Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Amos Oz hat aus der Geschichte seiner jüdischen Familie einen großartigen Roman geschaffen. Und damit eine Geschichte vom Leben und Überleben, ein Archiv persönlicher und politischer Ambitionen, ein Buch von Liebe, Enttäuschungen und...
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Amos Oz hat aus der Geschichte seiner jüdischen Familie einen großartigen Roman geschaffen. Und damit eine Geschichte vom Leben und Überleben, ein Archiv persönlicher und politischer Ambitionen, ein Buch von Liebe, Enttäuschungen und Hoffnung.
Das literarische Werk von Amos Oz wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
In den 70er-Jahren gründete er in Israel die Friedensbewegung ''Peace now''.
''Ein erhellenderes, klügeres und vielschichtigeres Buch über Israel, über Familien und das, was Menschen zusammenhält und was sie trennt, kann man niemandem empfehlen.''
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Eine Geschichte von Liebe und Finsternis von Amos Oz
LESEPROBE
Die Pioniere genossen,so schien es, in jenen Tagen das höchste Ansehen. Doch sie lebten weit weg vonJerusalem, in den fruchtbaren Tälern, in Galiläa, in der Ödnisam Ufer des Toten Meeres. Ihre kräftigen und gedankenschweren Gestalten zwischenTraktor und gepflügter Scholle sahen und bewunderten wir auf den Plakaten desJüdischen Nationalfonds.
Eine Stufe unter denPionieren rangierte der sogenannte organisierte Jischuw: diejenigen der jüdischen Bevölkerung des Landes,die im Trägerhemd auf dem sommerlichen Balkon den Davarlasen, die Zeitung der Arbeitergewerkschaft Histadrut,die Mitglieder der Histadrut und derGewerkschaftskrankenkasse, die Aktivisten der Untergrundarmee Hagana, dieLeute in Khaki, die Salat-, Spiegelei- und Dickmilchesser, die Befürwortereiner Politik der Zurückhaltung, von Eigenverantwortung, solidem Lebenswandel,Abgaben für den Aufbaufonds, heimischen Produkten, Arbeiterklasse,Parteidisziplin und milden Oliven in den Gläsern von Tnuva.»Von drunten blau, von droben blau, wir bauen uns einen Hafen! Eine Heimat, einenHafen!«
Diesem organisierten Jischuw entgegen standen die Terroristen derUntergrundgruppen wie auch die Ultraorthodoxen von MeaSchearim und die orthodoxen Kommunisten, die »Zionshasser«, und ein ganzes Sammelsurium von Intelligenzlern,Karrieristen und egozentrischen Möchtegernkünstlern deskosmopolitisch-dekadenten Typs, allerlei Außenseiter und Individualisten unddubiose Nihilisten, Jeckes mit ihrem unheilbarendeutsch-jüdischen Gebaren, anglophile Snobs, reiche französisierteOrientalen, die sich in unseren Augen wie hochnäsige Butler gerierten, dazuJemeniten und Georgier und Maghrebiner und Kurden undThessaloniker - alle eindeutig unsere Brüder, alleeindeutig vielversprechendes Menschenmaterial, aberwas kann man machen, man wird noch viel Mühe und Geduld in sie investierenmüssen.
Daneben gab es noch dieFlüchtlinge und die Überlebenden, denen wir im allgemeinen mit Mitleid und auchein wenig Abscheu begegneten: armselige Elendsgestalten - und ist es denn unsereSchuld, daß sie dort bleiben und auf Hitler warten mußten, statt noch rechtzeitig herzukommen? Und warumhaben sie sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen lassen, statt sich zuorganisieren und Widerstand zu leisten? Und sie sollen auch endlich damitaufhören, ihr nebbiches Jiddisch zureden und uns all das zu erzählen, was man ihnen dort angetan hat, denn das,was man ihnen dort angetan hat, macht weder ihnen noch uns viel Ehre. Und überhauptist unser Blick hier ja in die Zukunft gerichtet, nicht in die Vergangenheit,und wenn man schon die Vergangenheit ausgraben muß,dann haben wir schließlich mehr als genug erfreuliche hebräische Geschichte,die biblische und die hasmonäische, es besteht alsokeinerlei Notwendigkeit, sie mit einer derart deprimierenden jüdischen Geschichtezu verunstalten, die nichts als Nöte enthält. (Das hebräische Wort für »Nöte«, zarot, sprach man bei uns immer in seinerjiddischen Form aus, zores, wobei manangewidert das Gesicht verzog, damit das Kind wußte, daß diese zores eineArt von Aussatz waren und zu diesen Leuten, nicht zu uns gehörten.) Einerdieser Überlebenden war Herr Licht, den die Kinder des Viertels »Million Kinders« nannten. Er hatte ein winziges Loch in der Malachi-Straße gemietet, in dem er nachts auf einerMatratze schlief, am Tag rollte er sein Bettzeug zusammen und betrieb dort einkleines Gewerbe, das er »Chemische Reinigung, Mangeleiund Dampfbügelei« nannte. Seine Mundwinkel warenimmer wie verachtungsvoll oder angeekelt herabgezogen. Er saß gewöhnlich ander Tür seines Geschäfts und wartete auf Kundschaft, und wenn ein Kind aus demViertel vorüberging, spuckte er immer zur Seite und zischte zwischen denzusammengekniffenen Lippen hervor: »Eine Million Kindershaben sie totgemacht! Kinders wie ihr da! Abgeschlachtet!«Nicht traurig sagte er das, sondern mit Haß und mitAbscheu, als wollte er uns verfluchen.
Meine Eltern hatten aufdieser Skala zwischen Pionieren und zores-Behaftetenkeinen definierten Platz: Mit dem einen Bein standen sie im organisierten Jischuw (sie waren Mitglieder der Gewerkschaftskrankenkasseund zahlten ihre Abgaben für den Aufbaufonds) - und mit dem anderen Bein in derLuft. Mein Vater stand der Ideologie der Zionisten-Revisionisten um Jabotinsky nahe - und war doch weit entfernt von ihrenBomben und Gewehren. Höchstens stellte er dem Untergrund seine Englischkenntnissezur Verfügung und erklärte sich bereit, von Zeit zu Zeit die verbotenen,flammenden Protestaufrufe gegen das »perfide Albion« zu verfassen. Die Intelligenzia Rechavias locktemeine Eltern von weitem, aber die pazifistischen Ideale des Friedensbundes Brit Schalom um Martin Buber - sentimentale Brüderschaft zwischen Juden undArabern und gänzlicher Verzicht auf den Traum von einem hebräischen Staat, damitdie Araber ein Einsehen mit uns hätten und uns gnädigsterlaubten, hier zu ihren Füßen zu leben -, diese Ideale erschienen meinenEltern weltfremd, unterwürfig und weichlich-lavierend,von der Art, wie sie für die Jahrhunderte des Diasporalebens typisch gewesenwar.
Meine Mutter, die an derPrager Universität ihr Studium begonnen und an der Hebräischen Universität inJerusalem abgeschlossen hatte, gab Privatstunden für Schüler, die sich aufihre Prüfungen in Geschichte und Literatur vorbereiteten. Mein Vater hatteeinen ersten Studienabschluß in Literatur von derWilnaer Universität und dann an der Hebräischen Universität auf dem Skopusberg seinen Magister gemacht, hatte dort jedochkeinerlei Aussicht auf einen Lehrposten zu einer Zeit, als die Zahl derqualifizierten Literaturexperten in Jerusalem die Zahl der Studenten bei weitemübertraf. Hinzu kam, daß viele dieser Dozentenakademische Titel erster Güte hatten, glänzende Examensurkunden berühmterdeutscher Universitäten, im Unterschied zu Vaters schäbigem Universitätsgradpolnischer und Jerusalemer Provenienz. So fand er nur eine Stelle als Bibliothekarin der Nationalbibliothek auf dem Skopusberg, undnachts schrieb er seine Bücher über die Novelle in der hebräischen Literaturund über die Geschichte der Weltliteratur.
Mein Vater war einkultivierter, höflicher, energischer, doch auch ziemlich schüchternerBibliothekar mit runder Brille, Krawatte und leicht abgewetztem Jackett,verbeugte sich vor Höherstehenden, hielt Frauen eilfertig die Tür auf, bestand nachdrücklichauf seinen wenigen Rechten, zitierte leidenschaftlich Gedichtverse in zehnSprachen und erzählte, in seinem steten Bemühen, nett und amüsant zu sein,immer wieder dieselben Witze (die bei ihm Anekdoten oder Scherze hießen). Abersein Witzeln hatte meist etwas Angestrengtes, war kein Humor von spontanerLebendigkeit, sondern eher eine Absichtserklärung im Sinn unserer Pflicht,gerade in widrigen Zeiten Heiterkeit zu verbreiten.
Wann immer Vater sicheinem Pionier in Khaki gegenübersah, einem Revolutionär, einem zum Arbeitermutierten Akademiker, geriet er in peinliche Verlegenheit. In Wilna oder in Warschauwar völlig klar gewesen, wie man ein Gespräch mit einem Proletarier führte.Jeder kannte seinen Platz, und doch mußte man diesemArbeiter unmißverständlich zeigen, daß man demokratisch eingestellt war und sich nicht imgeringsten für etwas Besseres hielt. Aber hier, in Jerusalem, war alles nicht eindeutig.Nicht auf den Kopf gestellt, nicht wie bei den Kommunisten in Rußland, sondern zweideutig: Einerseits gehörte Vater zumMittelstand, zwar eher zum unteren Mittelstand, aber immerhin entschieden zumMittelstand, er war ein gebildeter Mann, der Aufsätze und Bücher schrieb undeinen bescheidenen Posten an der Nationalbibliothek innehatte, und seinGesprächspartner war ein verschwitzter Bauarbeiter in Arbeitskleidung undschweren Schuhen. Andererseits hieß es, dieser Arbeiter habe ein Diplom inChemie und sei auch ein wahrer Pionier, das Salz des Landes, ein Held derhebräischen Revolution, ein Mann, der von seiner Hände Arbeit lebte, währendVater sich - zumindest tief drinnen - immer als leicht entwurzelten,kurzsichtigen Intellektuellen mit zwei linken Händen betrachtete, eine ArtDeserteur, der sich vor der Front - dem Aufbau des Heimatlandes - drückte.(...)
© Suhrkamp Verlag,Frankfurt am Main, 2004
Übersetzung: RuthAchlama
Amos Oz wurde am 4. Mai 1939 in Jerusalem geboren und starb am 28. Dezember 2018 in Tel Aviv. 1954 trat er dem Kibbuz Chulda bei und nahm den Namen Oz an, der auf Hebräisch Kraft, Stärke bedeutet. Amos Oz war Mitbegründer und herausragender Vertreter der seit 1977 bestehenden Friedensbewegung Schalom achschaw (Peace now) und befürwortete eine Zwei-Staaten-Bildung im israelisch-palästinensichen Konflikt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1992, dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main 2005 und dem Siegfried Lenz Preis 2014. Sein bekanntestes Werk Eine Geschichte von Liebe und Finsternis wurde in alle Weltsprachen übersetzt und 2016 als Film adaptiert.
Ruth Achlama, geboren 1945 in Quedlinburg, studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Bibliothekswissenschaft in Jerusalem. Heute ist sie hauptberuflich als freie Übersetzerin tätig und lebt in Tel Aviv.
Ruth Achlama, geboren 1945, lebt seit 1974 in Israel und übersetzt seit fast dreißig Jahren aus dem Hebräischen ins Deutsche, darunter Werke von Amoz Oz, Abraham B. Jehoschua und Meir Shalev. 2015 wurde sie mit dem ersten "Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis" ausgezeichnet.
- Autor: Amos Oz
- 2006, 9. Aufl., 828 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Achlama, Ruth
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518457888
- ISBN-13: 9783518457887
Tilman Krause, DIE WELT
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