Ein Winter mit Baudelaire
"Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück."
aus "Die braven Hunde" von CHARLES BAUDELAIR
Ein wunderschöner, poetischer Roman über eine ganz besondere...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Ein Winter mit Baudelaire “
"Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück."
aus "Die braven Hunde" von CHARLES BAUDELAIR
Ein wunderschöner, poetischer Roman über eine ganz besondere Freundschaft.
Paris hüllt sich gerade in Herbst, als Phillippe alles verliert, was sein bisheriges Leben ausgemacht hat. Erst wird er von seiner Frau auf die Straße gesetzt und ihm verboten, seine Tochter zu sehen, dann verliert er auch noch seinen Job. Er landet zwangsläufig auf der Straße, wo er fast zu verzweifeln droht. Doch dann begegnet er dem Hund Baudelaire der ihn von nun an begleitet und ihn mit seinem Vierbeiner-Optimismus zurück ins Leben führt. Und schließlich hat Phillippe den Mut für einen Neuanfang.
Aber wird er seine Tochter wiedersehen?
"Ein Buch, das berührt, sehr sogar!"
BRAUNSCHWEIGER ZEITUNG
Lese-Probe zu „Ein Winter mit Baudelaire “
Ein Winter mit Baudelaire von Harold CobertEs war einmal
Auf der Straße ist es menschenleer. Dabei ist die Luft noch mild. Die Abende und Nächte bleiben frisch, aber die laue Lichtfülle des Tages klingt immer deutlicher in ihnen nach. Es ist ein Abend im Mai, Anfang Mai, eine zarte Dämmerung.
Der Sonntag neigt sich dem Ende zu. Die Schatten werden länger, sie strecken und räkeln sich in der Melancholie eines Wochenendes, das diesem Vorort mit seinen kleinen Einfamilienhäusern am Stadtrand von Paris den Rücken kehrt.
Aus den halb geöffneten Fenstern dringen Geräusche von Existenzen, die sich täglich kreuzen wie gebrochene Linien, ohne einander über nachbarschaftliche Höflichkeit oder städtische Gleichgültigkeit hinaus jemals wirklich zu begegnen. In wirren Spiralen entweichen sie, wirbeln einen Moment über dem Asphalt und steigen zum Himmel hinauf, um sich dort im dumpfen, erstickten Dröhnen der Stadt zu verlieren. Gesprächsfetzen überlagern die Stimme der Sprecherin der Acht-Uhr-Nachrichten. Gegenüber schleudert eine Waschmaschine brummend die Wäsche der vergangenen Woche. Ein Stück weiter rennen Kinder lachend durchs Wohnzimmer, während die Mutter, über den Kü-
Der Sternenprinz und die Prinzessin der Morgenröte
... mehr
Claire hat die Augen geschlossen. Ihr Atem geht gleichmäßig und ruhig. Philippe stützt die Hände auf die Knie, steht vorsichtig auf und geht leise auf die Zimmertür zu.
»Papa?«
Philippe dreht sich um, kehrt ans Bett seiner Tochter zurück, streicht ihr sanft übers Haar.
»Schlaf, meine kleine Prinzessin ...«
»Noch eine Geschichte ...«
»Es ist spät, du hast morgen Schule ...«
»Aber ... ich bin schon sechseinhalb !«
»Eben drum, ein großes Mädchen wie du braucht Kraft, damit es gut lernen kann ... «
»Bitte, Papa ...«
Philippe wirft einen Blick zur halb geöffneten Tür, seufzt, setzt sich wieder aufs Bett.
»Also gut, aber nur eine, und zwar eine kurze, sonst schimpft die Mama noch mit mir !«
Mit unterdrücktem Lachen halten sich beide den Zeigefinger vor den Mund und machen »Pst !«.
»Der Sternenprinz und die Prinzessin der Morgenröte!« »Noch mal ?«
»Ja!«
»Aber die habe ich dir doch eben schon erzählt !« »Papa ...«
Philippe sieht seiner Tochter forschend ins Gesicht, in ihre vor Ungeduld glänzenden Augen, und muss lächeln. Kinder lieben es, wenn man ihnen immer wieder die gleiche Geschichte erzählt. Der abgesteckte, vertraute Weg umfängt, umhüllt sie wie eine dicke, beruhigende Daunendecke.
»Na gut ... «
Claire nimmt die Hand ihres Vaters.
»Papa?«
»Ja, Prinzessin ?«
»Wirst du uns auch nicht vergessen, wenn du weg bist ?« »Was für ein Gedanke ! Niemals ! Außerdem bin ich ja nur für ein paar Wochen weg ...«
»Wie viele ?«
Ein angedeutetes Lächeln, dem jede Überzeugung fehlt, huscht über Philippes Gesicht.
»Nicht lang ...«
Claire macht einen Schmollmund.
»Ich rufe dich jeden Abend an, um dir eine Geschichte zu erzählen.«
Die Augen seiner Tochter leuchten.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Claire kuschelt sich tiefer unter die Decke und schließt die Augen. Philippe sieht sie durchdringend an, dann beginnt er mit dem Märchen, das ihm seine Großmutter oft erzählt hat, als er so alt war wie seine Tochter jetzt.
»Vor langer, langer Zeit, so will es eine uralte Legende, gab es die Sterne noch nicht. Nachts war der Himmel schwarz wie Tinte. Die Nacht war das Reich der Götter und bösen Geister und für die Menschen tabu. Weil zwischen den Mächten des Himmels und der Hölle ein heftiger Krieg tobte, traute sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr aus dem Haus. Niemand, bis auf einen jungen Mann und ein junges Mädchen. Sie liebten sich, aber sie stammten aus zwei verfeindeten Dörfern. Wenn sie zusammen waren, strahlten sie vor Glück, und dieses Licht störte die Dunkelheit und durchkreuzte die Pläne der göttlichen Rivalen. So wurde zwischen den himmlischen und den unterirdischen Mächten ein außergewöhnlicher Waffenstillstand beschlossen. Sie verbündeten sich, um das Liebespaar zu fangen. Die beiden wurden getrennt. Den jungen Mann sperrte man in den Himmel und in die Nacht; das junge Mädchen wurde dazu verurteilt, nur auf der Erde und am Tag zu leben. Der junge Mann weinte so bitterlich, dass seine Tränen kleine, glitzernde Löcher in den Schleier der Nacht rissen, und daraus wurden die Sterne. Durch diese funkelnden Öffnungen suchte er unermüdlich den Erdball ab, um seine Geliebte wenigstens zu sehen. Das junge Mädchen aber stand in der Morgenröte auf und starrte minutenlang, während die Sterne vor dem erbleichenden Himmel erloschen, wie gebannt und ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, in die tausend Augen ihres Geliebten. Dann weinte auch sie und bedeckte die Erde mit einer feuchten Tränenschicht, die wir als Morgentau kennen.«
Am Ende der Geschichte angelangt, betrachtet Philippe das schlafende Gesicht seiner Tochter. Er blinzelt nervös.
»Schlaf, meine kleine Prinzessin, die Sterne passen auf dich auf ...«
Vorsichtig löst er seine Finger aus Claires Hand, streichelt ein letztes Mal ihr Haar, das sich wirr übers Kopfkissen breitet, steht leise auf und geht aus dem Zimmer.
Auf der Schwelle
Am Fuß der Treppe ein Koffer. Philippe bleibt stehen und wirft einen kurzen Blick darauf. Durch den Türspalt der Küche dringt das Klirren von Besteck, das ins Körbchen der Spülmaschine fällt.
Einen Moment hält er regungslos inne, dann geht er zu Sandrine, die nach dem Abendessen das schmutzige Geschirr in die Maschine räumt. Vom Türrahmen aus beobachtet er ihr Tun, ohne dass sie ihn eines Blickes würdigt.
Sie hatten sich auf einem Fest kennengelernt. Philippe war aus seinem Heimatort Le Havre in die Hauptstadt geflohen und brachte zu dieser Zeit mit Hilfe von unzähligen kleinen Nebenjobs sein Studium zu Ende. Für Sandrine hatte er damals den Reiz des Exotischen und stellte eine Kampfansage an ihre Herkunft dar. Als Tochter aus gutem Hause stammte sie aus Versailles, kam aus einer Familie, in der Abtreibung ein Tabuthema war, und ihre Eltern hatten die Sache zunächst ignoriert und darauf gewartet, dass ihr diese Flausen wieder vergingen. Aber sie war schwanger geworden. In Versailles sah man sich genötigt, den Schein zu wahren : kleine Hochzeit, diskret und überstürzt, minimale finanzielle Unterstützung, die ausschließlich der kleinen Enkelin und nicht dem unerwünschten Vater zugedacht war.
Ansonsten wollte man nichts damit zu tun haben. Zumindest nicht, solange Sandrine auf ihrem Fehler beharrte. Anfangs hatte die junge Frau, die gegen ihren Clan rebellierte, Philippes Kampfgeist bewundert. Doch die Erinnerung an das frühere Leben hatte an ihren Gefühlen genagt. Ihr Alltag und ihr Ehemann wurden ihr immer mehr zur Qual. Es war wie eine Falle, die über dem Ausreißer zuschnappt.
Sandrine schaltet den Geschirrspüler ein. Sein gelassenes Brummen füllt den Raum. Philippe wendet sich ab und lässt seinen Blick durchs Fenster schweifen. Die Bäume blühen.
»Deine Sachen stehen neben der Tür.«
Er sieht sie wieder an. Sandrine zündet sich eine Zigarette an, atmet langsam die erste Rauchwolke aus, geht ein paar Schritte, nimmt sich einen sauberen Aschenbecher. Ihre Absätze klacken auf dem weißen Fliesenboden.
»An deiner Entscheidung lässt sich nicht mehr rütteln ? Nicht mal für eine Woche oder zwei ?«
Sandrine blickt ihm fest in die Augen.
»Philippe, wir sind jetzt seit drei Monaten geschieden. Ich hatte dir zwei Monate gegeben, um eine Lösung zu finden, aber nichts ist passiert. Ich habe dir noch einen Monat gegeben, immer noch nichts. Ich war mehr als entgegenkommend, findest du nicht ?«
»Man merkt, dass du noch nie gezwungen warst, in meiner Situation eine Wohnung zu finden ...«
Sandrine seufzt.
»Was?«
»Nichts ... Mein Vater hat mich von Anfang an gewarnt ...«
Mit bitterem Lächeln schüttelt Philippe den Kopf.
»Dein Vater ! Für sein geliebtes kleines Töchterchen war ich sowieso nie gut genug ... Ist er derjenige, der sagt, dass ich Claire am Wochenende nur dann zu mir holen darf, wenn ich eine Wohnung habe ?«
Sandrine zieht schweigend an ihrer Zigarette.
»Sag schon, ist er derjenige ?«
»Philippe, ich bin müde. Du machst mich müde.« Sie setzt sich.
»Deine Schlüssel.«
Philippe starrt sekundenlang auf die Hand, die sie ihm entgegenstreckt, dann legt er den Schlüsselbund auf den Tisch.
»Ich werde jeden Abend anrufen.«
Als einzige Reaktion zieht Sandrine wieder an ihrer Zigarette.
»Du kannst verlangen, dass ich eine Wohnung habe, um meine Tochter in angemessener Weise zu empfangen, aber du kannst mich nicht daran hindern, mit ihr zu telefonieren!«
Sandrine atmet den letzten Rauch aus und zerdrückt mit einer schroffen Geste ihre Zigarette.
»Hör zu«, versetzt sie. »Wir beschränken uns von jetzt an aufs absolute Minimum. Hallo und Tschüs, wenn du Claire anrufst. Ansonsten klärst du alles mit meinem Anwalt, okay ?«
Sie starren sich an. Philippe dreht sich wortlos um, nimmt seinen Koffer und verlässt das Haus.
Draußen, auf der Fußmatte, bleibt er mit gesenktem Kopf stehen, den Arm nach hinten gestreckt, die Hand an die Türklinke geklammert.
Aus den Fenstern der Nachbarhäuser dringen noch Geräusche. Wie zuvor entweichen sie in wirren Spiralen, wirbeln einen Moment über dem Asphalt und steigen zum Himmel hinauf, um sich dort im erstickten Brummen der Stadt zu verlieren.
Philippe zündet sich eine Zigarette an und hebt den Kopf. Ziellos streift sein Blick durchs Leere, bis er sich jenseits der kleinen Einfamilienhäuser und Bäume zwischen den Hochhäusern verfängt, die den Blick zum Horizont versperren. Die ersten Sterne zerreißen schon die Dämmerung.
...
Übersetzung: Sabine Schwenk
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Claire hat die Augen geschlossen. Ihr Atem geht gleichmäßig und ruhig. Philippe stützt die Hände auf die Knie, steht vorsichtig auf und geht leise auf die Zimmertür zu.
»Papa?«
Philippe dreht sich um, kehrt ans Bett seiner Tochter zurück, streicht ihr sanft übers Haar.
»Schlaf, meine kleine Prinzessin ...«
»Noch eine Geschichte ...«
»Es ist spät, du hast morgen Schule ...«
»Aber ... ich bin schon sechseinhalb !«
»Eben drum, ein großes Mädchen wie du braucht Kraft, damit es gut lernen kann ... «
»Bitte, Papa ...«
Philippe wirft einen Blick zur halb geöffneten Tür, seufzt, setzt sich wieder aufs Bett.
»Also gut, aber nur eine, und zwar eine kurze, sonst schimpft die Mama noch mit mir !«
Mit unterdrücktem Lachen halten sich beide den Zeigefinger vor den Mund und machen »Pst !«.
»Der Sternenprinz und die Prinzessin der Morgenröte!« »Noch mal ?«
»Ja!«
»Aber die habe ich dir doch eben schon erzählt !« »Papa ...«
Philippe sieht seiner Tochter forschend ins Gesicht, in ihre vor Ungeduld glänzenden Augen, und muss lächeln. Kinder lieben es, wenn man ihnen immer wieder die gleiche Geschichte erzählt. Der abgesteckte, vertraute Weg umfängt, umhüllt sie wie eine dicke, beruhigende Daunendecke.
»Na gut ... «
Claire nimmt die Hand ihres Vaters.
»Papa?«
»Ja, Prinzessin ?«
»Wirst du uns auch nicht vergessen, wenn du weg bist ?« »Was für ein Gedanke ! Niemals ! Außerdem bin ich ja nur für ein paar Wochen weg ...«
»Wie viele ?«
Ein angedeutetes Lächeln, dem jede Überzeugung fehlt, huscht über Philippes Gesicht.
»Nicht lang ...«
Claire macht einen Schmollmund.
»Ich rufe dich jeden Abend an, um dir eine Geschichte zu erzählen.«
Die Augen seiner Tochter leuchten.
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Claire kuschelt sich tiefer unter die Decke und schließt die Augen. Philippe sieht sie durchdringend an, dann beginnt er mit dem Märchen, das ihm seine Großmutter oft erzählt hat, als er so alt war wie seine Tochter jetzt.
»Vor langer, langer Zeit, so will es eine uralte Legende, gab es die Sterne noch nicht. Nachts war der Himmel schwarz wie Tinte. Die Nacht war das Reich der Götter und bösen Geister und für die Menschen tabu. Weil zwischen den Mächten des Himmels und der Hölle ein heftiger Krieg tobte, traute sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr aus dem Haus. Niemand, bis auf einen jungen Mann und ein junges Mädchen. Sie liebten sich, aber sie stammten aus zwei verfeindeten Dörfern. Wenn sie zusammen waren, strahlten sie vor Glück, und dieses Licht störte die Dunkelheit und durchkreuzte die Pläne der göttlichen Rivalen. So wurde zwischen den himmlischen und den unterirdischen Mächten ein außergewöhnlicher Waffenstillstand beschlossen. Sie verbündeten sich, um das Liebespaar zu fangen. Die beiden wurden getrennt. Den jungen Mann sperrte man in den Himmel und in die Nacht; das junge Mädchen wurde dazu verurteilt, nur auf der Erde und am Tag zu leben. Der junge Mann weinte so bitterlich, dass seine Tränen kleine, glitzernde Löcher in den Schleier der Nacht rissen, und daraus wurden die Sterne. Durch diese funkelnden Öffnungen suchte er unermüdlich den Erdball ab, um seine Geliebte wenigstens zu sehen. Das junge Mädchen aber stand in der Morgenröte auf und starrte minutenlang, während die Sterne vor dem erbleichenden Himmel erloschen, wie gebannt und ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln, in die tausend Augen ihres Geliebten. Dann weinte auch sie und bedeckte die Erde mit einer feuchten Tränenschicht, die wir als Morgentau kennen.«
Am Ende der Geschichte angelangt, betrachtet Philippe das schlafende Gesicht seiner Tochter. Er blinzelt nervös.
»Schlaf, meine kleine Prinzessin, die Sterne passen auf dich auf ...«
Vorsichtig löst er seine Finger aus Claires Hand, streichelt ein letztes Mal ihr Haar, das sich wirr übers Kopfkissen breitet, steht leise auf und geht aus dem Zimmer.
Auf der Schwelle
Am Fuß der Treppe ein Koffer. Philippe bleibt stehen und wirft einen kurzen Blick darauf. Durch den Türspalt der Küche dringt das Klirren von Besteck, das ins Körbchen der Spülmaschine fällt.
Einen Moment hält er regungslos inne, dann geht er zu Sandrine, die nach dem Abendessen das schmutzige Geschirr in die Maschine räumt. Vom Türrahmen aus beobachtet er ihr Tun, ohne dass sie ihn eines Blickes würdigt.
Sie hatten sich auf einem Fest kennengelernt. Philippe war aus seinem Heimatort Le Havre in die Hauptstadt geflohen und brachte zu dieser Zeit mit Hilfe von unzähligen kleinen Nebenjobs sein Studium zu Ende. Für Sandrine hatte er damals den Reiz des Exotischen und stellte eine Kampfansage an ihre Herkunft dar. Als Tochter aus gutem Hause stammte sie aus Versailles, kam aus einer Familie, in der Abtreibung ein Tabuthema war, und ihre Eltern hatten die Sache zunächst ignoriert und darauf gewartet, dass ihr diese Flausen wieder vergingen. Aber sie war schwanger geworden. In Versailles sah man sich genötigt, den Schein zu wahren : kleine Hochzeit, diskret und überstürzt, minimale finanzielle Unterstützung, die ausschließlich der kleinen Enkelin und nicht dem unerwünschten Vater zugedacht war.
Ansonsten wollte man nichts damit zu tun haben. Zumindest nicht, solange Sandrine auf ihrem Fehler beharrte. Anfangs hatte die junge Frau, die gegen ihren Clan rebellierte, Philippes Kampfgeist bewundert. Doch die Erinnerung an das frühere Leben hatte an ihren Gefühlen genagt. Ihr Alltag und ihr Ehemann wurden ihr immer mehr zur Qual. Es war wie eine Falle, die über dem Ausreißer zuschnappt.
Sandrine schaltet den Geschirrspüler ein. Sein gelassenes Brummen füllt den Raum. Philippe wendet sich ab und lässt seinen Blick durchs Fenster schweifen. Die Bäume blühen.
»Deine Sachen stehen neben der Tür.«
Er sieht sie wieder an. Sandrine zündet sich eine Zigarette an, atmet langsam die erste Rauchwolke aus, geht ein paar Schritte, nimmt sich einen sauberen Aschenbecher. Ihre Absätze klacken auf dem weißen Fliesenboden.
»An deiner Entscheidung lässt sich nicht mehr rütteln ? Nicht mal für eine Woche oder zwei ?«
Sandrine blickt ihm fest in die Augen.
»Philippe, wir sind jetzt seit drei Monaten geschieden. Ich hatte dir zwei Monate gegeben, um eine Lösung zu finden, aber nichts ist passiert. Ich habe dir noch einen Monat gegeben, immer noch nichts. Ich war mehr als entgegenkommend, findest du nicht ?«
»Man merkt, dass du noch nie gezwungen warst, in meiner Situation eine Wohnung zu finden ...«
Sandrine seufzt.
»Was?«
»Nichts ... Mein Vater hat mich von Anfang an gewarnt ...«
Mit bitterem Lächeln schüttelt Philippe den Kopf.
»Dein Vater ! Für sein geliebtes kleines Töchterchen war ich sowieso nie gut genug ... Ist er derjenige, der sagt, dass ich Claire am Wochenende nur dann zu mir holen darf, wenn ich eine Wohnung habe ?«
Sandrine zieht schweigend an ihrer Zigarette.
»Sag schon, ist er derjenige ?«
»Philippe, ich bin müde. Du machst mich müde.« Sie setzt sich.
»Deine Schlüssel.«
Philippe starrt sekundenlang auf die Hand, die sie ihm entgegenstreckt, dann legt er den Schlüsselbund auf den Tisch.
»Ich werde jeden Abend anrufen.«
Als einzige Reaktion zieht Sandrine wieder an ihrer Zigarette.
»Du kannst verlangen, dass ich eine Wohnung habe, um meine Tochter in angemessener Weise zu empfangen, aber du kannst mich nicht daran hindern, mit ihr zu telefonieren!«
Sandrine atmet den letzten Rauch aus und zerdrückt mit einer schroffen Geste ihre Zigarette.
»Hör zu«, versetzt sie. »Wir beschränken uns von jetzt an aufs absolute Minimum. Hallo und Tschüs, wenn du Claire anrufst. Ansonsten klärst du alles mit meinem Anwalt, okay ?«
Sie starren sich an. Philippe dreht sich wortlos um, nimmt seinen Koffer und verlässt das Haus.
Draußen, auf der Fußmatte, bleibt er mit gesenktem Kopf stehen, den Arm nach hinten gestreckt, die Hand an die Türklinke geklammert.
Aus den Fenstern der Nachbarhäuser dringen noch Geräusche. Wie zuvor entweichen sie in wirren Spiralen, wirbeln einen Moment über dem Asphalt und steigen zum Himmel hinauf, um sich dort im erstickten Brummen der Stadt zu verlieren.
Philippe zündet sich eine Zigarette an und hebt den Kopf. Ziellos streift sein Blick durchs Leere, bis er sich jenseits der kleinen Einfamilienhäuser und Bäume zwischen den Hochhäusern verfängt, die den Blick zum Horizont versperren. Die ersten Sterne zerreißen schon die Dämmerung.
...
Übersetzung: Sabine Schwenk
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Harold Cobert
Harold Cobert, 1974 in Bordeaux geboren, hat Literatur studiert. Nach einem Surfunfall im Alter von zwanzig Jahren begann er zu schreiben. Er ist Theater-, Film- und Fernsehautor und hat in Frankreich unter anderem eine Reihe Essays über Mirabeau veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Harold Cobert
- 288 Seiten, Maße: 13,2 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009949
- ISBN-13: 9783868009941
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