Ein Pakt mit dem Teufel / Inspector Monk Bd.18
Roman. Deutsche Erstausgabe
London 1867. Inspector William Monk soll die Ermittlungen in einem schockierenden Mordfall übernehmen: im Wasser der Themse wurde eine entstellte Frauenleiche gefunden. Die Tote: Zenia Gadney, eine Gelegenheitsprostituierte, die...
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Produktinformationen zu „Ein Pakt mit dem Teufel / Inspector Monk Bd.18 “
London 1867. Inspector William Monk soll die Ermittlungen in einem schockierenden Mordfall übernehmen: im Wasser der Themse wurde eine entstellte Frauenleiche gefunden. Die Tote: Zenia Gadney, eine Gelegenheitsprostituierte, die allein und sehr zurückgezogen lebte. Regelmäßig jedoch erhielt sie Besuch von einem eleganten älteren Herren. Leider lässt sich der Besagte nicht mehr befragen - unlängst hat Dr. Joel Lambourn Selbstmord begangen. Oder war es Mord? Denn Lambourn hat als renommierter Wissenschaftler im Regierungsauftrag das Betäubungsmittel Opium erforscht. Und seine Ergebnisse waren bahnbrechend und äußerst brisant.
Ein schockierender Mord an einer jungen Frau. Die Spur führt in Londons höchste Regierungskreise
London 1867. Inspector William Monk soll die Ermittlungen in einem schockierenden Mordfall übernehmen: im Wasser der Themse wurde eine entstellte Frauenleiche gefunden. Die Tote: Zenia Gadney, eine Gelegenheitsprostituierte, die allein und sehr zurückgezogen lebte. Regelmäßig jedoch erhielt sie Besuch von einem eleganten älteren Herren. Leider lässt sich der Besagte nicht mehr befragen - unlängst hat Dr. Joel Lambourn Selbstmord begangen. Oder war es Mord? Denn Lambourn hat als renommierter Wissenschaftler im Regierungsauftrag das Betäubungsmittel Opium erforscht. Und seine Ergebnisse waren bahnbrechend und äußerst brisant ...
London 1867. Inspector William Monk soll die Ermittlungen in einem schockierenden Mordfall übernehmen: im Wasser der Themse wurde eine entstellte Frauenleiche gefunden. Die Tote: Zenia Gadney, eine Gelegenheitsprostituierte, die allein und sehr zurückgezogen lebte. Regelmäßig jedoch erhielt sie Besuch von einem eleganten älteren Herren. Leider lässt sich der Besagte nicht mehr befragen - unlängst hat Dr. Joel Lambourn Selbstmord begangen. Oder war es Mord? Denn Lambourn hat als renommierter Wissenschaftler im Regierungsauftrag das Betäubungsmittel Opium erforscht. Und seine Ergebnisse waren bahnbrechend und äußerst brisant ...
Lese-Probe zu „Ein Pakt mit dem Teufel / Inspector Monk Bd.18 “
Ein Pakt mit dem Teufel von Anne PerryAus dem Englischen von Peter Pfaffinger
1
Langsam ging die Sonne über dem Fluss auf und goss rotes Licht über das Wasser. Einen Moment lang schimmerten die von Monks Rudern perlenden Tropfen wie Wein - oder Blut. Knapp einen Meter vor ihm beugte sich Orme auf der anderen Bank vor und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Sog der Strömung. Längst aneinander gewöhnt, arbeiteten die beiden in perfektem Rhythmus zusammen. Es war Anfang Dezember 1867, fast zwei Jahre, nachdem Monk das Kommando an der Wache Wapping der Thames River Police übernommen hatte.
Für ihn bedeutete dieses Amt einen kleinen Sieg. Orme war schon sein ganzes Erwachsenenleben bei der Wasserpolizei gewesen. Monk hingegen hatte sich gewaltig umstellen müssen, da er zunächst bei der Metropolitan Police und dann als privater Ermittler gearbeitet hatte.
Jäh durchbrach ein schriller Schrei seine stille Zufriedenheit und übertönte das Knarzen der Dollen und das Plätschern der sich am Ufer brechenden Bugwellen eines vorbeigleitenden Verbandes von Frachtkähnen. Monk und Orme blickten in Richtung Nordufer und Limehouse Pier, der keine zwanzig Meter von ihnen entfernt war.
Erneut gellte ein Schrei. Die Stimme schien sich vor Grauen zu überschlagen, und plötzlich tauchte eine Gestalt auf, schwarz vor den schattigen Umrissen der Schuppen und Warenlager am Ufer. Jemand in einem langen Mantel, der herumtorkelte und wild gestikulierte. Ob es ein Mann oder eine Frau war, ließ sich nicht bestimmen.
Mit einem Blick über die Schulter auf Monk tauchte Orme das Ruder tief ins Wasser und wendete das Boot aufs Ufer zu.
... mehr
Je näher sie kamen, desto aufgeregter gebärdete sich die Gestalt. Da nun die tief hängenden Wolken auseinanderwichen, wurde das Licht klar. So ließ sich die Gestalt als Frau in langem Rock erkennen. Auf dem Pier stehend und immer noch mit den Armen fuchtelnd, rief sie ihnen etwas zu, doch ihre Worte waren zu wirr, um einen Sinn zu ergeben.
Bald stieß das Boot gegen die Stufen und wurde von Orme vertäut.
In Windeseile kletterte Monk aus dem Boot und erklomm die schmale Treppe. Oben angekommen,trat er rasch zu der Frau. Sie schluchzte und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Monk blickte sich um. Außer der Frau sah er niemand anders, nichts, was eine derart hysterische Angst hätte auslösen können. Bis auf ihn, die Frau und den sich über die Treppe nähernden Orme war der Pier leer. Auch ließen sich keine unmittelbaren Zeichen einer Bedrohung erkennen.
Monk fasste die Frau behutsam am Arm. »Was haben Sie?«, fragte er mit ruhiger Stimme. »Was ist passiert?«
Sie riss sich los, wirbelte herum und deutete ruckartig auf einen Abfallhaufen, der sich im heller werdenden Licht immer deutlicher abzeichnete.
Monk machte einen Schritt darauf zu. Jäh krampfte sich sein Magen zusammen, als er begriff, dass das, was er für ein zerfetztes Segeltuch gehalten hatte, in Wahrheit der durchnässte Rock einer Frau war, die derart verstümmelt war, dass ihr Körper sich nicht ohne Weiteres als menschlich bestimmen ließ. Die Frage, ob sie tot sein mochte, stellte sich gar nicht erst. Halb auf dem Rücken lag sie grotesk verdreht da, das graue Gesicht gen Himmel gerichtet. Ihr Haar war verfilzt, und unter dem Rücken hatte sich eine Blutlache gebildet. Aber es war nicht das, sondern der Rest ihres Körpers, der dafür sorgte, dass sich ihm der Magen umdrehte und ihm die Luft in der Kehle stecken blieb. Ihr waren der Bauch aufgeschlitzt und die Eingeweide herausgerissen worden; jetzt lagen sie wie blasse, gehäutete Schlangen um ihre Lenden gruppiert.
Monk hörte Orme hinter sich herankommen.
»Gott im Himmel!« Orme stöhnte - kein Fluch, sondern ein flehentliches Gebet, dass das, was er sah, nicht wahr sein möge.
Monk seinerseits schluckte schwer und klammerte sich für einen Moment an Ormes Schulter. Dann stolperte er über die groben Holzbohlen zu der schluchzenden Frau zurück, die in unkontrolliertes Zittern ausgebrochen war.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte er in sanftem Ton und berührte sie am Arm.
Die Frau schüttelte den Kopf. Zugleich versuchte sie, ihn wegzuschieben, doch ihr fehlte die Kraft. »Nein! So wahr mir Gott helfe, ich kenn sie nich'! Ich bin hier rausgekommen, um meinen Mann zu suchen. Der Scheißkerl is' die ganze Nacht weggeblieben! Und dann find ich sie!« Sie bekreuzigte sich, wie um das Grauen abzuwehren. »Ich hatte schon 'ne Mordsangst, dass er das is', aber dann hab ich gesehen, dass es 'ne Frau is', so ein armes Luder.«
»Vorhin, als Sie geschrien haben, hatten Sie sie da gerade entdeckt?«
»Ja. Sie sind von der Wasserpolizei, was?«
»Ja. Wie heißen Sie?«
Sie zögerte nur einen Augenblick. Solange dieses Ding greifbar nahe neben ihr auf den Holzplanken lag, war es vielleicht gar nicht so schlimm wie sonst, die Polizei bei sich zu haben.
»Ruby Jones«, sagte sie.
»Wo wohnen Sie, Mrs Jones?«, setzte Monk nach. »Und die Wahrheit bitte. Sie wollen doch nicht, dass wir Sie suchen kommen und überall am Fluss Ihren Namen verbreiten.«
Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass er es ernst meinte. »Northey Street«, antwortete sie. »Hinter dem Armenhaus. «
»Schauen Sie sich die Frau bitte noch einmal an.« Seine Stimme wurde sanfter. »Konzentrieren Sie sich auf das Gesicht. Das sieht nicht so entsetzlich aus. Vom Rest können Sie die Augen abwenden. Denken Sie darüber nach, ob Sie sie vielleicht doch schon einmal gesehen haben.«
»Nein! Ich kenn Sie nich'!«, wiederholte sie. »Noch mal schau ich mir das da bestimmt nich' an! Sonst krieg ich den Anblick mein Leben lang nich' mehr aus dem Kopf!«
Monk widersprach ihr nicht.
»Sind Sie zufällig hierhergekommen, oder haben Sie an dieser Stelle eine Weile gewartet und vielleicht nach Ihrem Mann gerufen?«
»Ich war auf der Suche nach ihm, als ich das da entdeckt hab. Wie lange, glauben Sie, steh ich wohl hier mit diesem Ding neben mir rum, hm?«
Er nickte zustimmend. »Nicht lange. Können Sie allein nach Hause gehen, Mrs Jones?«
»Ja.« Sie entriss sich seinem Griff mit einer ruckartigen Bewegung. »Doch, ja!« Dann holte sie tief Luft und warf doch noch einen Blick auf die Tote.Einen Moment lang wich das Grauen in ihrem Gesicht einem Ausdruck von Mitgefühl. »Armes Luder«, wiederholte sie flüsternd.
Monk ließ sie gehen und wandte sich wieder zu Orme um. Gemeinsam kehrten sie unter der rasch höher steigenden Sonne zu der Toten zurück. Vorsichtig berührte Monk sie am Gesicht. Die Haut war bereits kalt. Seine Hände wanderten zur Schulter und tasteten unter dem Saum ihres Kleides nach Spuren von Wärme.Nichts war zu spüren. Wahrscheinlich hatte sie schon die ganze Nacht tot dagelegen.
Orme half ihm dabei, sie auf den Rücken zu drehen, womit sie den aufgeschlitzten Bauch mitsamt den herausgequollenen Eingeweiden bloßlegten - eine mit Blut durchsetzte, schleimige Masse.
Orme stieß einen Entsetzensschrei aus. Obwohl er den Anblick von Leichen gewohnt war, taumelte er zurück. Er wusste, was die Zeit und Raubtiere anrichten konnten, aber diese barbarische Verstümmelung war von Menschenhand angerichtet worden, und er war zu erschüttert, um seine Gefühle verbergen zu können. Er hustete und verschluckte sich an seinem eigenen Atem. Ohne zu überlegen, beugte er sich über die Tote und zog ihr die Kleider über die entblößten Stellen - eine sinnlose Geste, aber er tat es einfach. »Wir sollten wohl besser den Polizeichirurgen und die örtliche Wache alarmieren«, krächzte er.
Monk nickte benommen. Einen Moment lang fühlte er sich wie gelähmt. Der Fluss, mit dem er so vertraut war, erschien ihm jäh kalt und fremd. Im grellen Licht der Morgendämmerung, das alle Proportionen verzerrte, türmten sich gewohnte Gebilde wie Werften oder aus dem Wasser ragende Holzpfähle mit einem Mal bedrohlich vor ihm auf.
»Wir haben sie auf dem Steg entdeckt«, sagte Orme mit kläglicher Miene. »Das bedeutet, dass wir für sie zuständig sind. Aber die städtische Polizei weiß womöglich, wer sie ist. Armes Ding. Vielleicht handelt es sich um eine Familientragödie. Wenn sie allerdings eine örtliche Prostituierte ist, haben wir es mit einem Geisteskranken zu tun.«
»Glauben Sie denn, dass ein zurechnungsfähiger Mann seiner Frau so etwas antun kann?«, fragte Monk ungläubig.
Orme schüttelte den Kopf. »Wer weiß? Manchmal meine ich, dass Hass noch schlimmer ist als Wahnsinn. Zur Polizeiwache geht es dort drüben die Straße hinauf.« Er deutete hinüber. »Wenn Sie wollen, bleibe ich bei ihr, während Sie die Kollegen holen, Sir.«
Ein solches Vorgehen war durchaus vernünftig, zumal Monk den bei Weitem höheren Rang bekleidete. Gleichwohl war er Orme dankbar und sagte ihm das auch. Er hatte nicht den geringsten Wunsch, auf dem Steg zurückzubleiben, wo einem der eisige Wind bis in die Knochen fuhr, und über dieser grausigen Leiche Wache zu halten.
»Danke. Ich bin so schnell zurück, wie ich kann.« Eilig lief er zum Ufer und hielt auf die Straße zu. Inzwischen war jede Farbe aus dem Himmel gewichen. Bleich wölbte er sich über dem Fluss, während die Frühmorgensonne die Werften und Lagerhäuser in Silhouetten verwandelte. Ein halbes Dutzend Schauermänner auf dem Weg zur Arbeit kam an ihm vorbei. Weiter vorn senkte ein Laternenanzünder, selbst kaum mehr als ein grauer Schatten, seinen langen Stab über die letzte Lampe in dieser Straße und löschte ihr Licht.
Eine Stunde später standen Monk und Orme, beide immer noch fröstelnd, in der örtlichen Polizeiwache. Ihre durchnässten Hosen klebten ihnen an den Beinen, und in ihren Knochen steckte eine Kälte, die nicht einmal heißer Tee mit Whisky vertreiben konnte. Aus einem Nachbarraum kam Overstone, der Polizeiarzt, herein und zog die Tür hinter sich zu. Bereits in den Sechzigern, hatte er schütteres, mit grauen Strähnen durchwirktes blondes Haar und einen wachen Gesichtsausdruck. Sein Blick wanderte vom örtlichen Sergeant zu Orme und dann weiter zu Monk. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Schlimme Sache«, murmelte er mit leiser Stimme. »Die meisten, wenn nicht alle Verstümmelungen wurden ihr mit ziemlicher Sicherheit erst nach dem Tod zugefügt. Lässt sich allerdings nicht mit völliger Bestimmtheit sagen, denn wenn sie nicht schon vorher tot war, wäre sie spätestens dabei gestorben. Aber ein übles Blutbad hat es trotzdem gegeben. Sie ist praktisch vom Nabel bis zur Lende aufgeschlitzt worden.«
Monk sah dem Mann in das angespannte Gesicht und erkannte Mitleid in seinen Augen. »Wenn sie schon tot war, als das passierte, was hat sie dann umgebracht?«
»Der Schlag gegen den Hinterkopf«, antwortete Overstone. »Ein einziger. War hart genug, um den Schädel zu brechen. Stück von einem Bleirohr oder etwas Ähnliches, würde ich sagen.« Er stand vor einem Pult, das mit den von allen möglichen Leuten handschriftlich verfassten Dokumenten in jeder erdenklichen Größe beladen war. Außen herum reihten sich aufgeräumte Regale aneinander, die nicht aufs Geratewohl vollgestopft worden waren wie in seinem eigenen Büro. Hier gab es keine Fahndungsplakate an den Wänden.
»Nichts Hilfreiches, was Sie uns sagen könnten?«, fragte Monk ohne Hoffnung.
Overstones Mundwinkel sackten noch weiter nach unten. »Ziemlich brutal. Der Täter legte gewaltige Kraft in den Schlag, aber es kann so ziemlich jeder ab einer Größe von fünf Fuß gewesen sein.«
»Linke Hand? Rechte Hand?«, fragte Monk.
»Beides, würde ich sagen, aber wahrscheinlich ein Rechtshänder. « Overstones Stimme nahm einen bedauernden Ton an. »Hilft Ihnen nicht gerade; die meisten sind schließlich Rechtshänder.«
»Und die ... Verstümmelung?«
»Lange Klinge. Zehn bis fünfzehn Zentimeter, schätze ich. Die Schnittwunden sind tief; scharf geschliffene Schneide. Fleischermesser, Seemannsmesser - meinetwegen auch das Messer eines Segelmachers. Um Himmels willen, Mann, jeder zweite Kerzendreher, Schauermann oder Bootsbauer hier am Fluss hat irgendetwas, mit dem er die arme Frau hätte aufschlitzen können. Sogar eine Rasierklinge kann so etwas anrichten! Also kommt auch ein Barbier infrage. Oder jeder, der sich rasiert.« Der Arzt wirkte ärgerlich, als bereitete es ihm Schuldgefühle, dass er nicht in der Lage war, die Antwort präziser zu fassen.
»Oder jede Hausfrau, die 'ne Küche hat«, ergänzte der Sergeant.
Monk blickte ihn schief an.
Der Mann senkte die Augen. »Tut mir leid, Sir.«
»Ist schon gut«, murmelte Monk. »Sie haben ja recht. Hätte wirklich so gut wie jeder sein können.« Er wandte sich wieder an Overstone. »Und die Frau? Was können Sie mir über sie sagen?«
Der Polizeiarzt zuckte resigniert mit den Schultern. »Mitte vierzig. Bei guter Gesundheit, soweit ich das nach einer so kurzen Untersuchung beurteilen kann. Hellbraunes Haar, an den Schläfen schon etwas grau. Blaue Augen, hübsches Gesicht, aber keine auffälligen Merkmale. Gepflegte Zähne, was wohl ungewöhnlich ist, wenn ich es bedenke. Sehr weiß; vorn vielleicht etwas schief. Ich könnte mir vorstellen, dass es recht reizvoll aussah, wenn sie lächelte.« Er senkte den Blick auf den ausgetretenen Holzboden. »Manchmal hasse ich diesen verfluchten Beruf!«
Abrupt hob er wieder den Kopf, und der Moment der Schwäche war vorbei. »Morgen kann ich vielleicht mehr sagen. Eines kann ich Ihnen aber schon jetzt verraten: Bei einer Verstümmelung wie dieser hier werden die Emotionen sehr hochschlagen. Sobald das die Runde macht, wird es Angst, Zorn, vielleicht sogar Panik auslösen. Ich beneide Sie nicht.«
Monk wandte sich an den Sergeant. »Behandeln Sie diese Sache so diskret, wie Sie können. Veröffentlichen Sie keine Details. Die Familie braucht dergleichen sowieso nicht zu erfahren. Hatte die Frau überhaupt eine? Ich nehme nicht an, dass es schon eine Vermisstenanzeige gegeben hat, oder?«
»Nein, Sir«, antwortete der Sergeant verzagt. »Wir wer den jedenfalls unser Bestes versuchen.« Seiner Stimme fehlte jede Überzeugung.
Monk und Orme nahmen sich die Narrow Street in der Nähe des Limehouse Pier vor, die nördliche ebenso wie die südliche Seite, und befragten jeden Passanten und Ladeninhaber, ob sie am Vorabend jemanden Richtung Pier hatten verschwinden sehen; ob sie jemanden kannten, der dort nach der Arbeit auf dem Heimweg vorbeikam; ob sie vielleicht von Prostituierten wussten, die dort auf Freier warteten.
Die Beschreibung der Frau war zu vage, um damit eine Identifizierung zu versuchen: durchschnittliche Größe, hellbraunes Haar, blaue Augen. Es war zu früh, als dass schon jemand als vermisst gelten konnte.
Ihnen wurden mehrere Prostituierte genannt und ein, zwei Personen, die gern in dieser Gegend spazieren gingen, weil ein paar Abschnitte der Narrow Street einen schönen Blick auf den Fluss boten. Insgesamt brachten sie ein Dutzend Namen in Erfahrung.
Danach entfernten sie sich vom Fluss und versuchten ihr Glück in den Gassen, die zur Northey Street führten, wobei sie jeweils an den entgegengesetzten Enden anfingen und stets dieselben Fragen stellten. Es war kalt, aber wenigstens ließ der Wind nach, und es regnete nicht. Die tief stehende Wintersonne spendete keine Wärme.
Monk trottete gerade den Fußweg durch Ropemaker's Fields entlang, als eine Frau, ein Wäschebündel gegen die Hüfte gestemmt, aus einer Tür trat. Fast wäre Monk gegen sie geprallt.
»Entschuldigen Sie, leben Sie hier?«, fragte er nach einer Schrecksekunde.
Misstrauisch musterte sie ihn von oben bis unten. Er trug seine üblichen dunklen Zivilkleider, wie sie auch ein Seemann anhaben mochte, nur war bei ihm der Schnitt viel besser und wirkte, als hätte er sie maßschneidern lassen. Seine Sprechweise war präzise, seine Stimme freundlich, und seine Haltung drückte Eleganz und Selbstbewusstsein aus.
»Ja«, sagte sie zögernd. »Wer sind Sie, dass Sie das wissen wollen?«
»Superintendent Monk von der Wasserpolizei. Ich suche Personen, die gestern Abend etwas von einem Streit mitbekommen haben könnten, eine Frau, die schrie, und vielleicht ein Mann, der sie anbrüllte.«
Mit einem müden Seufzer verdrehte sie die Augen. »Wenn ich jemals einen Abend erlebe, an dem ich niemand streiten höre, dann sag ich Ihnen Bescheid. Ach was, dann meld ich's gleich den blöden Zeitungen. Also, wenn's Ihnen nix ausmacht, ich hab Arbeit zu erledigen.« Mit einer ärgerlichen Geste strich sie sich das Haar aus den Augen und traf Anstalten, sich an ihm vorbeizudrängen.
Monk stellte sich ihr in den Weg. »Das war kein normaler Streit. Die Frau wurde getötet. Vermutlich eine oder zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, am Limehouse Pier.«
»Was für eine Frau?« Plötzlich war ihr Mund nur noch ein dünner Strich, und das Gesicht verriet echte Angst.
»Etwa vierzig Jahre alt.« Monk sah, dass ihre Anspannung nachließ. Womöglich hatte die Frau Töchter, die dort selbst oft herumstanden, um zu tratschen oder den Männern schöne Augen zu machen. So gut er konnte, beschrieb er ihr die Tote. »Sie war ein bisschen größer als Sie; hellbraunes Haar mit ein paar grauen Strähnen. Ziemlich hübsch, auf eine unauffällige Weise.« Ihm fielen wieder die Zähne ein.»Hatte wahrscheinlich ein nettes Lächeln.«
»Weiß nich'«,antwortete die Frau mit der Wäsche. »Klingt nich' so, als ob ich sie kennen würde. Und Sie sind sicher, dass sie um die vierzig war?«
»Ja. Sie trug gewöhnliche Kleider, nichts von der Art, was eine Frau trägt, wenn sie auf Geschäfte aus ist. Und ihr Gesicht war nicht geschminkt.« Es kam ihm kaltherzig vor, dass er auf diese Weise über sie sprach. Er hatte sie ihres Charakters beraubt, ihres Humors, ihrer Träume, ihrer Vorlieben und Abneigungen; das lag offenbar daran, dass er ihr auch gern ihr Grauen und den plötzlichen rasenden Schmerz genommen hätte. Er betete zu Gott, dass sie nicht mitbekommen hatte, was danach noch mit ihr gemacht worden war. Und hoffentlich hatte sie die Klinge nicht gesehen.
»Dann hat ihr Mann sie abgemurkst«, schloss die Frau und ließ die Mundwinkel in einem Ausdruck müder Trauer nach unten sinken. »Aber wer sie is', das weiß ich nich'. Könnte so gut wie jede sein.« Erneut strich sie sich ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und schob den Beutel mit der Wäsche auf ihrer Hüfte zurecht.
Monk bedankte sich und ging weiter. Er sprach noch andere Leute an, sowohl Frauen als auch Männer, denen er dieselben Fragen stellte, und erhielt stets mehr oder weniger dieselben Antworten. Niemand erkannte die Frau anhand von Monks Beschreibung. Niemand gab zu, nach der Dämmerung, die in dieser Jahreszeit schon um fünf Uhr nachmittags einsetzte, in der Nähe des Limehouse Pier gewesen zu sein. Der Abend war trüb und feucht gewesen, sodass man kaum noch hatte arbeiten können. Niemand hatte Schreie oder irgendwelche Kampfgeräusche gehört. Jeder wollte nur nach Hause und etwas essen, sich ein wenig wärmen und später, wenn möglich, ein, zwei Pints Ale genießen.
Um Mittag traf sich Monk wieder mit Orme. An einem Eckstand kauften sie eine Tasse heißen Tee und ein Schinkensandwich. Mit hochgeschlagenen Mantelkragen fanden sie dann in einem Hauseingang Unterschlupf und tauschten ihre Ergebnisse aus.
»Niemand hat etwas gesehen oder gehört«, berichtete Orme betrübt. »Nicht dass ich was anderes erwartet hätte. Die Nachricht hat sich schon verbreitet, dass es eine ziemlich üble Sache ist. Plötzlich sind sie alle blind und taub.«
»Keine große Überraschung«, brummte Monk und nippte an seinem Tee. Der war brühend heiß und etwas zu stark, aber das war er gewohnt. Kein Vergleich mit dem frischen, duftenden Tee daheim. Dieser hier war offenbar schon vor Stunden aufgebrüht und immer wieder mit kochendem Wasser übergossen worden, wenn er zur Neige ging. Er biss wieder in sein Schinkensandwich. »Ruby Jones hat es wahrscheinlich ihren Freundinnen erzählt, und die haben es an die ihren weitergetragen. Bis zum Nachmittag wird es sich in ganz Limehouse verbreitet haben.«
»Man sollte meinen, dass sie jetzt alle Angst vor diesem Schlächter haben und ihn verhaftet sehen wollen«, stieß Orme hervor. »Wir haben es mit einem Wahnsinnigen zu tun, Sir. Wer ihr das angetan hat, kann nicht bei Trost gewesen sein.«
»Ja, aber sie stecken lieber den Kopf in den Sand und tun so, als wäre das alles meilenweit von ihnen entfernt«, erwiderte Monk. »Verdenken kann ich ihnen das nicht.Wenn ich könnte, würde ich es ebenso machen. Aber genau das ist ja der Grund für so viele Schandtaten. Wir wollen es nicht sehen, wir wollen nicht hineingezogen werden. Hat das Opfer einen Fehler gemacht und sich das Unglück durch dummes Verhalten selbst zuzuschreiben, dann wird uns schon nichts passieren - sofern wir uns hübsch heraushalten.«
»Glauben Sie denn, dass es wieder passieren wird, Sir?«, fragte Orme leise. Er stand gegen einen Pfosten gelehnt da und schaute in die Ferne. Monk hatte keine Ahnung, was seinen Blick fesseln mochte. Es gab verblüffende Momente, in denen er sich mit Orme ganz vertraut fühlte, weil sie so viel Bitteres und Schreckliches gemeinsam erlebt hatten, Dinge, die man zwar verstehen, jedoch nicht in Worte fassen konnte. Dann wieder gab es viele Tage wie den heutigen, an denen sie zwar voller gegenseitigem Respekt, der fast an Freundschaft grenzte, zusammenarbeiteten, der Unterschied zwischen ihnen jedoch zu keinem Zeitpunkt in Vergessenheit geriet - zumindest nicht bei Orme.
Schweigen trat ein. »Es ist gar nicht meilenweit entfernt passiert«, meinte Orme nach einer Weile. »Es war genau hier. Es sei denn, sie ist mit dem Boot gekommen. Ob so oder so, sie ist auf dem Pier umgebracht und dann aufgeschlitzt worden. « Er straffte sich. Sein Gesicht unter der Schirmmütze war bleich. »Oder hat dieser Kerl sie woanders ermordet und dann hier aufgeschlitzt?«, fügte er mit krächzender Stimme hinzu.
»Wäre sie schon eine Zeit lang tot gewesen, hätte sie nicht derart geblutet«, entgegnete Monk. »Overstone hat gesagt, dass der Zustand des Blutes und die Natur der Blutergüsse ganz dafür sprächen, dass sie gerade erst gestorben war.«
Orme stieß einen Fluch aus, nur um sich sogleich zu entschuldigen.
Monk tat die Sache mit einer Handbewegung ab.
Sie standen auf den nassen Pflastersteinen der Straße. Mehrere Augenblicke lang fiel kein Wort. Mit laut über das Kopfsteinpflaster hallenden Schritten eilten andere Passanten auf dem Weg zu ihrem Abendessen vorbei. Irgendwo bellte ein Hund.
Schließlich brach Orme das Schweigen. »Glauben Sie, dass sie auf diese grässliche Weise bei Dunkelheit aufgeschlitzt wurde? Ohne dass der Mörder sah, was er tat?«
Monk blickte ihn an. »Dort, wo wir sie entdeckt haben, gab es keine Straßenlampen. Entweder hat er es tatsächlich im Dunkeln getan, oder es war noch ein Rest vom Tageslicht vorhanden. Nicht ganz ungefährlich, dort draußen auf dem Pier, mitten im Freien. Und was hatte die Frau dort eigentlich zu suchen? Das ist doch keine Stelle, wo eine Prostituierte sich mit einem Freier herumdrücken würde. Die Lampen eines Lastkahns könnten lange genug für Licht sorgen, in dem man beide bemerken würde.«
»Warum überhaupt dort?«, fragte Orme. Er zog die Schultern hoch, als würde ihn seine Jacke nicht genügend wärmen.
»Vielleicht wurden sie sogar gesehen«, überlegte Monk. »Wenn ein Mann mit einer Frau ringt, könnte man das für eine leidenschaftliche Umarmung halten. Leichterschiffer würden einfach nur über seinen Wagemut lachen, dass er es im Freien vor aller Augen treibt. Sie würden glauben, er würde sich vergnügen - nicht, sie umbringen.«
»Hat aber wohl nicht viel Sinn, nach Schiffern Ausschau zu halten, die was gesehen haben könnten«, murmelte Orme betrübt. »Die sind längst irgendwo zwischen Henley und Gravesend.«
»Viel helfen könnten sie uns ohnehin nicht.« Monk seufzte. »Keiner würde wissen, ob es diese Frau war oder irgendein anderes Paar.« Die bloße Vorstellung deprimierte ihn. Eine Frau konnte vor all den vorbeifahrenden Booten ermordet und ausgenommen werden wie ein Fisch, noch dazu an dem meistbefahrenen Fluss der Erde, und niemand bemerkte oder begriff, was da geschah.
Er richtete sich auf und verzehrte den letzten Bissen seines Sandwiches. Obwohl es nichts daran auszusetzen gab, musste er ihn mühsam hinunterwürgen. Sein Mund war einfach zu trocken, und das Brot schmeckte wie Sägespäne.
»Wir sollten zusehen, dass wir klären, wer sie war«, schlug er vor. »Nicht dass uns das notwendigerweise viel helfen wird. Wahrscheinlich war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Es wird Leute geben, denen wir es sagen müssen«, meinte Orme. »Freunde, womöglich einen Ehemann.«
Darauf erwiderte Monk nichts. Er kannte das. Denn das war ja das Schlimmste am Anfang jedes Mordfalls: es den Menschen beizubringen, die das Opfer geliebt hatten. Irgendwie war das ebenso grausam wie der Tod, wenn man denjenigen aufspürte, der die Tat begangen hatte, und die Menschen, denen er etwas bedeutete.
Gemeinsam liefen sie die Narrow Street wieder hinunter bis zum Rand von Ropemaker's Fields, den sie dann sehr langsam abschritten. Nördlich der Grünfläche gab es alle zehn Meter Seitengassen, von denen einige zur Triangle Place führten, hinter der das Armenhaus lag.
Dort stellten sie ebenfalls ihre Fragen, wobei sie die Tote so genau wie möglich beschrieben, doch niemand im Armenhaus wurde vermisst. Abgesehen davon hatten die Hände des Opfers im Gegensatz zu denen der hier lebenden Frauen nicht so ausgesehen, als wären sie körperliche Arbeit gewohnt - weder waren sie rot von stundenlangem Schrubben in ätzender Seifenlauge oder dem Aufwischen von Holzböden gewesen, noch hatten sie Schwielen von Nadelstichen beim Nähen von Segeltuch aufgewiesen.
War sie eine Prostituierte gewesen, die ihre besten Jahre hinter sich hatte, vielleicht verzweifelt ein paar Shillings brauchte und darum schnell bereit war, sich überall zu verkaufen, sogar an einem Pier bei Einbruch der Dunkelheit? Das Geld hätte immerhin für eine Mahlzeit oder ein paar Stück Kohle gereicht.
Unwillkürlich stellte er sich die Situation vor: das Angebot, die jeweiligen Bedürfnisse, das kurze Ringen, das sie leicht mit sexueller Gier verwechseln konnte, das plumpe Begehren eines Mannes, der vielleicht wütend auf sich selbst war, weil er auf eine solche Form der Befriedigung angewiesen war, und wütend auf sie, weil sie die Macht hatte, es ihm zu geben, und Geld dafür verlangte. Dann der brutale Schlag und die alles verzehrende Dunkelheit.
Doch warum hatte er sie danach verstümmelt? Hatte er sie gekannt, und steckte unbeherrschbarer persönlicher Hass dahinter? Oder handelte es sich um einen Wahnsinnigen, dem jedes beliebige Opfer genügt hätte? Und wenn es sich so verhielt, stellte dieser Mord dann erst den Anfang dar?
Noch einmal nahmen sie sich die Narrow Street und die Gassen am Rande von Ropemaker's Fields vor, doch keine der Personen, die sie befragten, hatte etwas gesehen, das ihnen weiterhalf, ganz zu schweigen von einem Paar zusammen auf dem Weg zum Pier in - oder kurz vor - der Abenddämmerung. Und wer vielleicht etwas bemerkt hatte, hatte kaum darauf geachtet oder zog es vor, sich nicht daran zu erinnern.
Doch sie mussten in Erfahrung bringen, wer diese Frau war, was für ein Mensch sie vor dem Verbrechen gewesen war.
»Wir lassen eine Zeichnung von ihr anfertigen«, erklärte Monk, als sie am Spätnachmittag unter dem sich verdunkelnden Himmel zur örtlichen Polizeiwache zurückkehrten. »Die Kollegen haben einen Mann, der sich auf den Umgang mit dem Bleistift versteht und ein gutes Auge für Gesichter hat. Wir werden ihn bitten, mindestens zwei Skizzen für uns zu zeichnen. Dann können wir es morgen früh noch einmal versuchen.«
Müde, wie er war, schlief Monk in dieser Nacht gut. Von der Frau am Pier erzählte er Hester nichts, denn er wollte den kurzen Frieden des Abends nicht zerstören. Und falls sie schon ahnte, dass ihn eine Sorge bedrückte, war sie zu klug oder zu sanftmütig, um es zu sagen.
Zeitig am nächsten Morgen wachte er auf und ging vor dem Frühstück los, um an der Ecke Paradise Street und Church Street mindestens zwei Tageszeitungen zu kaufen. Er war auf dem Rückweg noch keine hundert Meter gelaufen, als sich schon seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten. »Frau auf dem Limehouse Pier grausam ermordet!«, lautete die eine Schlagzeile, und: »Frau wie ein Stück Vieh abgestochen«, plärrte ihm die andere entgegen.
Als er die Küchentür erreichte, hatte Monk die Zeitungen so zusammengefaltet und sich unter den Arm geklemmt, dass die Überschriften verdeckt waren. Ihn empfingen die Gerüche von Schinken und Toast und das Pfeifen des Wasserkessels auf dem Herd.
Mit der Toastgabel in der Hand stand Hester am Herd und nahm gerade eine frisch geröstete Scheibe von der Platte, um sie zu den anderen in das Gestell zu stecken, damit sie knusprig blieb. Jetzt schloss sie die Herdklappe und drehte sich lächelnd zu Monk um. Heute trug sie ihren geliebten tiefblauen Rock. Bei ihrem Anblick fiel es Monk leichter, die Erinnerung an Gewalt, Verlust, Kälte, den sich ständig bewegenden Fluss und den Geruch des Todes noch für eine Weile zu verdrängen.
Vielleicht hätte er ihr gestern Abend doch von der Frau erzählen sollen, aber er war müde und durchfroren gewesen und hatte nur den Wunsch gehabt, nicht mehr an die entsetzliche Szene denken zu müssen. Er hatte es nötig gehabt, sich zu wärmen und zu trocknen, an ihrer Seite zu liegen und sie von anderen Dingen reden zu hören - egal, von was, solange es sich um Gesundes und die kleinen, heilsamen Angelegenheiten des Lebens drehte.
Doch Hester brauchte ihn nur anzuschauen, um an seinem Gesicht ablesen zu können, dass irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Sie kannte ihn zu gut, als dass er ihr etwas vormachen konnte - was er auch nie getan hatte. Zwölf Jahre zuvor, als sie sich noch nicht gekannt hatten, war sie im Krimkrieg bei der Armee Krankenschwester gewesen. Von dem Grauenvollen und Bedrückenden, über das er ihr berichten konnte, gab es nur wenig, was sie nicht mindestens genauso gut kannte wie er.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Je näher sie kamen, desto aufgeregter gebärdete sich die Gestalt. Da nun die tief hängenden Wolken auseinanderwichen, wurde das Licht klar. So ließ sich die Gestalt als Frau in langem Rock erkennen. Auf dem Pier stehend und immer noch mit den Armen fuchtelnd, rief sie ihnen etwas zu, doch ihre Worte waren zu wirr, um einen Sinn zu ergeben.
Bald stieß das Boot gegen die Stufen und wurde von Orme vertäut.
In Windeseile kletterte Monk aus dem Boot und erklomm die schmale Treppe. Oben angekommen,trat er rasch zu der Frau. Sie schluchzte und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Monk blickte sich um. Außer der Frau sah er niemand anders, nichts, was eine derart hysterische Angst hätte auslösen können. Bis auf ihn, die Frau und den sich über die Treppe nähernden Orme war der Pier leer. Auch ließen sich keine unmittelbaren Zeichen einer Bedrohung erkennen.
Monk fasste die Frau behutsam am Arm. »Was haben Sie?«, fragte er mit ruhiger Stimme. »Was ist passiert?«
Sie riss sich los, wirbelte herum und deutete ruckartig auf einen Abfallhaufen, der sich im heller werdenden Licht immer deutlicher abzeichnete.
Monk machte einen Schritt darauf zu. Jäh krampfte sich sein Magen zusammen, als er begriff, dass das, was er für ein zerfetztes Segeltuch gehalten hatte, in Wahrheit der durchnässte Rock einer Frau war, die derart verstümmelt war, dass ihr Körper sich nicht ohne Weiteres als menschlich bestimmen ließ. Die Frage, ob sie tot sein mochte, stellte sich gar nicht erst. Halb auf dem Rücken lag sie grotesk verdreht da, das graue Gesicht gen Himmel gerichtet. Ihr Haar war verfilzt, und unter dem Rücken hatte sich eine Blutlache gebildet. Aber es war nicht das, sondern der Rest ihres Körpers, der dafür sorgte, dass sich ihm der Magen umdrehte und ihm die Luft in der Kehle stecken blieb. Ihr waren der Bauch aufgeschlitzt und die Eingeweide herausgerissen worden; jetzt lagen sie wie blasse, gehäutete Schlangen um ihre Lenden gruppiert.
Monk hörte Orme hinter sich herankommen.
»Gott im Himmel!« Orme stöhnte - kein Fluch, sondern ein flehentliches Gebet, dass das, was er sah, nicht wahr sein möge.
Monk seinerseits schluckte schwer und klammerte sich für einen Moment an Ormes Schulter. Dann stolperte er über die groben Holzbohlen zu der schluchzenden Frau zurück, die in unkontrolliertes Zittern ausgebrochen war.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte er in sanftem Ton und berührte sie am Arm.
Die Frau schüttelte den Kopf. Zugleich versuchte sie, ihn wegzuschieben, doch ihr fehlte die Kraft. »Nein! So wahr mir Gott helfe, ich kenn sie nich'! Ich bin hier rausgekommen, um meinen Mann zu suchen. Der Scheißkerl is' die ganze Nacht weggeblieben! Und dann find ich sie!« Sie bekreuzigte sich, wie um das Grauen abzuwehren. »Ich hatte schon 'ne Mordsangst, dass er das is', aber dann hab ich gesehen, dass es 'ne Frau is', so ein armes Luder.«
»Vorhin, als Sie geschrien haben, hatten Sie sie da gerade entdeckt?«
»Ja. Sie sind von der Wasserpolizei, was?«
»Ja. Wie heißen Sie?«
Sie zögerte nur einen Augenblick. Solange dieses Ding greifbar nahe neben ihr auf den Holzplanken lag, war es vielleicht gar nicht so schlimm wie sonst, die Polizei bei sich zu haben.
»Ruby Jones«, sagte sie.
»Wo wohnen Sie, Mrs Jones?«, setzte Monk nach. »Und die Wahrheit bitte. Sie wollen doch nicht, dass wir Sie suchen kommen und überall am Fluss Ihren Namen verbreiten.«
Ein Blick in seine Augen verriet ihr, dass er es ernst meinte. »Northey Street«, antwortete sie. »Hinter dem Armenhaus. «
»Schauen Sie sich die Frau bitte noch einmal an.« Seine Stimme wurde sanfter. »Konzentrieren Sie sich auf das Gesicht. Das sieht nicht so entsetzlich aus. Vom Rest können Sie die Augen abwenden. Denken Sie darüber nach, ob Sie sie vielleicht doch schon einmal gesehen haben.«
»Nein! Ich kenn Sie nich'!«, wiederholte sie. »Noch mal schau ich mir das da bestimmt nich' an! Sonst krieg ich den Anblick mein Leben lang nich' mehr aus dem Kopf!«
Monk widersprach ihr nicht.
»Sind Sie zufällig hierhergekommen, oder haben Sie an dieser Stelle eine Weile gewartet und vielleicht nach Ihrem Mann gerufen?«
»Ich war auf der Suche nach ihm, als ich das da entdeckt hab. Wie lange, glauben Sie, steh ich wohl hier mit diesem Ding neben mir rum, hm?«
Er nickte zustimmend. »Nicht lange. Können Sie allein nach Hause gehen, Mrs Jones?«
»Ja.« Sie entriss sich seinem Griff mit einer ruckartigen Bewegung. »Doch, ja!« Dann holte sie tief Luft und warf doch noch einen Blick auf die Tote.Einen Moment lang wich das Grauen in ihrem Gesicht einem Ausdruck von Mitgefühl. »Armes Luder«, wiederholte sie flüsternd.
Monk ließ sie gehen und wandte sich wieder zu Orme um. Gemeinsam kehrten sie unter der rasch höher steigenden Sonne zu der Toten zurück. Vorsichtig berührte Monk sie am Gesicht. Die Haut war bereits kalt. Seine Hände wanderten zur Schulter und tasteten unter dem Saum ihres Kleides nach Spuren von Wärme.Nichts war zu spüren. Wahrscheinlich hatte sie schon die ganze Nacht tot dagelegen.
Orme half ihm dabei, sie auf den Rücken zu drehen, womit sie den aufgeschlitzten Bauch mitsamt den herausgequollenen Eingeweiden bloßlegten - eine mit Blut durchsetzte, schleimige Masse.
Orme stieß einen Entsetzensschrei aus. Obwohl er den Anblick von Leichen gewohnt war, taumelte er zurück. Er wusste, was die Zeit und Raubtiere anrichten konnten, aber diese barbarische Verstümmelung war von Menschenhand angerichtet worden, und er war zu erschüttert, um seine Gefühle verbergen zu können. Er hustete und verschluckte sich an seinem eigenen Atem. Ohne zu überlegen, beugte er sich über die Tote und zog ihr die Kleider über die entblößten Stellen - eine sinnlose Geste, aber er tat es einfach. »Wir sollten wohl besser den Polizeichirurgen und die örtliche Wache alarmieren«, krächzte er.
Monk nickte benommen. Einen Moment lang fühlte er sich wie gelähmt. Der Fluss, mit dem er so vertraut war, erschien ihm jäh kalt und fremd. Im grellen Licht der Morgendämmerung, das alle Proportionen verzerrte, türmten sich gewohnte Gebilde wie Werften oder aus dem Wasser ragende Holzpfähle mit einem Mal bedrohlich vor ihm auf.
»Wir haben sie auf dem Steg entdeckt«, sagte Orme mit kläglicher Miene. »Das bedeutet, dass wir für sie zuständig sind. Aber die städtische Polizei weiß womöglich, wer sie ist. Armes Ding. Vielleicht handelt es sich um eine Familientragödie. Wenn sie allerdings eine örtliche Prostituierte ist, haben wir es mit einem Geisteskranken zu tun.«
»Glauben Sie denn, dass ein zurechnungsfähiger Mann seiner Frau so etwas antun kann?«, fragte Monk ungläubig.
Orme schüttelte den Kopf. »Wer weiß? Manchmal meine ich, dass Hass noch schlimmer ist als Wahnsinn. Zur Polizeiwache geht es dort drüben die Straße hinauf.« Er deutete hinüber. »Wenn Sie wollen, bleibe ich bei ihr, während Sie die Kollegen holen, Sir.«
Ein solches Vorgehen war durchaus vernünftig, zumal Monk den bei Weitem höheren Rang bekleidete. Gleichwohl war er Orme dankbar und sagte ihm das auch. Er hatte nicht den geringsten Wunsch, auf dem Steg zurückzubleiben, wo einem der eisige Wind bis in die Knochen fuhr, und über dieser grausigen Leiche Wache zu halten.
»Danke. Ich bin so schnell zurück, wie ich kann.« Eilig lief er zum Ufer und hielt auf die Straße zu. Inzwischen war jede Farbe aus dem Himmel gewichen. Bleich wölbte er sich über dem Fluss, während die Frühmorgensonne die Werften und Lagerhäuser in Silhouetten verwandelte. Ein halbes Dutzend Schauermänner auf dem Weg zur Arbeit kam an ihm vorbei. Weiter vorn senkte ein Laternenanzünder, selbst kaum mehr als ein grauer Schatten, seinen langen Stab über die letzte Lampe in dieser Straße und löschte ihr Licht.
Eine Stunde später standen Monk und Orme, beide immer noch fröstelnd, in der örtlichen Polizeiwache. Ihre durchnässten Hosen klebten ihnen an den Beinen, und in ihren Knochen steckte eine Kälte, die nicht einmal heißer Tee mit Whisky vertreiben konnte. Aus einem Nachbarraum kam Overstone, der Polizeiarzt, herein und zog die Tür hinter sich zu. Bereits in den Sechzigern, hatte er schütteres, mit grauen Strähnen durchwirktes blondes Haar und einen wachen Gesichtsausdruck. Sein Blick wanderte vom örtlichen Sergeant zu Orme und dann weiter zu Monk. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Schlimme Sache«, murmelte er mit leiser Stimme. »Die meisten, wenn nicht alle Verstümmelungen wurden ihr mit ziemlicher Sicherheit erst nach dem Tod zugefügt. Lässt sich allerdings nicht mit völliger Bestimmtheit sagen, denn wenn sie nicht schon vorher tot war, wäre sie spätestens dabei gestorben. Aber ein übles Blutbad hat es trotzdem gegeben. Sie ist praktisch vom Nabel bis zur Lende aufgeschlitzt worden.«
Monk sah dem Mann in das angespannte Gesicht und erkannte Mitleid in seinen Augen. »Wenn sie schon tot war, als das passierte, was hat sie dann umgebracht?«
»Der Schlag gegen den Hinterkopf«, antwortete Overstone. »Ein einziger. War hart genug, um den Schädel zu brechen. Stück von einem Bleirohr oder etwas Ähnliches, würde ich sagen.« Er stand vor einem Pult, das mit den von allen möglichen Leuten handschriftlich verfassten Dokumenten in jeder erdenklichen Größe beladen war. Außen herum reihten sich aufgeräumte Regale aneinander, die nicht aufs Geratewohl vollgestopft worden waren wie in seinem eigenen Büro. Hier gab es keine Fahndungsplakate an den Wänden.
»Nichts Hilfreiches, was Sie uns sagen könnten?«, fragte Monk ohne Hoffnung.
Overstones Mundwinkel sackten noch weiter nach unten. »Ziemlich brutal. Der Täter legte gewaltige Kraft in den Schlag, aber es kann so ziemlich jeder ab einer Größe von fünf Fuß gewesen sein.«
»Linke Hand? Rechte Hand?«, fragte Monk.
»Beides, würde ich sagen, aber wahrscheinlich ein Rechtshänder. « Overstones Stimme nahm einen bedauernden Ton an. »Hilft Ihnen nicht gerade; die meisten sind schließlich Rechtshänder.«
»Und die ... Verstümmelung?«
»Lange Klinge. Zehn bis fünfzehn Zentimeter, schätze ich. Die Schnittwunden sind tief; scharf geschliffene Schneide. Fleischermesser, Seemannsmesser - meinetwegen auch das Messer eines Segelmachers. Um Himmels willen, Mann, jeder zweite Kerzendreher, Schauermann oder Bootsbauer hier am Fluss hat irgendetwas, mit dem er die arme Frau hätte aufschlitzen können. Sogar eine Rasierklinge kann so etwas anrichten! Also kommt auch ein Barbier infrage. Oder jeder, der sich rasiert.« Der Arzt wirkte ärgerlich, als bereitete es ihm Schuldgefühle, dass er nicht in der Lage war, die Antwort präziser zu fassen.
»Oder jede Hausfrau, die 'ne Küche hat«, ergänzte der Sergeant.
Monk blickte ihn schief an.
Der Mann senkte die Augen. »Tut mir leid, Sir.«
»Ist schon gut«, murmelte Monk. »Sie haben ja recht. Hätte wirklich so gut wie jeder sein können.« Er wandte sich wieder an Overstone. »Und die Frau? Was können Sie mir über sie sagen?«
Der Polizeiarzt zuckte resigniert mit den Schultern. »Mitte vierzig. Bei guter Gesundheit, soweit ich das nach einer so kurzen Untersuchung beurteilen kann. Hellbraunes Haar, an den Schläfen schon etwas grau. Blaue Augen, hübsches Gesicht, aber keine auffälligen Merkmale. Gepflegte Zähne, was wohl ungewöhnlich ist, wenn ich es bedenke. Sehr weiß; vorn vielleicht etwas schief. Ich könnte mir vorstellen, dass es recht reizvoll aussah, wenn sie lächelte.« Er senkte den Blick auf den ausgetretenen Holzboden. »Manchmal hasse ich diesen verfluchten Beruf!«
Abrupt hob er wieder den Kopf, und der Moment der Schwäche war vorbei. »Morgen kann ich vielleicht mehr sagen. Eines kann ich Ihnen aber schon jetzt verraten: Bei einer Verstümmelung wie dieser hier werden die Emotionen sehr hochschlagen. Sobald das die Runde macht, wird es Angst, Zorn, vielleicht sogar Panik auslösen. Ich beneide Sie nicht.«
Monk wandte sich an den Sergeant. »Behandeln Sie diese Sache so diskret, wie Sie können. Veröffentlichen Sie keine Details. Die Familie braucht dergleichen sowieso nicht zu erfahren. Hatte die Frau überhaupt eine? Ich nehme nicht an, dass es schon eine Vermisstenanzeige gegeben hat, oder?«
»Nein, Sir«, antwortete der Sergeant verzagt. »Wir wer den jedenfalls unser Bestes versuchen.« Seiner Stimme fehlte jede Überzeugung.
Monk und Orme nahmen sich die Narrow Street in der Nähe des Limehouse Pier vor, die nördliche ebenso wie die südliche Seite, und befragten jeden Passanten und Ladeninhaber, ob sie am Vorabend jemanden Richtung Pier hatten verschwinden sehen; ob sie jemanden kannten, der dort nach der Arbeit auf dem Heimweg vorbeikam; ob sie vielleicht von Prostituierten wussten, die dort auf Freier warteten.
Die Beschreibung der Frau war zu vage, um damit eine Identifizierung zu versuchen: durchschnittliche Größe, hellbraunes Haar, blaue Augen. Es war zu früh, als dass schon jemand als vermisst gelten konnte.
Ihnen wurden mehrere Prostituierte genannt und ein, zwei Personen, die gern in dieser Gegend spazieren gingen, weil ein paar Abschnitte der Narrow Street einen schönen Blick auf den Fluss boten. Insgesamt brachten sie ein Dutzend Namen in Erfahrung.
Danach entfernten sie sich vom Fluss und versuchten ihr Glück in den Gassen, die zur Northey Street führten, wobei sie jeweils an den entgegengesetzten Enden anfingen und stets dieselben Fragen stellten. Es war kalt, aber wenigstens ließ der Wind nach, und es regnete nicht. Die tief stehende Wintersonne spendete keine Wärme.
Monk trottete gerade den Fußweg durch Ropemaker's Fields entlang, als eine Frau, ein Wäschebündel gegen die Hüfte gestemmt, aus einer Tür trat. Fast wäre Monk gegen sie geprallt.
»Entschuldigen Sie, leben Sie hier?«, fragte er nach einer Schrecksekunde.
Misstrauisch musterte sie ihn von oben bis unten. Er trug seine üblichen dunklen Zivilkleider, wie sie auch ein Seemann anhaben mochte, nur war bei ihm der Schnitt viel besser und wirkte, als hätte er sie maßschneidern lassen. Seine Sprechweise war präzise, seine Stimme freundlich, und seine Haltung drückte Eleganz und Selbstbewusstsein aus.
»Ja«, sagte sie zögernd. »Wer sind Sie, dass Sie das wissen wollen?«
»Superintendent Monk von der Wasserpolizei. Ich suche Personen, die gestern Abend etwas von einem Streit mitbekommen haben könnten, eine Frau, die schrie, und vielleicht ein Mann, der sie anbrüllte.«
Mit einem müden Seufzer verdrehte sie die Augen. »Wenn ich jemals einen Abend erlebe, an dem ich niemand streiten höre, dann sag ich Ihnen Bescheid. Ach was, dann meld ich's gleich den blöden Zeitungen. Also, wenn's Ihnen nix ausmacht, ich hab Arbeit zu erledigen.« Mit einer ärgerlichen Geste strich sie sich das Haar aus den Augen und traf Anstalten, sich an ihm vorbeizudrängen.
Monk stellte sich ihr in den Weg. »Das war kein normaler Streit. Die Frau wurde getötet. Vermutlich eine oder zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, am Limehouse Pier.«
»Was für eine Frau?« Plötzlich war ihr Mund nur noch ein dünner Strich, und das Gesicht verriet echte Angst.
»Etwa vierzig Jahre alt.« Monk sah, dass ihre Anspannung nachließ. Womöglich hatte die Frau Töchter, die dort selbst oft herumstanden, um zu tratschen oder den Männern schöne Augen zu machen. So gut er konnte, beschrieb er ihr die Tote. »Sie war ein bisschen größer als Sie; hellbraunes Haar mit ein paar grauen Strähnen. Ziemlich hübsch, auf eine unauffällige Weise.« Ihm fielen wieder die Zähne ein.»Hatte wahrscheinlich ein nettes Lächeln.«
»Weiß nich'«,antwortete die Frau mit der Wäsche. »Klingt nich' so, als ob ich sie kennen würde. Und Sie sind sicher, dass sie um die vierzig war?«
»Ja. Sie trug gewöhnliche Kleider, nichts von der Art, was eine Frau trägt, wenn sie auf Geschäfte aus ist. Und ihr Gesicht war nicht geschminkt.« Es kam ihm kaltherzig vor, dass er auf diese Weise über sie sprach. Er hatte sie ihres Charakters beraubt, ihres Humors, ihrer Träume, ihrer Vorlieben und Abneigungen; das lag offenbar daran, dass er ihr auch gern ihr Grauen und den plötzlichen rasenden Schmerz genommen hätte. Er betete zu Gott, dass sie nicht mitbekommen hatte, was danach noch mit ihr gemacht worden war. Und hoffentlich hatte sie die Klinge nicht gesehen.
»Dann hat ihr Mann sie abgemurkst«, schloss die Frau und ließ die Mundwinkel in einem Ausdruck müder Trauer nach unten sinken. »Aber wer sie is', das weiß ich nich'. Könnte so gut wie jede sein.« Erneut strich sie sich ein paar lose Strähnen aus dem Gesicht und schob den Beutel mit der Wäsche auf ihrer Hüfte zurecht.
Monk bedankte sich und ging weiter. Er sprach noch andere Leute an, sowohl Frauen als auch Männer, denen er dieselben Fragen stellte, und erhielt stets mehr oder weniger dieselben Antworten. Niemand erkannte die Frau anhand von Monks Beschreibung. Niemand gab zu, nach der Dämmerung, die in dieser Jahreszeit schon um fünf Uhr nachmittags einsetzte, in der Nähe des Limehouse Pier gewesen zu sein. Der Abend war trüb und feucht gewesen, sodass man kaum noch hatte arbeiten können. Niemand hatte Schreie oder irgendwelche Kampfgeräusche gehört. Jeder wollte nur nach Hause und etwas essen, sich ein wenig wärmen und später, wenn möglich, ein, zwei Pints Ale genießen.
Um Mittag traf sich Monk wieder mit Orme. An einem Eckstand kauften sie eine Tasse heißen Tee und ein Schinkensandwich. Mit hochgeschlagenen Mantelkragen fanden sie dann in einem Hauseingang Unterschlupf und tauschten ihre Ergebnisse aus.
»Niemand hat etwas gesehen oder gehört«, berichtete Orme betrübt. »Nicht dass ich was anderes erwartet hätte. Die Nachricht hat sich schon verbreitet, dass es eine ziemlich üble Sache ist. Plötzlich sind sie alle blind und taub.«
»Keine große Überraschung«, brummte Monk und nippte an seinem Tee. Der war brühend heiß und etwas zu stark, aber das war er gewohnt. Kein Vergleich mit dem frischen, duftenden Tee daheim. Dieser hier war offenbar schon vor Stunden aufgebrüht und immer wieder mit kochendem Wasser übergossen worden, wenn er zur Neige ging. Er biss wieder in sein Schinkensandwich. »Ruby Jones hat es wahrscheinlich ihren Freundinnen erzählt, und die haben es an die ihren weitergetragen. Bis zum Nachmittag wird es sich in ganz Limehouse verbreitet haben.«
»Man sollte meinen, dass sie jetzt alle Angst vor diesem Schlächter haben und ihn verhaftet sehen wollen«, stieß Orme hervor. »Wir haben es mit einem Wahnsinnigen zu tun, Sir. Wer ihr das angetan hat, kann nicht bei Trost gewesen sein.«
»Ja, aber sie stecken lieber den Kopf in den Sand und tun so, als wäre das alles meilenweit von ihnen entfernt«, erwiderte Monk. »Verdenken kann ich ihnen das nicht.Wenn ich könnte, würde ich es ebenso machen. Aber genau das ist ja der Grund für so viele Schandtaten. Wir wollen es nicht sehen, wir wollen nicht hineingezogen werden. Hat das Opfer einen Fehler gemacht und sich das Unglück durch dummes Verhalten selbst zuzuschreiben, dann wird uns schon nichts passieren - sofern wir uns hübsch heraushalten.«
»Glauben Sie denn, dass es wieder passieren wird, Sir?«, fragte Orme leise. Er stand gegen einen Pfosten gelehnt da und schaute in die Ferne. Monk hatte keine Ahnung, was seinen Blick fesseln mochte. Es gab verblüffende Momente, in denen er sich mit Orme ganz vertraut fühlte, weil sie so viel Bitteres und Schreckliches gemeinsam erlebt hatten, Dinge, die man zwar verstehen, jedoch nicht in Worte fassen konnte. Dann wieder gab es viele Tage wie den heutigen, an denen sie zwar voller gegenseitigem Respekt, der fast an Freundschaft grenzte, zusammenarbeiteten, der Unterschied zwischen ihnen jedoch zu keinem Zeitpunkt in Vergessenheit geriet - zumindest nicht bei Orme.
Schweigen trat ein. »Es ist gar nicht meilenweit entfernt passiert«, meinte Orme nach einer Weile. »Es war genau hier. Es sei denn, sie ist mit dem Boot gekommen. Ob so oder so, sie ist auf dem Pier umgebracht und dann aufgeschlitzt worden. « Er straffte sich. Sein Gesicht unter der Schirmmütze war bleich. »Oder hat dieser Kerl sie woanders ermordet und dann hier aufgeschlitzt?«, fügte er mit krächzender Stimme hinzu.
»Wäre sie schon eine Zeit lang tot gewesen, hätte sie nicht derart geblutet«, entgegnete Monk. »Overstone hat gesagt, dass der Zustand des Blutes und die Natur der Blutergüsse ganz dafür sprächen, dass sie gerade erst gestorben war.«
Orme stieß einen Fluch aus, nur um sich sogleich zu entschuldigen.
Monk tat die Sache mit einer Handbewegung ab.
Sie standen auf den nassen Pflastersteinen der Straße. Mehrere Augenblicke lang fiel kein Wort. Mit laut über das Kopfsteinpflaster hallenden Schritten eilten andere Passanten auf dem Weg zu ihrem Abendessen vorbei. Irgendwo bellte ein Hund.
Schließlich brach Orme das Schweigen. »Glauben Sie, dass sie auf diese grässliche Weise bei Dunkelheit aufgeschlitzt wurde? Ohne dass der Mörder sah, was er tat?«
Monk blickte ihn an. »Dort, wo wir sie entdeckt haben, gab es keine Straßenlampen. Entweder hat er es tatsächlich im Dunkeln getan, oder es war noch ein Rest vom Tageslicht vorhanden. Nicht ganz ungefährlich, dort draußen auf dem Pier, mitten im Freien. Und was hatte die Frau dort eigentlich zu suchen? Das ist doch keine Stelle, wo eine Prostituierte sich mit einem Freier herumdrücken würde. Die Lampen eines Lastkahns könnten lange genug für Licht sorgen, in dem man beide bemerken würde.«
»Warum überhaupt dort?«, fragte Orme. Er zog die Schultern hoch, als würde ihn seine Jacke nicht genügend wärmen.
»Vielleicht wurden sie sogar gesehen«, überlegte Monk. »Wenn ein Mann mit einer Frau ringt, könnte man das für eine leidenschaftliche Umarmung halten. Leichterschiffer würden einfach nur über seinen Wagemut lachen, dass er es im Freien vor aller Augen treibt. Sie würden glauben, er würde sich vergnügen - nicht, sie umbringen.«
»Hat aber wohl nicht viel Sinn, nach Schiffern Ausschau zu halten, die was gesehen haben könnten«, murmelte Orme betrübt. »Die sind längst irgendwo zwischen Henley und Gravesend.«
»Viel helfen könnten sie uns ohnehin nicht.« Monk seufzte. »Keiner würde wissen, ob es diese Frau war oder irgendein anderes Paar.« Die bloße Vorstellung deprimierte ihn. Eine Frau konnte vor all den vorbeifahrenden Booten ermordet und ausgenommen werden wie ein Fisch, noch dazu an dem meistbefahrenen Fluss der Erde, und niemand bemerkte oder begriff, was da geschah.
Er richtete sich auf und verzehrte den letzten Bissen seines Sandwiches. Obwohl es nichts daran auszusetzen gab, musste er ihn mühsam hinunterwürgen. Sein Mund war einfach zu trocken, und das Brot schmeckte wie Sägespäne.
»Wir sollten zusehen, dass wir klären, wer sie war«, schlug er vor. »Nicht dass uns das notwendigerweise viel helfen wird. Wahrscheinlich war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Es wird Leute geben, denen wir es sagen müssen«, meinte Orme. »Freunde, womöglich einen Ehemann.«
Darauf erwiderte Monk nichts. Er kannte das. Denn das war ja das Schlimmste am Anfang jedes Mordfalls: es den Menschen beizubringen, die das Opfer geliebt hatten. Irgendwie war das ebenso grausam wie der Tod, wenn man denjenigen aufspürte, der die Tat begangen hatte, und die Menschen, denen er etwas bedeutete.
Gemeinsam liefen sie die Narrow Street wieder hinunter bis zum Rand von Ropemaker's Fields, den sie dann sehr langsam abschritten. Nördlich der Grünfläche gab es alle zehn Meter Seitengassen, von denen einige zur Triangle Place führten, hinter der das Armenhaus lag.
Dort stellten sie ebenfalls ihre Fragen, wobei sie die Tote so genau wie möglich beschrieben, doch niemand im Armenhaus wurde vermisst. Abgesehen davon hatten die Hände des Opfers im Gegensatz zu denen der hier lebenden Frauen nicht so ausgesehen, als wären sie körperliche Arbeit gewohnt - weder waren sie rot von stundenlangem Schrubben in ätzender Seifenlauge oder dem Aufwischen von Holzböden gewesen, noch hatten sie Schwielen von Nadelstichen beim Nähen von Segeltuch aufgewiesen.
War sie eine Prostituierte gewesen, die ihre besten Jahre hinter sich hatte, vielleicht verzweifelt ein paar Shillings brauchte und darum schnell bereit war, sich überall zu verkaufen, sogar an einem Pier bei Einbruch der Dunkelheit? Das Geld hätte immerhin für eine Mahlzeit oder ein paar Stück Kohle gereicht.
Unwillkürlich stellte er sich die Situation vor: das Angebot, die jeweiligen Bedürfnisse, das kurze Ringen, das sie leicht mit sexueller Gier verwechseln konnte, das plumpe Begehren eines Mannes, der vielleicht wütend auf sich selbst war, weil er auf eine solche Form der Befriedigung angewiesen war, und wütend auf sie, weil sie die Macht hatte, es ihm zu geben, und Geld dafür verlangte. Dann der brutale Schlag und die alles verzehrende Dunkelheit.
Doch warum hatte er sie danach verstümmelt? Hatte er sie gekannt, und steckte unbeherrschbarer persönlicher Hass dahinter? Oder handelte es sich um einen Wahnsinnigen, dem jedes beliebige Opfer genügt hätte? Und wenn es sich so verhielt, stellte dieser Mord dann erst den Anfang dar?
Noch einmal nahmen sie sich die Narrow Street und die Gassen am Rande von Ropemaker's Fields vor, doch keine der Personen, die sie befragten, hatte etwas gesehen, das ihnen weiterhalf, ganz zu schweigen von einem Paar zusammen auf dem Weg zum Pier in - oder kurz vor - der Abenddämmerung. Und wer vielleicht etwas bemerkt hatte, hatte kaum darauf geachtet oder zog es vor, sich nicht daran zu erinnern.
Doch sie mussten in Erfahrung bringen, wer diese Frau war, was für ein Mensch sie vor dem Verbrechen gewesen war.
»Wir lassen eine Zeichnung von ihr anfertigen«, erklärte Monk, als sie am Spätnachmittag unter dem sich verdunkelnden Himmel zur örtlichen Polizeiwache zurückkehrten. »Die Kollegen haben einen Mann, der sich auf den Umgang mit dem Bleistift versteht und ein gutes Auge für Gesichter hat. Wir werden ihn bitten, mindestens zwei Skizzen für uns zu zeichnen. Dann können wir es morgen früh noch einmal versuchen.«
Müde, wie er war, schlief Monk in dieser Nacht gut. Von der Frau am Pier erzählte er Hester nichts, denn er wollte den kurzen Frieden des Abends nicht zerstören. Und falls sie schon ahnte, dass ihn eine Sorge bedrückte, war sie zu klug oder zu sanftmütig, um es zu sagen.
Zeitig am nächsten Morgen wachte er auf und ging vor dem Frühstück los, um an der Ecke Paradise Street und Church Street mindestens zwei Tageszeitungen zu kaufen. Er war auf dem Rückweg noch keine hundert Meter gelaufen, als sich schon seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten. »Frau auf dem Limehouse Pier grausam ermordet!«, lautete die eine Schlagzeile, und: »Frau wie ein Stück Vieh abgestochen«, plärrte ihm die andere entgegen.
Als er die Küchentür erreichte, hatte Monk die Zeitungen so zusammengefaltet und sich unter den Arm geklemmt, dass die Überschriften verdeckt waren. Ihn empfingen die Gerüche von Schinken und Toast und das Pfeifen des Wasserkessels auf dem Herd.
Mit der Toastgabel in der Hand stand Hester am Herd und nahm gerade eine frisch geröstete Scheibe von der Platte, um sie zu den anderen in das Gestell zu stecken, damit sie knusprig blieb. Jetzt schloss sie die Herdklappe und drehte sich lächelnd zu Monk um. Heute trug sie ihren geliebten tiefblauen Rock. Bei ihrem Anblick fiel es Monk leichter, die Erinnerung an Gewalt, Verlust, Kälte, den sich ständig bewegenden Fluss und den Geruch des Todes noch für eine Weile zu verdrängen.
Vielleicht hätte er ihr gestern Abend doch von der Frau erzählen sollen, aber er war müde und durchfroren gewesen und hatte nur den Wunsch gehabt, nicht mehr an die entsetzliche Szene denken zu müssen. Er hatte es nötig gehabt, sich zu wärmen und zu trocknen, an ihrer Seite zu liegen und sie von anderen Dingen reden zu hören - egal, von was, solange es sich um Gesundes und die kleinen, heilsamen Angelegenheiten des Lebens drehte.
Doch Hester brauchte ihn nur anzuschauen, um an seinem Gesicht ablesen zu können, dass irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Sie kannte ihn zu gut, als dass er ihr etwas vormachen konnte - was er auch nie getan hatte. Zwölf Jahre zuvor, als sie sich noch nicht gekannt hatten, war sie im Krimkrieg bei der Armee Krankenschwester gewesen. Von dem Grauenvollen und Bedrückenden, über das er ihr berichten konnte, gab es nur wenig, was sie nicht mindestens genauso gut kannte wie er.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Anne Perry
Anne Perry, 1938 in London geboren, musste als Zehnjährige wegen ihrer angegriffenen Gesundheit England verlassen und verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Mittlerweile begeistert sie mit ihrem Helden, dem Privatdetektiv William Monk, sowie dem Detektivgespann Thomas und Charlotte Pitt ein Millionenpublikum. Die Autorin lebt in Suffolk.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Perry
- 2012, 539 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Pfaffinger, Peter
- Übersetzer: Peter Pfaffinger
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442476364
- ISBN-13: 9783442476367
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