Eine zufällige Begegnung
Roman
Zwei Außenseiter begegnen sich - die anrührende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft
Was hat Schönheit mit Liebe zu tun? Für Elsie viel, denn sie ist so hässlich, dass die Leute erschrecken, wenn sie sie sehen....
Was hat Schönheit mit Liebe zu tun? Für Elsie viel, denn sie ist so hässlich, dass die Leute erschrecken, wenn sie sie sehen....
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Produktinformationen zu „Eine zufällige Begegnung “
Zwei Außenseiter begegnen sich - die anrührende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft
Was hat Schönheit mit Liebe zu tun? Für Elsie viel, denn sie ist so hässlich, dass die Leute erschrecken, wenn sie sie sehen. Auch Stan ist ein Außenseiter der Gesellschaft: Er saß wegen Mordes fünfzehn Jahre im Gefängnis. Wie die beiden sich zufällig begegnen und wie daraus eine ungewöhnliche Freundschaft erwächst, das erzählt der literarische Solitär Charles Chadwick so unsentimental, so zart und zugleich hart, wie es nur ein großer Menschenkenner vermag.
Was hat Schönheit mit Liebe zu tun? Für Elsie viel, denn sie ist so hässlich, dass die Leute erschrecken, wenn sie sie sehen. Auch Stan ist ein Außenseiter der Gesellschaft: Er saß wegen Mordes fünfzehn Jahre im Gefängnis. Wie die beiden sich zufällig begegnen und wie daraus eine ungewöhnliche Freundschaft erwächst, das erzählt der literarische Solitär Charles Chadwick so unsentimental, so zart und zugleich hart, wie es nur ein großer Menschenkenner vermag.
Klappentext zu „Eine zufällige Begegnung “
Zwei Außenseiter begegnen sich - die anrührende Geschichte einer ungewöhnlichen FreundschaftWas hat Schönheit mit Liebe zu tun? Für Elsie viel, denn sie ist so hässlich, dass die Leute erschrecken, wenn sie sie sehen. Auch Stan ist ein Außenseiter der Gesellschaft: Er saß wegen Mordes fünfzehn Jahre im Gefängnis. Wie die beiden sich zufällig begegnen und wie daraus eine ungewöhnliche Freundschaft erwächst, das erzählt der literarische Solitär Charles Chadwick so unsentimental, so zart und zugleich hart, wie es nur ein großer Menschenkenner vermag.
'Charles Chadwick, ein Könner in der Handhabung überraschender, spannender Plots, ein liebevoller Porträtist seiner Figuren und ein Meister der Dialogführung, ist ein begnadeter Verführer seiner Leser.' -- Deutschlandfunk
"Ein dunkel funkelndes Märchen, das herrlich trocken und völlig unsentimental aus der britischen Vorortseele berichtet." -- Galore
"Behutsam und ohne jeden Kitsch erzählt Charles Chadwick vom großen Glück, das diesen vom Leben nicht gerade verwöhnten Menschen zuteil wird: dem Gefühl von Nähe." -- Freundin
"Ein dunkel funkelndes Märchen, das herrlich trocken und völlig unsentimental aus der britischen Vorortseele berichtet." -- Galore
"Behutsam und ohne jeden Kitsch erzählt Charles Chadwick vom großen Glück, das diesen vom Leben nicht gerade verwöhnten Menschen zuteil wird: dem Gefühl von Nähe." -- Freundin
Lese-Probe zu „Eine zufällige Begegnung “
Eine zufällige Begegnung von Charles Chadwick Aus dem Englischen von Klaus Berr
I
... mehr
Dorothy saß am Schreibtisch ihres Vaters. Henry hatte ihn
ihr überlassen - mit einem von ihm festgesetzten Wert -
und ihrem Anteil am Nachlass ihres Vaters hinzugeschlagen.
Das war typisch Henry. Mindestens zweitausend
Pfund wert, hatte er gesagt. O nein, so viel war er nicht
wert. Und jetzt hatte er ihr einen aufgeblasenen Brief über
den Verkauf des Cottage geschrieben. Sie schaute hinüber
zum Spiegel über dem Kaminsims und lächelte, um für
Elsie zu üben, die bald hier sein würde. Richtig war dieses
Lächeln nie - freundlich, sogar einladend, aber wie
viel Liebe lag darin? Der Spiegel hing zu hoch für Elsie, sie
konnte sich nicht sehen. Das Lächeln verwandelte sich in
eine Maske der Bitterkeit. Die Frisur, die sie sich heute Vormittag
hatte machen lassen, war ein lächerlich wackeliger,
silbriger Helm. Eine der Frauen beim Bridge-Vormittag -
Gladys, nicht? - hatte ihr einmal gesagt, sie habe einen
strengen Gesichtsausdruck. Es wäre ihr lieber, wenn sie
nach all den Jahren ein anderes, dauerhafteres Lächeln für
Elsie hätte.
Sie würde ihr wieder einen Scheck geben, als kleine Unterstützung
für ihre Ausflüge in öffentliche Gärten. Sie wäre
gern sicher, dass sie nicht nur deshalb kam. Vielleicht tat
sie es aus Pflichtgefühl. Sie konnte nicht einmal vermuten,
wie viel Liebe dabei war, denn ihrem Gesicht konnte man
es nicht ansehen. Und auf ihrem eigenen, was war da zu
sehen? Angst. Scham. Sie hatte immer versucht, zu Elsie zu
stehen, als sie noch ein kleines Mädchen war.Wie oft hatte
sie ihr gesagt, dass Aussehen nichts bedeute, wichtig sei
nur, wie die Menschen darunter sind. Elsie hatte aufgehört
zu weinen, als sie ungefähr acht war, sie hatte sich inzwischen
an sich gewöhnt.
Sie war nicht mehr so besorgt wie früher. Elsie hatte ihre
Putzarbeit und ihre Gartenbesuche und ihre gemütliche
kleine Wohnung. Sie hatte die Stoffe ausgesucht und die
Vorhänge für sie genäht, wie Mütter es tun sollten. Natürlich
gab es auch einen Fernseher. Sie hatte ihr Fahrstunden
bezahlt, und jetzt war sie eigentlich bereit für die Prüfung.
Den schriftlichen Teil hatte sie schon bestanden, aber den
praktischen schob sie immer wieder hinaus. Vielleicht war
sie nervös wegen der Wirkung ihres Anblicks auf andere
Leute und der Gefahr eines Unfalls. Es wäre anders, wenn
kein Fahrlehrer neben ihr säße. Mehr gab es in ihrem Leben
nicht. Keine Liebe, keine Aufregung. Es gab nichts,
weswegen man sich Sorgen machen müsste. Jetzt würde
Elsie nichts mehr passieren, da sie, Tag für Tag, nur sie selber
sein musste.
Sie konnte die Frage nicht vergessen, die Gladys ihr beim
Kartengeben gestellt hatte, nachdem es ihr nicht gelungen
war, für Mavis mit dem seligen Arthur in Verbindung zu
treten. Arthur war der langweiligste Mann gewesen, den
sie je gekannt hatte. Gladys erreichte ihn dreimal, und jedes
Mal wollte er Mavis nur sagen, sie solle nicht vergessen,
die Geranien zu gießen. Genau so ein Langweiler war
Arthur gewesen. Mavis musste zum x-ten Mal erzählen,
dass Arthur der Vergessliche gewesen war und sie in ihrem
ganzen Leben noch kein einziges Mal vergessen hatte, eine
Blume zu gießen.
Sie ging in die Küche, um ein Teetablett herzurichten. Sie
wollte, dass Elsie sich hier immer zu Hause fühlte. Die Frage,
die Gladys gestellt hatte, lautete, ob sie Elsie während
der Schwangerschaft hätte töten lassen, wenn sie gewusst
hätte, was aus ihr werden würde. Das war nicht fair. Es war
schwer, Gladys gegenüber fair zu sein. Im Grunde galt das
für alle Frauen in diesem Kreis.Was Gladys tatsächlich gesagt
hatte, äußerst beiläufig beim Kartengeben, war: »Man
muss sich doch fragen, ob es nicht besser gewesen wäre,
wenn gewisse Leute nie geboren worden wären.« Zugegeben,
sie hatten davor über die Jugendbanden gesprochen,
die eine benachbarteWohnsiedlung terrorisierten. Sie hatte
Gladys sehr genau beobachtet, um zu sehen, ob sie ihr
vielleicht einen ihrer Blicke zuwarf, einen Hinweis darauf,
dass mit dieser Frage auch Elsie gemeint sein könnte. Aber
sie tat es nicht. Die anderen schauten sich inzwischen die
ausgeteilten Karten an. Sicher ist ihnen auch durch den
Kopf gegangen, diese Frage auf Elsie zu beziehen. Dann
war es Mavis, die sie kurz musterte, aber sie war ihre Partnerin
und wollte vermutlich nur herausbekommen, was
für ein Blatt sie hatte. Mavis hatte genickt, als Gladys das
gesagt hatte. Mavis und Arthur hatten keine Kinder gehabt,
wahrscheinlich, weil sie sich so aufopfernd um diese
Geranien kümmern mussten.
In einer halben Stunde würde Elsie hier sein. Sie war immer
pünktlich. Im Krankenhaus musste man pünktlich
sein, hatte sie erklärt, um herauszufinden, welche Aufgaben
man am jeweiligen Tag hatte, und um sich Lappen
und Besen und Putzmaterial zu besorgen. Dorothy holte
das Porzellan heraus, das sie von ihrem Vater geerbt hatte.
Henry hatte auch das mit einer Wertangabe versehen -
bestes Spode. Eigentlich ging es darum, dass Gladys ihr
diesen Gedanken nicht erst in den Kopf gesetzt, sondern
sie nur daran erinnert hatte, dass er bereits da war, irgendwo
im Unterholz lauerte. Vielleicht funktioniert das Hirn
eines jeden Menschen so: Ein Teil wird vom alltäglichen
Geschäft des Denkens und Lebens erhellt, und dann gibt es
noch ein dunkles, schattiges Hinterland, wo alle möglichen
Gemeinheiten nur darauf warten, endlich loszuschlagen.
Sie hatte irgendwo von einem »Pool der Menschlichkeit,
an dem jedermann teilhat« gelesen. Sie kannte das Gefühl
aus ihrer Wohltätigkeitsarbeit. Aber es gab auch einen
Pfuhl des Menschseins, der allen gemeinsam war.
Solange sie sich wegen dieser Frage schämte, würde es ihr
schwerfallen, Elsie ein offenes und liebevolles Lächeln zu
schenken. Also versuchte sie, sich zu beschäftigen, räumte
auf, kochte Tee und hoffte auf einen Vorwand, um irgend-
wann den Fernseher einschalten zu können. Sie stellte sich
vor, wie Elsie einen Bus bestieg, und die Blicke, die sie bekommen
würde. Es war schrecklich, sie mit diesen grässlichen
Schlägern in einen Topf zu werfen. Sie hatte keinem
Menschen je etwas getan. Wenn jemand nicht an diesem
Pfuhl teilhatte, dann Elsie. Sie war es gewöhnt, dass Leute
sie anstarrten oder wegschauten. Einige würden, wenn sie
so geboren worden wären, überkochen vor Wut und Verärgerung.
Vielleicht tat auch Elsie das manchmal. Vielleicht
war sie überwältigt von Hass. Sie wusste es nicht.
Sie hatte es nie gewusst. Als Elsie heranwuchs, sagte sie
manchmal, sie wolle jetzt in ihr Zimmer gehen und sich
hinlegen. Das war, nachdem die Tränen aufgehört hatten
und man nur daran merkte, ob irgendetwas, normalerweise
in der Schule, sie besonders unglücklich gemacht hatte.
Die Lehrer hatten sich größte Mühe gegeben, aber, wie einer
ihr einmal erklärt hatte, es sei schwierig, ihre Einsamkeit
zu durchdringen. Sie hatte die Schule verlassen, sobald
sie durfte, mit nicht mehr als einem mageren Hauptschulabschluss,
blieb dann zu Hause und bekam hin und wieder
eine niedere Arbeit, bis sie sich schließlich eine eigene
Wohnung besorgte.
Sie hatte vor, sich für Elsie etwas Bequemeres anzuziehen,
um der Situation etwas Zwangloses zu geben. Sie fragte
sich, ob Elsie je dachte, sie habe Glück, am Leben zu sein,
weil ihre Mutter sie nicht schon vor ihrer Geburt beseitigt
hatte. Es war eine schreckliche Geburt gewesen, als hätte
Elsie damals schon gewusst, dass ihr Leben vielleicht nicht
lebenswert sein könnte. Manchmal glaubte Dorothy, einen
Ausdruck der Dankbarkeit in diesem grimmigen, verzogenen
Gesicht zu entdecken. Sie konnte keine Miene machen,
die ihr nicht einen noch finstereren Ausdruck verlieh.
Elsie - ihr dankbar. Dankbar!Wenigstens war sie nicht ihr
einziges Kind. Wenigstens hatte sie noch Geoffrey. Sie ging
ins Schlafzimmer, um sich etwas Legereres auszusuchen,
überlegte es sich dann aber anders. »Es tut mir leid, Elsie«,
sagte sie. »Ehrlich.« Aber was tat ihr leid? Dass sie nicht
wusste, wie sie ihr ein liebevolles, mütterliches Lächeln
schenken sollte? Sie musste dafür sorgen, dass sie sich zu
Hause fühlte. Sie durfte nicht über ihr Bein jammern, dem
es inzwischen eh schon viel besser ging.
II
Elsie schaute im Bus aus dem Fenster, um die Leute, die
sich neben sie setzten, nicht abzustoßen. Es war nicht so,
dass niemand mit ihr reden wollte, über Gott und dieWelt,
nachdem sie sich erst einmal an sie gewöhnt hatten. Zumindest
hin und wieder. Die Leute glaubten einfach nicht,
dass sie es weitererzählen würde. Sie konnten sich nicht
vorstellen, dass sie mit irgendjemandem an einer Bushaltestelle
oder einer Straßenecke stand und den neuesten
Klatsch verbreitete. Es war, als wäre sie gar keine richtige
Person. Sie wollte immer mehr über die Leute erfahren
und versuchte, nicht zu starren. Sie wollte, dass die Leute
sie besser kennenlernten. Ihre Mutter hatte ihr x-mal gesagt,
dass das, was wichtig sei, darunterliege. Und genau
das hatte sie sich auch selber oft gesagt.
Schon als Kind hatte sie gelernt, den Hass, der in ihr aufwallte
und sie zu überwältigen drohte, zu zügeln. Aber
manchmal packte er sie noch, als wäre er immer da und
wartete nur darauf loszuschlagen. Manchmal passierte es,
wenn sie hübsche junge Leute sah, die sich zur Schau stellten.
Oder die Gesichter in Anzeigen für Kosmetika und
Kleidung und Frisuren. Leute, die zu selbstgefällig waren.
Es hielt nie lange vor. Der Teufel hatte seine schmutzige
Arbeit getan und hatte genug Befriedigung im Leben, ohne
sich mit ihr abzugeben.
Sie mussten sich neben sie setzen, wenn der Bus voll war,
und dann beugten sie sich über ihre Einkäufe oder die anderen
Sachen auf ihrem Schoß, sobald sie ihr einen flüchtigen
Blick zugeworfen hatten. Wenn sie zweimal hinschauten,
dann vielleicht, weil sie unbedingt mit jemandem reden
mussten. Auf einer längeren Fahrt war es schwieriger,
nichts zu sagen, immerhin berührten sich ja die Arme.
Ein Mann saß neben ihr. Er roch nach etwas zugleich Saurem
und Süßem, nach etwas, das überdeckt wurde. Sie
konnte nicht aufhören, ihn immer wieder flüchtig anzuschauen
und Vermutungen anzustellen.
»Was starren Sie denn so?«, fragte er verärgert.
Seine Stimme klang, als sollte er sich einmal räuspern.
Vielleicht tat er es absichtlich nicht, damit sie rau und heiser
klang. Sein Kopf war rasiert worden, und jetzt wuchsen
die Haare fleckig nach, schwarz mit grauen Sprengseln.
Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert, und seine
Hose hatte eine scharfe Bügelfalte. Solche Sachen, wenn
sie den Eindruck hatte, die Leute wollten etwas beweisen,
fielen ihr auf. Es war der Grauton seiner Haut, die Fältchen
an seinen Augen, denn ansonsten wirkte er nicht alt. Sie
schaute ihn ein wenig länger an, denn ihre Neugier hatte
die Oberhand gewonnen.
Dann sagte er: »Wenn Sie's unbedingt wissen wollen,
ich habe einen Kerl umgebracht. Habe fünfzehn Jahre gesessen.
Seit vier Monaten draußen. Und jetzt können Sie
verdammt noch mal aufhören, mich anzustarren.«
Elsie war ihm dankbar. Das hätte er keinem anderen je
gesagt, nicht einfach so. Auch seine Augen waren grau, und
er funkelte sie böse an, als wartete er nur darauf, dass sie
schockiert oder ängstlich reagierte. Sie vermied estunlichst,
ihrem Gesicht einen Ausdruck zu geben. Ein Lächeln zum
Beispiel. Bei ihr sah ein Lächeln aus wie Zähnefletschen,
und zwar umso schlimmer, je freundlicher es gemeint war.
Es lag an der Art, wie ihre Zähne vorstanden, die unteren.
Und ihre Augen so tief in den Höhlen, dass man sie kaum
sah. Stundenlang hatte sie vor dem Spiegel geübt, aber sie
sah dabei immer nur aus, als würde sie sich hassen. Ein
Fernsehprediger hatte einmal gesagt, die Leute sollten in
den Spiegel schauen und sich sagen, dass Gott sie liebe. Sie
hatte es ein paarmal versucht und sich dann gesagt, wenn
Gott existierte, musste das stimmen, aber da er keine andere
Wahl hatte, dürfte ihm das Lieben nicht schwerfallen.
Sie hasste sich selber nicht, außer wenn der Teufel sie dazu
brachte, auch andere Leute zu hassen. Sie konnte Sachen
komisch finden, wenn sie wollte. Doch wenn sie lachte, sah
es aus, als würde sie nach Luft schnappen. Sie beherrschte
es hervorragend, ihre Gefühle nicht zu zeigen, denn wenn
sie es tat, ließ ihr Gesicht sie am heftigsten im Stich. Also
verzog sie keine Miene. Das war der Grund, warum Leute
ihr vertrauten, einfach damit herausrückten und ihr sagten,
sie hätten jemanden umgebracht.
Und so sagte sie: »Ach ja?« Als hätte er gesagt, er hätte
sich im vergangenen Winter eine Erkältung eingefangen,
oder etwas ähnlich Alltägliches.
Aber er hatte das Interesse verloren und schaute zum
anderen Fenster hinaus.
Sie fragte sich, ob sie vielleicht unverschämt gewirkt
hatte, deshalb fragte sie nach zwei Haltestellen: »Warum
haben Sie es getan?«
Ihr schien das eine höfliche Frage zu sein. Doch er antwortete
nur: »Scheren Sie sich doch um Ihren eigenen
Scheiß.«
Manchmal redeten die Leute mit ihr, als wäre sie zu dumm,
um sich darum zu scheren, als gäbe es kaum etwas, das sie
scheren könnte, so wie sie aussah. »Uneinnehmend« hatte
ihre Mutter es einmal genannt. Das war nicht fair. »Nicht
sehr einnehmend«, waren ihre genauen Worte gewesen.
Sie hatte mitgehört, wie ihre Mutter es am Telefon sagte,
das war alles. Sie hatte es ihr nicht ins Gesicht gesagt. Ihre
Mutter konnte nichts dafür, dass sie sie immer anschaute,
als würde sie sich wünschen, sie wäre anders, eher wie
Geoffrey.
Aus einer Augenblickslaune heraus sagte sie: »Manchmal
habe ich Lust, meine Mutter umzubringen. Oder auch meinen Vater.«
Sie war unterwegs zu ihrer Mutter, deshalb war ihr das
eingefallen. Es stimmte nicht. Es war nur freundlich gemeint,
um die Unterhaltung am Laufen zu halten, um sich
zu ihm ins selbe Boot zu setzen. Gern hätte sie jetzt witzelnd
gegrinst, um das zu unterstreichen.
Doch er murmelte nur: »Blöde, hässliche Kuh!«
So viel zu Aufmerksamkeit. Sie versuchte es wirklich,
wenn sich die Gelegenheit ergab. Sie wollte sich wirklich
gutstellen mit den Leuten, sie nicht immer nur vor den
Kopf stoßen. Eine andere Möglichkeit gab es eigentlich
nicht.
Sie stiegen an derselben Haltestelle aus. Einmal drehte sie
sich um, weil sie meinte, er würde ihr folgen, und ihr durch
den Kopf schoss, dass sie vielleicht sein nächstesOpfer sein
könnte, obwohl sie wahrscheinlich der letzte Mensch auf
der ganzen Welt war, den irgendjemand würde umbringen
wollen. Außerdem war er nirgendwo zu sehen.
Sie hastete nicht die Straße entlang, sondern ging gemächlich
durch die Schatten, die die sommerlichen Bäume
warfen. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter sie mochte
und sich auf ihre Besuche freute. Sie konnte sich keinen
Grund dafür vorstellen. Vielleicht dachte sie einfach, Kinder
verhielten sich eben so ... Es gab einige hübsche Vorgärten,
die meisten mit Rosen, die ihre besten Tage schon
hinter sich hatten und geschnitten werden mussten. Sie
sahen irgendwie erstickt aus, als würden sie in der Sommersonne
Staub ansetzen.
Einmal hatte sie ein Foto von der Hochzeit ihrer Eltern
gesehen. Ihre Mutter war nicht gerade die Fotogenste,
auch wenn sie sich extra herausputzte. Manchmal saß sie
zurückgelehnt in ihrem Sessel, das Bein auf einem Lederhocker,
um es herzuzeigen und darüber zu jammern. Und
manchmal legte sie den Kopf zurück und zeigte ihren Hals.
Es stimmte doch. Einmal hatte sie sich bei der Überlegung
ertappt, ob es wohl einfach wäre, sie zu erdrosseln, oder
ob sie dazu schlicht zu viele Fettfalten hatte. Als sie in die
Straße ihrerMutter einbog, an der weniger Bäume Schatten
warfen, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob der
Mann im Bus es für zehntausend Pfund tun würde. Beim
letzten Mal hatte ihre Mutter über ihr Bein gejammert und
sie nie angeschaut, oder nur ein einziges Mal, so, als würde
sie es sofort wieder bedauern. Ihr Vater hatte sie aus dem
Hochzeitsfoto heraus angesehen, als wäre er von ihnen
beiden enttäuscht. Sie war nicht lange geblieben, nicht
nachdem ihre Mutter mit ihrem Bein angefangen hatte.
»Warum solltest du es denn eilig haben?«, hatte sie gefragt.
Es gab einfach solche Gedanken, die sie überfielen, wenn
sie nicht auf der Hut war vor ihnen. Meistens wünschte sie
sich einfach, sie wäre anders, damit ihre Mutter sich nicht
so große Mühe geben müsste, sie zu lieben.
Sie konnte ja über ihre neue Arbeit reden. Sie hatte schon
eine ganze Reihe Jobs gehabt, alle im Reinigungsbereich.
Sie war alles andere als blöd, aber das sollten die Leute
nicht unbedingt mitbekommen. Einmal hatte sie sich um
eine Stelle in einem großen Kaufhaus beworben. Zwei
saßen ihr gegenüber, ein Mann und eine Frau, beide von
einer ehrlichen Freundlichkeit, beide elegant dunkel gekleidet.
Ins Formular hatte sie geschrieben, ihre Vorliebe
sei die Kosmetikabteilung. Sie hatte sich nur zum Spaß
beworben, um den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu
sehen.. Sie waren sehr höflich und ließen sich während
des ganzen Gesprächs nichts anmerken. Sie fragten sie
nach ihrer Berufserfahrung im Einzelhandel. Die gleich
null war. Ebenso ihr Wissen über Make-up. Sie selber benutzte
keins. Verbessern kann man schließlich nur, was
verbessert werden kann. An diesem Tag hatte sie sich die
Mühe gemacht. Sie gab ihnen Bestnoten, weil sie nicht
gleich in schallendes Gelächter ausbrachen. Am Ende sagten
sie, es gebe viele Bewerberinnen, und ihre mangelnde
Berufserfahrung komme ihr nicht gerade zustatten. Sie
sagte, sie wolle mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen,
dass man nicht zu sehr auf Make-up vertrauen sollte und
dass es gewisse Probleme gebe bezüglich des Aussehens,
die Make-up nicht lösen könne. »Die Leute müssen ihre
Erwartungen in der richtigen Perspektive sehen«, war die
Formulierung, die sie benutzte, denn so hatte sie es im
Wartezimmer ihres Arztes in einer Vogue gelesen. Darauf
nickten die beiden mehrmals weise, wahrscheinlich öfter,
als sie es ursprünglich vorgehabt hatten. Sie wussten nicht
so recht, ob sie sie nur auf den Arm nahm. Sie sagten, sie
würden ihr ihre Entscheidung in einem Brief mitteilen.
Es war ein ziemlich freundlicher Brief, sie drückten ihr
Bedauern etc. aus und wünschten ihr viel Glück für ihre
berufliche Zukunft. Sie beantwortete den Brief, um sich
für das freundliche Gespräch zu bedanken. Es wäre ihr nur
lieber gewesen, ihr Brief hätte ein wenig mehr Selbstsicherheit
verströmt. Ihre alte Schreibmaschine hatte, wie alles
andere, ihre Beschränkungen.
Sie war noch nicht bereit, ihre Mutter zu sehen, und es war
ein wunderbarer Tag, um im Schatten der Bäume durch die
Straßen zu schlendern. Putzjobs waren nicht uninteressant.
Sie hätte ihrer Mutter gern erklärt, was sie daran interessierte,
auch wenn sie wahrscheinlich dachte, Putzen
sei das Beste, was sie sich erhoffen könne.
Einmal war sie Zeugin einer Testamentsabfassung geworden.
Oder zweimal, um genau zu sein. Es geschah in der
Allgemeinabteilung eines Krankenhauses. Sein Name war
Edgar Wakefield, und sie plauderten ziemlich häufig miteinander.
Bis auf seine Tochter, die einmal eines späten
Nachmittags kam, hatte er nur eine einzige Besucherin,
eine Frau, die ein richtiges Theater um ihn veranstaltete,
immer sein Kissen aufschüttelte und seine Decke glatt
strich und ihm Zeitschriften brachte. Sie beugte sich über
sein Bett und redete leise mit ihm. Soweit sie das mitbekam,
ging es um sein Haus, das für ihn in Ordnung
gehalten wurde, und um seinen Garten. Genauer gesagt,
das erzählte er ihr. »Eine dieser altmodischen Nachbarinnen
«, nannte er sie. Einmal zeigte sie ihm etwas Erde
unter den Fingernägeln, weil sie ihn wissen lassen wollte,
dass sie das Unkraut jäte und es in diesem Jahr sehr viel
Löwenzahn gebe. Elsie konnte den beiden nicht zu nahe
rücken, aber sie versuchte immer, mit Lappen und Eimer
im Zimmer zu sein, wenn die Frau kam, so regelmäßig
wie das sprichwörtliche Uhrwerk. Edgar erzählte ihr, wie
besonders freundlich und »aufmerksam« sie nach dem
Tod seiner Frau gewesen sei. Ihr Ehemann ebenfalls, was
ihnen »einiges an Gemeinsamkeit« verlieh. Er hatte ein
Foto seiner Frau in einem Silberrahmen, das er auf seinem
Nachtkästchen stehen hatte und sich oft auch mit dem
Gesicht nach unten auf die Brust drückte. Wenn die Frau
kam, versteckte er es. Sie strahlte etwas Gemütliches und
Freundliches aus, was allerdings konterkariert wurde von
der Forschheit, mit der sie ihn betütelte, und ihrem stets
gleichen Lächeln.
Eines Tages kam die Frau mit einem Mann in einem eleganten
Anzug, der sofort den Vorhang um Edgars Bett zuzog
und ihn zehn Minuten später sehr vehement wieder aufriss.
»Hätten Sie wohl die Güte, eine Unterschrift zu bezeugen?«,
fragte er mit der überheblichen Stimme, die Leute
benutzen, wenn sie zeigen wollen, was für perfekte Manieren
sie haben. Edgar unterschrieb das Dokument, dann
unterschrieb sie es. Der Mann schaute sich noch nach
jemand anders um, und da die Dame mit dem Teewagen
gerade vorbeiging, unterschrieb auch sie. Nun plötzlich
änderte sich das Lächeln der Frau, und noch nie in ihrem
Leben hatte Elsie einen Menschen gesehen, der so selbstgefällig
aussah.
Tags darauf erzählte ihr Edgar, er habe sein Testament
geändert. Es würde weiterhin ein bisschen was für seine
Tochter übrig bleiben. Sie lebte sowieso weit weg, in
Schottland, denn ihr Mann arbeitete in der Off-ShoreÖlindustrie.
Sie hatte ihren Vater nur ein einziges Mal
besucht und dabei sie angestarrt, bis sie sich schließlich
mit ihrem Lappen und ihrem Eimer verdrückt hatte. »Wir
sind uns nie sehr nahegestanden, und das meine ich völlig
ernst«, erzählte Edgar ihr danach. »Sie kommt nicht weg
von ihrer Familie, ganz da oben in Aberdeen. Vier Enkel.
Zwei davon habe ich nie gesehen. Auf den Fotos sehen sie
aus wie gute Kinder.«
Eine Woche danach wirkte er sorgenschwer und nicht so
gesprächig. Er erzählte ihr, er hätte sich mit seiner Tochter
zerstritten wegen ihres Verhaltens, bevor sie zur Ruhe kam
und eine Familie gründete. Er sagte, jetzt sehe er ein, dass
er unrecht gehabt habe. Wer rege sich denn jetzt noch auf
über gefärbte Haare und Gesichtspiercing und zu kurze Röcke
und ein paar Gläschen zu viel an einem Samstagabend
oder sogar einen Autoklau für eine kurze Spritztour? Sie sei
jetzt ein »geläuterter Charakter mit Kindern und allem«.
Für Elsie war es eine der größten Freuden im Leben, dass
die Leute manchmal wirklich gern mit ihr redeten, fast so
freizügig wie in einem Selbstgespräch. Dann fragte er sie
nach ihrer Meinung. Ob er das Richtige getan habe? Er
wusste bereits, dass dem nicht so war, sonst hätte er nicht
gefragt. Die Frau hatte aufgehört, jeden Nachmittag zu
kommen. Elsie wusste, dass sie mehr spekulierte, als ihr
guttat, dass sie Vermutungen über andere Leute anstellte,
sich andere Welten erträumte. Aber dieWeintrauben wurden
kleiner, und die Zeitschriften sahen aus, als wären sie
schon durch mehrere Hände gegangen. Vielleicht hatte sie
sie aus dem Wartezimmer ihres Arztes geklaut. Schließlich
kam es so weit, dass sie ein neues Testament für ihn tippte,
in dem er seiner Tochter alles vererbte und Mrs. Betty
Stiles für ihre Mühen zweitausend Pfund hinterließ. Sie
bezeugte auch dieses Testament zusammen mit einer der
Krankenschwestern und brachte es dann zu seiner Bank,
zusammen mit einem Brief, in dem stand, es solle erst nach
seinem Tod geöffnet werden. Er hielt sich den Zeigefinger
an die Lippen und schenkte ihr ein großes Lächeln, als er
ihr den Umschlag gab.
Eswar sehr schön, als vertrauenswürdig betrachtet zu werden,
denn es gab einem das Gefühl, das sei das Einzige, was
Bedeutung hatte. Wenn sie nicht hässlich gewesen wäre
und irgendwie neutral ausgesehen und vom Leben nichts
erwartet hätte, wäre Edgars Testament womöglich nie geändert
worden. Bevor sie abends einschlief, stellte sie sich
manchmal diese Enkel in späteren Jahren vor, wie sie auf
die Universität gingen und anfingen, Häuser zu kaufen,
und in hübschen Autos herumfuhren und überhaupt nicht
wussten, wem sie das alles zu verdanken hatten. Falls sie sie
aufspüren und ihnen ins Gesicht sagen würde, was es mit
dem Testament ihres Großvaters auf sich hatte, wären sie
ihm gegenüber weniger dankbar und ihr gegenüber wegen
ihresAussehens überhaupt nicht, und vielleichtwürden sie
ihr Studium und andere Sachen gar nicht so genießen. Ihr
gefiel einfach der Gedanke, dass sie wegen ihr zufriedener
mit ihrem Lebenwaren, auch wenn sie einander überhaupt
nicht kannten. Dabei konnte sie auch die Mutter dieser
Kinder vergessen, die sich dem Krankenbett ihres Vaters
erst näherte, als sie sich verdrückt hatte. Oft erinnerte sie
sich an das Lächeln auf Edgars Gesicht, als er ihr den Um-
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Druck und Einband: CPI - Clausen & Bosse, Leck
CP • Herstellung: SK
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Dorothy saß am Schreibtisch ihres Vaters. Henry hatte ihn
ihr überlassen - mit einem von ihm festgesetzten Wert -
und ihrem Anteil am Nachlass ihres Vaters hinzugeschlagen.
Das war typisch Henry. Mindestens zweitausend
Pfund wert, hatte er gesagt. O nein, so viel war er nicht
wert. Und jetzt hatte er ihr einen aufgeblasenen Brief über
den Verkauf des Cottage geschrieben. Sie schaute hinüber
zum Spiegel über dem Kaminsims und lächelte, um für
Elsie zu üben, die bald hier sein würde. Richtig war dieses
Lächeln nie - freundlich, sogar einladend, aber wie
viel Liebe lag darin? Der Spiegel hing zu hoch für Elsie, sie
konnte sich nicht sehen. Das Lächeln verwandelte sich in
eine Maske der Bitterkeit. Die Frisur, die sie sich heute Vormittag
hatte machen lassen, war ein lächerlich wackeliger,
silbriger Helm. Eine der Frauen beim Bridge-Vormittag -
Gladys, nicht? - hatte ihr einmal gesagt, sie habe einen
strengen Gesichtsausdruck. Es wäre ihr lieber, wenn sie
nach all den Jahren ein anderes, dauerhafteres Lächeln für
Elsie hätte.
Sie würde ihr wieder einen Scheck geben, als kleine Unterstützung
für ihre Ausflüge in öffentliche Gärten. Sie wäre
gern sicher, dass sie nicht nur deshalb kam. Vielleicht tat
sie es aus Pflichtgefühl. Sie konnte nicht einmal vermuten,
wie viel Liebe dabei war, denn ihrem Gesicht konnte man
es nicht ansehen. Und auf ihrem eigenen, was war da zu
sehen? Angst. Scham. Sie hatte immer versucht, zu Elsie zu
stehen, als sie noch ein kleines Mädchen war.Wie oft hatte
sie ihr gesagt, dass Aussehen nichts bedeute, wichtig sei
nur, wie die Menschen darunter sind. Elsie hatte aufgehört
zu weinen, als sie ungefähr acht war, sie hatte sich inzwischen
an sich gewöhnt.
Sie war nicht mehr so besorgt wie früher. Elsie hatte ihre
Putzarbeit und ihre Gartenbesuche und ihre gemütliche
kleine Wohnung. Sie hatte die Stoffe ausgesucht und die
Vorhänge für sie genäht, wie Mütter es tun sollten. Natürlich
gab es auch einen Fernseher. Sie hatte ihr Fahrstunden
bezahlt, und jetzt war sie eigentlich bereit für die Prüfung.
Den schriftlichen Teil hatte sie schon bestanden, aber den
praktischen schob sie immer wieder hinaus. Vielleicht war
sie nervös wegen der Wirkung ihres Anblicks auf andere
Leute und der Gefahr eines Unfalls. Es wäre anders, wenn
kein Fahrlehrer neben ihr säße. Mehr gab es in ihrem Leben
nicht. Keine Liebe, keine Aufregung. Es gab nichts,
weswegen man sich Sorgen machen müsste. Jetzt würde
Elsie nichts mehr passieren, da sie, Tag für Tag, nur sie selber
sein musste.
Sie konnte die Frage nicht vergessen, die Gladys ihr beim
Kartengeben gestellt hatte, nachdem es ihr nicht gelungen
war, für Mavis mit dem seligen Arthur in Verbindung zu
treten. Arthur war der langweiligste Mann gewesen, den
sie je gekannt hatte. Gladys erreichte ihn dreimal, und jedes
Mal wollte er Mavis nur sagen, sie solle nicht vergessen,
die Geranien zu gießen. Genau so ein Langweiler war
Arthur gewesen. Mavis musste zum x-ten Mal erzählen,
dass Arthur der Vergessliche gewesen war und sie in ihrem
ganzen Leben noch kein einziges Mal vergessen hatte, eine
Blume zu gießen.
Sie ging in die Küche, um ein Teetablett herzurichten. Sie
wollte, dass Elsie sich hier immer zu Hause fühlte. Die Frage,
die Gladys gestellt hatte, lautete, ob sie Elsie während
der Schwangerschaft hätte töten lassen, wenn sie gewusst
hätte, was aus ihr werden würde. Das war nicht fair. Es war
schwer, Gladys gegenüber fair zu sein. Im Grunde galt das
für alle Frauen in diesem Kreis.Was Gladys tatsächlich gesagt
hatte, äußerst beiläufig beim Kartengeben, war: »Man
muss sich doch fragen, ob es nicht besser gewesen wäre,
wenn gewisse Leute nie geboren worden wären.« Zugegeben,
sie hatten davor über die Jugendbanden gesprochen,
die eine benachbarteWohnsiedlung terrorisierten. Sie hatte
Gladys sehr genau beobachtet, um zu sehen, ob sie ihr
vielleicht einen ihrer Blicke zuwarf, einen Hinweis darauf,
dass mit dieser Frage auch Elsie gemeint sein könnte. Aber
sie tat es nicht. Die anderen schauten sich inzwischen die
ausgeteilten Karten an. Sicher ist ihnen auch durch den
Kopf gegangen, diese Frage auf Elsie zu beziehen. Dann
war es Mavis, die sie kurz musterte, aber sie war ihre Partnerin
und wollte vermutlich nur herausbekommen, was
für ein Blatt sie hatte. Mavis hatte genickt, als Gladys das
gesagt hatte. Mavis und Arthur hatten keine Kinder gehabt,
wahrscheinlich, weil sie sich so aufopfernd um diese
Geranien kümmern mussten.
In einer halben Stunde würde Elsie hier sein. Sie war immer
pünktlich. Im Krankenhaus musste man pünktlich
sein, hatte sie erklärt, um herauszufinden, welche Aufgaben
man am jeweiligen Tag hatte, und um sich Lappen
und Besen und Putzmaterial zu besorgen. Dorothy holte
das Porzellan heraus, das sie von ihrem Vater geerbt hatte.
Henry hatte auch das mit einer Wertangabe versehen -
bestes Spode. Eigentlich ging es darum, dass Gladys ihr
diesen Gedanken nicht erst in den Kopf gesetzt, sondern
sie nur daran erinnert hatte, dass er bereits da war, irgendwo
im Unterholz lauerte. Vielleicht funktioniert das Hirn
eines jeden Menschen so: Ein Teil wird vom alltäglichen
Geschäft des Denkens und Lebens erhellt, und dann gibt es
noch ein dunkles, schattiges Hinterland, wo alle möglichen
Gemeinheiten nur darauf warten, endlich loszuschlagen.
Sie hatte irgendwo von einem »Pool der Menschlichkeit,
an dem jedermann teilhat« gelesen. Sie kannte das Gefühl
aus ihrer Wohltätigkeitsarbeit. Aber es gab auch einen
Pfuhl des Menschseins, der allen gemeinsam war.
Solange sie sich wegen dieser Frage schämte, würde es ihr
schwerfallen, Elsie ein offenes und liebevolles Lächeln zu
schenken. Also versuchte sie, sich zu beschäftigen, räumte
auf, kochte Tee und hoffte auf einen Vorwand, um irgend-
wann den Fernseher einschalten zu können. Sie stellte sich
vor, wie Elsie einen Bus bestieg, und die Blicke, die sie bekommen
würde. Es war schrecklich, sie mit diesen grässlichen
Schlägern in einen Topf zu werfen. Sie hatte keinem
Menschen je etwas getan. Wenn jemand nicht an diesem
Pfuhl teilhatte, dann Elsie. Sie war es gewöhnt, dass Leute
sie anstarrten oder wegschauten. Einige würden, wenn sie
so geboren worden wären, überkochen vor Wut und Verärgerung.
Vielleicht tat auch Elsie das manchmal. Vielleicht
war sie überwältigt von Hass. Sie wusste es nicht.
Sie hatte es nie gewusst. Als Elsie heranwuchs, sagte sie
manchmal, sie wolle jetzt in ihr Zimmer gehen und sich
hinlegen. Das war, nachdem die Tränen aufgehört hatten
und man nur daran merkte, ob irgendetwas, normalerweise
in der Schule, sie besonders unglücklich gemacht hatte.
Die Lehrer hatten sich größte Mühe gegeben, aber, wie einer
ihr einmal erklärt hatte, es sei schwierig, ihre Einsamkeit
zu durchdringen. Sie hatte die Schule verlassen, sobald
sie durfte, mit nicht mehr als einem mageren Hauptschulabschluss,
blieb dann zu Hause und bekam hin und wieder
eine niedere Arbeit, bis sie sich schließlich eine eigene
Wohnung besorgte.
Sie hatte vor, sich für Elsie etwas Bequemeres anzuziehen,
um der Situation etwas Zwangloses zu geben. Sie fragte
sich, ob Elsie je dachte, sie habe Glück, am Leben zu sein,
weil ihre Mutter sie nicht schon vor ihrer Geburt beseitigt
hatte. Es war eine schreckliche Geburt gewesen, als hätte
Elsie damals schon gewusst, dass ihr Leben vielleicht nicht
lebenswert sein könnte. Manchmal glaubte Dorothy, einen
Ausdruck der Dankbarkeit in diesem grimmigen, verzogenen
Gesicht zu entdecken. Sie konnte keine Miene machen,
die ihr nicht einen noch finstereren Ausdruck verlieh.
Elsie - ihr dankbar. Dankbar!Wenigstens war sie nicht ihr
einziges Kind. Wenigstens hatte sie noch Geoffrey. Sie ging
ins Schlafzimmer, um sich etwas Legereres auszusuchen,
überlegte es sich dann aber anders. »Es tut mir leid, Elsie«,
sagte sie. »Ehrlich.« Aber was tat ihr leid? Dass sie nicht
wusste, wie sie ihr ein liebevolles, mütterliches Lächeln
schenken sollte? Sie musste dafür sorgen, dass sie sich zu
Hause fühlte. Sie durfte nicht über ihr Bein jammern, dem
es inzwischen eh schon viel besser ging.
II
Elsie schaute im Bus aus dem Fenster, um die Leute, die
sich neben sie setzten, nicht abzustoßen. Es war nicht so,
dass niemand mit ihr reden wollte, über Gott und dieWelt,
nachdem sie sich erst einmal an sie gewöhnt hatten. Zumindest
hin und wieder. Die Leute glaubten einfach nicht,
dass sie es weitererzählen würde. Sie konnten sich nicht
vorstellen, dass sie mit irgendjemandem an einer Bushaltestelle
oder einer Straßenecke stand und den neuesten
Klatsch verbreitete. Es war, als wäre sie gar keine richtige
Person. Sie wollte immer mehr über die Leute erfahren
und versuchte, nicht zu starren. Sie wollte, dass die Leute
sie besser kennenlernten. Ihre Mutter hatte ihr x-mal gesagt,
dass das, was wichtig sei, darunterliege. Und genau
das hatte sie sich auch selber oft gesagt.
Schon als Kind hatte sie gelernt, den Hass, der in ihr aufwallte
und sie zu überwältigen drohte, zu zügeln. Aber
manchmal packte er sie noch, als wäre er immer da und
wartete nur darauf loszuschlagen. Manchmal passierte es,
wenn sie hübsche junge Leute sah, die sich zur Schau stellten.
Oder die Gesichter in Anzeigen für Kosmetika und
Kleidung und Frisuren. Leute, die zu selbstgefällig waren.
Es hielt nie lange vor. Der Teufel hatte seine schmutzige
Arbeit getan und hatte genug Befriedigung im Leben, ohne
sich mit ihr abzugeben.
Sie mussten sich neben sie setzen, wenn der Bus voll war,
und dann beugten sie sich über ihre Einkäufe oder die anderen
Sachen auf ihrem Schoß, sobald sie ihr einen flüchtigen
Blick zugeworfen hatten. Wenn sie zweimal hinschauten,
dann vielleicht, weil sie unbedingt mit jemandem reden
mussten. Auf einer längeren Fahrt war es schwieriger,
nichts zu sagen, immerhin berührten sich ja die Arme.
Ein Mann saß neben ihr. Er roch nach etwas zugleich Saurem
und Süßem, nach etwas, das überdeckt wurde. Sie
konnte nicht aufhören, ihn immer wieder flüchtig anzuschauen
und Vermutungen anzustellen.
»Was starren Sie denn so?«, fragte er verärgert.
Seine Stimme klang, als sollte er sich einmal räuspern.
Vielleicht tat er es absichtlich nicht, damit sie rau und heiser
klang. Sein Kopf war rasiert worden, und jetzt wuchsen
die Haare fleckig nach, schwarz mit grauen Sprengseln.
Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert, und seine
Hose hatte eine scharfe Bügelfalte. Solche Sachen, wenn
sie den Eindruck hatte, die Leute wollten etwas beweisen,
fielen ihr auf. Es war der Grauton seiner Haut, die Fältchen
an seinen Augen, denn ansonsten wirkte er nicht alt. Sie
schaute ihn ein wenig länger an, denn ihre Neugier hatte
die Oberhand gewonnen.
Dann sagte er: »Wenn Sie's unbedingt wissen wollen,
ich habe einen Kerl umgebracht. Habe fünfzehn Jahre gesessen.
Seit vier Monaten draußen. Und jetzt können Sie
verdammt noch mal aufhören, mich anzustarren.«
Elsie war ihm dankbar. Das hätte er keinem anderen je
gesagt, nicht einfach so. Auch seine Augen waren grau, und
er funkelte sie böse an, als wartete er nur darauf, dass sie
schockiert oder ängstlich reagierte. Sie vermied estunlichst,
ihrem Gesicht einen Ausdruck zu geben. Ein Lächeln zum
Beispiel. Bei ihr sah ein Lächeln aus wie Zähnefletschen,
und zwar umso schlimmer, je freundlicher es gemeint war.
Es lag an der Art, wie ihre Zähne vorstanden, die unteren.
Und ihre Augen so tief in den Höhlen, dass man sie kaum
sah. Stundenlang hatte sie vor dem Spiegel geübt, aber sie
sah dabei immer nur aus, als würde sie sich hassen. Ein
Fernsehprediger hatte einmal gesagt, die Leute sollten in
den Spiegel schauen und sich sagen, dass Gott sie liebe. Sie
hatte es ein paarmal versucht und sich dann gesagt, wenn
Gott existierte, musste das stimmen, aber da er keine andere
Wahl hatte, dürfte ihm das Lieben nicht schwerfallen.
Sie hasste sich selber nicht, außer wenn der Teufel sie dazu
brachte, auch andere Leute zu hassen. Sie konnte Sachen
komisch finden, wenn sie wollte. Doch wenn sie lachte, sah
es aus, als würde sie nach Luft schnappen. Sie beherrschte
es hervorragend, ihre Gefühle nicht zu zeigen, denn wenn
sie es tat, ließ ihr Gesicht sie am heftigsten im Stich. Also
verzog sie keine Miene. Das war der Grund, warum Leute
ihr vertrauten, einfach damit herausrückten und ihr sagten,
sie hätten jemanden umgebracht.
Und so sagte sie: »Ach ja?« Als hätte er gesagt, er hätte
sich im vergangenen Winter eine Erkältung eingefangen,
oder etwas ähnlich Alltägliches.
Aber er hatte das Interesse verloren und schaute zum
anderen Fenster hinaus.
Sie fragte sich, ob sie vielleicht unverschämt gewirkt
hatte, deshalb fragte sie nach zwei Haltestellen: »Warum
haben Sie es getan?«
Ihr schien das eine höfliche Frage zu sein. Doch er antwortete
nur: »Scheren Sie sich doch um Ihren eigenen
Scheiß.«
Manchmal redeten die Leute mit ihr, als wäre sie zu dumm,
um sich darum zu scheren, als gäbe es kaum etwas, das sie
scheren könnte, so wie sie aussah. »Uneinnehmend« hatte
ihre Mutter es einmal genannt. Das war nicht fair. »Nicht
sehr einnehmend«, waren ihre genauen Worte gewesen.
Sie hatte mitgehört, wie ihre Mutter es am Telefon sagte,
das war alles. Sie hatte es ihr nicht ins Gesicht gesagt. Ihre
Mutter konnte nichts dafür, dass sie sie immer anschaute,
als würde sie sich wünschen, sie wäre anders, eher wie
Geoffrey.
Aus einer Augenblickslaune heraus sagte sie: »Manchmal
habe ich Lust, meine Mutter umzubringen. Oder auch meinen Vater.«
Sie war unterwegs zu ihrer Mutter, deshalb war ihr das
eingefallen. Es stimmte nicht. Es war nur freundlich gemeint,
um die Unterhaltung am Laufen zu halten, um sich
zu ihm ins selbe Boot zu setzen. Gern hätte sie jetzt witzelnd
gegrinst, um das zu unterstreichen.
Doch er murmelte nur: »Blöde, hässliche Kuh!«
So viel zu Aufmerksamkeit. Sie versuchte es wirklich,
wenn sich die Gelegenheit ergab. Sie wollte sich wirklich
gutstellen mit den Leuten, sie nicht immer nur vor den
Kopf stoßen. Eine andere Möglichkeit gab es eigentlich
nicht.
Sie stiegen an derselben Haltestelle aus. Einmal drehte sie
sich um, weil sie meinte, er würde ihr folgen, und ihr durch
den Kopf schoss, dass sie vielleicht sein nächstesOpfer sein
könnte, obwohl sie wahrscheinlich der letzte Mensch auf
der ganzen Welt war, den irgendjemand würde umbringen
wollen. Außerdem war er nirgendwo zu sehen.
Sie hastete nicht die Straße entlang, sondern ging gemächlich
durch die Schatten, die die sommerlichen Bäume
warfen. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter sie mochte
und sich auf ihre Besuche freute. Sie konnte sich keinen
Grund dafür vorstellen. Vielleicht dachte sie einfach, Kinder
verhielten sich eben so ... Es gab einige hübsche Vorgärten,
die meisten mit Rosen, die ihre besten Tage schon
hinter sich hatten und geschnitten werden mussten. Sie
sahen irgendwie erstickt aus, als würden sie in der Sommersonne
Staub ansetzen.
Einmal hatte sie ein Foto von der Hochzeit ihrer Eltern
gesehen. Ihre Mutter war nicht gerade die Fotogenste,
auch wenn sie sich extra herausputzte. Manchmal saß sie
zurückgelehnt in ihrem Sessel, das Bein auf einem Lederhocker,
um es herzuzeigen und darüber zu jammern. Und
manchmal legte sie den Kopf zurück und zeigte ihren Hals.
Es stimmte doch. Einmal hatte sie sich bei der Überlegung
ertappt, ob es wohl einfach wäre, sie zu erdrosseln, oder
ob sie dazu schlicht zu viele Fettfalten hatte. Als sie in die
Straße ihrerMutter einbog, an der weniger Bäume Schatten
warfen, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob der
Mann im Bus es für zehntausend Pfund tun würde. Beim
letzten Mal hatte ihre Mutter über ihr Bein gejammert und
sie nie angeschaut, oder nur ein einziges Mal, so, als würde
sie es sofort wieder bedauern. Ihr Vater hatte sie aus dem
Hochzeitsfoto heraus angesehen, als wäre er von ihnen
beiden enttäuscht. Sie war nicht lange geblieben, nicht
nachdem ihre Mutter mit ihrem Bein angefangen hatte.
»Warum solltest du es denn eilig haben?«, hatte sie gefragt.
Es gab einfach solche Gedanken, die sie überfielen, wenn
sie nicht auf der Hut war vor ihnen. Meistens wünschte sie
sich einfach, sie wäre anders, damit ihre Mutter sich nicht
so große Mühe geben müsste, sie zu lieben.
Sie konnte ja über ihre neue Arbeit reden. Sie hatte schon
eine ganze Reihe Jobs gehabt, alle im Reinigungsbereich.
Sie war alles andere als blöd, aber das sollten die Leute
nicht unbedingt mitbekommen. Einmal hatte sie sich um
eine Stelle in einem großen Kaufhaus beworben. Zwei
saßen ihr gegenüber, ein Mann und eine Frau, beide von
einer ehrlichen Freundlichkeit, beide elegant dunkel gekleidet.
Ins Formular hatte sie geschrieben, ihre Vorliebe
sei die Kosmetikabteilung. Sie hatte sich nur zum Spaß
beworben, um den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu
sehen.. Sie waren sehr höflich und ließen sich während
des ganzen Gesprächs nichts anmerken. Sie fragten sie
nach ihrer Berufserfahrung im Einzelhandel. Die gleich
null war. Ebenso ihr Wissen über Make-up. Sie selber benutzte
keins. Verbessern kann man schließlich nur, was
verbessert werden kann. An diesem Tag hatte sie sich die
Mühe gemacht. Sie gab ihnen Bestnoten, weil sie nicht
gleich in schallendes Gelächter ausbrachen. Am Ende sagten
sie, es gebe viele Bewerberinnen, und ihre mangelnde
Berufserfahrung komme ihr nicht gerade zustatten. Sie
sagte, sie wolle mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen,
dass man nicht zu sehr auf Make-up vertrauen sollte und
dass es gewisse Probleme gebe bezüglich des Aussehens,
die Make-up nicht lösen könne. »Die Leute müssen ihre
Erwartungen in der richtigen Perspektive sehen«, war die
Formulierung, die sie benutzte, denn so hatte sie es im
Wartezimmer ihres Arztes in einer Vogue gelesen. Darauf
nickten die beiden mehrmals weise, wahrscheinlich öfter,
als sie es ursprünglich vorgehabt hatten. Sie wussten nicht
so recht, ob sie sie nur auf den Arm nahm. Sie sagten, sie
würden ihr ihre Entscheidung in einem Brief mitteilen.
Es war ein ziemlich freundlicher Brief, sie drückten ihr
Bedauern etc. aus und wünschten ihr viel Glück für ihre
berufliche Zukunft. Sie beantwortete den Brief, um sich
für das freundliche Gespräch zu bedanken. Es wäre ihr nur
lieber gewesen, ihr Brief hätte ein wenig mehr Selbstsicherheit
verströmt. Ihre alte Schreibmaschine hatte, wie alles
andere, ihre Beschränkungen.
Sie war noch nicht bereit, ihre Mutter zu sehen, und es war
ein wunderbarer Tag, um im Schatten der Bäume durch die
Straßen zu schlendern. Putzjobs waren nicht uninteressant.
Sie hätte ihrer Mutter gern erklärt, was sie daran interessierte,
auch wenn sie wahrscheinlich dachte, Putzen
sei das Beste, was sie sich erhoffen könne.
Einmal war sie Zeugin einer Testamentsabfassung geworden.
Oder zweimal, um genau zu sein. Es geschah in der
Allgemeinabteilung eines Krankenhauses. Sein Name war
Edgar Wakefield, und sie plauderten ziemlich häufig miteinander.
Bis auf seine Tochter, die einmal eines späten
Nachmittags kam, hatte er nur eine einzige Besucherin,
eine Frau, die ein richtiges Theater um ihn veranstaltete,
immer sein Kissen aufschüttelte und seine Decke glatt
strich und ihm Zeitschriften brachte. Sie beugte sich über
sein Bett und redete leise mit ihm. Soweit sie das mitbekam,
ging es um sein Haus, das für ihn in Ordnung
gehalten wurde, und um seinen Garten. Genauer gesagt,
das erzählte er ihr. »Eine dieser altmodischen Nachbarinnen
«, nannte er sie. Einmal zeigte sie ihm etwas Erde
unter den Fingernägeln, weil sie ihn wissen lassen wollte,
dass sie das Unkraut jäte und es in diesem Jahr sehr viel
Löwenzahn gebe. Elsie konnte den beiden nicht zu nahe
rücken, aber sie versuchte immer, mit Lappen und Eimer
im Zimmer zu sein, wenn die Frau kam, so regelmäßig
wie das sprichwörtliche Uhrwerk. Edgar erzählte ihr, wie
besonders freundlich und »aufmerksam« sie nach dem
Tod seiner Frau gewesen sei. Ihr Ehemann ebenfalls, was
ihnen »einiges an Gemeinsamkeit« verlieh. Er hatte ein
Foto seiner Frau in einem Silberrahmen, das er auf seinem
Nachtkästchen stehen hatte und sich oft auch mit dem
Gesicht nach unten auf die Brust drückte. Wenn die Frau
kam, versteckte er es. Sie strahlte etwas Gemütliches und
Freundliches aus, was allerdings konterkariert wurde von
der Forschheit, mit der sie ihn betütelte, und ihrem stets
gleichen Lächeln.
Eines Tages kam die Frau mit einem Mann in einem eleganten
Anzug, der sofort den Vorhang um Edgars Bett zuzog
und ihn zehn Minuten später sehr vehement wieder aufriss.
»Hätten Sie wohl die Güte, eine Unterschrift zu bezeugen?«,
fragte er mit der überheblichen Stimme, die Leute
benutzen, wenn sie zeigen wollen, was für perfekte Manieren
sie haben. Edgar unterschrieb das Dokument, dann
unterschrieb sie es. Der Mann schaute sich noch nach
jemand anders um, und da die Dame mit dem Teewagen
gerade vorbeiging, unterschrieb auch sie. Nun plötzlich
änderte sich das Lächeln der Frau, und noch nie in ihrem
Leben hatte Elsie einen Menschen gesehen, der so selbstgefällig
aussah.
Tags darauf erzählte ihr Edgar, er habe sein Testament
geändert. Es würde weiterhin ein bisschen was für seine
Tochter übrig bleiben. Sie lebte sowieso weit weg, in
Schottland, denn ihr Mann arbeitete in der Off-ShoreÖlindustrie.
Sie hatte ihren Vater nur ein einziges Mal
besucht und dabei sie angestarrt, bis sie sich schließlich
mit ihrem Lappen und ihrem Eimer verdrückt hatte. »Wir
sind uns nie sehr nahegestanden, und das meine ich völlig
ernst«, erzählte Edgar ihr danach. »Sie kommt nicht weg
von ihrer Familie, ganz da oben in Aberdeen. Vier Enkel.
Zwei davon habe ich nie gesehen. Auf den Fotos sehen sie
aus wie gute Kinder.«
Eine Woche danach wirkte er sorgenschwer und nicht so
gesprächig. Er erzählte ihr, er hätte sich mit seiner Tochter
zerstritten wegen ihres Verhaltens, bevor sie zur Ruhe kam
und eine Familie gründete. Er sagte, jetzt sehe er ein, dass
er unrecht gehabt habe. Wer rege sich denn jetzt noch auf
über gefärbte Haare und Gesichtspiercing und zu kurze Röcke
und ein paar Gläschen zu viel an einem Samstagabend
oder sogar einen Autoklau für eine kurze Spritztour? Sie sei
jetzt ein »geläuterter Charakter mit Kindern und allem«.
Für Elsie war es eine der größten Freuden im Leben, dass
die Leute manchmal wirklich gern mit ihr redeten, fast so
freizügig wie in einem Selbstgespräch. Dann fragte er sie
nach ihrer Meinung. Ob er das Richtige getan habe? Er
wusste bereits, dass dem nicht so war, sonst hätte er nicht
gefragt. Die Frau hatte aufgehört, jeden Nachmittag zu
kommen. Elsie wusste, dass sie mehr spekulierte, als ihr
guttat, dass sie Vermutungen über andere Leute anstellte,
sich andere Welten erträumte. Aber dieWeintrauben wurden
kleiner, und die Zeitschriften sahen aus, als wären sie
schon durch mehrere Hände gegangen. Vielleicht hatte sie
sie aus dem Wartezimmer ihres Arztes geklaut. Schließlich
kam es so weit, dass sie ein neues Testament für ihn tippte,
in dem er seiner Tochter alles vererbte und Mrs. Betty
Stiles für ihre Mühen zweitausend Pfund hinterließ. Sie
bezeugte auch dieses Testament zusammen mit einer der
Krankenschwestern und brachte es dann zu seiner Bank,
zusammen mit einem Brief, in dem stand, es solle erst nach
seinem Tod geöffnet werden. Er hielt sich den Zeigefinger
an die Lippen und schenkte ihr ein großes Lächeln, als er
ihr den Umschlag gab.
Eswar sehr schön, als vertrauenswürdig betrachtet zu werden,
denn es gab einem das Gefühl, das sei das Einzige, was
Bedeutung hatte. Wenn sie nicht hässlich gewesen wäre
und irgendwie neutral ausgesehen und vom Leben nichts
erwartet hätte, wäre Edgars Testament womöglich nie geändert
worden. Bevor sie abends einschlief, stellte sie sich
manchmal diese Enkel in späteren Jahren vor, wie sie auf
die Universität gingen und anfingen, Häuser zu kaufen,
und in hübschen Autos herumfuhren und überhaupt nicht
wussten, wem sie das alles zu verdanken hatten. Falls sie sie
aufspüren und ihnen ins Gesicht sagen würde, was es mit
dem Testament ihres Großvaters auf sich hatte, wären sie
ihm gegenüber weniger dankbar und ihr gegenüber wegen
ihresAussehens überhaupt nicht, und vielleichtwürden sie
ihr Studium und andere Sachen gar nicht so genießen. Ihr
gefiel einfach der Gedanke, dass sie wegen ihr zufriedener
mit ihrem Lebenwaren, auch wenn sie einander überhaupt
nicht kannten. Dabei konnte sie auch die Mutter dieser
Kinder vergessen, die sich dem Krankenbett ihres Vaters
erst näherte, als sie sich verdrückt hatte. Oft erinnerte sie
sich an das Lächeln auf Edgars Gesicht, als er ihr den Um-
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... weniger
Autoren-Porträt von Charles Chadwick
Charles Chadwick, geboren 1932, hat bis 1992 als Mitarbeiter des British Council in verschiedenen afrikanischen Staaten, in Brasilien, Kanada und Polen gelebt. Mit 72 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman, "Ein unauffälliger Mann", an dem er knapp 30 Jahre lang schrieb und der großes Aufsehen erregte. Charles Chadwick lebt in London.Klaus Berr, geb. 1957 in Schongau, Studium der Germanistik und Anglistik in München, einjähriger Aufenthalt in Wales als "Assistant Teacher", ist der Übersetzer von u.a. Lawrence Ferlinghetti, Tony Parsons, William Owen Roberts, Will Self.
Bibliographische Angaben
- Autor: Charles Chadwick
- 2010, 208 Seiten, Maße: 11,9 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Berr, Klaus
- Übersetzer: Klaus Berr
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442741424
- ISBN-13: 9783442741427
- Erscheinungsdatum: 08.12.2010
Rezension zu „Eine zufällige Begegnung “
"Ein dunkel funkelndes Märchen, das herrlich trocken und völlig unsentimental aus der britischen Vorortseele berichtet." Galore
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