Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland
EinJahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland von Alexander Jakowlew
LESEPROBE
DIE SAAT DER KREUZE
Das Schicksal wollte es, dass ich recht spät im Lebenaufgerufen wurde, das Fortschreiten meines Landes zur Freiheit zu unterstützen.Mir war es beschieden, eine überwältigende Last auf mich zu nehmen: den Vorsitzeiner Kommission - anfangs dem Politbüro des Zentralkomitees (ZK) derKommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und später dem Amt desPräsidenten von Russland unterstellt - zur Rehabilitierung der Opferpolitischer Repressionen unserer Vergangenheit. Es ist eine sehr mühsameAufgabe. Wer durch siebzig Jahre der bolschewistischen Herrschaft Stufe umStufe in einen Kerker hinabsteigt, der mit menschlichen Knochen übersät ist undnach getrocknetem Blut stinkt, kann den Glauben an die Menschheit verlieren. Menschenwerden vernichtet, nicht Papiere. Immer mehr blutbefleckte Dokumente stapelnsich auf meinem Schreibtisch. Aus dem Archiv des Präsidenten und der Lubjanka,des KGB Hauptquartiers. Wenn nur die Akten verbrennen und die Männer und Frauenwieder lebendig werden könnten! Doch sie werden nicht zurückkehren, und dieewigen Chroniken endloser Leiden hören nicht auf, ihre unbarmherzigen Flammenzu verbreiten. Nichts, was ich je gelesen habe, kommt dem Grauen nahe, das vondiesen holprigen Schriften der Geheimpolizei und diesen verstohlenen Anzeigen derSpitzel oder »Wohlmeinende« ausgeht. Mittlerweilemüsste ich mich daran gewöhnt ha- ben, doch das ist nicht der Fall. Zu vieleshindert mich daran: Mitleid, Bitterkeit, Empörung, Ernüchterung. Als jungerMensch weiß man nicht viel, man sprudelt über vor romantischen Ideen, dieanderen wirken freundlich und anständig, und man glaubt blind an alles, was dieÄlteren sagen, ohne sich je vorzustellen, dass Menschen lügen, betrügen und heuchelnkönnen. Dann beginnen die Zweifel, die schrecklichen Zweifel. Sie bilden sichganz langsam heraus. Meine sickerten mir recht früh ins Bewusstsein, in denJahren des Zweiten Weltkriegs, den ich noch heute aus ganzer Seele hasse, denner kostete Millionen junger Männer meines Alters das Leben und machte mich zum Behinderten.Ich erinnere mich an die ständigen Forderungen aus dem Hauptquartier nach denNamen derjenigen, die sich in der Schlacht ausgezeichnet hatten, und nach demNamen wenigstens eines Feiglings. Und ich erinnere mich an den Befehlshaber einerMinenwerfereinheit, die in einem Wald im Unterstand neben uns lag; er drängteuns immer wieder, Direkttreffer zu bestätigen - und ließ uns dafür zweiBlechtassen mit reinem Alkohol zukommen. Heldentum und Lügen marschierten imGleichschritt, und wie sehr die Generale uns Kämpfer nach dem Krieg auch mit Lobüberhäuften - für unser Heldentum, unseren Patriotismus und so weiter -, so istdoch meine eigene Erinnerung an den Krieg, besonders nachts, ein Durcheinanderaus Schlamm, Blut, Läusen, hysterischen, trunkenen Angriffen und totenKameraden. In den Nachkriegsjahren verstärkten sich meine Zweifel. Ich erinneremich an den Bahnhof Wspolje in Jaroslawl ein Jahr nach dem Krieg und an dasGerücht, dass ein Zug mit einigen unserer Soldaten aus deutschenKriegsgefangenenlagern durchfahren würde. Ich ging noch an Krücken, doch ichbegleitete die anderen aus der Stadt, um zuzusehen. Eisenbahnwaggons, kleineFenster mit Eisenstangen, schmale, blasse, verstörte Gesichter an den Fenstern.Und auf dem Bahnsteig weinende und jammernde Frauen. Durch die Gitterstäbegeschobene, zusammengerollte Papierfetzen mit den Namen und Adressen vonVerwandten und der Bitte, sie wissen zu lassen, dass der Schreiber am Lebenwar. Und die Frauen rannten zwischen den Waggons hin und her, um nach ihrenMännern, Brüdern und Liebsten oder einfach nach Bekannten und Freunden Ausschauzu halten. Die Posten wagten nicht, die ohrenbetäubende Menge zurückzudrängen, dochfortan fuhren die Züge nachts durch den Bahnhof. Die Menschen auf dem Bahnsteigwarteten und warteten. Sie konnten nicht begreifen, weshalb diese Jungen ausden nationalsozialistischen Lagern wie Verbrecher zum Ural und nach Sibirientransportiert wurden. Ich erinnere mich an die gequälten Gesichter und anFassungslosigkeit, ihre und meine. Und doch schrien sie eine Zeit lang,weinten, bis die Tränen versiegten, und dann war es vorbei. Was uns daranhinderte, die Dinge zu durchschauen, waren unser Jubel über die Niederlage der Nationalsozialistenund unser anhaltender Glaube an Stalins Rechtschaffenheit. Leider sollte eslange dauern, bis die Menschen begriffen, dass jene befreiten Soldaten inKonzentrationslagern und Gefängnissen enden würden, nachdem sie von ihren Henkern,die Angst vor ihnen hatten, mit falschen Versprechungen in die Züge gelocktworden waren. Später, als ich mich mit den Umständen dieses Verbrechens anunseren sowjetischen Kriegsgefangenen beschäftigte, führte ich mir häufig jenegespenstische, unheilverkündende Szene auf dem Bahnhof Wspolje in Jaroslawl vorAugen. Mit dem XX. Parteitag der KPdSU wurde eine Schwelle überschritten. Danachkamen das Hin und Her und die Umschwünge: hoch und nieder, links und rechts,Frost und Tauwetter, Hoffnung und Enttäuschung. Die Perspektiven änderten sichmit jedem Wandel der öffentlichen Meinung. Langsam sah die Nation der Wahrheitins Auge. Jeder, der den Kontakt mit der Realität nicht verloren hatte,begriff, dass das bolschewistische System unaufhaltsam auf den Bankrottzusteuerte und uns nichts anderes als neue Katastrophen bescheren konnte. Vondenen, die Chruschtschows »Geheimrede« auf dem Parteitag hörten, sind nichtmehr viele am Leben. Das Ausmaß und der Inhalt des Berichts - sowie die Gefahr,die er für das Establishment darstellte - hatten zur Folge, dass er in unseremLand erst rund dreißig Jahre später, zur Zeit der Perestroika, veröffentlicht wurde.
© Berlin Verlag
Übersetzung: Bernd Rullkötter
- Autor: Alexander N. Jakowlew
- 2004, 362 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827005477
- ISBN-13: 9783827005472
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