anstalten zu gehen. »Ich wäre ja eher damit gekommen, aber meine Frau hat heute Geburtstag. Deswegen haben wir beide es, um ehrlich zu sein, völlig vergessen.«
Ginger lächelte. »Kein Problem. Bitte gratulieren Sie ihr von mir.«
»Mache ich.«
Sie ging in die Wohnung und warf den Umschlag auf das Sofa. Wenn sie nicht bald auf die Laufstrecke kam, würde sie sie mit den Kerlen vom örtlichen Wrestlingclub teilen und knietief im Testosteron waten müssen. Fast war sie schon wieder an der Tür, als ihre Neugier doch noch siegte. Schließlich bekam sie nicht jeden Tag eine Expresssendung von einer Kanzlei. Um genau zu sein, hatte sie noch nie Post von einem Anwalt bekommen.
Sie setzte sich aufs Sofa, legte die Füße auf den Couchtisch und machte sich einen virtuellen Knoten ins Taschentuch: Sie brauchte dringend neue Laufschuhe.
»Sehr schön.« Sie zog zwei Briefe aus dem Umschlag, einen von dem Anwalt, den anderen von einem Reisebüro. Den vom Anwalt öffnete sie zuerst.
Sehr geehrte Mrs Reynolds,
ich schreibe Ihnen im Auftrag Ihres leiblichen Vaters, Jessie Patrick Reed. Es tut mir leid, Sie darüber unterrichten zu müssen, dass Mr Reed bald sterben wird. Er äußerte den Wunsch, Sie zu treffen. Angesichts der Tatsache, dass die ihm verbleibende Zeit sehr knapp bemessen ist, werden Sie die Dringlichkeit der Angelegenheit sicher verstehen. Er bat mich, Ihnen zu sagen, dass er eventuelle Vorbehalte Ihrerseits durchaus verstehen könnte und dass er alles tun würde, um Sie zu einem Treffen zu bewegen.
Ginger fühlte sich gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Der Brief war offensichtlich nicht für sie bestimmt. Ein ziemlich trauriges Zeichen dafür, wie wenig sich in ihrem Leben ereignete.
Um Ihnen eine reibungslose Anreise nach Sacramento zu ermöglichen, liegt diesem Schreiben ein Rückflugticket bei. Außerdem steht Ihnen nach Ihrer Ankunft ein Wagen mit Fahrer zur Verfügung. Eine Bestätigung der Daten Ihrerseits ist nicht notwendig. Sollten Sie jedoch Fragen haben, rufen Sie mich bitte jederzeit an.
Mit freundlichen Grüßen
Lucy Hargreaves
Ginger faltete das Schreiben zusammen und legte es auf ihre Aktenmappe. Sie würde morgen von der Arbeit aus dort anrufen und der Anwältin erklären, dass sie die falsche Ginger Reynolds sei.
Ginger drehte ihre Runden völlig in Gedanken. Die Frau, für die dieser Brief bestimmt war, beschäftigte sie. Sie fragte sich, wer sie wohl war und warum sie denselben Namen trugen. Als sie wieder nach Hause kam, klingelte das Telefon.
Sie hob in der Küche ab und meldete sich.
»Ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen«, sagte Marc.
Der Anrufbeantworter blinkte, wie sie mit einem Blick feststellte. »Ich war im Park.« Früher waren sie zusammen laufen gegangen - bevor die gemeinsame Zeit zu knapp wurde, um sie mit etwas so Alltäglichem zu verschwenden. »Ist das Konzert schon vorbei?«
Er stöhnte. »Nicht mal annähernd. Wir sind noch auf der ersten Seite des Programms, und Jenny steht auf der dritten. Ich habe mich davongeschlichen, um dich anzurufen. Ich wollte deine Stimme hören und fragen, ob alles in Ordnung ist.«
Sie lehnte sich gegen die Küchentheke und sah auf die Uhr. Halb neun. Kein Überraschungsbesuch heute Abend. Es war bescheuert, sich ständig solche Hoffnungen zu machen. »Mir geht's gut.« Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Du musst stolz auf Jenny sein. Die Besten kommen am Ende.«
»Und dir fällt immer etwas ein, damit es mir gleich besser geht. Du bist eine wunderbare Frau. Ich muss in meinem vergangenen Leben ein ziemlich toller Hecht gewesen sein, dass ich dich diesmal abbekommen habe.« Er machte eine Pause. »Es tut mir leid, Ginger. Ich weiß, wie viel dir der heutige Abend bedeutet«, flüsterte er gequält.
Sie ließ sich ein wenig erweichen. Hätte er gesagt, wie viel dieser Abend für sie beide bedeutet, würde sie ihm sofort vergeben. So musste er warten, bis sie sich trafen. »Es werden noch andere Jahrestage kommen.«
»Du bist zu gut für mich.«
Ja, das war sie. Aber vielleicht würde sich das eines Tages ändern. »Ich habe heute einen total seltsamen Brief bekommen. Von einer Anwältin aus Sacramento.«
»Davon wirst du mir ein anderes Mal erzählen müssen, Schätzchen. Ich muss zurück, bevor Judy mich sucht. Morgen zum Beispiel, okay?«
»Ist nicht so wichtig.«
»Ist es doch. Sonst hättest du nichts gesagt. Geh nach oben, nimm ein schönes Bad und bedauere mich, dass ich hier festsitze und nicht bei dir sein kann.«
Er hätte den Brief morgen vergessen, und sie würde ihn nicht daran erinnern. Ihn ständig an etwas zu erinnern war typisch für Judy Osborne. Und Ginger mied jede Ähnlichkeit in den Beziehungsmustern wie der Teufel das Weihwasser.
»Mache ich.«
Sie verabschiedete sich, behielt jedoch den Hörer in der Hand. In Denver war es jetzt halb zehn Uhr abends. Ihr Vater würde sicher schon im Bett sein, aber ihre Mutter blieb in der Regel bis Mitternacht auf. Der Brief war eine der seltenen Gelegenheiten, sie an ihrem Leben teilhaben zu lassen, und hatte nichts mit Marc zu tun. Ginger wählte ihre Nummer.
Bevor sie überhaupt zum Grund ihres späten Anrufs kommen konnte, musste sie Delores davon überzeugen, dass nichts Schlimmes passiert war. »Mom, du musst dir keine Sorgen machen. Ich wollte dir nur von einem seltsamen Brief erzählen, den ich heute bekommen habe.«
»Belästigt dich jemand?«
Ginger lachte. »Nein, überhaupt nicht.«
»Ich habe nur gerade gelesen, wie gefährdet Singlefrauen durch Stalker sind.«
»Mich belästigt niemand, Mom. Der Brief ist von einer Anwältin. Sie vertritt einen Mann, der denkt, er sei mein Vater.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Mom?«, fragte Ginger.
Es vergingen weitere Sekunden, bevor Delores antwortete. »Ja?«
»Findest du das nicht lustig?«
»Was steht noch in dem Brief?«
Diese Reaktion hatte Ginger nicht erwartet. »Er wird bald sterben und will mich treffen. Nein, nicht mich. Seine Tochter.«
»Steht ein Name im Brief?«
Sie langte nach dem Schreiben. »James Reed. Nein, nicht James. Jessie.«
Erneutes Schweigen. »Was wirst du machen?«
Verwirrt wünschte sich Ginger, sie hätte nicht angerufen. Sie hatte auf ein bisschen Unterhaltung gehofft, nicht auf eine inquisitorische Befragung. »Ich denke, ich werde dort anrufen und der Anwältin sagen, dass ich die Falsche bin. Dann kann sie weitersuchen.«
»Du musst da nicht anrufen. Dazu bist du nicht verpflichtet. Sie weiß sowieso, was los ist, wenn du dich nicht meldest.«
»Der Typ wird sterben, Mom. Ich möchte nicht schuld daran sein, sollte seine Tochter nicht rechtzeitig gefunden werden.«
»Misch dich da nicht ein, Ginger.« Das klang nicht nach einem Vorschlag, sondern wie ein Befehl. »Wirf den Brief weg und vergiss das Ganze.«
»Ich muss das Flugticket zurückgeben oder ihnen zumindest sagen, dass ich es nicht nutzen werde. Der Mann will seine Tochter schnellstmöglich treffen. Deswegen liegt dem Schreiben ein Rückflugticket von San José nach Sacramento bei. Mit dem Auto wäre ich wahrscheinlich schneller dort.«
»Dann schick es zurück. Ruf aber auf keinen Fall dort an.«
»Warum? Was sollte das für einen Unterschied ausmachen? «
»Es geht um deine Sicherheit. Ich habe von Leuten gelesen, die auf diese Art Betrügern aufgesessen sind.«
»Mom, der Brief ist nicht für mich. Du macht viel zu viel Wind deswegen. Hätte ich geahnt, dass du dich so aufregst, hätte ich dich nicht angerufen.«
»Ich weiß, wie schnell etwas passiert. Ich lese mehr darüber als du.«
»Ich werde diese Anwältin anrufen und ihr sagen, dass ich die Falsche bin. Das ist alles.«
»Zum Donner noch eins, Ginger, würdest du bitte sofort aufhören, mir zu widersprechen? Mach bitte ein einziges Mal, was ich dir sage.«
Ginger blinzelte. Weder erhob ihre Mutter normalerweise die Stimme, noch fluchte sie. Da war etwas im Busch. Und es hatte nichts mit Betrügern und Stalkern zu tun. »Also gut. Wenn dir das so wichtig ist, werde ich einfach die Tickets zurückschicken.«
»Danke.« Delores Erleichterung war fast mit Händen zu greifen.
»Ich lege jetzt auf und gehe duschen.« Damit Delores dieser blitzartige Abschied nicht merkwürdig vorkam, fügte Ginger hinzu: »Ich war gerade laufen und muffle ziemlich.«
»Ich hab dich lieb, mein Kind.«
»Ja, Mom, mach's gut. Küsschen«, entgegnete sie automatisch.
»Ginger, ich meine, was ich sage. Ich liebe dich wirklich über alles. Ich weiß nicht, was ich machen würde, sollte dir etwas zustoßen.«
»Mach dir bitte keine Sorgen meinetwegen. Und hör auf, komische Zeitschriftenartikel zu lesen.«
»Geh duschen.«
Ginger legte auf, schnappte sich eine Pflaume von der Theke und ging nach oben. Die Pflaume schmeckte sauer. Sie aß sie trotzdem als Abendessen. So sparte sie ein paar Kalorien für das Wochenende. Sie wollte Marc überreden, sie in ein Wellnesshotel in Sonoma einzuladen, von dem sie in der Wochenendausgabe der Zeitung gelesen hatte.
Sie stand unter der Dusche und plante ihre Taktik gegenüber Marc, als die Stimme ihrer Mutter ihre Gedankengänge unterbrach. Zum Donner noch eins, Ginger, mach bitte ein einziges Mal, was ich dir sage.
Warum dieses einzige Mal? Was war an diesem Brief so wichtig?
Die Antwort kam bruchstückhaft aus ihrem Unterbewusstsein. Zu schmerzlich, um glaubhaft zu sein, zu offensichtlich, um verdrängt zu werden. Eine Ahnung wurde zum Verdacht. Sie konnte ihn nicht in Worte fassen und schon gar nicht laut aussprechen.
Das konnte nicht stimmen. Auf keinen Fall. Ihr ganzes Leben lang war ihr erzählt worden, dass sie ihre dunkelblauen Augen von Tante Louisa geerbt hätte. Dass sie das Temperament ihres Vaters besitzen würde. Das sie Kalzium nehmen sollte, weil die Frauen der Reynolds zu Osteoporose neigten. Über die Linie ihrer Urgroßmutter stammte sie von John Quincy Adams ab, dem sechsten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ihre Mutter würde sie doch nicht belügen.
Sie spülte sich das Shampoo aus den Haaren und redete sich ein, das flaue Gefühl in ihrem Magen käme von der Pflaume. Sobald sie aus der Dusche kam, würde sie noch einmal ihre Mutter anrufen. Sie würden gemeinsam darüber lachen, dass Ginger für einen winzigen Augenblick geglaubt hatte, sie wäre nicht das Kind von Delores und Jerome und Billy wäre nicht ihr Bruder. Und sie nicht von John Quincy Adams abstammte.
In Denver war es schon spät, deshalb verkürzte sie ihre übliche Pflegeprozedur nach dem Duschen und rief gleich nach dem Abtrocknen bei ihrer Mutter an. »Hallo, ich bin's noch mal.« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine Pause entstand. »Ich habe über dieses Schreiben nachgedacht. «
»Das dachte ich mir«, sagte Delores.
Sie klammerte sich an den letzten Strohhalm und gab ihrer Mutter die Chance, den Irrtum aufzuklären. »Warum hat dich das so aufgeregt?«
»Ich bin müde. Es war ein langer Tag.«
»Da steckt noch etwas anderes dahinter. Bitte sag mir, was. Ist es denn wahr?« Sie erstickte fast an den nächsten Worten. »Ist dieser Mann mein Vater?«
»Dein Vater ist oben im Schlafzimmer.«
Für einen winzigen Augenblick kam ihre Welt wieder ins Gleichgewicht. Aber die nächste Frage war unvermeidlich, um die Sache abschließen zu können. »Ist er auch mein Erzeuger?«
»Das spielt dabei keine Rolle.«
Eiseskälte kroch Gingers Rückgrat hoch. »Also stimmt es.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Ihr habt mich adoptiert?«
»Das spielt keine Rolle«, wiederholte Delores.
»Das stimmt nicht.«
»Warum?«
»Weil es bedeuten würde, dass mein Leben eine Lüge ist.« Ginger stand auf, ging im Zimmer herum und blieb wieder stehen.
»Ich verstehe, dass du verärgert bist, aber ...«
»Wie konntet ihr mich die ganze Zeit anlügen?« Die Wut verhinderte, dass der Schmerz sie niederstreckte. »Ich habe euch vertraut.«
»Wir mussten schwören, dass wir es niemals preisgeben. Niemandem, auch nicht dir gegenüber. Das war eine der Bedingungen für die Adoption.«
»Was für ein Schwachsinn! Das mag damals wichtig gewesen sein, aber doch nicht sechsunddreißig Jahre später. Was hätten sie euch denn tun können?«
»Ich habe überlegt, ob ich es dir erzähle.«
»Wer ist sie?«
»Sie ist tot, Ginger. Sie starb, da warst du sieben.«
»Also dann: Wer war sie?«
Keine Antwort.
»Was passiert, wenn du es mir sagst?«
»Barbara Winston.«
Irgendwie kam Ginger der Name bekannt vor. »Wer?« Da fiel der Groschen. »Die Sängerin?« Nicht irgendeine Sängerin, nein, eine engelsgleiche Schönheit. Sie eroberte ihren Platz im Musikhimmel durch den frühen Tod bei einem Flugzeugabsturz - auf dem Weg zur Oscar-Verleihung, auf der sie singen sollte.
»Genau.«
»Und Jessie Reed ist mein Vater?«
»Ja.«
Langsam drang zu ihr durch, dass ihr Vater noch am Leben war. »Hat er der Adoption zugestimmt? Wollte er mich auch nicht?«
»Wir kennen nur seinen Namen. Er wusste aber, was vor sich ging. Der Anwalt sagte uns, er hätte eine Vereinbarung unterzeichnet, keinen Kontakt zu dir aufzunehmen.«
»Na, dann hat er seine Meinung anscheinend geändert.«
»Was wirst du jetzt machen?«
»Weiß ich nicht.«
»Flieg nicht. Du würdest es bereuen.«
Nach sechsunddreißig Jahren hatte ihre Mutter immer noch nicht begriffen, wie man sie dazu brachte, etwas zu tun. Indem man es ihr verbot.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
... weniger
Autoren-Porträt von Georgia Bockoven
Georgia Bockoven war erfolgreich als freie Journalistin und Fotografin tätig, bevor sie mit dem Schreiben von Romanen begann. Inzwischen haben sich ihre Bücher weltweit über vier Millionen Mal verkauft. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrem Mann in Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Georgia Bockoven
- 448 Seiten, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863654668
- ISBN-13: 9783863654665
Kommentare zu "Ein Haus für vier Schwestern"
0 Gebrauchte Artikel zu „Ein Haus für vier Schwestern“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 19Schreiben Sie einen Kommentar zu "Ein Haus für vier Schwestern".
Kommentar verfassen