Ein Koffer voller Träume
Roman. Deutsche Erstausgabe
Tess möchte nur eins: ihr ärmliches Leben hinter sich lassen und prachtvolle Kleider nähen. Als sich ihr diese Chance bietet, zögert sie nicht. Kurzentschlossen begleitet sie die berühmte Designerin Lucile Duff Gordon auf der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Koffer voller Träume “
Tess möchte nur eins: ihr ärmliches Leben hinter sich lassen und prachtvolle Kleider nähen. Als sich ihr diese Chance bietet, zögert sie nicht. Kurzentschlossen begleitet sie die berühmte Designerin Lucile Duff Gordon auf der "Titanic" nach New York. Eine verheißungsvolle Zukunft scheint zum Greifen nah - doch dann bricht die Katastrophe herein. Tess überlebt das Schiffsunglück und gelangt nach New York. An Luciles Seite taucht sie ein in die Welt der Reichen und Schönen, kann ihr Talent unter Beweis stellen - und sieht sich plötzlich von zwei Männern umworben. Doch ihr Neuanfang wird von den zurückliegenden Ereignissen und den Nachwehen des Schiffsunglücks überschattet. Ihr Traum von Liebe, Glück und Unabhängigkeit scheint in immer weitere Ferne zu rücken.
Ein Roman über die Macht der Träume und die großen Gefühle einer jungen Liebe vor der schillernden Kulisse New Yorks der 1910er Jahre.
Klappentext zu „Ein Koffer voller Träume “
Tess möchte nur eins: ihr ärmliches Leben hinter sich lassen und prachtvolle Kleider nähen. Als sich ihr diese Chance bietet, zögert sie nicht. Kurzentschlossen begleitet sie die berühmte Designerin Lucile Duff Gordon auf der "Titanic" nach New York. Eine verheißungsvolle Zukunft scheint zum Greifen nah - doch dann bricht die Katastrophe herein ... Tess überlebt das Schiffsunglück und gelangt nach New York. An Luciles Seite taucht sie ein in die Welt der Reichen und Schönen, kann ihr Talent unter Beweis stellen - und sieht sich plötzlich von zwei Männern umworben. Doch ihr Neuanfang wird von den zurückliegenden Ereignissen und den Nachwehen des Schiffsunglücks überschattet. Ihr Traum von Liebe, Glück und Unabhängigkeit scheint in immer weitere Ferne zu rücken ... Ein Roman über die Macht der Träume und die großen Gefühle einer jungen Liebe vor der schillernden Kulisse New Yorks der 1910er Jahre.
Lese-Probe zu „Ein Koffer voller Träume “
Ein Koffer voller Träume von Kate AlcottAus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel und Barbara Steckhan
1
Cherbourg, Frankreich Mittwoch, 10. April 1912
Tess zog die Laken gerade, die sie eben erst von der Leine genommen hatte, und steckte die Ecken fest unter die Matratze. Dann trat sie zurück, um ihre Arbeit zu begutachten. Immer noch ein wenig schief und zerknittert. Die Hausdame würde sicher alles genau kontrollieren, in jede Ecke schauen und schimpfen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.
Tess schaute aus dem Fenster. Sie sah eine Frau vorbeigehen, die einen prächtigen Hut mit einem breiten, tiefgrünen Band trug und einen hellroten Sonnenschirm hin und her schwang. Sie wirkte so lebendig, schien mit sich und der Welt zufrieden. Tess stellte sich vor, sie würde ebenso selbstbewusst die Straßen entlangschlendern, ohne dass ihr jemand vorwarf, es sei ihrer Stellung nicht angemessen. Sie schloss die Augen und konnte fast spüren, wie sich ihre Finger um den glatten, glänzenden Griff des Sonnenschirms schlossen. Wohin diese Frau wohl unterwegs war?
Tess betrachtete das halbfertige Bett. Schluss jetzt mit den Träumereien, es war Zeit.
Sie ging hinaus in die Eingangshalle, hielt aber inne, als sie sich in dem vergoldeten Spiegel an der gegenüberliegenden Wand erblickte. Ihr langes, dunkles Haar hatte sich aus dem nachlässig zusammengesteckten Knoten gelöst. Ihr Kinn war jedoch nach wie vor entschieden nach oben gestreckt, was viele als Zeichen von Aufsässigkeit betrachteten. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass das, was sie sah, irgendwie beschämend war: ein spindeldürres junges Mädchen mit einem schwarzen Kleid und einer weißen Schürze, das einen Haufen schmutziger Laken im Arm hielt und mitten auf dem Kopf eine alberne Haube trug. Ein Abbild reiner Dienstbarkeit. Sie riss sich die Haube vom Kopf und schleuderte
... mehr
sie gegen den Spiegel. Sie war kein Dienstmädchen, sondern Schneiderin, und zwar eine gute. Für diese Arbeit sollte sie auch bezahlt werden. Sie war getäuscht worden, als sie diese Stelle antrat.
Tess warf die schmutzigen Laken in den Wäscheschacht, stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf zu ihrem Zimmer und löste im Gehen ihre Schürze. Es war so weit. Kein Zögern mehr. Auf dem großen Schiff, das heute noch in Richtung New York ablegen sollte, gebe es Arbeit, hatten die Hafenarbeiter gesagt. Sie sah sich prüfend in dem kleinen Zimmer um. Keine Reisetasche - die Herrin würde sich ihr in den Weg stellen, wenn sie entdeckte, dass sie sich aus dem Staub machen wollte. Aber das Bild ihrer Mutter, Geld und ihr Skizzenbuch mit den Entwürfen. Sie tauschte ihre Dienstuniform gegen ihr bestes Kleid und stopfte ein wenig Unterwäsche, Strümpfe und ihr einziges anderes Kleid in einen Segeltuchsack. Ihr Blick fiel auf die halbfertige Abendrobe, die über der Nähmaschine hing, mit den kleinen Schleifen aus weißem Knautschsamt, die sie so sorgfältig auf den aufgebauschten, blauen Seidenrock geheftet hatte. Jemand anderes würde es fertignähen müssen
Sie holte tief Luft, versuchte, die Stimme ihres Vaters beiseitezudrängen, die in ihrem Kopf hallte: Bilde dir bloß nichts ein, schimpfte er immer. Du bist ein Mädchen vom Land, erledige gewissenhaft deine Arbeit, sei bescheiden. Du bekommst einen anständigen Lohn; pass auf, dass du dir durch deinen Trotz nicht das Leben ruinierst.
»Ich werde es nicht ruinieren«, flüsterte sie deutlich hörbar. »Ich werde etwas Besseres daraus machen.«
Doch seine Stimme klang noch immer nach, als sie sich umdrehte und endgültig ihr Zimmer verließ. Zornig raunte er ihr hinterher: »Sieh dich vor, dummes Mädchen.«
Die faulenden Holzplanken unter Luciles Füßen waren wie ein Schwamm. Als sie sich im Hafen von Cherbourg den Weg durch die Menge bahnte, sanken ihre Stiefelabsätze so tief ein, dass sie fürchtete steckenzubleiben. Sie zog die Silberfuchsstola eng um den Hals und genoss das weiche Gefühl des dichten Pelzes auf ihrer Haut. Sie trug den Kopf hoch und zog mit ihrer unverwechselbaren Erscheinung und ihrem prächtigen roten Haar die Blicke der Menge auf sich.
Sie sah ihrer Schwester entgegen, die mit raschen Schritten auf sie zukam, während sie eine Melodie vor sich hin summte und einen roten Sonnenschirm über ihrem Kopf kreisen ließ. »Anscheinend gefällt es dir, die Frohnatur zu spielen«, sagte Lucy.
»Ich versuche nur, liebenswürdig zu sein«, murmelte ihre Schwester.
»Ich will gar nicht mit dir konkurrieren. Die Aufmerksamkeit gehört nur dir«, erwiderte Lucile so schnippisch und arrogant wie nur selten.
»Hör auf, Lucy. Wenn es darum geht, können wir beide nicht klagen. In letzter Zeit bist du ziemlich unausstehlich.«
»Wenn du in ein paar Wochen eine Frühjahrskollektion in New York vorstellen müsstest, wärst du auch unausstehlich. Dieses Gerede, dass die Frauen ihre Röcke hochziehen und ihre Brüste flachdrücken, macht mir Sorgen. Du dagegen brauchst nur einen neuen Roman über sie zu schreiben.«
Die beiden schoben sich an den Dutzenden Reisetaschen und Koffern vorbei, deren Bronzebeschläge im schwindenden Licht des Tages glänzten. Ihre feinen Wollröcke waren von all dem feuchten Dreck am Saum schon ganz schwarz.
»Das stimmt, mein Handwerkszeug ist leichter zu transportieren als deins«, sagte Elinor leichthin.
»Allerdings. Ich bin zu dieser Reise gezwungen. Niemand ist kompetent genug, die Verantwortung für die Präsentation zu übernehmen. Ich muss mich selbst um alles kümmern. Sei also bitte nicht so albern.«
Elinor klappte resolut den Sonnenschirm zu und sah ihre Schwester stirnrunzelnd an. »Hast du denn überhaupt keinen Humor, Lucy? Ich bin nur gekommen, um dir eine gute Reise zu wünschen und dir nachzuwinken, wenn das Schiff ablegt. Soll ich wieder gehen?«
Lucile seufzte und holte tief Luft. »Nein, bitte nicht. Ich wünschte mir nur, du würdest mitfahren. Ich werde dich vermissen.«
»Nichts würde ich lieber tun, aber mein Lektor möchte die Korrekturfahnen bis zum Wochenende zurückhaben.« Elinors Stimme wurde wieder heiterer. »Außerdem hast du ja Cosmo - er ist so ein Schatz, auch wenn er sich so gar nicht für Literatur begeistern kann.«
»Ein kleiner Fehler.«
»Er ist herzig, und das schönste Geschenk, das er dir gemacht hat, ist der Titel. War das jetzt frech? Aber er hat wirklich nichts für Literatur übrig.« Elinor seufzte. »Und manchmal ist er langweilig.«
»Unsinn.«
»Das weißt du genauso gut wie ich. Wo ist er überhaupt?«
Lucile blickte in die Menge und hielt Ausschau nach der langen, hageren Gestalt von Sir Cosmo Duff Gordon. »Diese Verzögerung ist unerträglich. Wenn jemand dafür sorgen kann, dass alles glatt und pünktlich abläuft, dann Cosmo.«
»Natürlich. Dafür ist er ja da. «
Lucile sah Elinor scharf an. Die aber blickte mit unschuldigem Gesichtsausdruck in eine andere Richtung.
Oben auf dem Hügel, in einer der verstreuten Backsteinvillen auf den Klippen der normannischen Küste, fern vom Schiffsanleger, begab sich Tess hinunter zum Salon. Sie wurde von ihrer Herrin erwartet, einer prüden Engländerin, deren dünne Lippen aussahen, als ob sie zusammengenäht wären.
»Ich möchte bitte meinen Lohn«, sagte Tess, während sie den Segeltuchsack in den Falten ihres Rocks verbarg. Sie konnte | 11 den Umschlag sehen, der auf dem Ecktisch neben der Tür für
sie bereitlag, und bewegte sich langsam darauf zu.
»Sie haben mein Abendkleid noch nicht fertiggenäht, Tess«, sagte die Frau noch keifender als sonst. »Und mein Sohn hat heute Morgen im Flurschrank kaum noch ein Handtuch vorgefunden.«
»Inzwischen gibt es genügend.« Sie würde nicht wieder nach oben gehen. Nie wieder wollte sie in diesen Wäscheschrank gestoßen werden und die gierigen Spinnenfinger des halbwüchsigen Sohns abwehren. Das dort war ihr Umschlag; ihr Name stand darauf, und sie würde nicht dastehen und sich wie üblich Vorhaltungen machen lassen, bis er ihr ausgehändigt wurde. Sie trat näher an den Tisch.
»Das haben Sie schon einmal gesagt. Ich werde hinaufgehen und nachsehen.« Als sie sah, dass Tess nach dem Umschlag griff, hielt die Frau inne. »Tess, ich habe Ihnen das Geld noch nicht gegeben!«
»Vielleicht nicht, aber ich habe es mir verdient.« Tess bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Unhöflichkeit ist kein rühmlicher Zug, Tess. Sie sind in letzter Zeit so verschlossen. Wenn Sie jetzt nicht abwarten, bis ich Ihnen den Umschlag gebe, sind wir geschiedene Leute.«
Tess atmete tief ein, griff sich mit einem leichten Schwindelgefühl den Umschlag und drückte ihn an ihren Körper, als ob er ihr jeden Augenblick aus der Hand gerissen werden könnte.
»Dann ist es eben so!« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, öffnete sie die Haustür mit den protzigen Schnitzereien, die sie nun nie mehr würde polieren müssen, und machte sich auf den Weg zu den Hafenanlagen. Nachdem sie so lange davon geträumt und darüber gebrütet hatte, war die Zeit endlich gekommen. Der Kai war glitschig von den vielen Algen. Ihr Herz klopfte, als sie sich ihren Weg durch das hektische Chaos bahnte. Sie atmete tief ein, und scharfe, salzige Meeresluft füllte ihre Lunge. Wo waren die Schilder mit den Stellenangeboten? Tess wandte sich an einen Mann, der eine Uniform mit großen Messingknöpfen trug, und fragte ihn erst in stockendem Französisch, dann in raschem Englisch, wer zuständig sei für das Anheuern von Reinigungs- und Küchenpersonal auf dem großen neuen Schiff.
»Da kommen Sie zu spät, meine Liebe, das Dienstpersonal ist bereits komplett. In Kürze gehen die Passagiere an Bord. Pech für Sie, tut mir leid.« Dann drehte er sich um.
Mochte sie auch noch so strahlend lächeln, es sah ganz so aus, als würde ihr Plan scheitern. Idiotin - sie hätte früher herkommen müssen. Was sollte sie jetzt tun? Sie verdrängte das hohle Gefühl, das sich in ihr breitzumachen drohte, weil sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte, und dachte angestrengt nach. Familien, Kinder hüten. Sie wäre ein gutes Kindermädchen. Zählten siebenjüngere Brüder und Schwestern etwa nicht als ausreichende Erfahrung? Sie war reisefertig und musste nur die richtige Person finden und das Richtige sagen, dann würde sie auch von hier wegkommen. Nichts würde sie daran hindern. Es musste ihr einfach gelingen.
Doch niemand schenkte ihr Aufmerksamkeit. Ein älteres englisches Ehepaar schreckte entsetzt zurück, als sie fragte, ob es eine Reisebegleitung wünsche. Und als sie auf eine Familie mit Kindern zuging und ihre Dienste anbot, sahen die Leute sie misstrauisch an, schüttelten höflich den Kopf und wandten sich ab. Was hatte sie erwartet? Bestimmt wirkte sie nicht sonderlich vertrauenerweckend mit ihrem wirren Haar und ihrer ärmlichen Kleidung.
»Lucy, schau mal, das Mädchen dort drüben.« Elinor deutete
mit ihrer zarten, gepflegten Hand auf die verzweifelte Tess.
»Meine Güte, was für eine Schönheit. Hinreißend, diese großen Augen. Sieh mal, sie geht herum und spricht Leute an. Wahrscheinlich versucht sie, aufs Schiff zu kommen. Glaubst du, dass
sie vor etwas davonläuft? Vor der Polizei vielleicht? Vor einem Mann?«
»Das interessiert mich nicht, aber ich bin mir sicher, dass du eine gute Geschichte daraus stricken wirst«, sagte Lucy und winkte Cosmo, der gerade auf sie zukam. Wie gewöhnlich wirkte er ein wenig geistesabwesend. Kühler Blick, zurückhaltendes Auftreten, stets mit seiner Arbeit beschäftigt. Ihm auf den Fersen folgte ein scheu dreinblickender Bote.
»Lucile, wir haben ein Problem ... «, hob Cosmo an.
»Hab ich's doch geahnt!« Luciles Züge wurden hart. »Es geht um Hetty, nicht wahr?«
»Sie sagt, dass sie nicht mitkommen kann. Ihre Mutter ist krank«, erklärte der Bote. Fast ein wenig ehrerbietig und unsicher machte er eine leichte Verbeugung - zu Recht, denn Lucile war wütend.
»Sagen Sie dem Mädchen, sie kann nicht einfach kurz vor der Abfahrt zurücktreten. Was denkt sie sich dabei? Wenn sie nicht mit uns an Bord geht, ist sie entlassen. Haben Sie ihr das gesagt?« Lucile funkelte den Mann an.
»Das habe ich, Madame«, antwortete er leise.
Tess hörte die lauten Stimmen, und beim Anblick der beiden Frauen blieb sie stehen. War das möglich? Sie erkannte den großen Hut mit dem herrlichen grünen Band wieder, den sie vom Fenster aus gesehen hatte. Die Frau, die ihn trug, stand vor ihr und klopfte mit ihrem roten Sonnenschirm auf den Boden.
Eine scharfe Stimme riss Tess plötzlich aus ihren Gedanken.
»Eine miserable Ausrede!«, zischte die Frau neben der Dame mit Hut.
Irgendwer war nicht zur Reise erschienen, wohl ein Dienstmädchen, und die kleine Person mit dem leuchtend roten Haar und dem purpurroten Lippenstift war rasend vor Wut. Wie großartig sie aussah. Ihr markantes, unbewegliches Gesicht verriet Entschlossenheit, und ihre weit auseinanderliegenden Augen sahen so aus, als könnte ihr Blick von einem Moment auf den nächsten von sanftmütiger Güte in unerbittliche Härte umschlagen. Gegenwärtig war in ihrem Gesicht nur Härte zu lesen.
»Wer ist das?«, fragte Tess einen jungen Mann, der bei der Gruppe stand. Ihre Stimme zitterte.
»Das wissen Sie nicht?«
Als sie wieder hinsah, fiel ihr auf, dass die Passanten ihre Schritte verlangsamten, flüsterten und der Frau bewundernde Blicke zuwarfen. Sie kam ihr plötzlich bekannt vor.
»Du lieber Himmel!«, stieß sie hervor. »Das ist ja Lucile Duff Gordon!«
»Die Grande Dame der Couture. Die andere ist ihre Schwester Elinor Glyn. Sie lebt in Hollywood und schreibt Romane.«
Tess hörte ihm kaum zu. Diese Person, die vor Wut aus der Haut fuhr, war die berühmteste Modeschöpferin der Welt. Ihre atemberaubenden Kleider hatte Tess in Zeitschriften gesehen, und jetzt stand sie nur ein paar Meter von ihr entfernt! Das war ihre große Chance.
»Lady Duff Gordon, ich kann es gar nicht fassen, Sie hier zu sehen«, rief sie aus und stürmte auf sie zu. »Wie ich Sie bewundere! Sie sind eine wahre Künstlerin. Ich habe Bilder von Ihren Kleidern gesehen, sie sind traumhaft schön.« Sie stammelte, doch das kümmerte sie nicht. Jetzt kam es nur darauf an, Luciles Aufmerksamkeit zu erregen.
Aber die Modeschöpferin beachtete sie nicht.
»Ich würde gern für Sie arbeiten«, flehte sie. »Ich kenne mich aus mit Stoffen. Ich bin Schneiderin, und ich bin sehr gut. Ich könnte Ihnen eine große Hilfe sein.« Sie dachte fieberhaft nach, was sie sonst noch vorbringen könnte. »Knopflöcher, darin bin ich geübt ... alles, was Sie brauchen. Bitte ... «
»Habe ich es nicht gesagt: Sie ist verzweifelt«, murmelte Elinor kichernd und rückte ihren aufwändig gearbeiteten, modernen Hut zurecht. Lucile wandte sich um. »Wissen Sie überhaupt, um was für | 15 eine Stellung es sich handelt?«, fragte sie.
Tess zögerte.
»Es geht um mein persönliches Dienstmädchen. Sind Sie immer noch interessiert?«
»Sicher.« Alles, wenn sie nur auf das Schiff käme. Welch unglaubliche Chance, wenn sie für Madame Lucile arbeiten könnte. »Wo arbeiten Sie im Moment? Als was?«
»In ... in einem Haus in Cherbourg. Und ich schneidere Kleider. Meine Kunden sind sehr zufrieden.«
»Eine Art Dienstmädchen also ... «, murmelte Elinor. Lucile überging sie. »Wie heißen Sie?«
»Tess Collins.«
»Tessie. Ich verstehe.«
»Nein, Tess.«
»Wie Sie wollen. Können Sie lesen und schreiben?« »Aber natürlich!« Tess war empört.
Einen kurzen Augenblick flackerte Bewunderung in Lady Duff Gordons Blick auf. »Referenzen?«
»Ich lasse Sie Ihnen per Post zukommen. Was immer Sie benötigen.«
»Mitten auf dem Atlantik?«
»Es gibt doch Funktelegramme.« Tess hatte davon gelesen und hoffte, dass es die richtige Antwort war.
Plötzlich war Lucile des Hin und Hers überdrüssig. »Tut mir leid, ich weiß nichts über Sie«, sagte sie. »Es geht nicht.« Sie wandte sich ab und begann ein Gespräch mit Cosmo.
In ihrer Verzweiflung kam Tess eine Idee. »Schauen Sie, bitte schauen Sie«, brachte sie stotternd hervor und löste den Kragen von ihrem Kleid. »Den hier habe ich genäht. Ich habe versucht, den Kragen eines Ihrer Modelle nachzuahmen, das ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe. Es ist zwar bloß eine Kopie, aber ... «
»Nicht schlecht«, murmelte Elinor mit einem Blick auf den Kragen. Er war geschickt gemacht - aus frischem, weißem Leinen und offen oder geschlossen zu tragen. Das erforderte sorgfältiges Arbeiten. »Sehr kompliziert. Ungewöhnlich für ein Dienstmädchen.«
Lucile wandte sich wieder um, dann betastete sie den Kragen, den Tess ihr entgegenhielt. Einer ihrer besten Entwürfe. Das Mädchen hatte ihn in der richtigen Proportion zu ihrem Kleid zugeschnitten und mit der Hand genäht, ohne eine einzige Falte im Stoff. »Sie sagen, Sie haben ihn selbst gemacht?«, fragte sie.
»Ja, das habe ich. «
»Wer hat Ihnen das Nähen beigebracht?«
»Meine Mutter. Sie ist sehr begabt.« Tess richtete sich stolz auf. »Man kennt mich in der ganzen Gegend. Und ich schneide selbst zu.«
»Alle Welt schneidet zu, meine Gute. Dazu braucht man nur eine Schere. Sie meinen wohl, Sie entwerfen Ihre eigenen Schnitte.« Ohne um Erlaubnis zu bitten, zog Lucile den Ärmel von Tess' Kleid hoch und stellte fest, dass er sauber eingenäht war.
»Ja. Ich entwerfe, und ich nähe. Ich mache alles selbst.« »Werden Sie dafür von Ihrer Herrin bezahlt?«
»Nicht fürs Nähen. Aber ich bin gut, und ich hätte es verdient, dafür bezahlt zu werden.« Womöglich klang das überheblich. Tess holte tief Luft und setzte noch einmal an: »Ich möchte für Sie arbeiten. Sie sind die beste Modeschöpferin der Welt, und ich kann mein Glück nicht fassen, Ihnen begegnet zu sein. Ihre Kleider sind eine Inspiration, ich kenne nichts Vergleichbares. Bitte geben Sie mir eine Chance. Sie werden es nicht bereuen.«
Lucile starrte das Mädchen mit undurchdringlicher Miene an. Doch in ihren Augen tat sich etwas. Ihre Entourage war in Schweigen verfallen und wartete gespannt, wie es weitergehen würde.
©Insel Verlag Berlin 2012
Tess warf die schmutzigen Laken in den Wäscheschacht, stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf zu ihrem Zimmer und löste im Gehen ihre Schürze. Es war so weit. Kein Zögern mehr. Auf dem großen Schiff, das heute noch in Richtung New York ablegen sollte, gebe es Arbeit, hatten die Hafenarbeiter gesagt. Sie sah sich prüfend in dem kleinen Zimmer um. Keine Reisetasche - die Herrin würde sich ihr in den Weg stellen, wenn sie entdeckte, dass sie sich aus dem Staub machen wollte. Aber das Bild ihrer Mutter, Geld und ihr Skizzenbuch mit den Entwürfen. Sie tauschte ihre Dienstuniform gegen ihr bestes Kleid und stopfte ein wenig Unterwäsche, Strümpfe und ihr einziges anderes Kleid in einen Segeltuchsack. Ihr Blick fiel auf die halbfertige Abendrobe, die über der Nähmaschine hing, mit den kleinen Schleifen aus weißem Knautschsamt, die sie so sorgfältig auf den aufgebauschten, blauen Seidenrock geheftet hatte. Jemand anderes würde es fertignähen müssen
Sie holte tief Luft, versuchte, die Stimme ihres Vaters beiseitezudrängen, die in ihrem Kopf hallte: Bilde dir bloß nichts ein, schimpfte er immer. Du bist ein Mädchen vom Land, erledige gewissenhaft deine Arbeit, sei bescheiden. Du bekommst einen anständigen Lohn; pass auf, dass du dir durch deinen Trotz nicht das Leben ruinierst.
»Ich werde es nicht ruinieren«, flüsterte sie deutlich hörbar. »Ich werde etwas Besseres daraus machen.«
Doch seine Stimme klang noch immer nach, als sie sich umdrehte und endgültig ihr Zimmer verließ. Zornig raunte er ihr hinterher: »Sieh dich vor, dummes Mädchen.«
Die faulenden Holzplanken unter Luciles Füßen waren wie ein Schwamm. Als sie sich im Hafen von Cherbourg den Weg durch die Menge bahnte, sanken ihre Stiefelabsätze so tief ein, dass sie fürchtete steckenzubleiben. Sie zog die Silberfuchsstola eng um den Hals und genoss das weiche Gefühl des dichten Pelzes auf ihrer Haut. Sie trug den Kopf hoch und zog mit ihrer unverwechselbaren Erscheinung und ihrem prächtigen roten Haar die Blicke der Menge auf sich.
Sie sah ihrer Schwester entgegen, die mit raschen Schritten auf sie zukam, während sie eine Melodie vor sich hin summte und einen roten Sonnenschirm über ihrem Kopf kreisen ließ. »Anscheinend gefällt es dir, die Frohnatur zu spielen«, sagte Lucy.
»Ich versuche nur, liebenswürdig zu sein«, murmelte ihre Schwester.
»Ich will gar nicht mit dir konkurrieren. Die Aufmerksamkeit gehört nur dir«, erwiderte Lucile so schnippisch und arrogant wie nur selten.
»Hör auf, Lucy. Wenn es darum geht, können wir beide nicht klagen. In letzter Zeit bist du ziemlich unausstehlich.«
»Wenn du in ein paar Wochen eine Frühjahrskollektion in New York vorstellen müsstest, wärst du auch unausstehlich. Dieses Gerede, dass die Frauen ihre Röcke hochziehen und ihre Brüste flachdrücken, macht mir Sorgen. Du dagegen brauchst nur einen neuen Roman über sie zu schreiben.«
Die beiden schoben sich an den Dutzenden Reisetaschen und Koffern vorbei, deren Bronzebeschläge im schwindenden Licht des Tages glänzten. Ihre feinen Wollröcke waren von all dem feuchten Dreck am Saum schon ganz schwarz.
»Das stimmt, mein Handwerkszeug ist leichter zu transportieren als deins«, sagte Elinor leichthin.
»Allerdings. Ich bin zu dieser Reise gezwungen. Niemand ist kompetent genug, die Verantwortung für die Präsentation zu übernehmen. Ich muss mich selbst um alles kümmern. Sei also bitte nicht so albern.«
Elinor klappte resolut den Sonnenschirm zu und sah ihre Schwester stirnrunzelnd an. »Hast du denn überhaupt keinen Humor, Lucy? Ich bin nur gekommen, um dir eine gute Reise zu wünschen und dir nachzuwinken, wenn das Schiff ablegt. Soll ich wieder gehen?«
Lucile seufzte und holte tief Luft. »Nein, bitte nicht. Ich wünschte mir nur, du würdest mitfahren. Ich werde dich vermissen.«
»Nichts würde ich lieber tun, aber mein Lektor möchte die Korrekturfahnen bis zum Wochenende zurückhaben.« Elinors Stimme wurde wieder heiterer. »Außerdem hast du ja Cosmo - er ist so ein Schatz, auch wenn er sich so gar nicht für Literatur begeistern kann.«
»Ein kleiner Fehler.«
»Er ist herzig, und das schönste Geschenk, das er dir gemacht hat, ist der Titel. War das jetzt frech? Aber er hat wirklich nichts für Literatur übrig.« Elinor seufzte. »Und manchmal ist er langweilig.«
»Unsinn.«
»Das weißt du genauso gut wie ich. Wo ist er überhaupt?«
Lucile blickte in die Menge und hielt Ausschau nach der langen, hageren Gestalt von Sir Cosmo Duff Gordon. »Diese Verzögerung ist unerträglich. Wenn jemand dafür sorgen kann, dass alles glatt und pünktlich abläuft, dann Cosmo.«
»Natürlich. Dafür ist er ja da. «
Lucile sah Elinor scharf an. Die aber blickte mit unschuldigem Gesichtsausdruck in eine andere Richtung.
Oben auf dem Hügel, in einer der verstreuten Backsteinvillen auf den Klippen der normannischen Küste, fern vom Schiffsanleger, begab sich Tess hinunter zum Salon. Sie wurde von ihrer Herrin erwartet, einer prüden Engländerin, deren dünne Lippen aussahen, als ob sie zusammengenäht wären.
»Ich möchte bitte meinen Lohn«, sagte Tess, während sie den Segeltuchsack in den Falten ihres Rocks verbarg. Sie konnte | 11 den Umschlag sehen, der auf dem Ecktisch neben der Tür für
sie bereitlag, und bewegte sich langsam darauf zu.
»Sie haben mein Abendkleid noch nicht fertiggenäht, Tess«, sagte die Frau noch keifender als sonst. »Und mein Sohn hat heute Morgen im Flurschrank kaum noch ein Handtuch vorgefunden.«
»Inzwischen gibt es genügend.« Sie würde nicht wieder nach oben gehen. Nie wieder wollte sie in diesen Wäscheschrank gestoßen werden und die gierigen Spinnenfinger des halbwüchsigen Sohns abwehren. Das dort war ihr Umschlag; ihr Name stand darauf, und sie würde nicht dastehen und sich wie üblich Vorhaltungen machen lassen, bis er ihr ausgehändigt wurde. Sie trat näher an den Tisch.
»Das haben Sie schon einmal gesagt. Ich werde hinaufgehen und nachsehen.« Als sie sah, dass Tess nach dem Umschlag griff, hielt die Frau inne. »Tess, ich habe Ihnen das Geld noch nicht gegeben!«
»Vielleicht nicht, aber ich habe es mir verdient.« Tess bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Unhöflichkeit ist kein rühmlicher Zug, Tess. Sie sind in letzter Zeit so verschlossen. Wenn Sie jetzt nicht abwarten, bis ich Ihnen den Umschlag gebe, sind wir geschiedene Leute.«
Tess atmete tief ein, griff sich mit einem leichten Schwindelgefühl den Umschlag und drückte ihn an ihren Körper, als ob er ihr jeden Augenblick aus der Hand gerissen werden könnte.
»Dann ist es eben so!« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, öffnete sie die Haustür mit den protzigen Schnitzereien, die sie nun nie mehr würde polieren müssen, und machte sich auf den Weg zu den Hafenanlagen. Nachdem sie so lange davon geträumt und darüber gebrütet hatte, war die Zeit endlich gekommen. Der Kai war glitschig von den vielen Algen. Ihr Herz klopfte, als sie sich ihren Weg durch das hektische Chaos bahnte. Sie atmete tief ein, und scharfe, salzige Meeresluft füllte ihre Lunge. Wo waren die Schilder mit den Stellenangeboten? Tess wandte sich an einen Mann, der eine Uniform mit großen Messingknöpfen trug, und fragte ihn erst in stockendem Französisch, dann in raschem Englisch, wer zuständig sei für das Anheuern von Reinigungs- und Küchenpersonal auf dem großen neuen Schiff.
»Da kommen Sie zu spät, meine Liebe, das Dienstpersonal ist bereits komplett. In Kürze gehen die Passagiere an Bord. Pech für Sie, tut mir leid.« Dann drehte er sich um.
Mochte sie auch noch so strahlend lächeln, es sah ganz so aus, als würde ihr Plan scheitern. Idiotin - sie hätte früher herkommen müssen. Was sollte sie jetzt tun? Sie verdrängte das hohle Gefühl, das sich in ihr breitzumachen drohte, weil sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte, und dachte angestrengt nach. Familien, Kinder hüten. Sie wäre ein gutes Kindermädchen. Zählten siebenjüngere Brüder und Schwestern etwa nicht als ausreichende Erfahrung? Sie war reisefertig und musste nur die richtige Person finden und das Richtige sagen, dann würde sie auch von hier wegkommen. Nichts würde sie daran hindern. Es musste ihr einfach gelingen.
Doch niemand schenkte ihr Aufmerksamkeit. Ein älteres englisches Ehepaar schreckte entsetzt zurück, als sie fragte, ob es eine Reisebegleitung wünsche. Und als sie auf eine Familie mit Kindern zuging und ihre Dienste anbot, sahen die Leute sie misstrauisch an, schüttelten höflich den Kopf und wandten sich ab. Was hatte sie erwartet? Bestimmt wirkte sie nicht sonderlich vertrauenerweckend mit ihrem wirren Haar und ihrer ärmlichen Kleidung.
»Lucy, schau mal, das Mädchen dort drüben.« Elinor deutete
mit ihrer zarten, gepflegten Hand auf die verzweifelte Tess.
»Meine Güte, was für eine Schönheit. Hinreißend, diese großen Augen. Sieh mal, sie geht herum und spricht Leute an. Wahrscheinlich versucht sie, aufs Schiff zu kommen. Glaubst du, dass
sie vor etwas davonläuft? Vor der Polizei vielleicht? Vor einem Mann?«
»Das interessiert mich nicht, aber ich bin mir sicher, dass du eine gute Geschichte daraus stricken wirst«, sagte Lucy und winkte Cosmo, der gerade auf sie zukam. Wie gewöhnlich wirkte er ein wenig geistesabwesend. Kühler Blick, zurückhaltendes Auftreten, stets mit seiner Arbeit beschäftigt. Ihm auf den Fersen folgte ein scheu dreinblickender Bote.
»Lucile, wir haben ein Problem ... «, hob Cosmo an.
»Hab ich's doch geahnt!« Luciles Züge wurden hart. »Es geht um Hetty, nicht wahr?«
»Sie sagt, dass sie nicht mitkommen kann. Ihre Mutter ist krank«, erklärte der Bote. Fast ein wenig ehrerbietig und unsicher machte er eine leichte Verbeugung - zu Recht, denn Lucile war wütend.
»Sagen Sie dem Mädchen, sie kann nicht einfach kurz vor der Abfahrt zurücktreten. Was denkt sie sich dabei? Wenn sie nicht mit uns an Bord geht, ist sie entlassen. Haben Sie ihr das gesagt?« Lucile funkelte den Mann an.
»Das habe ich, Madame«, antwortete er leise.
Tess hörte die lauten Stimmen, und beim Anblick der beiden Frauen blieb sie stehen. War das möglich? Sie erkannte den großen Hut mit dem herrlichen grünen Band wieder, den sie vom Fenster aus gesehen hatte. Die Frau, die ihn trug, stand vor ihr und klopfte mit ihrem roten Sonnenschirm auf den Boden.
Eine scharfe Stimme riss Tess plötzlich aus ihren Gedanken.
»Eine miserable Ausrede!«, zischte die Frau neben der Dame mit Hut.
Irgendwer war nicht zur Reise erschienen, wohl ein Dienstmädchen, und die kleine Person mit dem leuchtend roten Haar und dem purpurroten Lippenstift war rasend vor Wut. Wie großartig sie aussah. Ihr markantes, unbewegliches Gesicht verriet Entschlossenheit, und ihre weit auseinanderliegenden Augen sahen so aus, als könnte ihr Blick von einem Moment auf den nächsten von sanftmütiger Güte in unerbittliche Härte umschlagen. Gegenwärtig war in ihrem Gesicht nur Härte zu lesen.
»Wer ist das?«, fragte Tess einen jungen Mann, der bei der Gruppe stand. Ihre Stimme zitterte.
»Das wissen Sie nicht?«
Als sie wieder hinsah, fiel ihr auf, dass die Passanten ihre Schritte verlangsamten, flüsterten und der Frau bewundernde Blicke zuwarfen. Sie kam ihr plötzlich bekannt vor.
»Du lieber Himmel!«, stieß sie hervor. »Das ist ja Lucile Duff Gordon!«
»Die Grande Dame der Couture. Die andere ist ihre Schwester Elinor Glyn. Sie lebt in Hollywood und schreibt Romane.«
Tess hörte ihm kaum zu. Diese Person, die vor Wut aus der Haut fuhr, war die berühmteste Modeschöpferin der Welt. Ihre atemberaubenden Kleider hatte Tess in Zeitschriften gesehen, und jetzt stand sie nur ein paar Meter von ihr entfernt! Das war ihre große Chance.
»Lady Duff Gordon, ich kann es gar nicht fassen, Sie hier zu sehen«, rief sie aus und stürmte auf sie zu. »Wie ich Sie bewundere! Sie sind eine wahre Künstlerin. Ich habe Bilder von Ihren Kleidern gesehen, sie sind traumhaft schön.« Sie stammelte, doch das kümmerte sie nicht. Jetzt kam es nur darauf an, Luciles Aufmerksamkeit zu erregen.
Aber die Modeschöpferin beachtete sie nicht.
»Ich würde gern für Sie arbeiten«, flehte sie. »Ich kenne mich aus mit Stoffen. Ich bin Schneiderin, und ich bin sehr gut. Ich könnte Ihnen eine große Hilfe sein.« Sie dachte fieberhaft nach, was sie sonst noch vorbringen könnte. »Knopflöcher, darin bin ich geübt ... alles, was Sie brauchen. Bitte ... «
»Habe ich es nicht gesagt: Sie ist verzweifelt«, murmelte Elinor kichernd und rückte ihren aufwändig gearbeiteten, modernen Hut zurecht. Lucile wandte sich um. »Wissen Sie überhaupt, um was für | 15 eine Stellung es sich handelt?«, fragte sie.
Tess zögerte.
»Es geht um mein persönliches Dienstmädchen. Sind Sie immer noch interessiert?«
»Sicher.« Alles, wenn sie nur auf das Schiff käme. Welch unglaubliche Chance, wenn sie für Madame Lucile arbeiten könnte. »Wo arbeiten Sie im Moment? Als was?«
»In ... in einem Haus in Cherbourg. Und ich schneidere Kleider. Meine Kunden sind sehr zufrieden.«
»Eine Art Dienstmädchen also ... «, murmelte Elinor. Lucile überging sie. »Wie heißen Sie?«
»Tess Collins.«
»Tessie. Ich verstehe.«
»Nein, Tess.«
»Wie Sie wollen. Können Sie lesen und schreiben?« »Aber natürlich!« Tess war empört.
Einen kurzen Augenblick flackerte Bewunderung in Lady Duff Gordons Blick auf. »Referenzen?«
»Ich lasse Sie Ihnen per Post zukommen. Was immer Sie benötigen.«
»Mitten auf dem Atlantik?«
»Es gibt doch Funktelegramme.« Tess hatte davon gelesen und hoffte, dass es die richtige Antwort war.
Plötzlich war Lucile des Hin und Hers überdrüssig. »Tut mir leid, ich weiß nichts über Sie«, sagte sie. »Es geht nicht.« Sie wandte sich ab und begann ein Gespräch mit Cosmo.
In ihrer Verzweiflung kam Tess eine Idee. »Schauen Sie, bitte schauen Sie«, brachte sie stotternd hervor und löste den Kragen von ihrem Kleid. »Den hier habe ich genäht. Ich habe versucht, den Kragen eines Ihrer Modelle nachzuahmen, das ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe. Es ist zwar bloß eine Kopie, aber ... «
»Nicht schlecht«, murmelte Elinor mit einem Blick auf den Kragen. Er war geschickt gemacht - aus frischem, weißem Leinen und offen oder geschlossen zu tragen. Das erforderte sorgfältiges Arbeiten. »Sehr kompliziert. Ungewöhnlich für ein Dienstmädchen.«
Lucile wandte sich wieder um, dann betastete sie den Kragen, den Tess ihr entgegenhielt. Einer ihrer besten Entwürfe. Das Mädchen hatte ihn in der richtigen Proportion zu ihrem Kleid zugeschnitten und mit der Hand genäht, ohne eine einzige Falte im Stoff. »Sie sagen, Sie haben ihn selbst gemacht?«, fragte sie.
»Ja, das habe ich. «
»Wer hat Ihnen das Nähen beigebracht?«
»Meine Mutter. Sie ist sehr begabt.« Tess richtete sich stolz auf. »Man kennt mich in der ganzen Gegend. Und ich schneide selbst zu.«
»Alle Welt schneidet zu, meine Gute. Dazu braucht man nur eine Schere. Sie meinen wohl, Sie entwerfen Ihre eigenen Schnitte.« Ohne um Erlaubnis zu bitten, zog Lucile den Ärmel von Tess' Kleid hoch und stellte fest, dass er sauber eingenäht war.
»Ja. Ich entwerfe, und ich nähe. Ich mache alles selbst.« »Werden Sie dafür von Ihrer Herrin bezahlt?«
»Nicht fürs Nähen. Aber ich bin gut, und ich hätte es verdient, dafür bezahlt zu werden.« Womöglich klang das überheblich. Tess holte tief Luft und setzte noch einmal an: »Ich möchte für Sie arbeiten. Sie sind die beste Modeschöpferin der Welt, und ich kann mein Glück nicht fassen, Ihnen begegnet zu sein. Ihre Kleider sind eine Inspiration, ich kenne nichts Vergleichbares. Bitte geben Sie mir eine Chance. Sie werden es nicht bereuen.«
Lucile starrte das Mädchen mit undurchdringlicher Miene an. Doch in ihren Augen tat sich etwas. Ihre Entourage war in Schweigen verfallen und wartete gespannt, wie es weitergehen würde.
©Insel Verlag Berlin 2012
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Autoren-Porträt von Kate Alcott
Alcott, KateKate Alcott ist das Pseudonym der Autorin und Journalistin Patricia O_Brien. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht, außerdem arbeitete sie als Redakteurin und Kolumnistin und berichtete über das politische Geschehen in Washington, D.C. Ihr Roman Ein Koffer voller Träume (OT: The Dressmaker) erschien 2012 in den USA und schaffte es in kurzer Zeit auf die New York Times-Bestsellerliste. Sie lebt in Washington, D.C.Gockel, Gabriele
Gabriele Gockel, geboren 1954 in Dortmund, studierte Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie an der LMU München. Sie ist Gründungsmitglied des Kollektivs Druck-Reif und lebt als freie Übersetzerin in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Alcott
- 2012, 392 Seiten, Maße: 13,1 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Gockel, Gabriele; Steckhan, Barbara
- Übersetzer: Gabriele Gockel, Barbara Steckhan
- Verlag: INSEL VERLAG
- ISBN-10: 345835882X
- ISBN-13: 9783458358824
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
Rezension zu „Ein Koffer voller Träume “
" Ein Koffer voller Träume ist großartiges Lesevergnügen, angereichert mit all dem Glitzer und Glamour dieser Zeit, berstend vor bloßgelegten Emotionen und angefüllt mit all den widersprüchlichen Gefühlen einer jungen Liebe."Examiner
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