Eine Tat wie diese
Devon ist eine Musterschülerin, begabt, fleißig und verantwortungsvoll. Und jetzt ist ausgerechnet sie des Mordes angeklagt: Denn ihr Baby wurde in einer Mülltonne hinter dem Haus gefunden. Niemand glaubt ihr, dass sie im Affekt gehandelt hat. Aber wie sieht die Wahrheit aus?
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Eine Tat wie diese “
Devon ist eine Musterschülerin, begabt, fleißig und verantwortungsvoll. Und jetzt ist ausgerechnet sie des Mordes angeklagt: Denn ihr Baby wurde in einer Mülltonne hinter dem Haus gefunden. Niemand glaubt ihr, dass sie im Affekt gehandelt hat. Aber wie sieht die Wahrheit aus?
Klappentext zu „Eine Tat wie diese “
Die 15-jährige Devon ist Musterschülerin, verantwortungsbewusst und ein großes Fußballtalent. Doch jetzt sitzt ausgerechnet sie in Untersuchungshaft, angeklagt des Mordversuchs, der Misshandlung und Aussetzung. Denn das Baby, das in einer Mülltonne hinter dem Haus gefunden wurde, ist ihr Kind. Und niemand glaubt Devon, dass sie von der Geburt völlig überrascht wurde und im Affekt gehandelt hat. Eine mühevolle Suche nach der Wahrheit beginnt. Und dabei steht nicht weniger auf dem Spiel, als Devons Zukunft ...
Lese-Probe zu „Eine Tat wie diese “
Eine Tat wie diese von Amy EfawKapitel eins
... mehr
Im Fernsehen läuft irgendeine öde Morgenshow. Das Bild ist schlecht, der Ton abgeschaltet. Aber das ist Devon egal. Sie starrt einfach nur auf den Bildschirm, während sich die Figuren lautlos vor ihren Augen bewegen. Worum es geht, interessiert sie nicht. Fest in eine Decke gewickelt liegt sie auf der Couch. Sie ist erschöpft, ihr Kopf ist leer. Nieselregen streift die Fenster. Das gleichmäßige Geräusch beruhigt sie. Graues Morgenlicht dringt durch die Jalousien in den Raum. Doch das trübe Wetter stört sie nicht. Irgendwie fühlt es sich passend an. Genau richtig.
Langsam fallen ihr die Augen zu.
Draußen ist das Rasseln eines Schlüsselbundes zu hören.
Sofort schlägt sie die Augen auf und blinzelt verwirrt. Sie beginnt zu zittern und hat plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Ihr ist kalt und sie fürchtet, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen.
»Verdammt!«
Eine Stimme. Da ist jemand! Sie reißt den Kopf hoch und wendet sich in Richtung Tür. Sie verkrampft sich. Einen Herzschlag lang, zwei.
»Jetzt reicht's. Ich habe ein für alle Mal ... genug!«
Devon atmet auf und lässt sich wieder in die Couch sinken. Es ist nur ihre Mutter, die vor sich hin schimpft. Und wie so oft in letzter Zeit wird ihr Fluchen von den Geräuschen eines Kampfes mit dem Schloss begleitet, weil der letzte Freund ihrer Mutter die Tür eingetreten hat. Der Vermieter sollte sie zwar reparieren, hat aber nicht ordentlich gearbeitet und seitdem klemmt sie.
»Dieser ... Pfuscher ... kriegt ... keinen Cent ... mehr von mir ... bis er seinen nutzlosen ... Arsch ... hierherbewegt ... und die Tür vernünftig repariert! Das meine ich ernst! Nicht ... einen Cent kriegt der vorher.«
Kurz streift Devon der Gedanke, dass sie ihrer Mutter mit der Tür helfen sollte. Von innen lässt sie sich leichter öffnen. Oder sie sollte sich von der Couch erheben und sich in ihr Zimmer zurückziehen, überlegt sie, doch auch dazu kann sie sich nicht aufraffen.
»Dem werde ich was erzählen!«
Die Tür geht auf und fällt kurze Zeit später wieder zu. »Devon?«
Devon zieht die Decke höher.
»Bist du nicht in der Schule?«
Devon antwortet nicht. Sie starrt auf den Fernseher, von dem ihr Gesichter entgegengrinsen.
»Devon? He ... « Ihre Mutter reißt an der Schnur der Jalousie gleich neben dem Eingang. Mehr graues Licht dringt bis in die letzten Winkel des Raumes und verdrängt das Halbdunkel. »Alles in Ordnung?«
Klack! Klong! - Mit Schwung schleudert Devons Mutter die Schuhe von den Füßen. Sie hört ihre Mutter näher kommen, nimmt das gedämpfte Geräusch auf dem fleckigen Teppich wahr, wenn sie auftritt. Es ist nicht weit. Von der Tür bis zur Couch sind es ungefähr fünf Schritte. Nur Sekunden später spürt Devon, wie sie sich über sie beugt. Das blonde Haar berührt Devons Gesicht. Beim Einatmen kann sie sie riechen - eine Mischung aus Feuchtigkeit, billigem Parfum, Zigaretten und Pfefferminz-Kaugummi. Ihre Mutter behauptete, »schon vor Wochen« mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Hier ist der Beweis, dass sie gelogen hat. Wieder einmal.
»Komm schon, Dev - ich schufte die ganze Nacht, und wenn ich meine Tochter zum ersten Mal seit Tagen sehe, bekomme ich nicht einmal ein ›Hallo‹ oder etwas Ähnliches zur Begrüßung?« Sie wartet einen Moment. »Geht es dir nicht gut, Schatz?« Sie drückt ihre kalte Hand auf Devons Stirn und lässt sie einen Moment dort liegen. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Einfach so zu Hause zu bleiben passt gar nicht zu dir, Dev. Aber schön, dass du da bist.«
Devon sieht ihre Mutter, die sich noch immer über sie beugt, aus ihren dunklen Augen an und zwingt sich zu einem kurzen Lächeln. Dann lässt sie sich tiefer in die Couch sinken.
Ihre Mutter scheint erst einmal zufrieden zu sein, denn sie richtet sich auf und entfernt sich. »Mann, war das eine üble Nacht«, stöhnt sie und lässt sich in den klapprigen Fernsehsessel fallen - das einzige Möbelstück, das ihr letzter Freund zum Hausstand beigetragen und zurückgelassen hat, als die Beziehung zu Ende war. »Ich sag dir, lange mach ich diesen Job zu nachtschlafenden Zeiten nicht mehr mit. Du wirst sehen ... «
Dann tischt ihre Mutter ihr all die banalen Dramen auf, die sie während ihrer Nachtschicht an der Supermarktkasse bei Safeway erlebt hat, doch Devon bekommt nicht viel davon mit. Die Worte erreichen sie nicht. Sie hält den Blick starr auf den Fernseher gerichtet, auf die stumme Comedyeinlage in der Morgenshow, bei der verschiedene Take-away-Cafés getestet werden. Sie sieht die Darsteller mit offenen Mündern lachen, wie sich ihre Lippen bewegen, sie ihre Augen kokett aufschlagen, wie sie sich necken.
Plötzlich springt Devons Mutter auf. Devon erschrickt. Sie schaut ihrer Mutter hinterher, die sich, noch immer plappernd, auf den Weg in die Küche macht. »Stell dir vor - eben steige ich aus dem Bus, okay? Und draußen herrscht das absolute Chaos. Krankenwagen mit Blaulicht, das volle Programm. Und überall stehen Menschen herum ... «
Devon kann ihrer Mutter nur schwer folgen. Sie merkt, wie sie immer wieder wegdriftet, sosehr sie sich auch bemüht dagegen anzukämpfen. Sie zwingt sich die Augen offen zu halten, wieder auf den Fernseher zu starren, um einen Fixpunkt zu haben. Werbung flimmert über den Bildschirm. Vier Frauen spielen Tennis in der Sonne, es scheint warm zu sein.
»Natürlich wollte ich wissen, was los ist.«
Devon hört jetzt in der Küche den Wasserhahn laufen, eine Schranktür schlägt irgendwo gegen. Sie macht sich eine Ovomaltine, denkt Devon. Halb Wasser, halb Milch, wie immer. Der übliche Schlummertrunk ihrer Mutter.
»Dann sehe ich einen Polizisten. In Zivil, aber du weißt schon, allein die Frisur verrät sie. Das ist so was von eindeutig. Ob die ernsthaft glauben, damit irgendjemanden zu täuschen? Sah aber nicht schlecht aus, der Typ -«
Im Fernsehen wird jetzt für ein Fitnessstudio geworben, eine Frau mit Pferdeschwanz, breitem Lächeln und superflachem Bauch demonstriert Kickboxen - Fuß, Faust, Treffer.
»Er war gerade dabei, die Mülltonne hinter dem Haus mit gelbem Band abzusperren. Nicht die, die wir immer benutzen, sondern die andere, die große. Du weißt schon, ein Stück weiter den Weg runter ... «
Die Stimme ihrer Mutter wird abwechselnd lauter, dann wieder ganz leise. Zwischendurch scheint sie weit weg zu sein, dann wieder sehr nah. Dazwischen Totenstille. Wie ein Handytelefonat mit schlechtem Empfang.
»... Ich bin zu ihm ... und frage, was los ist ...«
Die Mikrowelle piept. Devon zuckt zusammen. Sie hört, wie die Tür der Mikrowelle geöffnet und wieder geschlossen wird. Hört, wie ihre Mutter die Ovomaltine einrührt. Der Löffel klirrt am Becherrand.
»Du glaubst es nicht, Devon.«
Devons Gedanken sind bei der braunen Milch. Sie dreht sich ... immer schneller ... ein brauner, kreisender Milchstrudel. Sie kämpft gegen den Schwindel ... schließt die Augen.
»Du kommst im Leben nicht darauf, was sie dort im Müll gefunden haben.«
Müll. Irgendwie macht ihr das Wort Angst. Müll ... das Wort erinnert sie an etwas ... Doch dann kann sie sich nicht mehr konzentrieren.
»Armes, kleines Ding. Weggeworfen, wie die Pizzareste vom Vorabend.«
Pizza? Wieso redet sie jetzt von »Pizza«? Devon ist gedanklich noch bei dem nicht so schlecht aussehenden Typen und der Ovomaltine. Und bei dem Müll. Ihr ganzer Körper fühlt sich so schwer an. Und ihr ist so kalt ...
»Gesehen habe ich es allerdings nicht, denn - stell dir vor - es war noch am Leben! Sie hatten es schon ins Krankenhaus gebracht.«
Pizza im Krankenhaus? Devons Augen sind jetzt nur noch Schlitze und sie nimmt bloß halb wahr, dass ihre Mutter aus der Küche zurückkehrt. Vorsichtig trägt sie den Becher zum Fernsehsessel. An der Couch bleibt sie stehen und mustert Devon.
Dann hebt sie den Becher an ihre Lippen und trinkt schlürfend.
Bitte, Mom. Geh weg. Lass mich in Ruhe. Ich bin so müde ...
»Das Erschreckende ist, dass wir die Person, die das getan hat, wahrscheinlich kennen. Wahrscheinlich sind wir ihr auf dem Weg zur Waschmaschine oder so schon tausend Mal begegnet. Oder zumindest im Bus. Wahrscheinlich sieht sie ganz normal aus. Gruselig. Es gibt so viele kranke Gestalten, das glaubst du gar nicht. Bei Safeway an der Kasse siehst du sie die ganze Nacht ... «
Erst als ihre Mutter plötzlich verstummt und alles still ist, schreckt Devon auf. Sie schiebt sich unter der Decke hoch, dreht sich um und blickt zu ihrer Mutter hinüber. Sie hat den Fernsehsessel ganz nach hinten geklappt, der leere Becher liegt nachlässig neben ihr auf dem Boden. Devon kann den Schokoladenrand darin sehen.
Ihre Mutter erwidert Devons Blick und seufzt. »Ach, ist es nicht wundervoll, Dev? Auf diese Weise können wir heute wenigstens mal Zeit miteinander verbringen. Du solltest öfter krank sein.« Sie lacht und wartet auf eine Reaktion ihrer Tochter.
Doch Devon wendet sich wieder dem Fernseher zu.
»Ich bin noch gar nicht richtig müde. Ich muss erst mal eine Weile runterkommen, bevor ich überhaupt daran denken kann, ins Bett zu gehen.« Sie hält inne. »Also, wozu hast du Lust?« Erneut wartet sie ab. »Wir könnten uns einen Film besorgen. Ich könnte Popcorn machen. Das haben wir lange nicht mehr getan. Das wäre doch nett, oder? Ein Film und Popcorn dazu?«
Die Stimme ihrer Mutter klingt so hoffnungsvoll und begeistert, dass Devon es nicht übers Herz bringt abzulehnen. Ihre Mutter will Zeit mit ihr verbringen. Nur mit ihr. Aber Devon will keinen Film schauen. Oder Popcorn essen. Sie will überhaupt nichts tun. Heute nicht.
Einen langen Moment ist ihre Mutter still. Vielleicht ist es auch viel länger als ein Moment. Devon kann es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht sind es viele lange aneinandergereihte Momente. Vielleicht ist sie zwischendurch sogar eingeschlafen.
»Na, du bist ja heute mächtig gesprächig.« Die Stimme ihrer Mutter klingt plötzlich anders. Hoffnungsvoll und begeistert ist sie jetzt nicht mehr. Stattdessen sarkastisch, vielleicht sogar ein wenig verletzt. Doch um die Situation zu retten, ist es zu spät. »Weißt du ... na gut. Wenn du weiter so daliegen willst wie ein Stein, dann mach wenigstens den Ton an.«
Ihre Mutter schwingt sich aus dem Sessel und schaut vorwurfsvoll auf Devon hinunter. »Du könntest zumindest antworten. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Du liegst schließlich nicht im Sterben ... «
Devon schließt die Augen.
»Und ich schalte auf meinen Sender um. Diese blöde Show kann ich nicht ertragen. Wo hast du die Fernbedienung versteckt?«
Jemand klopft an die Tür. Drei Mal. Laut.
Reflexartig öffnet Devon die Augen und starrt hinüber.
Ihre Mutter schlurft verärgert zum Eingang und schimpft dabei: »Schon mal darüber nachgedacht, dass es Leute gibt, die um diese Zeit schlafen?«
Sie fingert am Schloss herum und reißt dann die Tür auf. »Ja bitte?«
Devon fährt zusammen und vergräbt das Gesicht unter der Decke. Nur ihre dunklen Augen und das schwarze Haar, das ihr am Kopf klebt, schauen noch hervor.
»Ach Sie!« Devon sieht, wie ihre Mutter den Kopf ein wenig zur Seite neigt, erst nach links, dann nach rechts. »Hallo!« Sie spricht plötzlich in einer vollkommen anderen Tonlage. Höher. Flirtend.
Devon kann nicht erkennen, wer draußen steht, wer der Grund dafür ist, dass ihre Mutter plötzlich wie ausgewechselt ist. Sie sieht nur die Umrisse einer Person.
»Wissen Sie nicht mehr? Wir sind uns doch vorhin auf dem kleinen Weg hinter dem Haus begegnet!« Lässig lehnt sich Devons Mutter, eine Hand in die Hüfte gestemmt, an den Türrahmen. »Ich habe Sie gefragt, was los ist.« Wieder legt sie den Kopf zur Seite. »Sie sind doch der, der das Band angebracht hat.« Sie wirft ihr langes blondes Haar über die Schulter. »Dieses gelbe Zeug.«
Gelb ... gelb. Die Haarfarbe ihrer Mutter. Die Farbe der Sonne, die durch öde, graue Wolken dringt. Die Farbe eines Zitronenbonbons. Kurz gibt Devon ihrem inneren Drang nach und schließt die Augen.
»Sie erinnern sich doch auch an mich, oder?« Devons Mutter kichert. »Natürlich erinnern Sie sich, das sehe ich Ihnen doch an ... «
»Ja schon, ich weiß noch, dass ich, ähm, vorhin mit Ihnen gesprochen habe ... «
Die Stimme klingt ganz anders als die ihrer Mutter. Kräftiger und tiefer.
Ihre Mutter spricht mit einem Mann. Wie sollte es anders sein.
»Aber weshalb ich um diese Uhrzeit bei Ihnen klopfe, ist -«
»Bäng! Bäng! Bäng!« Devons Mutter lacht. »Ich dachte, so etwas machen Sie nur mit Ihrer ... ähm ... Waffe.«
»- äh, ja.« Der Mann an der Tür räuspert sich.
Devon merkt, wie sie sich langsam entspannt. Ihre Mutter lässt nur wieder einmal ihren »Charme« spielen. Wie immer allerdings viel zu penetrant. Und billig. Auf diese Art und Weise zieht sie nur eine Sorte Männer an: Loser.
»Entschuldigen Sie die Störung«, fährt der Mann fort. »Es wird nicht lange dauern. Ich bin -«
Devon gibt jetzt ihrer Erschöpfung nach und zwingt sich nicht mehr zur Konzentration. Ihre Augen sind nach wie vor auf die Tür gerichtet, aber ihr Blick ist verschleiert.
»Ron.« Devons Mutter schiebt die Tür mit dem Zeh ein kleines Stück weiter auf. »Und Sie sind Bruce, sagten Sie? Ron und Bruce also. Und ich bin Jennifer Davenport. Na los, schreiben Sie's schon in Ihr kleines Notizbuch, Ron. Und meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu beeilen, und wenn es Stunden dauert. Für Sie habe ich den ganzen Tag Zeit.«
Devon öffnet ein Auge. Warum lässt sich ihre Mutter nicht einfach die Telefonnummer dieser Typen geben und schickt sie weg?
»Das ist sehr hilfsbereit«, sagt die männliche Stimme. »Aber wir sind nur gekommen, weil wir alle Leute hier in der Gegend befragen, ob sie irgendetwas -«
»Ja, vollkommen krank ist das.« Die Stimme ihrer Mutter klingt jetzt schmollend. Sie nimmt eine lange Haarsträhne und wickelt sie sich mehrmals um den Finger. Der lange rote Nagel sticht aus dem Blond hervor. »Das arme, kleine Ding.«
»Wir wollten nur wissen, ob Sie heute Morgen irgendetwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen haben.«
Der Nebel in Devons Kopf wird immer dichter. Sie beobachtet ihre Mutter durch ihr offenes Auge. Den Mund - wie sie ihn öffnet, schließt, damit lächelt. Wie sie mit den Händen gestikuliert und die langen roten Fingernägel leuchten. Wie sie barfuß mit der Tür spielt. Das kleine schwarze Schlangentattoo, das sich um ihren Knöchel windet.
»Ich bin aus dem Bus gestiegen ... und bin schnurstracks zu Ihnen gegangen ... damit mir jemand erklärt ... Ron ... gern würde ich Ihnen helfen ... vielleicht meine Tochter ...«
Bei »Tochter« erstarrt Devon. Sie reißt beide Augen auf und sieht plötzlich glasklar. Warum wird sie in dieses Gespräch hineingezogen? Sie sieht, dass die Tür inzwischen sperrangelweit offen steht und ihre Mutter in ihre Richtung nickt. Die Stimme klingt seltsam verzerrt, als würde sie am anderen Ende eines Tunnels stehen und versuchen eine Nachricht zu übermitteln. Devon muss sich konzentrieren, um zu verstehen, was sie sagt.
»Sie war den ganzen Morgen hier. Sie ist nicht zur Schule gegangen, weil sie krank ist.« Ihre Mutter tritt ganz nah an den Mann heran und raunt dann verschwörerisch: »Behauptet sie jedenfalls.«
»Tatsächlich. Das ist ja interessant. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich kurz mit ihr spreche?«
»Wir können uns doch duzen, Ron«, antwortet Devons Mutter und bewegt sich ein kleines Stück zur Seite. »So förmlich müssen wir doch nicht miteinander umgehen, oder?«
»Gern.« Der Mann betritt die Wohnung und mustert kurz die Räumlichkeiten. Dann bleibt sein Blick an Devon hängen.
Devon nimmt wahr, wie der Mann an ihrer Mutter vorbeigeht und die fünf Schritte von der Tür bis zur Couch in dreien bewältigt. Jetzt sieht sie auch die andere Person, mit der ihre Mutter gesprochen hat - ein weiterer Mann, der allerdings Uniform trägt. Eine bekannte Uniform: dunkelblau mit einem goldenen Abzeichen. Er bleibt an der Tür stehen.
Devons Mutter folgt dem ersten Mann durch den Raum. Sie strahlt übers ganze Gesicht, als wüsste sie, dass sie einen Trumpf in der Hand hat, den sie nur noch ausspielen muss. »Bitte entschuldige die Unordnung, Ron. Devon ist ein typischer Teenager - keinerlei Hilfe ... «
Der Mann beugt sich jetzt über Devon. Er riecht sauber, nach Seife. Und er lächelt sie an. »Hi. Du bist also Devon?«
Devon sieht zu ihm auf. Seine Worte klingen gedämpft. Als wären sie beide unter Wasser. Sie merkt, wie sie verkrampft. Sie blinzelt.
»Ich bin Kommissar Ron Woods. Wie geht es dir?«
Devons Kopf fühlt sich komisch an. Sie schüttelt ihn und schaut dann den Mann über sich an.
Sie sieht surferblondes, kurz geschnittenes Haar, braune Augen und ein gebräuntes Gesicht. Er trägt eine dicke Fleecejacke von irgendeiner Outdoormarke. Was hat ihre Mutter vorhin gesagt? Dass sie draußen einen Typen getroffen habe, der nicht schlecht aussähe? Devon richtet die Augen auf sein Lächeln - das ist noch das Beste an ihm - schöne Zähne. Gerade und weiß.
Der Mann hockt sich neben Devon und streckt die Hand aus, wie man es zur Begrüßung tut. Einen Moment verharrt er in dieser Position, dann lässt er die Hand wieder sinken, ohne dass sie geschüttelt wurde. »Fühlst du dich heute nicht so gut?«
Devon starrt ihn aus ihren dunklen Augen an. Sie kann sich nicht wirklich einen Reim darauf machen, warum er hier ist. Warum sieht er sie so an? Will er nur höflich sein, bevor er sich an ihre Mutter ranmacht? Indem er vorgibt ihre Tochter zu mögen? Devon kennt dieses Verhaltensmuster nur zu gut.
»Devon!« Jetzt stellt sich ihre Mutter neben den Mann, ihr Lächeln ist verschwunden. »Setz dich gerade hin und zeig wenigstens etwas Respekt! Willst du mich total blamieren?« Sie sieht ärgerlich aus und lächelt nervös und künstlich. »Nun mach schon, antworte dem Herrn! Er ist von der Polizei, Herrgott noch mal! «
Von der Polizei. Devon reißt die Augen noch weiter auf, als sie realisiert, was ihre Mutter gerade gesagt hat. Ihr Blick huscht zur Tür, zu dem Mann in Dunkelblau. Zwei Polizisten.
»He! Hörst du mir überhaupt zu?«
Devon ist wie erstarrt, kann kaum atmen.
»Na, dann ... « Ihre Mutter wirft dem Mann einen verlegenen Blick zu, bevor sie wütend einen Schritt nach vorn macht. »Mir ist total egal, wie krank du bist.« Sie streckt die Hand aus. »Das ist keine Entschuldigung für -«, und reißt ihr die Decke weg. Wie eine Fahne im Wind flattert sie auf.
Erschrocken weicht ihre Mutter zurück. »Oh ... mein ... Gott«, wispert sie. Die Wut schwindet aus ihrem Gesicht. Mit großen Augen und offenem Mund ringt sie nach Worten: »O nein ...«
Der Mann neben ihr zieht hörbar die Luft ein.
Plötzlich ist Devon hellwach. Abwechselnd blickt sie von ihm zu ihrer Mutter und wieder zurück. Hin und her. Die beiden Gesichter sind so unterschiedlich - eins ist männlich, das andere weiblich. Eins gebräunt mit Bartstoppeln, das andere blass mit Make-up-Resten. Aber der Ausdruck ist der gleiche.
Devon zieht die Knie an und presst verzweifelt die Hände zwischen die Beine.
Mit den Fingerspitzen berührt sie den Stoff ihrer Jogginghose und noch etwas anderes. Etwas Warmes. Etwas Klebriges, Glitschiges. Etwas Nasses - sehr nass.
Sie schaut auf ihre Hände.
Und zum ersten Mal an diesem Morgen verspürt sie Panik. Echte Panik, die ihr Herz zum Rasen bringt. Sie muss sofort weg.
Sie sehen es. Sie sehen alles.
Sie sehen das Blut.
Hektisch blickt sie sich um und sucht nach irgendeinem Fluchtweg, einem Versteck.
Dabei kreischt sie: »Gib sie mir sofort zurück!«, und versucht mit aller Macht ihrer Mutter die Decke zu entreißen. »Gib sie mir wieder, Mom! Bitte!« Devon kriecht über die Couch, über das Kissen, auf dem sie gelegen hat, das nasse und klebrige Kissen, von dem sie gehofft hatte, dass es die ganze Schweinerei aufsaugen würde. Dann bricht sie auf dem Boden zusammen, aber noch immer streckt sie die Arme nach der Decke aus. Immer weiter. Doch sie wird schwächer. Sie spürt einen stechenden Schmerz im Unterleib. Tränen laufen ihr über die Wangen in den Mund. Ihre Arme schlagen auf dem Boden auf. »Es tut mir leid, Mom«, wimmert sie. »Es tut mir so leid ... «
Der Mann nickt in Richtung Tür. Dorthin, wo der andere Polizist steht. »Einen Krankenwagen«, ruft er. »Schnell!«
Devon kann das Knacken des Funkgeräts hören.
»Nein! Niemals! Glauben Sie etwa ...?« Die Stimme ihrer Mutter klingt jetzt hysterisch. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass meine Tochter -« Wild beginnt sie auf den Mann einzuschlagen, die roten Fingernägel wie Krallen ausgefahren. »Sie ist heute nur nicht zur Schule gegangen. Weil sie krank ist. Sie ist nicht schwanger! Kapiert? Sie hat nicht einmal einen Freund!«
Freund. Plötzlich sieht Devon sein Gesicht vor sich, seine Augen mit den für einen Mann viel zu schönen Wimpern. Seine Lippen. Sie versucht ihn aus dem Kopf zu schütteln, vergräbt ihn tief in ihrem Innern. »Nein, Mom! Hör auf!« Ihre Stimme ist schwach und zittrig. Sie rappelt sich hoch. »Bitte -«
»Glauben Sie nicht, dass ich wissen müsste, wenn meine eigene Tochter schwanger wäre? Welche Mutter würde nicht bemerken, dass ihre Tochter schwanger ist? Welche Mutter ... sie ist so verantwortungsbewusst ... Verstehen Sie mich? Verdammt noch mal, hören Sie mir überhaupt zu?«
Devon wendet sich dem Mann zu. Eigentlich braucht nur er sie zu verstehen. Es ist doch ganz einfach. Wenn er sie versteht, geht er vielleicht und ihre Mutter hört auf zu schreien. Dann könnte sie endlich schlafen und sich ein wenig ausruhen. »Ich habe nur ... sehr ... sehr stark meine Tage«, stammelt Devon.
Der Mann nickt. Er versteht sie.
»Ich ... ich wusste nicht, was ich tun sollte!«, fährt Devon mit festerer Stimme fort. »Ich habe alles versucht ... aber die Tampons reichten nicht aus ... zu viel Blut. Ich habe meine Regel schon ewig nicht mehr gehabt ... Bitte ... «
»Nein! Hauen Sie endlich ab!« Devons Mutter stürzt sich auf den Mann und zerrt von hinten an seinen Schultern. Ihre langen Nägel graben sich in seine Jacke. »Verdammt noch mal, verlassen Sie sofort meine Wohnung! Kapiert?«
Plötzlich taucht der andere Mann auf, der in Uniform, und befreit den ersten Mann von Devons Mutter. Er greift ihr unter die Arme und zieht sie fort von ihm, von Devon und von der Schweinerei auf der Couch.
»Fassen ... Sie mich ... nicht an!«
»Mom ... es tut mir leid«, flüstert Devon. »Sei nicht böse.«
»Das werde ich melden! Ich werde ... Anzeige erstatten!« Devons Mutter tobt inzwischen in einiger Entfernung; kreischend wirft sie in der Küche mit Gegenständen um sich. »Ich kenne meine Rechte! Nehmen Sie Ihre dreckigen Pfoten weg, habe ich gesagt!«
Devon kneift die Augen zu und reibt sich mit zitternden Fingern die Schläfen. Wasser, denkt sie, ich brauche Wasser. Seit Stunden hat sie nichts getrunken. Die ganze Nacht nicht.
»Devon«, sagt der Mann. »Devon? Schaust du mich bitte an? He, hier bin ich.«
Devon öffnet die dunklen Augen und sieht ihn an.
Behutsam löst er ihre Finger vom Kopf. »So ist es gut.« Dann umfasst er ihr Gesicht. Er hat große, starke Hände. Er beugt sich zu ihr vor. Sein Blick ist eindringlich, er schaut ihr tief in die Augen. »Und jetzt hörst du mir bitte zu. Beruhige dich und hör mir zu. Ist das möglich?«
Seine Stimme klingt voll. Tröstlich. Wie Regen. Devon spürt eine Hitzewelle in ihrem Körper. Erneut schließt sie die Augen, und als sie sie wieder öffnet, hat alles einen verschwommen weißen Rahmen. So hell, dass es fast blendet.
»Was ich jetzt sage, ist wichtig, okay? Konzentrier dich bitte, so gut es geht ... «
Devon versucht zu tun, was er verlangt, sie versucht sich zu konzentrieren, aber sie merkt, wie sie wieder abgleitet, ihm nicht folgen kann. Am Rand ihres Blickfelds flimmern silberne Flecken, die sich mehr und mehr in die Mitte drängen. Im Hintergrund hört sie noch immer ihre Mutter schrill kreischen ... irgendetwas von Melden. Von einem Chef.
»Du hast das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was du ab jetzt sagst oder tust, kann im Gericht gegen dich verwendet werden. Du hast das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen ...«
Die Worte schweben über sie hinweg. Sie hat das Gefühl, weit von all dem entfernt zu sein - von diesen Worten, dem hysterischen Kreischen ihrer Mutter, ihrem Herzklopfen. Sie sieht, wie sich seine Lippen bewegen. Seine schönen weißen Zähne. Sie atmet ein und wieder aus.
Dann wird alles um sie herum schwarz.
Im Fernsehen läuft irgendeine öde Morgenshow. Das Bild ist schlecht, der Ton abgeschaltet. Aber das ist Devon egal. Sie starrt einfach nur auf den Bildschirm, während sich die Figuren lautlos vor ihren Augen bewegen. Worum es geht, interessiert sie nicht. Fest in eine Decke gewickelt liegt sie auf der Couch. Sie ist erschöpft, ihr Kopf ist leer. Nieselregen streift die Fenster. Das gleichmäßige Geräusch beruhigt sie. Graues Morgenlicht dringt durch die Jalousien in den Raum. Doch das trübe Wetter stört sie nicht. Irgendwie fühlt es sich passend an. Genau richtig.
Langsam fallen ihr die Augen zu.
Draußen ist das Rasseln eines Schlüsselbundes zu hören.
Sofort schlägt sie die Augen auf und blinzelt verwirrt. Sie beginnt zu zittern und hat plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Ihr ist kalt und sie fürchtet, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen.
»Verdammt!«
Eine Stimme. Da ist jemand! Sie reißt den Kopf hoch und wendet sich in Richtung Tür. Sie verkrampft sich. Einen Herzschlag lang, zwei.
»Jetzt reicht's. Ich habe ein für alle Mal ... genug!«
Devon atmet auf und lässt sich wieder in die Couch sinken. Es ist nur ihre Mutter, die vor sich hin schimpft. Und wie so oft in letzter Zeit wird ihr Fluchen von den Geräuschen eines Kampfes mit dem Schloss begleitet, weil der letzte Freund ihrer Mutter die Tür eingetreten hat. Der Vermieter sollte sie zwar reparieren, hat aber nicht ordentlich gearbeitet und seitdem klemmt sie.
»Dieser ... Pfuscher ... kriegt ... keinen Cent ... mehr von mir ... bis er seinen nutzlosen ... Arsch ... hierherbewegt ... und die Tür vernünftig repariert! Das meine ich ernst! Nicht ... einen Cent kriegt der vorher.«
Kurz streift Devon der Gedanke, dass sie ihrer Mutter mit der Tür helfen sollte. Von innen lässt sie sich leichter öffnen. Oder sie sollte sich von der Couch erheben und sich in ihr Zimmer zurückziehen, überlegt sie, doch auch dazu kann sie sich nicht aufraffen.
»Dem werde ich was erzählen!«
Die Tür geht auf und fällt kurze Zeit später wieder zu. »Devon?«
Devon zieht die Decke höher.
»Bist du nicht in der Schule?«
Devon antwortet nicht. Sie starrt auf den Fernseher, von dem ihr Gesichter entgegengrinsen.
»Devon? He ... « Ihre Mutter reißt an der Schnur der Jalousie gleich neben dem Eingang. Mehr graues Licht dringt bis in die letzten Winkel des Raumes und verdrängt das Halbdunkel. »Alles in Ordnung?«
Klack! Klong! - Mit Schwung schleudert Devons Mutter die Schuhe von den Füßen. Sie hört ihre Mutter näher kommen, nimmt das gedämpfte Geräusch auf dem fleckigen Teppich wahr, wenn sie auftritt. Es ist nicht weit. Von der Tür bis zur Couch sind es ungefähr fünf Schritte. Nur Sekunden später spürt Devon, wie sie sich über sie beugt. Das blonde Haar berührt Devons Gesicht. Beim Einatmen kann sie sie riechen - eine Mischung aus Feuchtigkeit, billigem Parfum, Zigaretten und Pfefferminz-Kaugummi. Ihre Mutter behauptete, »schon vor Wochen« mit dem Rauchen aufgehört zu haben. Hier ist der Beweis, dass sie gelogen hat. Wieder einmal.
»Komm schon, Dev - ich schufte die ganze Nacht, und wenn ich meine Tochter zum ersten Mal seit Tagen sehe, bekomme ich nicht einmal ein ›Hallo‹ oder etwas Ähnliches zur Begrüßung?« Sie wartet einen Moment. »Geht es dir nicht gut, Schatz?« Sie drückt ihre kalte Hand auf Devons Stirn und lässt sie einen Moment dort liegen. Dann zuckt sie mit den Schultern. »Einfach so zu Hause zu bleiben passt gar nicht zu dir, Dev. Aber schön, dass du da bist.«
Devon sieht ihre Mutter, die sich noch immer über sie beugt, aus ihren dunklen Augen an und zwingt sich zu einem kurzen Lächeln. Dann lässt sie sich tiefer in die Couch sinken.
Ihre Mutter scheint erst einmal zufrieden zu sein, denn sie richtet sich auf und entfernt sich. »Mann, war das eine üble Nacht«, stöhnt sie und lässt sich in den klapprigen Fernsehsessel fallen - das einzige Möbelstück, das ihr letzter Freund zum Hausstand beigetragen und zurückgelassen hat, als die Beziehung zu Ende war. »Ich sag dir, lange mach ich diesen Job zu nachtschlafenden Zeiten nicht mehr mit. Du wirst sehen ... «
Dann tischt ihre Mutter ihr all die banalen Dramen auf, die sie während ihrer Nachtschicht an der Supermarktkasse bei Safeway erlebt hat, doch Devon bekommt nicht viel davon mit. Die Worte erreichen sie nicht. Sie hält den Blick starr auf den Fernseher gerichtet, auf die stumme Comedyeinlage in der Morgenshow, bei der verschiedene Take-away-Cafés getestet werden. Sie sieht die Darsteller mit offenen Mündern lachen, wie sich ihre Lippen bewegen, sie ihre Augen kokett aufschlagen, wie sie sich necken.
Plötzlich springt Devons Mutter auf. Devon erschrickt. Sie schaut ihrer Mutter hinterher, die sich, noch immer plappernd, auf den Weg in die Küche macht. »Stell dir vor - eben steige ich aus dem Bus, okay? Und draußen herrscht das absolute Chaos. Krankenwagen mit Blaulicht, das volle Programm. Und überall stehen Menschen herum ... «
Devon kann ihrer Mutter nur schwer folgen. Sie merkt, wie sie immer wieder wegdriftet, sosehr sie sich auch bemüht dagegen anzukämpfen. Sie zwingt sich die Augen offen zu halten, wieder auf den Fernseher zu starren, um einen Fixpunkt zu haben. Werbung flimmert über den Bildschirm. Vier Frauen spielen Tennis in der Sonne, es scheint warm zu sein.
»Natürlich wollte ich wissen, was los ist.«
Devon hört jetzt in der Küche den Wasserhahn laufen, eine Schranktür schlägt irgendwo gegen. Sie macht sich eine Ovomaltine, denkt Devon. Halb Wasser, halb Milch, wie immer. Der übliche Schlummertrunk ihrer Mutter.
»Dann sehe ich einen Polizisten. In Zivil, aber du weißt schon, allein die Frisur verrät sie. Das ist so was von eindeutig. Ob die ernsthaft glauben, damit irgendjemanden zu täuschen? Sah aber nicht schlecht aus, der Typ -«
Im Fernsehen wird jetzt für ein Fitnessstudio geworben, eine Frau mit Pferdeschwanz, breitem Lächeln und superflachem Bauch demonstriert Kickboxen - Fuß, Faust, Treffer.
»Er war gerade dabei, die Mülltonne hinter dem Haus mit gelbem Band abzusperren. Nicht die, die wir immer benutzen, sondern die andere, die große. Du weißt schon, ein Stück weiter den Weg runter ... «
Die Stimme ihrer Mutter wird abwechselnd lauter, dann wieder ganz leise. Zwischendurch scheint sie weit weg zu sein, dann wieder sehr nah. Dazwischen Totenstille. Wie ein Handytelefonat mit schlechtem Empfang.
»... Ich bin zu ihm ... und frage, was los ist ...«
Die Mikrowelle piept. Devon zuckt zusammen. Sie hört, wie die Tür der Mikrowelle geöffnet und wieder geschlossen wird. Hört, wie ihre Mutter die Ovomaltine einrührt. Der Löffel klirrt am Becherrand.
»Du glaubst es nicht, Devon.«
Devons Gedanken sind bei der braunen Milch. Sie dreht sich ... immer schneller ... ein brauner, kreisender Milchstrudel. Sie kämpft gegen den Schwindel ... schließt die Augen.
»Du kommst im Leben nicht darauf, was sie dort im Müll gefunden haben.«
Müll. Irgendwie macht ihr das Wort Angst. Müll ... das Wort erinnert sie an etwas ... Doch dann kann sie sich nicht mehr konzentrieren.
»Armes, kleines Ding. Weggeworfen, wie die Pizzareste vom Vorabend.«
Pizza? Wieso redet sie jetzt von »Pizza«? Devon ist gedanklich noch bei dem nicht so schlecht aussehenden Typen und der Ovomaltine. Und bei dem Müll. Ihr ganzer Körper fühlt sich so schwer an. Und ihr ist so kalt ...
»Gesehen habe ich es allerdings nicht, denn - stell dir vor - es war noch am Leben! Sie hatten es schon ins Krankenhaus gebracht.«
Pizza im Krankenhaus? Devons Augen sind jetzt nur noch Schlitze und sie nimmt bloß halb wahr, dass ihre Mutter aus der Küche zurückkehrt. Vorsichtig trägt sie den Becher zum Fernsehsessel. An der Couch bleibt sie stehen und mustert Devon.
Dann hebt sie den Becher an ihre Lippen und trinkt schlürfend.
Bitte, Mom. Geh weg. Lass mich in Ruhe. Ich bin so müde ...
»Das Erschreckende ist, dass wir die Person, die das getan hat, wahrscheinlich kennen. Wahrscheinlich sind wir ihr auf dem Weg zur Waschmaschine oder so schon tausend Mal begegnet. Oder zumindest im Bus. Wahrscheinlich sieht sie ganz normal aus. Gruselig. Es gibt so viele kranke Gestalten, das glaubst du gar nicht. Bei Safeway an der Kasse siehst du sie die ganze Nacht ... «
Erst als ihre Mutter plötzlich verstummt und alles still ist, schreckt Devon auf. Sie schiebt sich unter der Decke hoch, dreht sich um und blickt zu ihrer Mutter hinüber. Sie hat den Fernsehsessel ganz nach hinten geklappt, der leere Becher liegt nachlässig neben ihr auf dem Boden. Devon kann den Schokoladenrand darin sehen.
Ihre Mutter erwidert Devons Blick und seufzt. »Ach, ist es nicht wundervoll, Dev? Auf diese Weise können wir heute wenigstens mal Zeit miteinander verbringen. Du solltest öfter krank sein.« Sie lacht und wartet auf eine Reaktion ihrer Tochter.
Doch Devon wendet sich wieder dem Fernseher zu.
»Ich bin noch gar nicht richtig müde. Ich muss erst mal eine Weile runterkommen, bevor ich überhaupt daran denken kann, ins Bett zu gehen.« Sie hält inne. »Also, wozu hast du Lust?« Erneut wartet sie ab. »Wir könnten uns einen Film besorgen. Ich könnte Popcorn machen. Das haben wir lange nicht mehr getan. Das wäre doch nett, oder? Ein Film und Popcorn dazu?«
Die Stimme ihrer Mutter klingt so hoffnungsvoll und begeistert, dass Devon es nicht übers Herz bringt abzulehnen. Ihre Mutter will Zeit mit ihr verbringen. Nur mit ihr. Aber Devon will keinen Film schauen. Oder Popcorn essen. Sie will überhaupt nichts tun. Heute nicht.
Einen langen Moment ist ihre Mutter still. Vielleicht ist es auch viel länger als ein Moment. Devon kann es nicht mit Sicherheit sagen. Vielleicht sind es viele lange aneinandergereihte Momente. Vielleicht ist sie zwischendurch sogar eingeschlafen.
»Na, du bist ja heute mächtig gesprächig.« Die Stimme ihrer Mutter klingt plötzlich anders. Hoffnungsvoll und begeistert ist sie jetzt nicht mehr. Stattdessen sarkastisch, vielleicht sogar ein wenig verletzt. Doch um die Situation zu retten, ist es zu spät. »Weißt du ... na gut. Wenn du weiter so daliegen willst wie ein Stein, dann mach wenigstens den Ton an.«
Ihre Mutter schwingt sich aus dem Sessel und schaut vorwurfsvoll auf Devon hinunter. »Du könntest zumindest antworten. Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt. Du liegst schließlich nicht im Sterben ... «
Devon schließt die Augen.
»Und ich schalte auf meinen Sender um. Diese blöde Show kann ich nicht ertragen. Wo hast du die Fernbedienung versteckt?«
Jemand klopft an die Tür. Drei Mal. Laut.
Reflexartig öffnet Devon die Augen und starrt hinüber.
Ihre Mutter schlurft verärgert zum Eingang und schimpft dabei: »Schon mal darüber nachgedacht, dass es Leute gibt, die um diese Zeit schlafen?«
Sie fingert am Schloss herum und reißt dann die Tür auf. »Ja bitte?«
Devon fährt zusammen und vergräbt das Gesicht unter der Decke. Nur ihre dunklen Augen und das schwarze Haar, das ihr am Kopf klebt, schauen noch hervor.
»Ach Sie!« Devon sieht, wie ihre Mutter den Kopf ein wenig zur Seite neigt, erst nach links, dann nach rechts. »Hallo!« Sie spricht plötzlich in einer vollkommen anderen Tonlage. Höher. Flirtend.
Devon kann nicht erkennen, wer draußen steht, wer der Grund dafür ist, dass ihre Mutter plötzlich wie ausgewechselt ist. Sie sieht nur die Umrisse einer Person.
»Wissen Sie nicht mehr? Wir sind uns doch vorhin auf dem kleinen Weg hinter dem Haus begegnet!« Lässig lehnt sich Devons Mutter, eine Hand in die Hüfte gestemmt, an den Türrahmen. »Ich habe Sie gefragt, was los ist.« Wieder legt sie den Kopf zur Seite. »Sie sind doch der, der das Band angebracht hat.« Sie wirft ihr langes blondes Haar über die Schulter. »Dieses gelbe Zeug.«
Gelb ... gelb. Die Haarfarbe ihrer Mutter. Die Farbe der Sonne, die durch öde, graue Wolken dringt. Die Farbe eines Zitronenbonbons. Kurz gibt Devon ihrem inneren Drang nach und schließt die Augen.
»Sie erinnern sich doch auch an mich, oder?« Devons Mutter kichert. »Natürlich erinnern Sie sich, das sehe ich Ihnen doch an ... «
»Ja schon, ich weiß noch, dass ich, ähm, vorhin mit Ihnen gesprochen habe ... «
Die Stimme klingt ganz anders als die ihrer Mutter. Kräftiger und tiefer.
Ihre Mutter spricht mit einem Mann. Wie sollte es anders sein.
»Aber weshalb ich um diese Uhrzeit bei Ihnen klopfe, ist -«
»Bäng! Bäng! Bäng!« Devons Mutter lacht. »Ich dachte, so etwas machen Sie nur mit Ihrer ... ähm ... Waffe.«
»- äh, ja.« Der Mann an der Tür räuspert sich.
Devon merkt, wie sie sich langsam entspannt. Ihre Mutter lässt nur wieder einmal ihren »Charme« spielen. Wie immer allerdings viel zu penetrant. Und billig. Auf diese Art und Weise zieht sie nur eine Sorte Männer an: Loser.
»Entschuldigen Sie die Störung«, fährt der Mann fort. »Es wird nicht lange dauern. Ich bin -«
Devon gibt jetzt ihrer Erschöpfung nach und zwingt sich nicht mehr zur Konzentration. Ihre Augen sind nach wie vor auf die Tür gerichtet, aber ihr Blick ist verschleiert.
»Ron.« Devons Mutter schiebt die Tür mit dem Zeh ein kleines Stück weiter auf. »Und Sie sind Bruce, sagten Sie? Ron und Bruce also. Und ich bin Jennifer Davenport. Na los, schreiben Sie's schon in Ihr kleines Notizbuch, Ron. Und meinetwegen brauchen Sie sich nicht zu beeilen, und wenn es Stunden dauert. Für Sie habe ich den ganzen Tag Zeit.«
Devon öffnet ein Auge. Warum lässt sich ihre Mutter nicht einfach die Telefonnummer dieser Typen geben und schickt sie weg?
»Das ist sehr hilfsbereit«, sagt die männliche Stimme. »Aber wir sind nur gekommen, weil wir alle Leute hier in der Gegend befragen, ob sie irgendetwas -«
»Ja, vollkommen krank ist das.« Die Stimme ihrer Mutter klingt jetzt schmollend. Sie nimmt eine lange Haarsträhne und wickelt sie sich mehrmals um den Finger. Der lange rote Nagel sticht aus dem Blond hervor. »Das arme, kleine Ding.«
»Wir wollten nur wissen, ob Sie heute Morgen irgendetwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen haben.«
Der Nebel in Devons Kopf wird immer dichter. Sie beobachtet ihre Mutter durch ihr offenes Auge. Den Mund - wie sie ihn öffnet, schließt, damit lächelt. Wie sie mit den Händen gestikuliert und die langen roten Fingernägel leuchten. Wie sie barfuß mit der Tür spielt. Das kleine schwarze Schlangentattoo, das sich um ihren Knöchel windet.
»Ich bin aus dem Bus gestiegen ... und bin schnurstracks zu Ihnen gegangen ... damit mir jemand erklärt ... Ron ... gern würde ich Ihnen helfen ... vielleicht meine Tochter ...«
Bei »Tochter« erstarrt Devon. Sie reißt beide Augen auf und sieht plötzlich glasklar. Warum wird sie in dieses Gespräch hineingezogen? Sie sieht, dass die Tür inzwischen sperrangelweit offen steht und ihre Mutter in ihre Richtung nickt. Die Stimme klingt seltsam verzerrt, als würde sie am anderen Ende eines Tunnels stehen und versuchen eine Nachricht zu übermitteln. Devon muss sich konzentrieren, um zu verstehen, was sie sagt.
»Sie war den ganzen Morgen hier. Sie ist nicht zur Schule gegangen, weil sie krank ist.« Ihre Mutter tritt ganz nah an den Mann heran und raunt dann verschwörerisch: »Behauptet sie jedenfalls.«
»Tatsächlich. Das ist ja interessant. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich kurz mit ihr spreche?«
»Wir können uns doch duzen, Ron«, antwortet Devons Mutter und bewegt sich ein kleines Stück zur Seite. »So förmlich müssen wir doch nicht miteinander umgehen, oder?«
»Gern.« Der Mann betritt die Wohnung und mustert kurz die Räumlichkeiten. Dann bleibt sein Blick an Devon hängen.
Devon nimmt wahr, wie der Mann an ihrer Mutter vorbeigeht und die fünf Schritte von der Tür bis zur Couch in dreien bewältigt. Jetzt sieht sie auch die andere Person, mit der ihre Mutter gesprochen hat - ein weiterer Mann, der allerdings Uniform trägt. Eine bekannte Uniform: dunkelblau mit einem goldenen Abzeichen. Er bleibt an der Tür stehen.
Devons Mutter folgt dem ersten Mann durch den Raum. Sie strahlt übers ganze Gesicht, als wüsste sie, dass sie einen Trumpf in der Hand hat, den sie nur noch ausspielen muss. »Bitte entschuldige die Unordnung, Ron. Devon ist ein typischer Teenager - keinerlei Hilfe ... «
Der Mann beugt sich jetzt über Devon. Er riecht sauber, nach Seife. Und er lächelt sie an. »Hi. Du bist also Devon?«
Devon sieht zu ihm auf. Seine Worte klingen gedämpft. Als wären sie beide unter Wasser. Sie merkt, wie sie verkrampft. Sie blinzelt.
»Ich bin Kommissar Ron Woods. Wie geht es dir?«
Devons Kopf fühlt sich komisch an. Sie schüttelt ihn und schaut dann den Mann über sich an.
Sie sieht surferblondes, kurz geschnittenes Haar, braune Augen und ein gebräuntes Gesicht. Er trägt eine dicke Fleecejacke von irgendeiner Outdoormarke. Was hat ihre Mutter vorhin gesagt? Dass sie draußen einen Typen getroffen habe, der nicht schlecht aussähe? Devon richtet die Augen auf sein Lächeln - das ist noch das Beste an ihm - schöne Zähne. Gerade und weiß.
Der Mann hockt sich neben Devon und streckt die Hand aus, wie man es zur Begrüßung tut. Einen Moment verharrt er in dieser Position, dann lässt er die Hand wieder sinken, ohne dass sie geschüttelt wurde. »Fühlst du dich heute nicht so gut?«
Devon starrt ihn aus ihren dunklen Augen an. Sie kann sich nicht wirklich einen Reim darauf machen, warum er hier ist. Warum sieht er sie so an? Will er nur höflich sein, bevor er sich an ihre Mutter ranmacht? Indem er vorgibt ihre Tochter zu mögen? Devon kennt dieses Verhaltensmuster nur zu gut.
»Devon!« Jetzt stellt sich ihre Mutter neben den Mann, ihr Lächeln ist verschwunden. »Setz dich gerade hin und zeig wenigstens etwas Respekt! Willst du mich total blamieren?« Sie sieht ärgerlich aus und lächelt nervös und künstlich. »Nun mach schon, antworte dem Herrn! Er ist von der Polizei, Herrgott noch mal! «
Von der Polizei. Devon reißt die Augen noch weiter auf, als sie realisiert, was ihre Mutter gerade gesagt hat. Ihr Blick huscht zur Tür, zu dem Mann in Dunkelblau. Zwei Polizisten.
»He! Hörst du mir überhaupt zu?«
Devon ist wie erstarrt, kann kaum atmen.
»Na, dann ... « Ihre Mutter wirft dem Mann einen verlegenen Blick zu, bevor sie wütend einen Schritt nach vorn macht. »Mir ist total egal, wie krank du bist.« Sie streckt die Hand aus. »Das ist keine Entschuldigung für -«, und reißt ihr die Decke weg. Wie eine Fahne im Wind flattert sie auf.
Erschrocken weicht ihre Mutter zurück. »Oh ... mein ... Gott«, wispert sie. Die Wut schwindet aus ihrem Gesicht. Mit großen Augen und offenem Mund ringt sie nach Worten: »O nein ...«
Der Mann neben ihr zieht hörbar die Luft ein.
Plötzlich ist Devon hellwach. Abwechselnd blickt sie von ihm zu ihrer Mutter und wieder zurück. Hin und her. Die beiden Gesichter sind so unterschiedlich - eins ist männlich, das andere weiblich. Eins gebräunt mit Bartstoppeln, das andere blass mit Make-up-Resten. Aber der Ausdruck ist der gleiche.
Devon zieht die Knie an und presst verzweifelt die Hände zwischen die Beine.
Mit den Fingerspitzen berührt sie den Stoff ihrer Jogginghose und noch etwas anderes. Etwas Warmes. Etwas Klebriges, Glitschiges. Etwas Nasses - sehr nass.
Sie schaut auf ihre Hände.
Und zum ersten Mal an diesem Morgen verspürt sie Panik. Echte Panik, die ihr Herz zum Rasen bringt. Sie muss sofort weg.
Sie sehen es. Sie sehen alles.
Sie sehen das Blut.
Hektisch blickt sie sich um und sucht nach irgendeinem Fluchtweg, einem Versteck.
Dabei kreischt sie: »Gib sie mir sofort zurück!«, und versucht mit aller Macht ihrer Mutter die Decke zu entreißen. »Gib sie mir wieder, Mom! Bitte!« Devon kriecht über die Couch, über das Kissen, auf dem sie gelegen hat, das nasse und klebrige Kissen, von dem sie gehofft hatte, dass es die ganze Schweinerei aufsaugen würde. Dann bricht sie auf dem Boden zusammen, aber noch immer streckt sie die Arme nach der Decke aus. Immer weiter. Doch sie wird schwächer. Sie spürt einen stechenden Schmerz im Unterleib. Tränen laufen ihr über die Wangen in den Mund. Ihre Arme schlagen auf dem Boden auf. »Es tut mir leid, Mom«, wimmert sie. »Es tut mir so leid ... «
Der Mann nickt in Richtung Tür. Dorthin, wo der andere Polizist steht. »Einen Krankenwagen«, ruft er. »Schnell!«
Devon kann das Knacken des Funkgeräts hören.
»Nein! Niemals! Glauben Sie etwa ...?« Die Stimme ihrer Mutter klingt jetzt hysterisch. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass meine Tochter -« Wild beginnt sie auf den Mann einzuschlagen, die roten Fingernägel wie Krallen ausgefahren. »Sie ist heute nur nicht zur Schule gegangen. Weil sie krank ist. Sie ist nicht schwanger! Kapiert? Sie hat nicht einmal einen Freund!«
Freund. Plötzlich sieht Devon sein Gesicht vor sich, seine Augen mit den für einen Mann viel zu schönen Wimpern. Seine Lippen. Sie versucht ihn aus dem Kopf zu schütteln, vergräbt ihn tief in ihrem Innern. »Nein, Mom! Hör auf!« Ihre Stimme ist schwach und zittrig. Sie rappelt sich hoch. »Bitte -«
»Glauben Sie nicht, dass ich wissen müsste, wenn meine eigene Tochter schwanger wäre? Welche Mutter würde nicht bemerken, dass ihre Tochter schwanger ist? Welche Mutter ... sie ist so verantwortungsbewusst ... Verstehen Sie mich? Verdammt noch mal, hören Sie mir überhaupt zu?«
Devon wendet sich dem Mann zu. Eigentlich braucht nur er sie zu verstehen. Es ist doch ganz einfach. Wenn er sie versteht, geht er vielleicht und ihre Mutter hört auf zu schreien. Dann könnte sie endlich schlafen und sich ein wenig ausruhen. »Ich habe nur ... sehr ... sehr stark meine Tage«, stammelt Devon.
Der Mann nickt. Er versteht sie.
»Ich ... ich wusste nicht, was ich tun sollte!«, fährt Devon mit festerer Stimme fort. »Ich habe alles versucht ... aber die Tampons reichten nicht aus ... zu viel Blut. Ich habe meine Regel schon ewig nicht mehr gehabt ... Bitte ... «
»Nein! Hauen Sie endlich ab!« Devons Mutter stürzt sich auf den Mann und zerrt von hinten an seinen Schultern. Ihre langen Nägel graben sich in seine Jacke. »Verdammt noch mal, verlassen Sie sofort meine Wohnung! Kapiert?«
Plötzlich taucht der andere Mann auf, der in Uniform, und befreit den ersten Mann von Devons Mutter. Er greift ihr unter die Arme und zieht sie fort von ihm, von Devon und von der Schweinerei auf der Couch.
»Fassen ... Sie mich ... nicht an!«
»Mom ... es tut mir leid«, flüstert Devon. »Sei nicht böse.«
»Das werde ich melden! Ich werde ... Anzeige erstatten!« Devons Mutter tobt inzwischen in einiger Entfernung; kreischend wirft sie in der Küche mit Gegenständen um sich. »Ich kenne meine Rechte! Nehmen Sie Ihre dreckigen Pfoten weg, habe ich gesagt!«
Devon kneift die Augen zu und reibt sich mit zitternden Fingern die Schläfen. Wasser, denkt sie, ich brauche Wasser. Seit Stunden hat sie nichts getrunken. Die ganze Nacht nicht.
»Devon«, sagt der Mann. »Devon? Schaust du mich bitte an? He, hier bin ich.«
Devon öffnet die dunklen Augen und sieht ihn an.
Behutsam löst er ihre Finger vom Kopf. »So ist es gut.« Dann umfasst er ihr Gesicht. Er hat große, starke Hände. Er beugt sich zu ihr vor. Sein Blick ist eindringlich, er schaut ihr tief in die Augen. »Und jetzt hörst du mir bitte zu. Beruhige dich und hör mir zu. Ist das möglich?«
Seine Stimme klingt voll. Tröstlich. Wie Regen. Devon spürt eine Hitzewelle in ihrem Körper. Erneut schließt sie die Augen, und als sie sie wieder öffnet, hat alles einen verschwommen weißen Rahmen. So hell, dass es fast blendet.
»Was ich jetzt sage, ist wichtig, okay? Konzentrier dich bitte, so gut es geht ... «
Devon versucht zu tun, was er verlangt, sie versucht sich zu konzentrieren, aber sie merkt, wie sie wieder abgleitet, ihm nicht folgen kann. Am Rand ihres Blickfelds flimmern silberne Flecken, die sich mehr und mehr in die Mitte drängen. Im Hintergrund hört sie noch immer ihre Mutter schrill kreischen ... irgendetwas von Melden. Von einem Chef.
»Du hast das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was du ab jetzt sagst oder tust, kann im Gericht gegen dich verwendet werden. Du hast das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen ...«
Die Worte schweben über sie hinweg. Sie hat das Gefühl, weit von all dem entfernt zu sein - von diesen Worten, dem hysterischen Kreischen ihrer Mutter, ihrem Herzklopfen. Sie sieht, wie sich seine Lippen bewegen. Seine schönen weißen Zähne. Sie atmet ein und wieder aus.
Dann wird alles um sie herum schwarz.
... weniger
Autoren-Porträt von Amy Efaw
Amy Efaw, geboren 1967 in Chicago, ist Absolventin der West Point Militärakademie. Nach ihrer Zeit in der Armee arbeitete sie als freie Journalistin. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Denver, Colorado. Amy Efaw hat bisher zwei Romane für junge Erwachsene geschrieben, weitere Bücher werden folgen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Amy Efaw
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2012, 416 Seiten, Maße: 13,3 x 19,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Malich, Anja
- Übersetzer: Anja Malich
- Verlag: Carlsen
- ISBN-10: 3551310815
- ISBN-13: 9783551310811
Kommentar zu "Eine Tat wie diese"
0 Gebrauchte Artikel zu „Eine Tat wie diese“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Eine Tat wie diese".
Kommentar verfassen