Eine sehr kleine Frau
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Peter Henisch setzt sich hier, mehr als dreißig Jahre nach "Die kleine Figur meines Vaters", noch einmal mit seiner Familiengeschichte auseinander - ein Buch, das bleiben wird.
Eine sehr kleine Frau von PeterHenisch
LESEPROBE
Gewiß, nicht nur Märchen hatte mir die Großmutter erzählt.Jetzt allerdings, da ich mich zu erinnern versuchte, welche Geschichte die erstewar, die sie mir erzählt hatte, oder jedenfalls die, welche, wieder und wiedererzählt, in meiner Erinnerung am tiefsten wurzelte, fiel mir trotzdem ein Märchenein. Dornröschen. Die exemplarische Geschichte. Der Archetypus einerGeschichte. Womöglich kam mir Dornröschen auch deshalb in den Sinn, weil es sogut zu der Atmosphäre paßte, mit der ich die Großmutterund mich durch die Stadt meiner frühen Kindheit gehen sah. Die Gassen mit denSchutthalden, auf denen das Unkraut imponierend wuchert. Die Ziegelmauern undPlanken, hinter denen wer weiß was sein mag. Vor allem aber die verwilderten Gärten.Von der Dornenhecke, hinter der Dornröschen schlief, hatte ich eine aus diesenKomponenten zusammengesetzte Vorstellung.
Dornröschenalso, die ausführlich schlafende Schöne. Daß sie solang schlief, lag daran, daß sie sich vorher an einerSpindel gestochen hatte. Das wieder lag daran, daßdie dreizehnte Fee beleidigt war. Die man nämlich nicht zur Taufe eingeladenhatte - ein entscheidender faux pas.Die Großmutter war als junges Mädchen in Paris gewesen, darum gebrauchte siegern französische Wendungen. Sie kultivierte auch die französischen Begriffe,die damals noch vage und meist schlimm artikuliert zum Wiener Wortschatz gehörten.Meinte sie den Gehsteig, so sagte sie Trottoir, redete sie von ihrer Geldbörse,so sprach sie vom Portemonnaie, den Schaffner in der Straßenbahn, die wir nurbenutzten, wenn wir, wie sie das nannte, weiter draußen spazierengehenwollten, bezeichnete sie als Conducteur. Die dreizehnteFee faßte den faux pas, daß man sie nicht zu DornröschensTaufe eingeladen hatte, sogar als affront auf. Nein,richtig französisch parlieren, sagte die Großmutter, könne sie natürlich nichtmehr. Aber damals, als sie in Paris gewesen sei, habe sie es eingermaßen gelernt. Wieder fiel mir ein Bild von ihr ein,jetzt hatte ich auch die Schachtel vor Augen, in der sie diese alten Fotos aufbewahrte.Eine Schachtel, die sie aus dem untersten Fach des Wäschekastens nahm, und aufderen Deckel, wie mir jetzt schien, eine Mondsichel abgebildet gewesen war, voreinem im Lauf der Zeit sehr verblaßten Sternenhimmel.Auf dem Foto war irgendein Stempel mit einem französischen Namen gewesen.Sobald ich lesen konnte, versuchte ich den Namen zu buchstabieren. Kein oberflächlicherStempel, sondern ein tief eingeprägter, man konnte ihn auch mit den Fingerntasten. Aber es war nicht leicht, die richtige Aussprache zu begreifen. Wiehatte der Fotograf bloß geheißen? Und wie die Straße, in der er sein Atelierhatte? Nein, ich konnte mir die Namen nicht in Erinnerung rufen. Aber die Großmutter,wie sie auf dem Foto abgebildet war, glaubte ich jetzt fast lebendig vor mir zusehen. Da stand sie, ein junges Mädchen, sich auf die Lehne eines Louis-Quinze-Sessels stützend. Nicht frontal fotografiert,sondern im Halbprofil, die schwarzen, gelockten Haare im Nacken mit einer schmetterlingshaften Schleife zusammengebunden. Die Augengroß, dunkel, mit schönen, einen professionell positionierten Scheinwerfer spiegelndenLichtern. Gleichzeitig schüchtern und sehnsüchtig dreinsehendunter den feingeschwungenen Brauen. Das Gesicht,besonders das Kinn, war etwas zu weich modelliert, der Hals schlank, der Körperdarunter steckte in einem hellen Sommerkleid. Es mußteein kleiner, zarter, bei aller Schüchternheit aufblühender Körper gewesen sein.Sie erblühte zur Jungfrau. Was heißt das, Oma? Das heißt, auf einmal war sieein hübsches Mädel. Dornröschen nämlich. An dem sich alle Wünsche der Feen erfüllthatten, bis auf den einen. Sie erblühte kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag.Als die Oma in Paris blühen durfte, war sie bereits siebzehn. In diesem Alterlag Dornröschen schon in einem hundertjährigen Schlaf.
In Paris,sagte die Großmutter, sei sie natürlich auf den Eiffelturm hinauf gefahren.Dort habe es schon im Jahr 1910 Aufzüge gegeben. In so einem ascenseur also sei sie gefahren, und zwar mit ihrem Cousin.Und dieser Cousin sei ein gutaussehender Student gewesen. Von dort habe sie dieganze, große Stadt gesehen. Viel größer als Wien, sagte sie, Dächer und Straßenzügebis zum Horizont. Wenn sie daran denke, werde ihr noch heute das Herz weit.Unten jedoch habe ihre Tante gewartet. Die Tante nämlich war nicht ganzschwindelfrei. Ihr hingegen habe die Höhe im Gegensatz zu später noch nichtsausgemacht. Außerdem habe der Cousin seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Ichwar aber dumm, sagte sie, deine Großmutter als siebzehnjähriges Mädel - kannstdu dir das vorstellen? Damals, als sie mir solche Geschichten neben Dornröschenerzählte, konnte ich das noch kaum. Jetzt, da sie längst auf dem Zentralfriedhoflag, aber meine Erinnerung etwas von ihr wieder lebendig zu machen versuchte,konnte ich es vielleicht etwas besser.
Wie siemit dem Cousin wieder abwärts fuhr. Wie er ihr den Arm nicht nur um dieSchulter, sondern auch um die Taille legte. Ich weiß nicht einmal mehr, sagtedie Großmutter, wie dieser Cousin mit Vornamen geheißen hat. Genaugenommen warer ein Cousin zweiten Grades. Die Familie der Großmutter war weit verzweigt. DieFamilie der Großmutter war weit verzweigt gewesen. Dornröschen aber stach sichan einer Spindel. Anfangs wußte ich noch nicht, worumes sich bei einer Spindel handelte. Die Königstochter wußtedas auch nicht, aber bei ihr war das kein Wunder. Hatte ihr Vater doch alleSpindeln in seinem Königreich verbrennen lassen. Vielleicht keine so gute Idee.Hätte Dornröschen gewußt, wie man mit einer Spindelumgeht, so hätte sie sich an ihrem ominösen Geburtstag geschickter verhalten. Fürden ihr nämlich genau das prophezeit worden war. Daßsie sich an einer Spindel stechen und dann hundert Jahre lang schlafen würde.Und dabei war das nur halb so schlimm, denn wenn es nach der beleidigten Feegegangen wäre, so wäre sie nach der Verletzung durch die Spindel totumgefallen. Tot, was ist das, ich ahnte es und konnte es trotzdem nicht fassen.Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann mich die Ahnung davon zum ersten Malberührt hatte. War das in der Inneren Stadt, im Volksgarten gewesen oder draußenim Schönbrunner Schloßpark?Sowohl da als auch dort waren die Großmutter und ich zahllose Male gewesen.
© Zsolnay Verlag & Deuticke
- Autor: Peter Henisch
- 2007, 256 Seiten, Maße: 13,4 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Deuticke
- ISBN-10: 3552060677
- ISBN-13: 9783552060678
- Erscheinungsdatum: 25.08.2007
"Henischs neuer kulturpsychologischer Roman beweist wieder einmal seinen anerkannten Status als großen Epiker dieses Landes." Walter Grünzweig, Standard, 25.08.2007
"Ein Autor, der nicht nur zu erzählen weiß, sondern auch weiß worüber. Ein Chronist der Peripherie, der nicht das kaisergelbe Wien, sondern das ziegelrote erkundet, erzählt er von kleinen, um ihr Glück betrogenen Leuten, deren Aufbegehren und Scheitern er im Gedächtnis der Literatur zu retten versucht." Karl Markus Gauß, Süddeutsche Zeitung, 03.09.2007
"Ein leises Meisterwerk: In schlichten, melodischen Sätzen hat es die Zeit aufgehoben." Ulrich Weinzierl, Die literarische Welt, 15.09.2007
"Ein Erinnerungskunststück, das die erstaunliche Balance zwischen rückschauender Genauigkeit und schwerelosem Fantasieren, Poetisieren zu wahren weiß." Wolfgang Paterno, profil, 01.10.2007
"Ohne jemals kitschig zu sein und ohne jede ironische Überheblichkeit erzählt Henisch die Geschichte einer einfachen Frau. In sanften Sprüngen wechselt der Roman von der Wiener Gegenwart in die Vergangenheit, nimmt die Erzählungen der Großmutter auf und ergänzt sie mit den eigenen Erinnerungen." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 04.10.2007
"Eins der leisesten und schönsten Bücher dieses Herbstes." Die Welt, 06.10.2007
"Ein Roman reich an Erzählmomenten, die einem zu Herzen gehen wie der schlicht geniale Titel." Angela Wittmann, Brigitte, 04.10.2007
"Familiäre Wirrnisse, psychlogische Seelenerforschung, ein ergreifendes Frauenportrait im Kontext historischer Katastrophenerfahrung - ein packender Roman." Focus, 08.10.2007
"Henisch schreibt so scheinbar leicht, so heiter-melancholisch, wie Franz Schubert komponierte; und fesselt den Leser immer neu an diese Geschichte." SPIEGEL, 22.10.2007
"Henisch ist der Glücksfall eines Autors, in dessen literarischen
"Henischs neuer kulturpsychologischer Roman beweist wieder einmal seinen anerkannten Status als großen Epiker dieses Landes." Walter Grünzweig, Standard, 25.08.2007
"Ein Autor, der nicht nur zu erzählen weiß, sondern auch weiß worüber. Ein Chronist der Peripherie, der nicht das kaisergelbe Wien, sondern das ziegelrote erkundet, erzählt er von kleinen, um ihr Glück betrogenen Leuten, deren Aufbegehren und Scheitern er im Gedächtnis der Literatur zu retten versucht." Karl Markus Gauß, Süddeutsche Zeitung, 03.09.2007
"Ein leises Meisterwerk: In schlichten, melodischen Sätzen hat es die Zeit aufgehoben." Ulrich Weinzierl, Die literarische Welt, 15.09.2007
"Ein Erinnerungskunststück, das die erstaunliche Balance zwischen rückschauender Genauigkeit und schwerelosem Fantasieren, Poetisieren zu wahren weiß." Wolfgang Paterno, profil, 01.10.2007
"Ohne jemals kitschig zu sein und ohne jede ironische Überheblichkeit erzählt Henisch die Geschichte einer einfachen Frau. In sanften Sprüngen wechselt der Roman von der Wiener Gegenwart in die Vergangenheit, nimmt die Erzählungen der Großmutter auf und ergänzt sie mit den eigenen Erinnerungen." Paul Jandl, Neue Zürcher Zeitung, 04.10.2007
"Eins der leisesten und schönsten Bücher dieses Herbstes." Die Welt, 06.10.2007
"Ein Roman reich an Erzählmomenten, die einem zu Herzen gehen wie der schlicht geniale Titel." Angela Wittmann, Brigitte, 04.10.2007
"Familiäre Wirrnisse, psychlogische Seelenerforschung, ein ergreifendes Frauenportrait im Kontext historischer Katastrophenerfahrung - ein packender Roman." Focus, 08.10.2007
"Henisch schreibt so scheinbar leicht, so heiter-melancholisch, wie Franz Schubert komponierte; und fesselt den Leser immer neu an diese Geschichte." SPIEGEL, 22.10.2007
"Henisch ist der Glücksfall eines Autors, in dessen literarischen
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eine sehr kleine Frau".
Kommentar verfassen