Einfach unvergesslich
Roman
Die Engländerin Rowan Coleman hat den wohl berührendsten Roman des Jahres geschrieben. „Einfach unvergesslich“ handelt vom Vergessen, von der Liebe und der Fähigkeit, für den Moment zu leben.
Eigentlich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Einfach unvergesslich “
Die Engländerin Rowan Coleman hat den wohl berührendsten Roman des Jahres geschrieben. „Einfach unvergesslich“ handelt vom Vergessen, von der Liebe und der Fähigkeit, für den Moment zu leben.
Eigentlich führt Claire mit Ehemann und Kindern ein glückliches Leben. Bis sie plötzlich feststellt, dass so einiges nicht mehr ist, wie es einmal war. Claire kann sich noch genau an das erste Date mit ihrem Mann Greg erinnern. Damals, als er als sexy Handwerker sie ganz einfach erobert hatte. Doch seit kurzem fehlen kleine Stücke ihres Lebens. Anfangs nimmt sie es kaum war, doch Claire spürt: irgendetwas ist anders.
Rowan Coleman zeigt in „Einfach unvergesslich“, daß der Mensch vieles vergessen kann: die Farbe von Gemüse, die Fähigkeit zu entscheiden, welcher Schuh an welchen Fuß passt, oder das Spaziergänge beginnen, ohne das man weiß, wie man ans Ziel gekommen ist. Das alles passiert Claire. Sie geht im Pyjama spazieren und sie weiß, dass sie nicht mehr normal ist. Normal so wie früher. Ganz langsam entgleitet ihr das gewohnte Leben, Vertrautes verblasst. Doch Claire gibt nicht auf. Will sich nicht kampflos zurückziehen aus der Welt. Denn die Tage der Klarheit sind kostbar.
Und so beginnt Claire zu schreiben. Inbrünstig und voll wehmütigem Glück schreibt sie all die Gedanken auf, an die sie sich erinnern kann. Die wichtigen und unwichtigen Momente des Lebens, die Dinge, die eine Familie zusammenhalten. Und während Claire schreibt, bemerkt sie: Ich muss für die Zukunft meiner Familie sorgen. Greg muss zum Beispiel endlich lernen, wie er die Lieblingsgerichte der Kinder zu kochen hat. Kann Claire Fehler aus der Vergangenheit korrigieren und sich vielleicht sogar nochmals neu verlieben?…
Mit einfach „Einfach unvergesslich“ hat Rowan Coleman einen zutiefst bewegenden Roman geschrieben, der zeigt, das man alles vergessen kann, nur nicht die Fähigkeit zu lieben. Fans von Jojo Moyes werden diesen Roman lieben.
Eigentlich führt Claire mit Ehemann und Kindern ein glückliches Leben. Bis sie plötzlich feststellt, dass so einiges nicht mehr ist, wie es einmal war. Claire kann sich noch genau an das erste Date mit ihrem Mann Greg erinnern. Damals, als er als sexy Handwerker sie ganz einfach erobert hatte. Doch seit kurzem fehlen kleine Stücke ihres Lebens. Anfangs nimmt sie es kaum war, doch Claire spürt: irgendetwas ist anders.
Rowan Coleman zeigt in „Einfach unvergesslich“, daß der Mensch vieles vergessen kann: die Farbe von Gemüse, die Fähigkeit zu entscheiden, welcher Schuh an welchen Fuß passt, oder das Spaziergänge beginnen, ohne das man weiß, wie man ans Ziel gekommen ist. Das alles passiert Claire. Sie geht im Pyjama spazieren und sie weiß, dass sie nicht mehr normal ist. Normal so wie früher. Ganz langsam entgleitet ihr das gewohnte Leben, Vertrautes verblasst. Doch Claire gibt nicht auf. Will sich nicht kampflos zurückziehen aus der Welt. Denn die Tage der Klarheit sind kostbar.
Und so beginnt Claire zu schreiben. Inbrünstig und voll wehmütigem Glück schreibt sie all die Gedanken auf, an die sie sich erinnern kann. Die wichtigen und unwichtigen Momente des Lebens, die Dinge, die eine Familie zusammenhalten. Und während Claire schreibt, bemerkt sie: Ich muss für die Zukunft meiner Familie sorgen. Greg muss zum Beispiel endlich lernen, wie er die Lieblingsgerichte der Kinder zu kochen hat. Kann Claire Fehler aus der Vergangenheit korrigieren und sich vielleicht sogar nochmals neu verlieben?…
Mit einfach „Einfach unvergesslich“ hat Rowan Coleman einen zutiefst bewegenden Roman geschrieben, der zeigt, das man alles vergessen kann, nur nicht die Fähigkeit zu lieben. Fans von Jojo Moyes werden diesen Roman lieben.
Klappentext zu „Einfach unvergesslich “
Neuerdings weiß Claire nicht mehr, welcher Schuh zu welchem Fuß gehört. Oder wie das orangefarbene Gemüse heißt, das auf dem Herd köchelt. Und manchmal geht sie im Pyjama spazieren. Sie weiß, dass das nicht normal ist. Doch das Leben ist zu kurz, um Trübsal zu blasen. Und so schreibt sie, noch bevor die letzte Erinnerung verblasst, all die großen und kleinen Momente der vergangenen Jahre nieder. Wohl wissend, dass diese Gedankenschnipsel schon bald das Einzige sein werden, was ihrer Familie von ihr bleibt. Dabei gibt es noch so viel zu erledigen: Sie muss sich mit ihrer Tochter versöhnen und ihrem Mann zeigen, wie sie die Lieblingslasagne ihrer Kinder zubereitet. Sie muss ein letztes Mal leben, frei sein, sich vielleicht auch neu verlieben. Denn das Leben ist eine Wundertüte. Und wenn die Zeit davonrennt, ist jede Minute kostbar.
Lese-Probe zu „Einfach unvergesslich “
Einfach unvergesslich von Rowan Coleman Claire
Ich muss weg von meiner Mutter, sonst werde ich noch ganz plemplem. Haha. Wäre fast komisch, wenn ich es nicht schon wäre. Nein, ich bin nicht plemplem, das stimmt nicht. Aber ziemlich wütend.
Ihr Gesicht, als wir aus dem Besprechungs-zimmer im Krankenhaus kamen. Ihr Gesicht auf dem ganzen langen Nachhauseweg. Stoisch, tapfer, stark und gleichzeitig das Leiden Christi. Sie sagte nichts, aber ich hörte förmlich, was ihr durch den Kopf ging: »Das ist mal wieder typisch Claire. Muss alles kaputt machen, wenn es gerade am schönsten ist.«
»Ich zieh bei euch ein«, sagt sie, obwohl sie das de facto schon getan hat. Sie hat bereits heimlich ihre Sachen im Gästezimmer abgestellt und eine Regalecke im Bad belegt. Dachte wohl, ich würde das nicht merken. Ich wusste, dass sie kommen würde, sobald sie es erfährt. Ich wusste es, und ich wollte es wohl auch so. Aber ich hätte sie gerne gefragt. Oder ich hätte gerne gehabt, dass sie mich fragt. Stattdessen reiste sie sehr einsilbig und mit betroffener Miene an. »Ich zieh ins Gästezimmer.«
»Nein.« Ich sehe sie von der Seite an. Sie fährt. Sie ist eine vorsichtige Fahrerin, langsam und sehr vorschriftsmäßig. Ich darf nicht mehr Auto fahren, seit ich den Briefkasten umgenietet habe. Das Bußgeld dafür war echt gesalzen, der Briefkasten gehörte nämlich Ihrer Majestät. War wahrscheinlich genauso übel, als würde man einen Corgi überfahren: Wer einen Corgi plattmacht, landet im Tower. Trotz ihrer vorsichtigen Fahrweise sieht meine Mutter nie in den Rückspiegel, wenn sie zurücksetzt. Ich glaube, sie findet es irgendwie sicherer, einfach die Augen zu schließen und das Beste zu hoffen. Ich bin immer gerne Auto gefahren. Habe das
... mehr
Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit geliebt und genossen zu wissen, dass ich jederzeit überall hinfahren kann. Ich finde es nicht gut, dass meine Autoschlüssel weg sind. Ich habe mich nicht mal von ihnen verabschieden können, so schnell wurden sie irgendwo versteckt, wo ich sie niemals finden werde. Wirklich, ich habe nämlich schon nach ihnen gesucht. Ich glaube schon, dass ich noch Auto fahren könnte. Solange mir niemand irgendwas in den Weg stellt.
»Das ist doch noch viel zu früh«, erkläre ich, obwohl wir beide wissen, dass sie bereits eingezogen ist. »Im Moment brauche ich doch noch so selten Hilfe. Ich meine, hör mir doch mal zu. Ich kann immer noch sprechen und nachdenken über …« Ich mache eine ausladende Armbewegung, sie duckt sich, ich lege die Hand betreten wieder in den Schoß. »… dies und das.«
»Claire, die Lage ist wirklich ernst. Du kannst jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken. Glaub mir. Ich weiß Bescheid.«
Natürlich weiß sie Bescheid: Sie hat all das schon einmal durchgemacht, und jetzt muss sie dank mir oder doch eher dank meines Vaters und seiner hinterhältigen DNA alles noch einmal durchmachen. Und das heißt leider nicht, dass ich fein säuberlich und mit wachem Geist sterben werde, ihr dabei mit festem Blick die Hand halte, ihr danke und meinen Kindern noch ein paar weise Worte mit auf den Lebensweg gebe. Nein, mein leider noch ziemlich junger und einigermaßen fitter Körper wird weitermachen und keine Rücksicht darauf nehmen, dass mein Gehirn sich nach und nach in Wohlgefallen auflöst, und zwar bis zu dem Tag, an dem ich vergessen werde, wie man atmet. Genau das ist es, was sie denkt. Ich weiß es. Und ich weiß, dass es das Letzte ist, was sie möchte: ihre Tochter genauso vergehen und verkümmern zu sehen wie ihren Mann. Ich weiß, dass es ihr das Herz bricht und dass sie alles tut, um tapfer zu sein und mir beizustehen, und doch … Es macht mich so wütend. Ihre Güte und Geduld machen mich wütend. Mein ganzes Leben habe ich versucht, ihr zu beweisen, dass ich alleine klarkomme, dass sie mich nicht ständig zu retten braucht. Mein ganzes Leben habe ich mich getäuscht.
»Doch, Mum, gerade ich kann sehr wohl den Kopf in den Sand stecken«, sage ich, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. »Gerade ich kann komplett ignorieren, was mit mir passiert, weil ich es nämlich die meiste Zeit sowieso nicht mitbekommen werde.«
»Das meinst du nicht ernst, Claire.« Mum klingt sauer, als würde sie wirklich glauben, dass mir das alles egal sei, und nicht, dass ich so etwas nur sage, um sie zu ärgern. »Was ist mit deinen Töchtern?«
Ich sage nichts, weil sich die Worte in meinem Mund verknoten. Es würde jetzt in jedem Fall etwas Falsches dabei herauskommen. Also schweige ich, sehe hinaus, sehe die Häuser vorbeiziehen, eins nach dem anderen. Es ist schon fast dunkel. In den Wohnzimmern brennt bereits Licht, hinter den Vorhängen flimmern Fernseher. Natürlich ist es mir nicht egal. Natürlich werde ich es vermissen, dieses Leben. Die an Winterabenden dunstige Küche, meine Töchter zu bemuttern, sie groß werden zu sehen: All das werde ich nicht mehr erleben. Ich werde nie erfahren, ob Esther je aufhören wird, Erbsen einzeln mit der Gabel aufzupieksen, und ob sie irgendwann mal nicht mehr blond sein wird. Ob Caitlin tatsächlich, wie geplant, Mittelamerika bereisen wird oder ob sie etwas völlig anderes machen wird, von dem sie selbst noch nicht mal geträumt hat. Ich werde nie erfahren, was dieser ungeträumte Traum sein wird. Sie werden mich nie anlügen, wenn sie abends weggehen, sie werden nie mit ihren Problemen zu mir kommen. Es sind diese Dinge, die ich vermissen werde, weil ich irgendwo an-ders sein und nicht einmal mehr mitbekommen werde, was ich vermisse. Selbstverständlich ist mir das nicht egal!
»Die werden dann wohl Greg haben.« Meine Mutter klingt ziemlich skeptisch. Sie lässt nicht locker, will darüber sprechen, wie die Welt ohne mich aussehen wird. Ich finde das eigentlich ziemlich taktlos. »Also, wenn er dem denn gewachsen ist.«
»Natürlich ist er das. Er ist ein ganz wunderbarer Vater.«
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das so stimmt. Ich bin mir nicht sicher, ob er das, was mit mir und uns passiert, ertragen wird – und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Greg ist so ein guter Mann, ein gütiger Mann. Aber seit der Diagnose wird er mir von Tag zu Tag fremder. Jedes Mal, wenn ich zu ihm sehe, hat er sich ein Stückchen weiter entfernt. Er kann nichts dafür. Ich weiß, dass er für mich da sein möchte, stark und tapfer, aber ich fürchte, das alles wird zu viel für ihn. Dass uns das passieren muss, so kurze Zeit nachdem unser gemeinsames Leben angefangen hat, macht ihn fertig. Bald werde ich nicht mehr wissen, wer er ist. Ich weiß jetzt schon kaum noch, was ich für ihn empfinde. Ich weiß, dass er die letzte große Liebe meines Lebens ist, aber ich empfinde dieses Gefühl nicht mehr. Aus unerfindlichen Gründen verschwindet Greg als Allererstes aus meinem Gedächtnis. Ich kann mich schon noch erinnern, wie wir uns kennengelernt haben und alles – aber mehr wie an einen Traum. Wie Alice durch den Spiegel. Bald wird Greg ganz weg sein.
»Ausgerechnet du.« Mum kann es nicht lassen, sie muss mir eine Standpauke halten, mich dafür ausschimpfen, dass ich das dunkle Famili-engeheimnis in mir trage. Als hätte ich das durch besonders ungezogenes Verhalten selbst verschuldet. »Du weißt doch, wie das ist, ohne Vater aufzuwachsen. Wir müssen planen, Claire. Deine Mädchen verlieren ihre Mutter. Du musst sicherstellen, dass es ihnen gut gehen wird, wenn du nicht mehr in der Lage bist, dich selbst um sie zu kümmern. Du kannst nicht davor weglaufen.«
»Das weiß ich doch selbst, verdammt noch mal!« Warum macht sie das? Warum drangsaliert sie mich, bis ich sie anschreie? Glaubt sie erst dann, wenn sie mich auf die Palme gebracht hat, dass ich ihr zuhöre? So ist das schon immer gewesen bei uns: Liebe und Wut sind unsere ganz verlässlichen Begleiter, wenn meine Mutter und ich zusammen sind. »Ich weiß selbst, was ich getan habe. Ich weiß selbst, dass ich ihnen ein beschissenes Leben biete.«
Mum fährt in eine Einfahrt – es ist die, die zu meinem Haus führt, fällt mir eine Sekunde zu spät auf. Und schon kommen mir unwillkürlich die Tränen. Mit Wucht schlage ich die Autotür zu und steuere nicht das Haus an, sondern spaziere in den Regen. Ich ziehe meine Strickjacke fest um mich und gehe trotzig Richtung Straße.
»Claire!«, ruft meine Mutter mir hinterher. »Du kannst nicht mehr einfach so losmarschieren!«
»Das werden wir ja sehen«, murmele ich in den Regen, der sich in winzigen Tröpfchen auf meinen Lippen sammelt.
»Claire! Bitte!«, höre ich sie noch gerade so, doch ich marschiere weiter. Ich werde es ihr zeigen, ich werde es ihnen allen zeigen, vor allem denen, die mich nicht mehr Auto fahren lassen. Ich kann immer noch laufen. Ich kann verdammt noch mal immer noch laufen! Ich habe noch nicht vergessen, wie das geht.
Die Straße ist leer. War ich schon bis zum Ende der Straße gekommen und bin umgedreht? Ich bin mir nicht sicher. Aus welcher Richtung kam ich? Gehe ich irgendwohin, oder komme ich irgendwoher? Wohin? Woher? Die Häuser auf beiden Seiten der Straße sehen alle gleich aus. Ich rühre mich nicht. Es ist doch nur ganz kurz her, seit ich von meinem Haus aus losmarschiert bin, und jetzt weiß ich nicht mehr, wo es ist. Ein Auto fährt vorbei, eiskaltes Wasser spritzt auf und mir an die Beine. Ich habe mein Handy nicht bei mir, aber ich weiß sowieso kaum noch, wie man es benutzt. Mit Zahlen kann ich nichts mehr anfangen. Zahlen sind weg. Ich meine, ich sehe sie an, und ich weiß, dass das Zahlen sind, aber ich weiß nicht mehr, welche welche ist und in welche Reihenfolge sie gehören. Aber ich kann immer noch laufen, und darum laufe ich jetzt los in die Richtung, in die auch das vorbeifahrende, mich nass spritzende Auto fuhr. Vielleicht ist das ein Zeichen. Ich erkenne mein Haus, wenn ich es sehe, es hat nämlich signalrote Seidenvorhänge. Wenn dahinter Licht an ist, sieht es aus, als würden sie glühen. Nicht vergessen: Ich habe zur Straße hin rot glühende Vorhänge, von denen eine meiner Nachbarinnen mal sagte, sie sähen nach »lockerem Lebenswandel« aus. Rot glühende Vorhänge. Das kann ich mir merken. Ich bin ganz bald wieder zu Hause. Alles wird gut.
Der Termin im Krankenhaus verlief nicht ganz optimal.
Greg hatte mitkommen wollen, aber ich sagte ihm, er solle lieber mit dem Wintergarten fertig werden, den er gerade baute. Ich sagte ihm, ganz gleich, was der Arzt sagen würde, unser Hauskredit würde weiter bedient werden müssen und unsere Kinder würden weiter essen wollen. Es verletzte ihn, dass ich ihn nicht dabeihaben wollte, er verstand nicht, dass ich einfach damit überfordert gewesen wäre, ständig zu überlegen, was sein Blick und seine Miene wohl bedeuteten, während ich gleichzeitig rätselte, was ich selbst empfand. Meine Mutter dagegen, das wusste ich, würde einfach sagen, was ihr durch den Kopf ging. Und das ist besser, als schreckliche Nachrichten zu hören und zu überlegen, ob dein Mann wohl bereut, dir je begegnet zu sein und sich ausgerechnet für dich entschieden zu haben. Ich war also nicht gerade in allerbester geistiger Verfassung (Ha! Im wahrsten Sinne des Wortes!), als der Arzt mich bat, mich zu setzen, um die Ergebnisse der letzten Tests zu besprechen. Der Tests, die sie mit mir gemacht hatten, weil alles viel schneller voranschritt, als sie erwartet hatten.
An den Namen des Arztes kann ich mich nicht erinnern, weil er sehr lang ist und viele Silben hat, was ich ziemlich komisch finde. Das sagte ich auch, als Mum und ich dasaßen und wir darauf warteten, dass er den Blick von seinem Bild-schirm mit den Ergebnissen löste und uns die schlechten Nachrichten überbrachte. Aber außer mir fand das keiner komisch. War offenbar nicht der richtige Zeitpunkt für Galgenhumor.
Es regnet immer heftiger. Wäre ich doch bloß nicht ohne meinen Mantel losgestürzt. Nach einer Weile sehen die Straßen hier alle gleich aus: Doppelhäuser aus den 1930ern. Reihenweise. Auf beiden Seiten der Straße. Ich wollte auf Vorhänge achten, oder? Welche Farbe noch mal?
Ich biege ab, sehe ein paar Läden und bleibe stehen. Ach. Wollte ich vielleicht Kaffee trinken gehen? Hier komme ich samstagsmorgens im-mer mit Greg und Esther her, um ein Schokocroissant zu essen und einen Kaffee zu trinken. Aber jetzt ist es dunkel. Und kalt. Und dunkel. Und einen Mantel habe ich auch nicht an. Ich sehe zu meiner Hand. Keine Esther. Erschrocken fasse ich mir an die Brust: Habe ich sie irgendwo vergessen? Nein, sie war nicht bei mir, als ich losging. Wenn sie bei mir gewesen wäre, hätte ich auch ihren Kuschelhasen dabei, der immer überall mit hinmuss und den Esther Blauer Müffelhase getauft hat. Esthers überaus konkrete Namen für ihre Kuscheltiere sind legendär. Auf ihrem Bett sitzen unter anderem Einaugehund, weil ihm das zweite fehlt, und Rosa-Bär-von-Oma-Pat.
Jedenfalls bin ich wohl hier, weil ich Kaffee trinken gehen wollte. Weil ich mir ein bisschen was gönnen wollte. Schön.
Ich überquere die Straße und bin dankbar für die warme Luft, die mich begrüßt, als ich das Ca-fé betrete. Einige der Gäste sehen auf, als ich in der Tür erscheine. Ich muss schlimm aussehen, meine Haare kleben mir regennass im Gesicht.
Ich stelle mich am Tresen an und merke erst dort, dass ich zittere. Ich muss meinen Mantel vergessen haben. Wenn ich mich doch nur erin-nern könnte, warum ich Kaffee trinken gehen wollte. »Alles in Ordnung?«, fragt die junge Frau hinter dem Tresen. Sie ist ungefähr in Caitlins Alter und lächelt, als müsste ich sie kennen. Oder ist sie einfach nur freundlich? Gleich links von mir sitzt eine Frau mit einem Buggy, sie schiebt ihn ein bisschen weiter von mir weg. Ich muss wirk-lich merkwürdig aussehen, als sei ich gerade aus einem See gestiegen. Haben die denn noch nie einen durchnässten Menschen gesehen?
»Kaffee, bitte«, sage ich. Ich spüre das Kleingeld in meiner Jeanstasche und hole es hervor. Ich weiß nicht mehr, wie viel der Kaffee hier kostet. Ich weiß, dass die Information, die ich brauche, auf der Tafel hinter dem Tresen steht, aber ich kann mir keinen Reim drauf machen. Ich strecke die Hand mit dem Kleingeld aus. Die junge Frau hinterm Tresen rümpft die Nase, als könnte Geld, das ich angefasst habe, irgendwie besudelt sein. Ich friere, und ich fühle mich sehr einsam. Ich will ihr erklären, warum ich zögere, aber die Worte wollen nicht kommen – jedenfalls nicht die richtigen. Es fällt mir schwerer, Dinge auszusprechen, als sie zu denken. Ich habe Angst, mit Leuten zu sprechen, die ich nicht kenne, habe Angst, etwas so Peinliches zu sagen, dass sie mich sofort wegbringen und einsperren, und bis es so weit ist, habe ich vergessen, wie ich heiße und …
Ich schaudere, nehme den Kaffee und die braunen Münzen, die die Frau auf den Tresen gelegt hat, und suche mir ganz konzentriert und ruhig einen Sitzplatz. Ich habe das Gefühl, wenn ich irgendwelche plötzlichen Bewegungen mache, könnte ich damit eine versteckte Falle auslösen, mich verletzen oder irgendwo hinunterfallen. Ich habe das Gefühl, dass ich dann sehr tief fallen würde. Ich sitze ganz still da und befasse mich mit der Frage, wie ich hierhergekommen bin und wie ich wohl von hier wieder wegkommen soll. Und wohin ich dann gehen soll. Kleine Erinnerungsfetzen kehren zurück – Fragmente mit Informationen, die ich irgendwie decodieren muss. Die Welt um mich herum liegt in Trümmern.
Ich spreche nicht auf die Behandlung an, so viel weiß ich. Aber das war fast zu erwarten gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Medikamente irgendeine Wirkung zeigen würden, war dieselbe, als würde man eine Münze werfen und auf Kopf hoffen: fifty-fifty. Aber alle hatten natürlich gehofft, dass mir die Behandlung helfen würde. Weil ich so jung bin, weil ich zwei Töchter habe, von denen die eine erst drei ist und die andere sich hinterher um alles wird kümmern müssen. Alle – sogar der Arzt mit dem langen, komplizierten Namen – hatten sie gehofft, dass die Behandlung bei mir anschlagen würde, und zwar besser, als man je für möglich gehalten hätte. Und auch ich hatte auf ein bahnbrechendes Wunder gehofft, das alles ändern würde.
Es wäre doch nur gerecht gewesen, wenn das Schicksal oder Gott in meinem speziellen Fall mildernde Umstände geltend und eine Ausnahme gemacht hätte. Aber das hat das Schicksal oder Gott nicht gemacht. Wer auch immer sich da gerade auf meine Kosten amüsiert, hat genau das Gegenteil getan. Aber vielleicht nehme ich das alles viel zu persönlich. Vielleicht handelt es sich nur um eine Reihe genealogischer Unfälle über die letzten Jahrtausende, aufgrund derer ich jetzt hier sitze und auserwählt bin, die Konsequenzen zu tragen. Ich baue viel schneller ab, als die Ärzte erwartet hatten. Das hat mit diesen kleinen Embolien zu tun. An das Wort »Embolie« kann ich mich genau erinnern, aber ich habe keine Ahnung, wie das Metallteil heißt, mit dem ich den Kaffee umrühren kann. Das Wort Embolie finde ich schön, fast schon melodisch. Winzige Blutgerinnsel im Gehirn. Ist was ganz Neues, damit hatten die Experten nicht gerechnet. Ich bin damit wohl so ziemlich die einzige Patientin auf der Welt. Die Leute im Krankenhaus sind alle ganz aus dem Häuschen deswegen, obwohl sie natürlich versuchen, das zu überspielen. Ich weiß nur, dass mit jedem Blutgerinnsel wieder ein Stückchen von mir für immer verschwindet. Irgendeine Erinnerung, ein Gesicht oder ein Wort sind einfach weg.
Ich sehe mich um. Ich friere jetzt noch mehr als vorher, und mir wird klar, dass ich Angst habe. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen soll. Ich bin hier, ich fühle mich gesund – aber hier wieder wegzugehen scheint mir vollkommen unmöglich zu sein.
Bunte Kugeln hängen von der Decke. Seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, dass bald Weihnachten wäre. Ich bin mir sicher, dass nicht bald Weihnachten ist. Aber wenn ich nun vielleicht schon seit Wochen hier bin? Was, wenn ich zu Hause weggegangen bin und immer und immer weitergegangen bin, ohne stehen zu bleiben, und wenn ich jetzt meilenweit weg bin von allem, Monate vergangen sind und alle denken, ich sei tot? Ich müsste eigentlich meine Mutter anrufen. Sie ist wahrscheinlich sauer, weil ich weggelaufen bin. Sie sagt immer, wenn ich möchte, dass sie mich wie eine Erwachsene behandelt, dann soll ich mich auch wie eine Erwachsene benehmen. Sie sagt, das hat mit Vertrauen zu tun. Und ich sage, gut, dann hör auf, in meinen Sachen rumzuschnüffeln, blöde Kuh. Das mit der blöden Kuh sage ich natürlich nicht laut.
Moment. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich bin krank und ich bin hier, um einen Kaffee zu trinken, weiß aber nicht mehr, warum. Meine Vorhänge haben eine bestimmte Farbe und glühen. Orange vielleicht. Orange kommt mir irgendwie bekannt vor.
»Hallo.« Ich sehe auf. Vor mir steht ein Mann. Ich soll nicht mit Fremden reden, darum sehe ich wieder hinunter auf den Tisch. Vielleicht geht er ja wieder weg. Tut er aber nicht. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, sage ich. »Na ja … Ich friere.«
»Darf ich mich dazusetzen? Ist sonst nichts mehr frei.« Ich sehe mich um. Es ist tatsächlich ziemlich voll in dem Café, aber es gibt schon noch ein paar andere freie Plätze. Er sieht ganz okay aus. Nett sogar. Ich mag seine Augen. Ich nicke und frage mich, ob ich wohl genügend Worte herausbekommen werde, um mich mit ihm zu unterhalten.
»Gar keinen Mantel dabei?« Er zeigt auf mich.
»Anscheinend nicht«, antworte ich vorsichtig. Ich lächele, um ihm keine Angst zu machen. Er erwidert mein Lächeln. Ich könnte ihm erzählen, dass ich krank bin. Vielleicht würde er mir helfen. Aber das will ich nicht. Er hat schöne Augen. Er redet nicht mit mir, als wenn ich jeden Moment tot umfallen könnte. Er weiß nichts über mich. Da haben wir doch direkt etwas gemeinsam.
»Was ist passiert?« Er sieht aus, als würde er sich amüsieren.
»Ich wollte nur schnell Milch holen«, erzähle ich lächelnd. »Und habe mich ausgesperrt. Ich wohne in einer WG, mit drei anderen Frauen und meinem …« Gerade wollte ich »Kind« sagen, aber das Wort schlucke ich hinunter. Aus zwei Gründen. Erstens, weil ich weiß, dass es Jahre her ist, seit ich mit drei anderen Frauen in einer WG wohnte, und dass ich damals kein Kind hatte. Zweitens, weil ich nicht will, dass er erfährt, dass ich ein Kind habe, ein Kind, das gar kein Kind mehr ist. Caitlin, ich habe Caitlin, und Caitlin ist kein Kind mehr. Nächstes Jahr wird sie einundzwanzig, und meine Vorhänge sind rubinrot und glühen. Ich rufe mir in Erinnerung, dass es mir nicht zusteht zu flirten: Ich bin eine verheiratete Frau – Mutter von sogar zwei Kindern.
»Wie wäre es mit noch einem Kaffee? Geht auf mich.« Er macht der jungen Frau hinterm Tresen Zeichen. Sie lächelt ihn an, als würde sie ihn kennen. Es beruhigt mich, dass die Caféfrau ihn auch mag. Es fällt mir zusehends schwerer, an den Gesichtsausdrücken der Leute etwas abzulesen, ich erkenne jene Nuancen nicht mehr, die einem verraten, was das Gegenüber denkt und fühlt. Vielleicht sieht er mich an, als wäre ich komplett gaga. Und ich finde einfach nur, dass er schöne Augen hat.
»Danke.« Er ist freundlich und redet mit mir wie mit einem Menschen. Natürlich, ich bin ja auch ein Mensch. Aber ich meine, dass er mit mir redet, mit MIR, und das gefällt mir. Mir wird ganz warm ums Herz, ich bin richtig glücklich. Glücklich sein – das vermisse ich. Einfach nur glücklich, ohne dieses Gefühl, dass jeder Moment des Glücks, den ich erlebe, auch gleichzeitig irgendwie traurig sein muss.
»Sie haben sich also ausgesperrt. Werden Ihre Mitbewohnerinnen Sie anrufen, wenn sie zurück sind? Oder Ihnen den Schlüssel bringen?«
Ich zögere. »Gleich kommt jemand nach Hau-se.« Keine Ahnung, ob das gelogen ist. »Ich warte noch ein bisschen und gehe dann zurück.« Das ist gelogen. Ich weiß nicht, wo ich bin und wie ich wieder zurückkommen soll. Und wohin überhaupt.
Er schmunzelt. Ich sehe ihn böse an. »Tut mir leid.« Er lächelt. »Es ist nur … Sie sehen wirklich aus wie ein begossener Pudel, und zwar wie ein sehr hübscher begossener Pudel, wenn ich das sagen darf.«
»Das dürfen Sie gerne. Sagen Sie ruhig mehr solche Sachen!«
Wieder lacht er.
»Ich bin ein Pechvogel«, sage ich und freunde mich sehr schnell mit meinem neuen, nicht kranken Status an. »Schon immer gewesen. Wenn irgendwo irgendwas schiefgehen kann, dann passiert es mir. Ich weiß nicht, warum, aber man könnte meinen, ich sei ein Unglücksmagnet. Unglücksmagnet. Schönes Wort. Hört man nicht so oft.« Ich plappere vor mich hin, ohne wirklich darauf zu achten, was ich da sage, einzig in dem Bewusstsein, dass ich ein Mädchen bin und ge-rade mit einem Jungen spreche.
»Mir geht es ganz ähnlich«, sagt er. »Manchmal frage ich mich, ob ich je erwachsen werde.«
»Ich werd’s nicht«, sage ich. »Das weiß ich ganz sicher.«
»Hier.« Er reicht mir seine Papierserviette. »Sie sehen ein bisschen so aus, als seien Sie der Apokalypse entgangen. Haarscharf.«
»Eine Papierserviette?« Ich nehme sie und lache, tupfe mir damit übers Haar und das Gesicht und wische unter meinen Augen. Schwarzes Zeugs bleibt an der Serviette haften, was heißen muss, dass ich irgendwann heute dieses schwarze Zeug aufgetragen habe, und das beruhigt mich: Schwarzes Zeug auf meinen Wimpern lässt meine Augen schöner aussehen, lässt mich ansprechender erscheinen, selbst wenn ich aussehe wie ein begossener Pudel oder ein Panda. »Na ja, besser als gar nichts.«
»Auf der Toilette gibt es Handtrockner.« Er zeigt auf eine Tür hinter sich. »Da könnten Sie sich doch kurz ein bisschen trocken pusten lassen. Damit Ihnen nicht mehr so kalt ist.«
»Mir ist nicht kalt«, sage ich und klatsche mir wie zur Betonung auf die feuchten Knie. Ich will nicht weg von diesem Tisch, diesem Stuhl, diesem Kaffee. Ich will nirgendwo anders hin. Hier habe ich das Gefühl, fast sicher zu sein, als würde ich mich an einen Fenstersims klammern, und solange ich mich nicht bewege, ist alles gut, und ich stürze nicht ab. Je länger ich hier sitze, ohne darüber nachdenken zu müssen, wo ich bin und wie ich wieder nach Hause komme, desto besser. Ich verdränge die in mir aufsteigende Angst und Panik und konzentriere mich aufs Jetzt. Darauf, glücklich zu sein.
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?« Mit einem Nicken deutet er auf meine Hand, an der zu meiner eigenen Überraschung ein Ring steckt. Er fühlt sich richtig an, als gehöre er zu dem Menschen, der ich bin. Gleichzeitig hat er irgendwie gar nichts mit mir zu tun.
»Der gehörte meinem Vater.« Was ich da sage, sind Worte aus einer fernen Vergangenheit. Von damals, als ich sie gegenüber einem anderen Jungen aussprach. »Nach seinem Tod hat meine Mutter ihn mir gegeben. Ich trage ihn ständig. Eines Tages werde ich ihn dem Mann geben, den ich liebe.«
Schweigen stellt sich ein. Betretenes, glaube ich.
Und wieder fließen Gegenwart und Vergangenheit ineinander, und ich bin komplett verwirrt. So verwirrt, dass für mich in diesem Moment wirklich nur dieser Tisch existiert, dieser freundliche Mensch, seine schönen Augen.
»Darf ich Sie dann ein andermal zu einem Kaffee einladen?«, fragt er vorsichtig. »Wenn Sie trocken sind und sich nicht ausgesperrt haben. Hier oder irgendwo anders?« Vom Tresen holt er ein kurzes, dickes Schreibteil, das kein Kugelschreiber ist, und kritzelt etwas auf meine unbenutzte Papierserviette. »Es hat aufgehört zu regnen. Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
»Nein«, sage ich. »Woher soll ich wissen, dass Sie kein Psychopath sind?«
Er lächelt. »Aber rufen Sie mich an? Damit wir zusammen Kaffee trinken können?«
»Ich werde Sie nicht anrufen.« Ich schlage ei-nen bedauernden Ton an. »Ich habe wahnsinnig viel zu tun. Von daher werde ich es wahrscheinlich vergessen.«
Er sieht mich an und lacht. »Also, falls Sie doch Zeit oder Lust haben, rufen Sie einfach an. Und keine Sorge: Sie kommen bestimmt bald wieder zu Hause rein. Eine Ihrer Mitbewohnerin-nen wird sicher jede Minute hier sein.«
»Ich heiße Claire«, stelle ich mich schnell vor, als er aufsteht. »Das wussten Sie noch nicht.«
»Claire.« Er lächelt mich an. »Sie sehen auch aus wie eine Claire.«
»Was wollen Sie denn damit sagen?«, lache ich. »Und Sie? Wie heißen Sie?« »Ryan. Ich hätte es auf die Serviette schreiben sollen.«
»Wiedersehen, Ryan«, sage ich und weiß, dass ich mich schon bald nicht mehr an ihn erinnern werde. »Danke.«
»Wofür?« Er sieht perplex aus. »Die Serviette!«
Ich halte das Teil hoch.
Schmunzelnd verlässt er das Café und verschwindet in der Dunkelheit. Ich sehe ihm nach. Ich sage immer wieder seinen Namen. Wenn ich ihn oft genug sage, bleibt er vielleicht hängen. Eine Frau am Nachbartisch sieht ihm auch nach. Sie runzelt die Stirn, und das verwirrt mich. Ich frage mich sofort, ob all das gerade wirklich passiert ist – und ob es ein schönes Erlebnis war oder ob irgendwas Schlimmes passiert ist, ich kann das nämlich leider nicht mehr richtig unterscheiden. Draußen ist es dunkel bis auf einen Streifen rosa Himmel, der zwischen den Wolken hervorlugt. Die Sonne geht unter. Die Frau runzelt immer noch die Stirn, und ich klebe an meinem Stuhl fest.
»Claire?«, spricht mich die Frau an. »Ist Ihnen nicht gut? Stimmt etwas nicht?«
Ich sehe sie an. Ihr sanftes, ovales Gesicht, ihr langes, glattes, braunes Haar. Die Runzeln auf ihrer Stirn bedeuten, glaube ich, dass sie sich Sorgen macht. Sie kennt mich wohl.
»Ich weiß nicht genau, wie ich von hier nach Hause komme«, vertraue ich mich ihr an, weil mir einfach nichts Besseres einfällt.
Sie sieht zur Tür und will etwas sagen. Aber dann überlegt sie es sich doch anders und sieht mit immer noch gerunzelter Stirn wieder zu mir. »Sie wissen nicht, wer ich bin, stimmt’s? Macht nichts, ich habe von Ihrem … Problem gehört. Ich bin Leslie. Unsere Töchter sind befreundet. Meine Tochter ist Cassie, die mit den pinken Haaren und dem Nasenpiercing. Und dem unterirdischen Geschmack, wenn es um Männer geht. Vor ungefähr vier Jahren waren unsere Töchter mal unzertrennlich.«
»Ich habe Alzheimer«, sage ich. Da ist es wieder, wie die letzten Sonnenstrahlen, die die Wolken durchdringen. Doch ich bin erleichtert. »Ich vergesse alles Mögliche. Manche Sachen kommen irgendwann wieder. Andere nicht.«
»Ich weiß, Cassie hat es mir erzählt. Sie und Caitlin haben sich vor ein paar Tagen getroffen und mal wieder ausgiebig geratscht. Ich habe Caitys Telefonnummer hier. Würden Sie sie erkennen, wenn sie hereinkäme?«, fragt sie mich.
»Ja, klar! Caitlin. Ganz bestimmt. Ich weiß doch, wie sie aussieht! Dunkle Haare und Augen wie Gezeitentümpel im Mondlicht, schwarz und tief.«
Sie lächelt. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie Schriftstellerin sind.«
»Ich bin keine Schriftstellerin. Aber ich habe ein Schreibzimmer, immerhin. Ich hab’s versucht, das mit dem Schreiben, aber es hat nicht funktioniert, jetzt habe ich also ein leeres Schreibzimmer unterm Dach. Da steht nichts drin außer einem Tisch, einem Stuhl und einer Lampe. Ich war mir damals total sicher, dass die Ideen dort nur so sprudeln würden, aber das Gegenteil war der Fall.« Die Frau runzelt wieder die Stirn, ihre Schultern versteifen sich. Ich rede so viel, dass es ihr offenbar unangenehm wird. »Am meisten Angst habe ich davor, Wörter zu verlieren.«
Ich habe sie wohl überfordert. Ich plappere zu viel. Und weiß gar nicht recht, was ich eigentlich sage. Ich muss nachdenken, bevor ich etwas sage. Abwarten. Zu viel zu reden gehört nicht mehr zu meinen liebenswerten Eigenschaften. Ich presse die Lippen aufeinander.
»Ich bleibe mit Ihnen hier sitzen, ja? Bis sie kommt.«
»Ach …«, will ich protestieren, doch dann knicke ich ein. »Danke.«
Ich höre ihr dabei zu, wie sie Caitlin anruft. Nach der anfänglichen Begrüßung steht sie auf und geht mit dem Telefon hinaus. Ich sehe sie durchs Fenster unter einer Straßenlaterne stehen, die eine Hand am Ohr, die andere frei gestikulierend. Sie nickt, dann legt sie auf und atmet einmal kräftig durch, bevor sie wieder hereinkommt und sich an meinen Tisch setzt.
»Sie kommt gleich«, sagt sie.
Sie wirkt so nett, dass ich mich gar nicht traue, sie zu fragen, von wem sie spricht.
Caitlin
Ich schließe die Haustür auf und trete einen Schritt zurück, um Mum reinzulassen. Den Schlüssel lasse ich flugs in der Hosentasche verschwinden. Mum hat keinen Schlüssel mehr, und das ist ein Punkt, den sie wirklich nicht leiden kann an ihrer neuen Welt. Die Haare hängen ihr in Strähnen herab – der kräftig leuchtende Kastanienton glänzt jetzt in dunklem Rubinrot. Sie ist vollkommen durchnässt und bibbert. Als Gran mir erzählte, dass Mum in die Dunkelheit davonspaziert war, wollte ich sie eigentlich fragen, warum sie sie hatte gehen lassen, warum sie nicht versucht hatte, sie aufzuhalten, aber dazu war keine Zeit. Ich suchte bereits überall nach ihr, als Cassies Mutter mich anrief.
Jetzt sind wir zurück, und ich muss mich Mum zuliebe sehr beherrschen, keinen Wutanfall zu kriegen. Was hätte nicht alles passieren können, wenn ich nicht hier gewesen wäre und sie gesucht hätte? Hätte Gran sich dann auch stur geweigert, Mum aufzuhalten? Hätte sie dann auch etwas beweisen wollen, weil sie immer noch glaubt, dass Mum sich bloß aufspielt und ignoriert werden muss? Eigentlich bin ich nicht mehr lange hier. Eigentlich müsste ich in den nächsten Tagen zurück nach London, um das letzte Jahr meines Studiums anzugehen. Was dann? Was wäre passiert, wenn ich jetzt schon nicht mehr da gewesen wäre? Mum hätte sich da draußen im Regen hoffnungslos verlaufen. Wer weiß, wann sie wieder nach Hause gekommen wäre. Und ob überhaupt.
So gesehen ist es ja vielleicht ganz gut, dass ich nicht nach London zurückkehre. Nicht, dass die anderen es schon wüssten … Vielleicht könnte ich ihnen erzählen, dass ich deshalb nicht zurückgehe – weil Mum mich jetzt braucht.
Und das ist nicht mal gelogen. Immerhin bin ich es, die sie ein paar Tage später von ihrem letzten Arbeitstag als Lehrerin abholt, sicher einem der schlimmsten Momente ihres Lebens. Ich hatte überlegt, im Auto auf sie zu warten, aber dann wurde mir klar, dass ich dann womöglich den ganzen Tag dort sitzen würde. Mum hat kaum noch Zeitgefühl. Stunden sind für sie wie Sekunden und umgekehrt. Ich habe keine Lust, die Sicherheit ihres konfiszierten, kirschroten Fiat Panda zu verlassen und mich durch den aufs Autodach trommelnden Regen in die Schule zu kämpfen, aber ich muss. Und auf dem Heimweg, bevor wir wieder zu Hause bei Gran und Esther sind, muss ich ihr endlich erzählen, was ich getan habe. Die Zeit wird knapp.
Die Schulsekretärin, Linda, habe ich schon ein paarmal gesehen, aber ich kenne sie vor allem aus Mums lebhaften und lustigen Schilderungen ihres Schulalltags. Der kugelsichere Glaskasten, in dem sie sitzt, lässt die Schule aussehen, als läge sie mitten in Los Angeles und nicht im beschaulichen Guildford.
»Hi, Linda!« Völlig übertrieben strahle ich sie an. Ich finde, das ist die einzige Möglichkeit, diese Art von Gesprächen durchzustehen. Diese Mitleidsgespräche, in denen immer so ein leiser, fröhlicher Unterton mitschwingt.
»Hallo, Caitlin, mein Herz.« Lindas Mundwinkel wandern automatisch nach unten, ihr Ton ist so traurig.
Als Mum die Diagnose bekam, wollte sie, dass es alle sofort erfuhren. Sie hatte wie bisher mit allem weitermachen wollen, solange es ging, und alle – selbst ihr Arzt, Mr Rajapaske – fanden das vollkommen in Ordnung. »Sie sind eine kluge Frau, Ms Armstrong«, sagte er. »Untersuchungen haben gezeigt, dass hohe Intelligenz den Fortschritt der Krankheit oft verzögert, weil intelligente Patienten Wege finden, ihre Defizite zu kompensieren und Strategien zu entwickeln. Sie sollten Ihren Arbeitgeber über Ihren Zustand informieren, aber wenn die Medikamente die gewünschte Wirkung zeigen, dann besteht eigentlich kein Grund für Sie, Ihr Leben jetzt schon komplett umzukrempeln.«
Das hatte uns alle enorm beruhigt. Wir waren unendlich dankbar für diese Atempause, die uns Zeit gab, irgendwie zu kapieren, was mit Mum und uns passierte. Und dann fuhr Mum mit ihrem niedlichen kleinen Fiat Panda – ihrem ersten eigenen Auto – einen Briefkasten über den Haufen. Doch damit nicht genug: Sie fuhr den Briefkasten direkt vor der Schule über den Haufen. Wäre es morgens passiert, hätte sie gut und gerne auch ein Kind überfahren können. Der Grund für diesen Zwischenfall war nicht gewesen, dass Mum sich nicht mehr konzentriert hatte. Überhaupt nicht. Sie hatte sich sogar sehr konzentriert, als es passierte. Nämlich auf die Frage, wofür das Lenkrad wohl da war.
»Hallo, mein Herz«, wiederholt Linda in einem weinerlichen Singsang. »Na, willst du deine arme Mutter abholen?«
»Ja.« Ich schenke ihr ein strahlendes Lächeln, weil ich weiß, dass Linda nur nett sein will und sie nichts dafürkann, dass ich in diesem Moment am liebsten die Tür zu ihrem Panzerglaskasten durchbrechen und ihr ihre Tasse Tee über den Kopf gießen würde. »Wie ist es gelaufen? Wissen Sie schon was?«
»Ach, ganz wunderbar. Die ganze Schule hat sich versammelt und etwas über Alzheimer ge-lernt. Die siebten Klassen haben das Pflegeheim in Hightrees besucht und sich mit den Patienten unterhalten. Alles im Geden…, ich meine, zu Ehren deiner Mutter.«
»Schön«, sage ich, dann kommt sie mit dem riesigen, klirrenden Schlüsselbund aus ihrem Kasten und geht mir voran ins Allerheiligste der Albury Gesamtschule, dieser Schule, die für mich und viele andere Menschen Mums Schule ist – vor allem, seit sie zur Fachbereichsleiterin Englisch befördert wurde. Mum hat diese Schule zu dem gemacht, was sie heute ist.
»Es gab einen speziellen Tee und Kuchen – du weißt ja, wie sehr deine Mutter Kuchen liebt. Und ich fand, sie sah richtig glücklich aus. Gelächelt hat sie. Und alles ganz genau beobachtet.«
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu sa-gen, was für eine blöde Kuh sie ist, und dass meine Mutter immer noch meine Mutter ist und kein hirntoter Spasti. Dass die Diagnose nicht heißt, dass Mum kein vollwertiger Mensch mehr ist. All das würde ich ihr am liebsten sagen, aber ich lasse es bleiben, weil ich nicht glaube, dass Mum es gut fände, wenn ich an ihrem letzten Arbeitstag die Schulsekretärin beleidige. Obwohl, nein, das nehme ich zurück: Ich glaube, Mum fände das sogar ziemlich klasse. Trotzdem beiße ich mir auf die Zunge. Wenn Mum etwas klasse findet, ist das allein manchmal schon ein guter Grund, etwas nicht zu tun.
»Eigentlich hat sie sich im letzten halben Jahr nicht großartig verändert«, gebe ich vorsichtig zu bedenken, während ich Linda und dem an ihrer Hüfte baumelnden Schlüsselbund folge. »Im ganzen letzten Jahr eigentlich nicht. Mum ist immer noch Mum. Derselbe Mensch wie vorher.« Am liebsten würde ich noch hinzufügen, dass sie immer noch dieselbe Frau ist, die Linda davon abhielt, die Polizei zu rufen, als die Mutter vom ewigen Mobbingopfer Danny Harvey in der Schule aufkreuzte, um sich die Mobber höchstpersönlich vorzuknöpfen.
Meine Mutter war im Lehrerzimmer gewesen und hatte das Geschrei gehört. Sie ging hinaus, um mit Mrs Harvey zu reden, nahm sie mit ins Lehrerzimmer und brachte ihr schonend bei, dass es einem Zwölfjährigen hochnotpeinlich wäre, wenn seine Mutter sich in seine Angelegenheiten einmischte und seine Mobber verprügelte. Mum hatte sich dann um die Angelegenheit gekümmert, obwohl sie Danny überhaupt nicht unterrichtete. Innerhalb einer Woche war die Sache geregelt. Mrs Harvey nominierte Mum für die Wahl zum »Lehrer des Jahres«, die Mum prompt gewann. Sie ist noch keine leere Hülle. Mum kämpft immer noch, nur dieses Mal leider auf verlorenem Posten.
Linda öffnet die Tür zum Lehrerzimmer, wo Mum mit ihrer besten Kollegenfreundin Julia Lewis sitzt. Bevor Mum Greg kennenlernte, war Julia ihre Aufrisshilfe gewesen – so nannte sie das. Ich versuchte in der Regel so zu tun, als wüsste ich nicht, was die beiden trieben, wenn sie ausgingen. Und als Mum dann mit Greg zu-sammenkam, war ich zumindest insofern erleichtert, als ich mir keine Gedanken mehr über das mysteriöse Sexleben meiner Mutter zu machen brauchte. Nicht, dass ich niemals gesehen hätte, wie sie sich in Schale schmiss, um auszugehen, aber wie sie Cocktails schlürfte, flirtete und so weiter, das wusste ich nicht. Außerdem hat sie nie irgendwelche Kerle mit nach Hause gebracht. Nie. Greg war der erste. Er war der erste, den ich kennenlernen sollte, und ich hatte überhaupt keinen Bock, ihn kennenzulernen, damals, vor fünf Jahren, als Mum ihn zu uns nach Hause zum Abendessen eingeladen hatte. Sie war extra einkaufen gewesen, um alles zu besorgen, was man für eine Paella braucht. Im Ernst. Sie hatte das kurz vorher in irgendeiner Kochsendung gesehen und schaffte sich jetzt extra eine spezielle Pfanne an und Safran und diese Garnelen mit Beinen und Köpfen, die ich so widerlich finde. Den ganzen Tag stand sie in der Küche und bereitete vor, ohne ihren Handwerker mal gefragt zu haben, ob er überhaupt Meeresfrüchte isst. Ich war mir ziemlich sicher, dass er so was nicht aß. Meiner Meinung nach war er mehr so der Typ, der auf Bacon-Sandwiches und Käse stand. Und ich hatte recht – also, zumindest was das mit den Meeresfrüchten anging. Greg hat nämlich eine ziemlich heftige Meeresfrüchteallergie. Aber es dauerte Stunden, bis er endlich etwas sagte. Er saß einfach nur da, starrte die Garnelen an, die wiederum ihn anstarrten, und überlegte ernsthaft, einen anaphylaktischen Schock zu riskieren, nur um meiner Mutter gegenüber nicht unhöflich und mir gegenüber nicht uncool zu sein. Ich fragte ihn ganz direkt und flegelhaft, ob er ein Problem hätte mit dem Essen, das meine Mutter gemacht hatte. Da wurde er knallrot und gestand, er könnte sterben, wenn er davon äße. Mum war das total unangenehm. Sie beförderte die Pfanne tutto completto in die Mülltonne, als könne schon ein Blick aus den schwarzen Garnelenknopfäuglein die Allergie auslösen. Was ich in dem Moment ziemlich scheiße fand, weil ich gerade beschlossen hatte, Paella zu mögen.
Mum hat dann Chinesisch bestellt, und ich be-schloss, Chinesisch nicht zu mögen. Ich schob den gebratenen Reis auf meinem Teller herum und machte ziemlich deutlich, dass mir die Garnelen fehlten. Greg sagte immer wieder, wie leid ihm das alles täte, und ich ignorierte ihn konsequent. Als er dann mal aufs Klo ging, zeigte Mum mit dem Finger auf mich und sagte: »Dir ist schon klar, dass du die Rolle der restlos verzo-genen Göre meisterhaft spielst?«
Ich zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Irgendjemand muss dich ja beschützen, und leider bin ich nun mal die Einzige, die hier ist. Wieso muss ich ihn überhaupt kennenlernen? Ich musste doch bisher keinen von deinen Männern kennenlernen.«
Das sagte ich natürlich genau in dem Moment, in dem Greg zurückkam, und ich sagte es in ei-nem Ton, als sei er bloß die jüngste Eroberung nach vielen, vielen anderen. War ja klar. Aber Greg wurde nicht rot und geriet nicht aus dem Konzept und gar nichts.
»Ich habe deine Mutter darum gebeten«, sagte er. »Ich möchte nämlich ein Teil des Lebens dei-ner Mutter sein, und das heißt dann auch ein Teil deines Lebens. Kann ja sein, dass du mich nicht magst, aber deine Mutter mag mich. Und ich würde mich freuen, jetzt dieses wirklich witzige, kluge Mädchen kennenzulernen, als das deine Mutter dich immer beschreibt. Und wenn wir uns dann noch darauf einigen könnten, es zusammen im selben Raum auszuhalten, wäre das klasse. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn wir uns sogar gut verstehen, aber nur zu deiner Info: Wenn nicht, ist das für mich kein Grund, Claire aufzugeben.«
Da habe ich dann aufgehört, das bockige, verzogene Gör zu spielen. War mir dann doch zu doof. Und außerdem konnte ich ja sehen, dass er und Mum es wirklich ernst miteinander meinten.
Als ich jetzt das Lehrerzimmer betrete, hält Mum einen großen Strauß Supermarktblumen im Arm. »Guck mal!« Fröhlich winkt sie mit den Blumen. »Duftdinger! Sind die nicht schön?«
Ich frage mich, ob es ihr selbst auffällt, dass sie das Wort »Blumen« vergessen hat, sage aber nichts. Gran korrigiert sie in solchen Augenbli-cken immer, und so wie ich das sehe, wird Mum dann immer wütend. Also lasse ich das mit dem Korrigieren.
»Wunderschön.« Ich sehe zu Julia, die mit einem extrem breiten Lächeln darum bemüht ist, die Stimmung möglichst unbeschwert zu halten.
»Ist Ewigkeiten her, seit ein Mann mir zuletzt so was geschenkt hat.« Mum vergräbt das Gesicht in den Blüten. »Julia, wir müssen dringend mal wieder auf die Piste, ein paar scharfe Typen aufreißen.«
»Du hast doch deinen ganz eigenen scharfen Typen«, erwidert Julia. »Du bist mit dem schärfsten Typen in ganz Surrey verheiratet, meine Liebe!«
»Ich weiß«, sagt Mum in die Blumen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie es wirklich weiß. Bis vor Kurzem hat Greg sie so glücklich ge-macht, dass sie jedes Mal strahlte wie die chine-sischen Glückslaternen, die ihre Hochzeitsgäste auf Himmelsreise schickten. Damals strahlte sie so richtig von innen heraus und schwebte über allem. Und jetzt sind Greg, ihre Liebe zueinander, ihr gemeinsames Glück, ihre Ehe Dinge, die kommen und gehen. Und vermutlich wird auch all das eines Tages ganz weg sein.
»Gut. Wollen wir?« Ich nicke Richtung Tür. Eigentlich besteht kein Grund, sofort zu gehen. Aber ich merke, dass ich es kaum aushalte, den Abschied von diesem Beruf, den meine Mutter so geliebt hat, unnötig in die Länge zu ziehen. Wenn sie heute die Schule verlässt, lässt sie einen Teil von sich zurück. Etwas, das sie als Mensch ausgemacht hat. Und je länger sie jetzt bleibt, desto schlimmer wird es.
Heute, morgen oder übermorgen wird Greg oder Gran oder vielleicht sogar Mum auffallen, dass ich doch eigentlich längst wieder an der Uni sein müsste. Dann wird alles herauskommen. Jeder wird seine Meinung dazu haben und sich dazu äußern. Aber genau das will ich nicht. Ich will nicht, dass alle Fehler, die ich gemacht und so wunderbar vertuscht habe, dass all meine kleinen und größeren Geheimnisse plötzlich und alle auf einmal ans Licht kommen. Dann wäre der Schlamassel, in den ich mich manövriert habe, genauso plötzlich ganz real, und dazu bin ich noch nicht bereit. Ich weiß, das klingt schrecklich, aber ganz ehrlich: Als Mum ihre Diagnose bekam, kurz nachdem ich für die Sommersemesterferien nach Hause gekommen war, war ich erleichtert. Erleichtert, einen Grund zu haben, niemandem zu erzählen, wie gründlich ich mir mein Leben versaut habe. Und das ist genau der Punkt, der mich selber völlig fertigmacht. Ich meine, ich werde bald einundzwanzig, aber ich bin immer noch so doof, so unreif und so egoistisch, dass ich der Nachricht, dass meine Mutter an frühmanifester Alzheimerdemenz leidet, etwas Positives abgewinnen kann. So bin ich, so ein Mensch bin ich, und ich weiß einfach nicht, wie ich ein besserer Mensch werden kann. Auf einmal muss ich ganz schnell erwachsen werden und entscheiden, was zu tun ist. Aber ich will nicht. Ich will mich mit einem Buch unter meiner Bettdecke verkriechen, wie ich es noch bis vor Kurzem immer gemacht habe.
»Bist du so weit, Mum?«
Mum rührt sich nicht. Sie sitzt in dem klobigen, braunen, grottenhässlichen Schulsessel, und auf einmal füllen sich ihre Augen mit Tränen. Ich spüre, wie die Kraft aus meinen Beinen weicht, setze mich neben sie und lege den Arm um sie.
»Ich liebe meine Arbeit«, sagt sie. »Ich bin so gerne Lehrerin, und ich bin eine gute Lehrerin. Ich schaffe es, bei den Schülern Interesse zu wecken, echtes Interesse für Shakespeare und Austen und … Das ist meine Berufung. Ich will nicht aufhören. Ich will hier nicht weg.« Sie wen-det sich an Julia. »Sie können mich doch nicht zwingen, oder? Gibt es denn gar nichts, was wir tun können? Das sind doch alles nur Vorurteile gegenüber Alzheimer.« Vor lauter Empörung und womöglich Panik spricht sie immer lauter. »Gibt es nicht irgendein Gericht, vor das wir ziehen können, um meine Menschenrechte durchzusetzen? Sie können mich doch nicht zwingen aufzuhören, Julia! Das geht doch nicht!«
Julia lächelt, als wäre alles in bester Ordnung, geht vor ihrer Freundin in die Hocke und legt ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu erden. Dabei grinst sie wie immer. Als wenn das alles nur ein Scherz wäre. Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Das geht in letzter Zeit immer ratzfatz.
»Süße …« Sie sieht Mum direkt in die Augen. »Du bist die beste Lehrerin, Trinkerin, Tänzerin und Freundin, die es je gegeben hat. Und so doof die Regel auch sein mag, dass Lehrer keine Briefkästen direkt vor ihren Schulen umnieten dürfen, sie gilt nun mal. Aber jetzt wein bitte nicht, ja? Kopf hoch. Geh hier raus, als würde dich das überhaupt nicht jucken. Als würdest du deine Freiheit genießen.« Julia drückt Mum einen Kuss auf den Mund. »Na los, jetzt geh schon. Geh und sei frei. Für mich. Und sei weiter der großartige Mensch, der du schon immer gewesen bist. Sei dieser großartige Mensch, und schick diesen Haufen undankbarer Wichser zur Hölle. Denn weißt du was, Süße? Jetzt kannst du das Leben so richtig genießen. Du kannst tun und lassen, was du willst, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.«
»Ich will aber nicht gehen.« Mum steht auf und drückt sich die Blumen so fest an die Brust, dass einige Blütenblätter herunterfallen.
»Überleg doch mal. Das ewige Korrigieren. Die Verwaltung. Die Affäre zwischen Jessica Stains und Tony James, die unbedingt geheim gehalten werden muss, obwohl wir alle wissen, dass sie sich immer heimlich im Materialraum treffen. Und dann die Politik, diese Scheißregierung, die wirklich alles dafür tut, um unsere wunderbare Schule mit beschissenen neuen Regeln kaputt zu machen. Denk dran: All das wirst du los, wenn du jetzt gehst. Du wirst frei. Und ich möchte dich bitten, dich so durchgeknallt und abenteuerlustig wie nur möglich aufzuführen. Mir zuliebe.«
»Okay.« Mum nimmt Julia in den Arm. »Obwohl meine Abenteuerlust sich innerhalb eines ziemlich kleinen Radius abspielen wird. Schließlich darf ich nicht mehr Auto fahren.«
»Wunderbar.« Julia drückt Mum ebenfalls an sich. »Ich ruf dich in ein paar Tagen an, dann verabreden wir uns und machen abends mal wieder die Stadt unsicher. Okay?« »Okay.« Mum dreht sich um und betrachtet ein letztes Mal das Lehrerzimmer. »Tschüss, Leben.«
Wir gehen zum Auto, und ich ertappe mich dabei, wie ich fast schon so tue, als ob es nicht da sei, nur damit Mum nicht bemerkt, dass ich ihr geliebtes rotes Auto mit neuem Kotflügel fahre. Sie bleibt an der Beifahrertür stehen, während ich auf den Fahrersitz klettere und den Schlüssel ins Zündschloss stecke. Ich warte, dass sie die Tür öffnet. Irgendwann lehne ich mich hinüber und mache sie ihr auf. Sie lässt sich auf den Sitz gleiten und schnallt sich an. Heute Morgen hatte ich das für sie machen müssen. Das war also etwas, das nur vorübergehend weg war. Ein kleiner Sieg.
»Na? Und? Morgen geht’s wieder zurück zum Ernst des Lebens, ja?« Völlig unvermittelt lächelt Mum mich an und ist mit einem Mal wieder voll da. »Hast du schon gepackt? Du hast dieses Mal ja gar nicht so große Wäscheberge produziert wie sonst. Jetzt erzähl bloß nicht, dass du inzwi-schen selber wäschst! Nein, warte! Ich wette, Gran hat das für dich gemacht! Stimmt’s oder hab ich recht? Das Problem mit Gran ist, dass sie jetzt ganz brav deine Wäsche wäscht – aber dass du später dafür bezahlen wirst. Und zwar über Jahre.«
Mum lacht, und ich halte die Luft an. Sie ist wieder da. Sie ist hier. Mum. Hundertprozent Mum. In diesen Augenblicken wird mir immer besonders schmerzhaft bewusst, wie sehr sie mir fehlt, wenn sie weg ist.
»Morgen geht es zurück in die Welt der Hoffnungen, der Träume und der Zukunft, Caitlin«, plappert sie fröhlich weiter und hat dabei den Abschied von der Schule völlig vergessen. »In ein paar Monaten hast du deinen Abschluss. Stell dir vor! Ich kann es kaum erwarten, dich mit Hut und Robe zu sehen! Ich verspreche dir, so lange noch einigermaßen bei Verstand zu bleiben und dich an deinem großen Tag nicht für Batman und mich für Catwoman zu halten. Obwohl mir die Vorstellung, zu deiner Abschlussfeier einen Catsuit zu tragen, ziemlich gut gefällt.«
Ich lächele. Wie soll ich es ihr bloß beibringen? Ich hefte den Blick fest auf die Straße und konzentriere mich auf den Verkehr, die Fußgänger, die Radarfalle.
»Ethan Grave hat geweint«, erzählt Mum un-vermittelt. Ihre Miene verdunkelt sich wieder beim Gedanken an ihren letzten Arbeitstag. »Die Mädchen aus meiner Klasse haben mir eine Karte gebastelt. Oh …« Sie dreht sich nach hinten um. »Ich habe die Karte liegen lassen.«
»Ich ruf Julia an, dass sie sie mitnimmt.«
»Die Mädchen hatten mir eine Karte gebastelt und einen kleinen Tanz aufgeführt. Mädchenhafter ging’s echt nicht. Als hätten sie ein Musical geschrieben, Titel: Wir werden Sie vermissen, Miss. Und ich fand’s großartig. Gott sei Dank hatten sie kein Lied à la »Alzheimer ist echt nicht witzig« oder so gedichtet. Aber egal. Dann kam Ethan Grave auf mich zu, wollte sich wohl verabschieden und fing einfach an zu weinen. Vor allen anderen. Einfach so. Der Ärmste, dafür wird er nächste Woche von den anderen Jungs eine Abreibung bekommen. Bis dahin bin ich längst vergessen, und alles glotzt nur auf den üppigen Vorbau der Vertretungslehrerin.«
»Das glaube ich nicht, dass er eine Abreibung bekommt. Die Kinder lieben dich. Alle. Auch die, die immer so getan haben, als wenn sie dich nicht ausstehen könnten.«
»Glaubst du, sie werden sich an mich erin-nern?«, fragt Mum. »Wenn sie mal erwachsen sind? Glaubst du, sie wissen dann noch, wie ich hieß?«
»Klar!« Zwei Straßen noch, dann sind wir zu Hause.
»Aber Esther wird sich nicht an mich erinnern, oder?« Das kommt so unvermittelt, dass ich fast in die Eisen steige. Als glaubte mein Körper, es käme gleich zu einem Zusammenprall.
»Doch. Natürlich«, sage ich.
Mum schüttelt den Kopf. »Ich kann mich nicht an die Zeit erinnern, als ich drei war. Du?«
Ich denke kurz nach. Ich kann mich an Sonnenschein erinnern, daran, dass ich in dem Buggy saß, für den ich bereits viel zu groß war, und ein Brötchen aß. Da war ich vielleicht drei. Oder zwei. Oder fünf. Keine Ahnung. »Ja«, antworte ich. »Ich kann mich noch an alles erinnern. Ich kann mich an dich erinnern.«
»Esther wird sich nicht erinnern. Höchstens bruchstückhaft. Aber sie wird sich nicht wirklich an mich erinnern, an den Menschen, der ich war, und daran, wie sehr ich sie geliebt habe. Das musst du ihr erzählen, Caitlin. Bitte. Überlass es nicht Gran, Esther von mir zu erzählen. Das würde nicht reichen. Gran hält mich für lebensuntüchtig und doof. Hat sie schon immer getan. Du musst Esther erzählen, dass ich lustig war, klug und schön und dass ich sie und dich mehr geliebt habe als … Sag ihr das bitte, ja?«
»Sie wird sich an dich erinnern. Dich vergisst man so schnell nicht, selbst wenn man es wollte. Abgesehen davon stirbst du ja nicht morgen. Dir bleiben noch Jahre mit Esther.« Ich sage das, obwohl wir beide genau wissen, dass das eher unwahrscheinlich ist. Dann sehe zu ihr hinüber. Ich muss es ihr jetzt sagen.
»Mum? Ich muss dir was erzählen.«
»Du kannst meine Schuhe haben. Alle. Aber vor allem die roten mit den hohen Absätzen, die dir immer so gut gefallen haben. Und ich will, dass du dich mit deinem Vater triffst.«
Dieses Mal steige ich dann doch in die Eisen. Wir sind nur noch wenige Minuten von zu Hause entfernt, aber ich fahre einfach links ran und schalte den Motor ab. Ich warte kurz, bis mein Herz nicht mehr rast und ich nicht mehr hyperventiliere.
»Was soll das denn jetzt bitte?« Völlig unerwartet rauscht Wut durch meinen Körper wie Adrenalin. »Warum sollte ich?«
Mum sieht sehr wohl, dass ich sauer bin, geht aber nicht darauf ein. Sie bleibt ganz ruhig sitzen, die Hände im Schoß gefaltet. »Weil ich bald nicht mehr da bin. Und du brauchst …«
»Bullshit«, falle ich ihr ins Wort. »Ich brauche keinen Ersatz für dich, Mum. Und abgesehen davon: So funktioniert das nicht. Schließlich hat er mich nie gewollt. Ich war ein Versehen, ein Fehler, mit dem er nicht umgehen konnte, den er ungeschehen machen wollte. Stimmt doch, oder? Sag schon!«
»Die haben übrigens mal Gran gehört, die roten Schuhe. Das war, bevor sie mit dem LSD aufhörte und beschloss, eine zickige Alte zu werden.«
»Mum!« Unwillkürlich haue ich mit beiden Händen aufs Lenkrad. Sie weiß, dass ich nichts über ihn hören will, sie weiß, dass der Gedanke an ihn, an diesen Menschen, der in meinem Le-ben nie eine Rolle gespielt hat, mich komplett auf die Palme bringt. Dass es das tut, ärgert mich nur noch mehr, weil es zeigt, dass ich für diesen Mann, der mich nicht wollte, trotzdem irgendet-was empfinde. »Hör auf. Sag mir nicht, dass ich ihn kennenlernen soll. Hör auf damit.«
»Caitlin. Du und ich, wir waren uns immer so nah, solange wir zu zweit waren. Oder zu dritt, wenn wir Gran mitrechnen. Und ich habe immer gedacht, das wäre genug, und das würde ich auch immer noch finden, wenn ich nicht …«
»Nein!«, beharre ich, die Augen wieder randvoll mit Tränen. »Nein. Jetzt tu nicht so, als würde deine Krankheit alles ändern!«
»Aber sie ändert nun mal alles. Denn erst durch die Krankheit habe ich erkannt, dass es ein Fehler war zu glauben, du könntest ganz und gar ohne deinen Vater leben, ohne zu wissen, wer er überhaupt ist und was er macht und … Caitlin, ich muss dir etwas sagen. Etwas, das dir ganz und gar nicht gefallen wird.«
Mum verstummt. Aber nicht, um nachzudenken oder Luft zu holen. Sie hört einfach auf zu reden. Nach einer Weile begreife ich, dass das, was sie mir sagen wollte, in den Abgrund gestürzt ist. Es ist weg. Mum sitzt still da und hat keine Ahnung von der Wut, der Angst und der Verwirrung, die in mir toben. Sie lächelt selig und wartet darauf, dass irgendetwas passiert. Und dann kann ich mich nicht mehr beherrschen. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich beuge mich vornüber und lehne den Kopf ans Lenkrad, während meine Hände es gleichzeitig mit aller Kraft umklammern. Ich zittere am ganzen Körper und höre mich immer wieder sagen: »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Ich habe keine Ahnung, wann mein Schluchzen ein Ende haben wird und ich wieder in der Lage sein werde, den Motor anzulassen. Mir kommt es vor, als müssten wir für immer so hier sitzen bleiben. Dann höre ich, wie Mum ihren Gurt löst, und spüre, wie sie die Arme um mich schlingt.
»Ist ja gut«, gurrt sie mir ins Ohr. »Mein tapferes, großes Mädchen. Da hast du dich ganz schön erschrocken, was? Aber morgen ist alles wieder gut. Dann ist nur noch ein blauer Fleck übrig, auf den du stolz sein kannst. Mein tapfe-res, großes Mädchen. Ich liebe dich, mein Schatz.«
Ich schmiege mich in ihre Arme und lasse mich von ihr trösten, denn ganz gleich, welchen Tag unseres früheren Lebens sie da gerade wieder durchlebt: Ich wünschte, ich wäre auch da. Da, wo nach einem Kuss und einer Umarmung alles wieder gut war.
Als wir zu Hause angekommen sind und ich Mum die Haustür öffne, fällt mir auf, dass ich ihr immer noch nicht mein Geheimnis erzählt habe. Und dass auch sie irgendetwas Wichtiges hatte sagen wollen.
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»Das ist doch noch viel zu früh«, erkläre ich, obwohl wir beide wissen, dass sie bereits eingezogen ist. »Im Moment brauche ich doch noch so selten Hilfe. Ich meine, hör mir doch mal zu. Ich kann immer noch sprechen und nachdenken über …« Ich mache eine ausladende Armbewegung, sie duckt sich, ich lege die Hand betreten wieder in den Schoß. »… dies und das.«
»Claire, die Lage ist wirklich ernst. Du kannst jetzt nicht den Kopf in den Sand stecken. Glaub mir. Ich weiß Bescheid.«
Natürlich weiß sie Bescheid: Sie hat all das schon einmal durchgemacht, und jetzt muss sie dank mir oder doch eher dank meines Vaters und seiner hinterhältigen DNA alles noch einmal durchmachen. Und das heißt leider nicht, dass ich fein säuberlich und mit wachem Geist sterben werde, ihr dabei mit festem Blick die Hand halte, ihr danke und meinen Kindern noch ein paar weise Worte mit auf den Lebensweg gebe. Nein, mein leider noch ziemlich junger und einigermaßen fitter Körper wird weitermachen und keine Rücksicht darauf nehmen, dass mein Gehirn sich nach und nach in Wohlgefallen auflöst, und zwar bis zu dem Tag, an dem ich vergessen werde, wie man atmet. Genau das ist es, was sie denkt. Ich weiß es. Und ich weiß, dass es das Letzte ist, was sie möchte: ihre Tochter genauso vergehen und verkümmern zu sehen wie ihren Mann. Ich weiß, dass es ihr das Herz bricht und dass sie alles tut, um tapfer zu sein und mir beizustehen, und doch … Es macht mich so wütend. Ihre Güte und Geduld machen mich wütend. Mein ganzes Leben habe ich versucht, ihr zu beweisen, dass ich alleine klarkomme, dass sie mich nicht ständig zu retten braucht. Mein ganzes Leben habe ich mich getäuscht.
»Doch, Mum, gerade ich kann sehr wohl den Kopf in den Sand stecken«, sage ich, den Blick starr aus dem Fenster gerichtet. »Gerade ich kann komplett ignorieren, was mit mir passiert, weil ich es nämlich die meiste Zeit sowieso nicht mitbekommen werde.«
»Das meinst du nicht ernst, Claire.« Mum klingt sauer, als würde sie wirklich glauben, dass mir das alles egal sei, und nicht, dass ich so etwas nur sage, um sie zu ärgern. »Was ist mit deinen Töchtern?«
Ich sage nichts, weil sich die Worte in meinem Mund verknoten. Es würde jetzt in jedem Fall etwas Falsches dabei herauskommen. Also schweige ich, sehe hinaus, sehe die Häuser vorbeiziehen, eins nach dem anderen. Es ist schon fast dunkel. In den Wohnzimmern brennt bereits Licht, hinter den Vorhängen flimmern Fernseher. Natürlich ist es mir nicht egal. Natürlich werde ich es vermissen, dieses Leben. Die an Winterabenden dunstige Küche, meine Töchter zu bemuttern, sie groß werden zu sehen: All das werde ich nicht mehr erleben. Ich werde nie erfahren, ob Esther je aufhören wird, Erbsen einzeln mit der Gabel aufzupieksen, und ob sie irgendwann mal nicht mehr blond sein wird. Ob Caitlin tatsächlich, wie geplant, Mittelamerika bereisen wird oder ob sie etwas völlig anderes machen wird, von dem sie selbst noch nicht mal geträumt hat. Ich werde nie erfahren, was dieser ungeträumte Traum sein wird. Sie werden mich nie anlügen, wenn sie abends weggehen, sie werden nie mit ihren Problemen zu mir kommen. Es sind diese Dinge, die ich vermissen werde, weil ich irgendwo an-ders sein und nicht einmal mehr mitbekommen werde, was ich vermisse. Selbstverständlich ist mir das nicht egal!
»Die werden dann wohl Greg haben.« Meine Mutter klingt ziemlich skeptisch. Sie lässt nicht locker, will darüber sprechen, wie die Welt ohne mich aussehen wird. Ich finde das eigentlich ziemlich taktlos. »Also, wenn er dem denn gewachsen ist.«
»Natürlich ist er das. Er ist ein ganz wunderbarer Vater.«
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das so stimmt. Ich bin mir nicht sicher, ob er das, was mit mir und uns passiert, ertragen wird – und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll. Greg ist so ein guter Mann, ein gütiger Mann. Aber seit der Diagnose wird er mir von Tag zu Tag fremder. Jedes Mal, wenn ich zu ihm sehe, hat er sich ein Stückchen weiter entfernt. Er kann nichts dafür. Ich weiß, dass er für mich da sein möchte, stark und tapfer, aber ich fürchte, das alles wird zu viel für ihn. Dass uns das passieren muss, so kurze Zeit nachdem unser gemeinsames Leben angefangen hat, macht ihn fertig. Bald werde ich nicht mehr wissen, wer er ist. Ich weiß jetzt schon kaum noch, was ich für ihn empfinde. Ich weiß, dass er die letzte große Liebe meines Lebens ist, aber ich empfinde dieses Gefühl nicht mehr. Aus unerfindlichen Gründen verschwindet Greg als Allererstes aus meinem Gedächtnis. Ich kann mich schon noch erinnern, wie wir uns kennengelernt haben und alles – aber mehr wie an einen Traum. Wie Alice durch den Spiegel. Bald wird Greg ganz weg sein.
»Ausgerechnet du.« Mum kann es nicht lassen, sie muss mir eine Standpauke halten, mich dafür ausschimpfen, dass ich das dunkle Famili-engeheimnis in mir trage. Als hätte ich das durch besonders ungezogenes Verhalten selbst verschuldet. »Du weißt doch, wie das ist, ohne Vater aufzuwachsen. Wir müssen planen, Claire. Deine Mädchen verlieren ihre Mutter. Du musst sicherstellen, dass es ihnen gut gehen wird, wenn du nicht mehr in der Lage bist, dich selbst um sie zu kümmern. Du kannst nicht davor weglaufen.«
»Das weiß ich doch selbst, verdammt noch mal!« Warum macht sie das? Warum drangsaliert sie mich, bis ich sie anschreie? Glaubt sie erst dann, wenn sie mich auf die Palme gebracht hat, dass ich ihr zuhöre? So ist das schon immer gewesen bei uns: Liebe und Wut sind unsere ganz verlässlichen Begleiter, wenn meine Mutter und ich zusammen sind. »Ich weiß selbst, was ich getan habe. Ich weiß selbst, dass ich ihnen ein beschissenes Leben biete.«
Mum fährt in eine Einfahrt – es ist die, die zu meinem Haus führt, fällt mir eine Sekunde zu spät auf. Und schon kommen mir unwillkürlich die Tränen. Mit Wucht schlage ich die Autotür zu und steuere nicht das Haus an, sondern spaziere in den Regen. Ich ziehe meine Strickjacke fest um mich und gehe trotzig Richtung Straße.
»Claire!«, ruft meine Mutter mir hinterher. »Du kannst nicht mehr einfach so losmarschieren!«
»Das werden wir ja sehen«, murmele ich in den Regen, der sich in winzigen Tröpfchen auf meinen Lippen sammelt.
»Claire! Bitte!«, höre ich sie noch gerade so, doch ich marschiere weiter. Ich werde es ihr zeigen, ich werde es ihnen allen zeigen, vor allem denen, die mich nicht mehr Auto fahren lassen. Ich kann immer noch laufen. Ich kann verdammt noch mal immer noch laufen! Ich habe noch nicht vergessen, wie das geht.
Die Straße ist leer. War ich schon bis zum Ende der Straße gekommen und bin umgedreht? Ich bin mir nicht sicher. Aus welcher Richtung kam ich? Gehe ich irgendwohin, oder komme ich irgendwoher? Wohin? Woher? Die Häuser auf beiden Seiten der Straße sehen alle gleich aus. Ich rühre mich nicht. Es ist doch nur ganz kurz her, seit ich von meinem Haus aus losmarschiert bin, und jetzt weiß ich nicht mehr, wo es ist. Ein Auto fährt vorbei, eiskaltes Wasser spritzt auf und mir an die Beine. Ich habe mein Handy nicht bei mir, aber ich weiß sowieso kaum noch, wie man es benutzt. Mit Zahlen kann ich nichts mehr anfangen. Zahlen sind weg. Ich meine, ich sehe sie an, und ich weiß, dass das Zahlen sind, aber ich weiß nicht mehr, welche welche ist und in welche Reihenfolge sie gehören. Aber ich kann immer noch laufen, und darum laufe ich jetzt los in die Richtung, in die auch das vorbeifahrende, mich nass spritzende Auto fuhr. Vielleicht ist das ein Zeichen. Ich erkenne mein Haus, wenn ich es sehe, es hat nämlich signalrote Seidenvorhänge. Wenn dahinter Licht an ist, sieht es aus, als würden sie glühen. Nicht vergessen: Ich habe zur Straße hin rot glühende Vorhänge, von denen eine meiner Nachbarinnen mal sagte, sie sähen nach »lockerem Lebenswandel« aus. Rot glühende Vorhänge. Das kann ich mir merken. Ich bin ganz bald wieder zu Hause. Alles wird gut.
Der Termin im Krankenhaus verlief nicht ganz optimal.
Greg hatte mitkommen wollen, aber ich sagte ihm, er solle lieber mit dem Wintergarten fertig werden, den er gerade baute. Ich sagte ihm, ganz gleich, was der Arzt sagen würde, unser Hauskredit würde weiter bedient werden müssen und unsere Kinder würden weiter essen wollen. Es verletzte ihn, dass ich ihn nicht dabeihaben wollte, er verstand nicht, dass ich einfach damit überfordert gewesen wäre, ständig zu überlegen, was sein Blick und seine Miene wohl bedeuteten, während ich gleichzeitig rätselte, was ich selbst empfand. Meine Mutter dagegen, das wusste ich, würde einfach sagen, was ihr durch den Kopf ging. Und das ist besser, als schreckliche Nachrichten zu hören und zu überlegen, ob dein Mann wohl bereut, dir je begegnet zu sein und sich ausgerechnet für dich entschieden zu haben. Ich war also nicht gerade in allerbester geistiger Verfassung (Ha! Im wahrsten Sinne des Wortes!), als der Arzt mich bat, mich zu setzen, um die Ergebnisse der letzten Tests zu besprechen. Der Tests, die sie mit mir gemacht hatten, weil alles viel schneller voranschritt, als sie erwartet hatten.
An den Namen des Arztes kann ich mich nicht erinnern, weil er sehr lang ist und viele Silben hat, was ich ziemlich komisch finde. Das sagte ich auch, als Mum und ich dasaßen und wir darauf warteten, dass er den Blick von seinem Bild-schirm mit den Ergebnissen löste und uns die schlechten Nachrichten überbrachte. Aber außer mir fand das keiner komisch. War offenbar nicht der richtige Zeitpunkt für Galgenhumor.
Es regnet immer heftiger. Wäre ich doch bloß nicht ohne meinen Mantel losgestürzt. Nach einer Weile sehen die Straßen hier alle gleich aus: Doppelhäuser aus den 1930ern. Reihenweise. Auf beiden Seiten der Straße. Ich wollte auf Vorhänge achten, oder? Welche Farbe noch mal?
Ich biege ab, sehe ein paar Läden und bleibe stehen. Ach. Wollte ich vielleicht Kaffee trinken gehen? Hier komme ich samstagsmorgens im-mer mit Greg und Esther her, um ein Schokocroissant zu essen und einen Kaffee zu trinken. Aber jetzt ist es dunkel. Und kalt. Und dunkel. Und einen Mantel habe ich auch nicht an. Ich sehe zu meiner Hand. Keine Esther. Erschrocken fasse ich mir an die Brust: Habe ich sie irgendwo vergessen? Nein, sie war nicht bei mir, als ich losging. Wenn sie bei mir gewesen wäre, hätte ich auch ihren Kuschelhasen dabei, der immer überall mit hinmuss und den Esther Blauer Müffelhase getauft hat. Esthers überaus konkrete Namen für ihre Kuscheltiere sind legendär. Auf ihrem Bett sitzen unter anderem Einaugehund, weil ihm das zweite fehlt, und Rosa-Bär-von-Oma-Pat.
Jedenfalls bin ich wohl hier, weil ich Kaffee trinken gehen wollte. Weil ich mir ein bisschen was gönnen wollte. Schön.
Ich überquere die Straße und bin dankbar für die warme Luft, die mich begrüßt, als ich das Ca-fé betrete. Einige der Gäste sehen auf, als ich in der Tür erscheine. Ich muss schlimm aussehen, meine Haare kleben mir regennass im Gesicht.
Ich stelle mich am Tresen an und merke erst dort, dass ich zittere. Ich muss meinen Mantel vergessen haben. Wenn ich mich doch nur erin-nern könnte, warum ich Kaffee trinken gehen wollte. »Alles in Ordnung?«, fragt die junge Frau hinter dem Tresen. Sie ist ungefähr in Caitlins Alter und lächelt, als müsste ich sie kennen. Oder ist sie einfach nur freundlich? Gleich links von mir sitzt eine Frau mit einem Buggy, sie schiebt ihn ein bisschen weiter von mir weg. Ich muss wirk-lich merkwürdig aussehen, als sei ich gerade aus einem See gestiegen. Haben die denn noch nie einen durchnässten Menschen gesehen?
»Kaffee, bitte«, sage ich. Ich spüre das Kleingeld in meiner Jeanstasche und hole es hervor. Ich weiß nicht mehr, wie viel der Kaffee hier kostet. Ich weiß, dass die Information, die ich brauche, auf der Tafel hinter dem Tresen steht, aber ich kann mir keinen Reim drauf machen. Ich strecke die Hand mit dem Kleingeld aus. Die junge Frau hinterm Tresen rümpft die Nase, als könnte Geld, das ich angefasst habe, irgendwie besudelt sein. Ich friere, und ich fühle mich sehr einsam. Ich will ihr erklären, warum ich zögere, aber die Worte wollen nicht kommen – jedenfalls nicht die richtigen. Es fällt mir schwerer, Dinge auszusprechen, als sie zu denken. Ich habe Angst, mit Leuten zu sprechen, die ich nicht kenne, habe Angst, etwas so Peinliches zu sagen, dass sie mich sofort wegbringen und einsperren, und bis es so weit ist, habe ich vergessen, wie ich heiße und …
Ich schaudere, nehme den Kaffee und die braunen Münzen, die die Frau auf den Tresen gelegt hat, und suche mir ganz konzentriert und ruhig einen Sitzplatz. Ich habe das Gefühl, wenn ich irgendwelche plötzlichen Bewegungen mache, könnte ich damit eine versteckte Falle auslösen, mich verletzen oder irgendwo hinunterfallen. Ich habe das Gefühl, dass ich dann sehr tief fallen würde. Ich sitze ganz still da und befasse mich mit der Frage, wie ich hierhergekommen bin und wie ich wohl von hier wieder wegkommen soll. Und wohin ich dann gehen soll. Kleine Erinnerungsfetzen kehren zurück – Fragmente mit Informationen, die ich irgendwie decodieren muss. Die Welt um mich herum liegt in Trümmern.
Ich spreche nicht auf die Behandlung an, so viel weiß ich. Aber das war fast zu erwarten gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Medikamente irgendeine Wirkung zeigen würden, war dieselbe, als würde man eine Münze werfen und auf Kopf hoffen: fifty-fifty. Aber alle hatten natürlich gehofft, dass mir die Behandlung helfen würde. Weil ich so jung bin, weil ich zwei Töchter habe, von denen die eine erst drei ist und die andere sich hinterher um alles wird kümmern müssen. Alle – sogar der Arzt mit dem langen, komplizierten Namen – hatten sie gehofft, dass die Behandlung bei mir anschlagen würde, und zwar besser, als man je für möglich gehalten hätte. Und auch ich hatte auf ein bahnbrechendes Wunder gehofft, das alles ändern würde.
Es wäre doch nur gerecht gewesen, wenn das Schicksal oder Gott in meinem speziellen Fall mildernde Umstände geltend und eine Ausnahme gemacht hätte. Aber das hat das Schicksal oder Gott nicht gemacht. Wer auch immer sich da gerade auf meine Kosten amüsiert, hat genau das Gegenteil getan. Aber vielleicht nehme ich das alles viel zu persönlich. Vielleicht handelt es sich nur um eine Reihe genealogischer Unfälle über die letzten Jahrtausende, aufgrund derer ich jetzt hier sitze und auserwählt bin, die Konsequenzen zu tragen. Ich baue viel schneller ab, als die Ärzte erwartet hatten. Das hat mit diesen kleinen Embolien zu tun. An das Wort »Embolie« kann ich mich genau erinnern, aber ich habe keine Ahnung, wie das Metallteil heißt, mit dem ich den Kaffee umrühren kann. Das Wort Embolie finde ich schön, fast schon melodisch. Winzige Blutgerinnsel im Gehirn. Ist was ganz Neues, damit hatten die Experten nicht gerechnet. Ich bin damit wohl so ziemlich die einzige Patientin auf der Welt. Die Leute im Krankenhaus sind alle ganz aus dem Häuschen deswegen, obwohl sie natürlich versuchen, das zu überspielen. Ich weiß nur, dass mit jedem Blutgerinnsel wieder ein Stückchen von mir für immer verschwindet. Irgendeine Erinnerung, ein Gesicht oder ein Wort sind einfach weg.
Ich sehe mich um. Ich friere jetzt noch mehr als vorher, und mir wird klar, dass ich Angst habe. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen soll. Ich bin hier, ich fühle mich gesund – aber hier wieder wegzugehen scheint mir vollkommen unmöglich zu sein.
Bunte Kugeln hängen von der Decke. Seltsam. Ich kann mich nicht erinnern, dass bald Weihnachten wäre. Ich bin mir sicher, dass nicht bald Weihnachten ist. Aber wenn ich nun vielleicht schon seit Wochen hier bin? Was, wenn ich zu Hause weggegangen bin und immer und immer weitergegangen bin, ohne stehen zu bleiben, und wenn ich jetzt meilenweit weg bin von allem, Monate vergangen sind und alle denken, ich sei tot? Ich müsste eigentlich meine Mutter anrufen. Sie ist wahrscheinlich sauer, weil ich weggelaufen bin. Sie sagt immer, wenn ich möchte, dass sie mich wie eine Erwachsene behandelt, dann soll ich mich auch wie eine Erwachsene benehmen. Sie sagt, das hat mit Vertrauen zu tun. Und ich sage, gut, dann hör auf, in meinen Sachen rumzuschnüffeln, blöde Kuh. Das mit der blöden Kuh sage ich natürlich nicht laut.
Moment. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich bin krank und ich bin hier, um einen Kaffee zu trinken, weiß aber nicht mehr, warum. Meine Vorhänge haben eine bestimmte Farbe und glühen. Orange vielleicht. Orange kommt mir irgendwie bekannt vor.
»Hallo.« Ich sehe auf. Vor mir steht ein Mann. Ich soll nicht mit Fremden reden, darum sehe ich wieder hinunter auf den Tisch. Vielleicht geht er ja wieder weg. Tut er aber nicht. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ja«, sage ich. »Na ja … Ich friere.«
»Darf ich mich dazusetzen? Ist sonst nichts mehr frei.« Ich sehe mich um. Es ist tatsächlich ziemlich voll in dem Café, aber es gibt schon noch ein paar andere freie Plätze. Er sieht ganz okay aus. Nett sogar. Ich mag seine Augen. Ich nicke und frage mich, ob ich wohl genügend Worte herausbekommen werde, um mich mit ihm zu unterhalten.
»Gar keinen Mantel dabei?« Er zeigt auf mich.
»Anscheinend nicht«, antworte ich vorsichtig. Ich lächele, um ihm keine Angst zu machen. Er erwidert mein Lächeln. Ich könnte ihm erzählen, dass ich krank bin. Vielleicht würde er mir helfen. Aber das will ich nicht. Er hat schöne Augen. Er redet nicht mit mir, als wenn ich jeden Moment tot umfallen könnte. Er weiß nichts über mich. Da haben wir doch direkt etwas gemeinsam.
»Was ist passiert?« Er sieht aus, als würde er sich amüsieren.
»Ich wollte nur schnell Milch holen«, erzähle ich lächelnd. »Und habe mich ausgesperrt. Ich wohne in einer WG, mit drei anderen Frauen und meinem …« Gerade wollte ich »Kind« sagen, aber das Wort schlucke ich hinunter. Aus zwei Gründen. Erstens, weil ich weiß, dass es Jahre her ist, seit ich mit drei anderen Frauen in einer WG wohnte, und dass ich damals kein Kind hatte. Zweitens, weil ich nicht will, dass er erfährt, dass ich ein Kind habe, ein Kind, das gar kein Kind mehr ist. Caitlin, ich habe Caitlin, und Caitlin ist kein Kind mehr. Nächstes Jahr wird sie einundzwanzig, und meine Vorhänge sind rubinrot und glühen. Ich rufe mir in Erinnerung, dass es mir nicht zusteht zu flirten: Ich bin eine verheiratete Frau – Mutter von sogar zwei Kindern.
»Wie wäre es mit noch einem Kaffee? Geht auf mich.« Er macht der jungen Frau hinterm Tresen Zeichen. Sie lächelt ihn an, als würde sie ihn kennen. Es beruhigt mich, dass die Caféfrau ihn auch mag. Es fällt mir zusehends schwerer, an den Gesichtsausdrücken der Leute etwas abzulesen, ich erkenne jene Nuancen nicht mehr, die einem verraten, was das Gegenüber denkt und fühlt. Vielleicht sieht er mich an, als wäre ich komplett gaga. Und ich finde einfach nur, dass er schöne Augen hat.
»Danke.« Er ist freundlich und redet mit mir wie mit einem Menschen. Natürlich, ich bin ja auch ein Mensch. Aber ich meine, dass er mit mir redet, mit MIR, und das gefällt mir. Mir wird ganz warm ums Herz, ich bin richtig glücklich. Glücklich sein – das vermisse ich. Einfach nur glücklich, ohne dieses Gefühl, dass jeder Moment des Glücks, den ich erlebe, auch gleichzeitig irgendwie traurig sein muss.
»Sie haben sich also ausgesperrt. Werden Ihre Mitbewohnerinnen Sie anrufen, wenn sie zurück sind? Oder Ihnen den Schlüssel bringen?«
Ich zögere. »Gleich kommt jemand nach Hau-se.« Keine Ahnung, ob das gelogen ist. »Ich warte noch ein bisschen und gehe dann zurück.« Das ist gelogen. Ich weiß nicht, wo ich bin und wie ich wieder zurückkommen soll. Und wohin überhaupt.
Er schmunzelt. Ich sehe ihn böse an. »Tut mir leid.« Er lächelt. »Es ist nur … Sie sehen wirklich aus wie ein begossener Pudel, und zwar wie ein sehr hübscher begossener Pudel, wenn ich das sagen darf.«
»Das dürfen Sie gerne. Sagen Sie ruhig mehr solche Sachen!«
Wieder lacht er.
»Ich bin ein Pechvogel«, sage ich und freunde mich sehr schnell mit meinem neuen, nicht kranken Status an. »Schon immer gewesen. Wenn irgendwo irgendwas schiefgehen kann, dann passiert es mir. Ich weiß nicht, warum, aber man könnte meinen, ich sei ein Unglücksmagnet. Unglücksmagnet. Schönes Wort. Hört man nicht so oft.« Ich plappere vor mich hin, ohne wirklich darauf zu achten, was ich da sage, einzig in dem Bewusstsein, dass ich ein Mädchen bin und ge-rade mit einem Jungen spreche.
»Mir geht es ganz ähnlich«, sagt er. »Manchmal frage ich mich, ob ich je erwachsen werde.«
»Ich werd’s nicht«, sage ich. »Das weiß ich ganz sicher.«
»Hier.« Er reicht mir seine Papierserviette. »Sie sehen ein bisschen so aus, als seien Sie der Apokalypse entgangen. Haarscharf.«
»Eine Papierserviette?« Ich nehme sie und lache, tupfe mir damit übers Haar und das Gesicht und wische unter meinen Augen. Schwarzes Zeugs bleibt an der Serviette haften, was heißen muss, dass ich irgendwann heute dieses schwarze Zeug aufgetragen habe, und das beruhigt mich: Schwarzes Zeug auf meinen Wimpern lässt meine Augen schöner aussehen, lässt mich ansprechender erscheinen, selbst wenn ich aussehe wie ein begossener Pudel oder ein Panda. »Na ja, besser als gar nichts.«
»Auf der Toilette gibt es Handtrockner.« Er zeigt auf eine Tür hinter sich. »Da könnten Sie sich doch kurz ein bisschen trocken pusten lassen. Damit Ihnen nicht mehr so kalt ist.«
»Mir ist nicht kalt«, sage ich und klatsche mir wie zur Betonung auf die feuchten Knie. Ich will nicht weg von diesem Tisch, diesem Stuhl, diesem Kaffee. Ich will nirgendwo anders hin. Hier habe ich das Gefühl, fast sicher zu sein, als würde ich mich an einen Fenstersims klammern, und solange ich mich nicht bewege, ist alles gut, und ich stürze nicht ab. Je länger ich hier sitze, ohne darüber nachdenken zu müssen, wo ich bin und wie ich wieder nach Hause komme, desto besser. Ich verdränge die in mir aufsteigende Angst und Panik und konzentriere mich aufs Jetzt. Darauf, glücklich zu sein.
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?« Mit einem Nicken deutet er auf meine Hand, an der zu meiner eigenen Überraschung ein Ring steckt. Er fühlt sich richtig an, als gehöre er zu dem Menschen, der ich bin. Gleichzeitig hat er irgendwie gar nichts mit mir zu tun.
»Der gehörte meinem Vater.« Was ich da sage, sind Worte aus einer fernen Vergangenheit. Von damals, als ich sie gegenüber einem anderen Jungen aussprach. »Nach seinem Tod hat meine Mutter ihn mir gegeben. Ich trage ihn ständig. Eines Tages werde ich ihn dem Mann geben, den ich liebe.«
Schweigen stellt sich ein. Betretenes, glaube ich.
Und wieder fließen Gegenwart und Vergangenheit ineinander, und ich bin komplett verwirrt. So verwirrt, dass für mich in diesem Moment wirklich nur dieser Tisch existiert, dieser freundliche Mensch, seine schönen Augen.
»Darf ich Sie dann ein andermal zu einem Kaffee einladen?«, fragt er vorsichtig. »Wenn Sie trocken sind und sich nicht ausgesperrt haben. Hier oder irgendwo anders?« Vom Tresen holt er ein kurzes, dickes Schreibteil, das kein Kugelschreiber ist, und kritzelt etwas auf meine unbenutzte Papierserviette. »Es hat aufgehört zu regnen. Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
»Nein«, sage ich. »Woher soll ich wissen, dass Sie kein Psychopath sind?«
Er lächelt. »Aber rufen Sie mich an? Damit wir zusammen Kaffee trinken können?«
»Ich werde Sie nicht anrufen.« Ich schlage ei-nen bedauernden Ton an. »Ich habe wahnsinnig viel zu tun. Von daher werde ich es wahrscheinlich vergessen.«
Er sieht mich an und lacht. »Also, falls Sie doch Zeit oder Lust haben, rufen Sie einfach an. Und keine Sorge: Sie kommen bestimmt bald wieder zu Hause rein. Eine Ihrer Mitbewohnerin-nen wird sicher jede Minute hier sein.«
»Ich heiße Claire«, stelle ich mich schnell vor, als er aufsteht. »Das wussten Sie noch nicht.«
»Claire.« Er lächelt mich an. »Sie sehen auch aus wie eine Claire.«
»Was wollen Sie denn damit sagen?«, lache ich. »Und Sie? Wie heißen Sie?« »Ryan. Ich hätte es auf die Serviette schreiben sollen.«
»Wiedersehen, Ryan«, sage ich und weiß, dass ich mich schon bald nicht mehr an ihn erinnern werde. »Danke.«
»Wofür?« Er sieht perplex aus. »Die Serviette!«
Ich halte das Teil hoch.
Schmunzelnd verlässt er das Café und verschwindet in der Dunkelheit. Ich sehe ihm nach. Ich sage immer wieder seinen Namen. Wenn ich ihn oft genug sage, bleibt er vielleicht hängen. Eine Frau am Nachbartisch sieht ihm auch nach. Sie runzelt die Stirn, und das verwirrt mich. Ich frage mich sofort, ob all das gerade wirklich passiert ist – und ob es ein schönes Erlebnis war oder ob irgendwas Schlimmes passiert ist, ich kann das nämlich leider nicht mehr richtig unterscheiden. Draußen ist es dunkel bis auf einen Streifen rosa Himmel, der zwischen den Wolken hervorlugt. Die Sonne geht unter. Die Frau runzelt immer noch die Stirn, und ich klebe an meinem Stuhl fest.
»Claire?«, spricht mich die Frau an. »Ist Ihnen nicht gut? Stimmt etwas nicht?«
Ich sehe sie an. Ihr sanftes, ovales Gesicht, ihr langes, glattes, braunes Haar. Die Runzeln auf ihrer Stirn bedeuten, glaube ich, dass sie sich Sorgen macht. Sie kennt mich wohl.
»Ich weiß nicht genau, wie ich von hier nach Hause komme«, vertraue ich mich ihr an, weil mir einfach nichts Besseres einfällt.
Sie sieht zur Tür und will etwas sagen. Aber dann überlegt sie es sich doch anders und sieht mit immer noch gerunzelter Stirn wieder zu mir. »Sie wissen nicht, wer ich bin, stimmt’s? Macht nichts, ich habe von Ihrem … Problem gehört. Ich bin Leslie. Unsere Töchter sind befreundet. Meine Tochter ist Cassie, die mit den pinken Haaren und dem Nasenpiercing. Und dem unterirdischen Geschmack, wenn es um Männer geht. Vor ungefähr vier Jahren waren unsere Töchter mal unzertrennlich.«
»Ich habe Alzheimer«, sage ich. Da ist es wieder, wie die letzten Sonnenstrahlen, die die Wolken durchdringen. Doch ich bin erleichtert. »Ich vergesse alles Mögliche. Manche Sachen kommen irgendwann wieder. Andere nicht.«
»Ich weiß, Cassie hat es mir erzählt. Sie und Caitlin haben sich vor ein paar Tagen getroffen und mal wieder ausgiebig geratscht. Ich habe Caitys Telefonnummer hier. Würden Sie sie erkennen, wenn sie hereinkäme?«, fragt sie mich.
»Ja, klar! Caitlin. Ganz bestimmt. Ich weiß doch, wie sie aussieht! Dunkle Haare und Augen wie Gezeitentümpel im Mondlicht, schwarz und tief.«
Sie lächelt. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie Schriftstellerin sind.«
»Ich bin keine Schriftstellerin. Aber ich habe ein Schreibzimmer, immerhin. Ich hab’s versucht, das mit dem Schreiben, aber es hat nicht funktioniert, jetzt habe ich also ein leeres Schreibzimmer unterm Dach. Da steht nichts drin außer einem Tisch, einem Stuhl und einer Lampe. Ich war mir damals total sicher, dass die Ideen dort nur so sprudeln würden, aber das Gegenteil war der Fall.« Die Frau runzelt wieder die Stirn, ihre Schultern versteifen sich. Ich rede so viel, dass es ihr offenbar unangenehm wird. »Am meisten Angst habe ich davor, Wörter zu verlieren.«
Ich habe sie wohl überfordert. Ich plappere zu viel. Und weiß gar nicht recht, was ich eigentlich sage. Ich muss nachdenken, bevor ich etwas sage. Abwarten. Zu viel zu reden gehört nicht mehr zu meinen liebenswerten Eigenschaften. Ich presse die Lippen aufeinander.
»Ich bleibe mit Ihnen hier sitzen, ja? Bis sie kommt.«
»Ach …«, will ich protestieren, doch dann knicke ich ein. »Danke.«
Ich höre ihr dabei zu, wie sie Caitlin anruft. Nach der anfänglichen Begrüßung steht sie auf und geht mit dem Telefon hinaus. Ich sehe sie durchs Fenster unter einer Straßenlaterne stehen, die eine Hand am Ohr, die andere frei gestikulierend. Sie nickt, dann legt sie auf und atmet einmal kräftig durch, bevor sie wieder hereinkommt und sich an meinen Tisch setzt.
»Sie kommt gleich«, sagt sie.
Sie wirkt so nett, dass ich mich gar nicht traue, sie zu fragen, von wem sie spricht.
Caitlin
Ich schließe die Haustür auf und trete einen Schritt zurück, um Mum reinzulassen. Den Schlüssel lasse ich flugs in der Hosentasche verschwinden. Mum hat keinen Schlüssel mehr, und das ist ein Punkt, den sie wirklich nicht leiden kann an ihrer neuen Welt. Die Haare hängen ihr in Strähnen herab – der kräftig leuchtende Kastanienton glänzt jetzt in dunklem Rubinrot. Sie ist vollkommen durchnässt und bibbert. Als Gran mir erzählte, dass Mum in die Dunkelheit davonspaziert war, wollte ich sie eigentlich fragen, warum sie sie hatte gehen lassen, warum sie nicht versucht hatte, sie aufzuhalten, aber dazu war keine Zeit. Ich suchte bereits überall nach ihr, als Cassies Mutter mich anrief.
Jetzt sind wir zurück, und ich muss mich Mum zuliebe sehr beherrschen, keinen Wutanfall zu kriegen. Was hätte nicht alles passieren können, wenn ich nicht hier gewesen wäre und sie gesucht hätte? Hätte Gran sich dann auch stur geweigert, Mum aufzuhalten? Hätte sie dann auch etwas beweisen wollen, weil sie immer noch glaubt, dass Mum sich bloß aufspielt und ignoriert werden muss? Eigentlich bin ich nicht mehr lange hier. Eigentlich müsste ich in den nächsten Tagen zurück nach London, um das letzte Jahr meines Studiums anzugehen. Was dann? Was wäre passiert, wenn ich jetzt schon nicht mehr da gewesen wäre? Mum hätte sich da draußen im Regen hoffnungslos verlaufen. Wer weiß, wann sie wieder nach Hause gekommen wäre. Und ob überhaupt.
So gesehen ist es ja vielleicht ganz gut, dass ich nicht nach London zurückkehre. Nicht, dass die anderen es schon wüssten … Vielleicht könnte ich ihnen erzählen, dass ich deshalb nicht zurückgehe – weil Mum mich jetzt braucht.
Und das ist nicht mal gelogen. Immerhin bin ich es, die sie ein paar Tage später von ihrem letzten Arbeitstag als Lehrerin abholt, sicher einem der schlimmsten Momente ihres Lebens. Ich hatte überlegt, im Auto auf sie zu warten, aber dann wurde mir klar, dass ich dann womöglich den ganzen Tag dort sitzen würde. Mum hat kaum noch Zeitgefühl. Stunden sind für sie wie Sekunden und umgekehrt. Ich habe keine Lust, die Sicherheit ihres konfiszierten, kirschroten Fiat Panda zu verlassen und mich durch den aufs Autodach trommelnden Regen in die Schule zu kämpfen, aber ich muss. Und auf dem Heimweg, bevor wir wieder zu Hause bei Gran und Esther sind, muss ich ihr endlich erzählen, was ich getan habe. Die Zeit wird knapp.
Die Schulsekretärin, Linda, habe ich schon ein paarmal gesehen, aber ich kenne sie vor allem aus Mums lebhaften und lustigen Schilderungen ihres Schulalltags. Der kugelsichere Glaskasten, in dem sie sitzt, lässt die Schule aussehen, als läge sie mitten in Los Angeles und nicht im beschaulichen Guildford.
»Hi, Linda!« Völlig übertrieben strahle ich sie an. Ich finde, das ist die einzige Möglichkeit, diese Art von Gesprächen durchzustehen. Diese Mitleidsgespräche, in denen immer so ein leiser, fröhlicher Unterton mitschwingt.
»Hallo, Caitlin, mein Herz.« Lindas Mundwinkel wandern automatisch nach unten, ihr Ton ist so traurig.
Als Mum die Diagnose bekam, wollte sie, dass es alle sofort erfuhren. Sie hatte wie bisher mit allem weitermachen wollen, solange es ging, und alle – selbst ihr Arzt, Mr Rajapaske – fanden das vollkommen in Ordnung. »Sie sind eine kluge Frau, Ms Armstrong«, sagte er. »Untersuchungen haben gezeigt, dass hohe Intelligenz den Fortschritt der Krankheit oft verzögert, weil intelligente Patienten Wege finden, ihre Defizite zu kompensieren und Strategien zu entwickeln. Sie sollten Ihren Arbeitgeber über Ihren Zustand informieren, aber wenn die Medikamente die gewünschte Wirkung zeigen, dann besteht eigentlich kein Grund für Sie, Ihr Leben jetzt schon komplett umzukrempeln.«
Das hatte uns alle enorm beruhigt. Wir waren unendlich dankbar für diese Atempause, die uns Zeit gab, irgendwie zu kapieren, was mit Mum und uns passierte. Und dann fuhr Mum mit ihrem niedlichen kleinen Fiat Panda – ihrem ersten eigenen Auto – einen Briefkasten über den Haufen. Doch damit nicht genug: Sie fuhr den Briefkasten direkt vor der Schule über den Haufen. Wäre es morgens passiert, hätte sie gut und gerne auch ein Kind überfahren können. Der Grund für diesen Zwischenfall war nicht gewesen, dass Mum sich nicht mehr konzentriert hatte. Überhaupt nicht. Sie hatte sich sogar sehr konzentriert, als es passierte. Nämlich auf die Frage, wofür das Lenkrad wohl da war.
»Hallo, mein Herz«, wiederholt Linda in einem weinerlichen Singsang. »Na, willst du deine arme Mutter abholen?«
»Ja.« Ich schenke ihr ein strahlendes Lächeln, weil ich weiß, dass Linda nur nett sein will und sie nichts dafürkann, dass ich in diesem Moment am liebsten die Tür zu ihrem Panzerglaskasten durchbrechen und ihr ihre Tasse Tee über den Kopf gießen würde. »Wie ist es gelaufen? Wissen Sie schon was?«
»Ach, ganz wunderbar. Die ganze Schule hat sich versammelt und etwas über Alzheimer ge-lernt. Die siebten Klassen haben das Pflegeheim in Hightrees besucht und sich mit den Patienten unterhalten. Alles im Geden…, ich meine, zu Ehren deiner Mutter.«
»Schön«, sage ich, dann kommt sie mit dem riesigen, klirrenden Schlüsselbund aus ihrem Kasten und geht mir voran ins Allerheiligste der Albury Gesamtschule, dieser Schule, die für mich und viele andere Menschen Mums Schule ist – vor allem, seit sie zur Fachbereichsleiterin Englisch befördert wurde. Mum hat diese Schule zu dem gemacht, was sie heute ist.
»Es gab einen speziellen Tee und Kuchen – du weißt ja, wie sehr deine Mutter Kuchen liebt. Und ich fand, sie sah richtig glücklich aus. Gelächelt hat sie. Und alles ganz genau beobachtet.«
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu sa-gen, was für eine blöde Kuh sie ist, und dass meine Mutter immer noch meine Mutter ist und kein hirntoter Spasti. Dass die Diagnose nicht heißt, dass Mum kein vollwertiger Mensch mehr ist. All das würde ich ihr am liebsten sagen, aber ich lasse es bleiben, weil ich nicht glaube, dass Mum es gut fände, wenn ich an ihrem letzten Arbeitstag die Schulsekretärin beleidige. Obwohl, nein, das nehme ich zurück: Ich glaube, Mum fände das sogar ziemlich klasse. Trotzdem beiße ich mir auf die Zunge. Wenn Mum etwas klasse findet, ist das allein manchmal schon ein guter Grund, etwas nicht zu tun.
»Eigentlich hat sie sich im letzten halben Jahr nicht großartig verändert«, gebe ich vorsichtig zu bedenken, während ich Linda und dem an ihrer Hüfte baumelnden Schlüsselbund folge. »Im ganzen letzten Jahr eigentlich nicht. Mum ist immer noch Mum. Derselbe Mensch wie vorher.« Am liebsten würde ich noch hinzufügen, dass sie immer noch dieselbe Frau ist, die Linda davon abhielt, die Polizei zu rufen, als die Mutter vom ewigen Mobbingopfer Danny Harvey in der Schule aufkreuzte, um sich die Mobber höchstpersönlich vorzuknöpfen.
Meine Mutter war im Lehrerzimmer gewesen und hatte das Geschrei gehört. Sie ging hinaus, um mit Mrs Harvey zu reden, nahm sie mit ins Lehrerzimmer und brachte ihr schonend bei, dass es einem Zwölfjährigen hochnotpeinlich wäre, wenn seine Mutter sich in seine Angelegenheiten einmischte und seine Mobber verprügelte. Mum hatte sich dann um die Angelegenheit gekümmert, obwohl sie Danny überhaupt nicht unterrichtete. Innerhalb einer Woche war die Sache geregelt. Mrs Harvey nominierte Mum für die Wahl zum »Lehrer des Jahres«, die Mum prompt gewann. Sie ist noch keine leere Hülle. Mum kämpft immer noch, nur dieses Mal leider auf verlorenem Posten.
Linda öffnet die Tür zum Lehrerzimmer, wo Mum mit ihrer besten Kollegenfreundin Julia Lewis sitzt. Bevor Mum Greg kennenlernte, war Julia ihre Aufrisshilfe gewesen – so nannte sie das. Ich versuchte in der Regel so zu tun, als wüsste ich nicht, was die beiden trieben, wenn sie ausgingen. Und als Mum dann mit Greg zu-sammenkam, war ich zumindest insofern erleichtert, als ich mir keine Gedanken mehr über das mysteriöse Sexleben meiner Mutter zu machen brauchte. Nicht, dass ich niemals gesehen hätte, wie sie sich in Schale schmiss, um auszugehen, aber wie sie Cocktails schlürfte, flirtete und so weiter, das wusste ich nicht. Außerdem hat sie nie irgendwelche Kerle mit nach Hause gebracht. Nie. Greg war der erste. Er war der erste, den ich kennenlernen sollte, und ich hatte überhaupt keinen Bock, ihn kennenzulernen, damals, vor fünf Jahren, als Mum ihn zu uns nach Hause zum Abendessen eingeladen hatte. Sie war extra einkaufen gewesen, um alles zu besorgen, was man für eine Paella braucht. Im Ernst. Sie hatte das kurz vorher in irgendeiner Kochsendung gesehen und schaffte sich jetzt extra eine spezielle Pfanne an und Safran und diese Garnelen mit Beinen und Köpfen, die ich so widerlich finde. Den ganzen Tag stand sie in der Küche und bereitete vor, ohne ihren Handwerker mal gefragt zu haben, ob er überhaupt Meeresfrüchte isst. Ich war mir ziemlich sicher, dass er so was nicht aß. Meiner Meinung nach war er mehr so der Typ, der auf Bacon-Sandwiches und Käse stand. Und ich hatte recht – also, zumindest was das mit den Meeresfrüchten anging. Greg hat nämlich eine ziemlich heftige Meeresfrüchteallergie. Aber es dauerte Stunden, bis er endlich etwas sagte. Er saß einfach nur da, starrte die Garnelen an, die wiederum ihn anstarrten, und überlegte ernsthaft, einen anaphylaktischen Schock zu riskieren, nur um meiner Mutter gegenüber nicht unhöflich und mir gegenüber nicht uncool zu sein. Ich fragte ihn ganz direkt und flegelhaft, ob er ein Problem hätte mit dem Essen, das meine Mutter gemacht hatte. Da wurde er knallrot und gestand, er könnte sterben, wenn er davon äße. Mum war das total unangenehm. Sie beförderte die Pfanne tutto completto in die Mülltonne, als könne schon ein Blick aus den schwarzen Garnelenknopfäuglein die Allergie auslösen. Was ich in dem Moment ziemlich scheiße fand, weil ich gerade beschlossen hatte, Paella zu mögen.
Mum hat dann Chinesisch bestellt, und ich be-schloss, Chinesisch nicht zu mögen. Ich schob den gebratenen Reis auf meinem Teller herum und machte ziemlich deutlich, dass mir die Garnelen fehlten. Greg sagte immer wieder, wie leid ihm das alles täte, und ich ignorierte ihn konsequent. Als er dann mal aufs Klo ging, zeigte Mum mit dem Finger auf mich und sagte: »Dir ist schon klar, dass du die Rolle der restlos verzo-genen Göre meisterhaft spielst?«
Ich zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Irgendjemand muss dich ja beschützen, und leider bin ich nun mal die Einzige, die hier ist. Wieso muss ich ihn überhaupt kennenlernen? Ich musste doch bisher keinen von deinen Männern kennenlernen.«
Das sagte ich natürlich genau in dem Moment, in dem Greg zurückkam, und ich sagte es in ei-nem Ton, als sei er bloß die jüngste Eroberung nach vielen, vielen anderen. War ja klar. Aber Greg wurde nicht rot und geriet nicht aus dem Konzept und gar nichts.
»Ich habe deine Mutter darum gebeten«, sagte er. »Ich möchte nämlich ein Teil des Lebens dei-ner Mutter sein, und das heißt dann auch ein Teil deines Lebens. Kann ja sein, dass du mich nicht magst, aber deine Mutter mag mich. Und ich würde mich freuen, jetzt dieses wirklich witzige, kluge Mädchen kennenzulernen, als das deine Mutter dich immer beschreibt. Und wenn wir uns dann noch darauf einigen könnten, es zusammen im selben Raum auszuhalten, wäre das klasse. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn wir uns sogar gut verstehen, aber nur zu deiner Info: Wenn nicht, ist das für mich kein Grund, Claire aufzugeben.«
Da habe ich dann aufgehört, das bockige, verzogene Gör zu spielen. War mir dann doch zu doof. Und außerdem konnte ich ja sehen, dass er und Mum es wirklich ernst miteinander meinten.
Als ich jetzt das Lehrerzimmer betrete, hält Mum einen großen Strauß Supermarktblumen im Arm. »Guck mal!« Fröhlich winkt sie mit den Blumen. »Duftdinger! Sind die nicht schön?«
Ich frage mich, ob es ihr selbst auffällt, dass sie das Wort »Blumen« vergessen hat, sage aber nichts. Gran korrigiert sie in solchen Augenbli-cken immer, und so wie ich das sehe, wird Mum dann immer wütend. Also lasse ich das mit dem Korrigieren.
»Wunderschön.« Ich sehe zu Julia, die mit einem extrem breiten Lächeln darum bemüht ist, die Stimmung möglichst unbeschwert zu halten.
»Ist Ewigkeiten her, seit ein Mann mir zuletzt so was geschenkt hat.« Mum vergräbt das Gesicht in den Blüten. »Julia, wir müssen dringend mal wieder auf die Piste, ein paar scharfe Typen aufreißen.«
»Du hast doch deinen ganz eigenen scharfen Typen«, erwidert Julia. »Du bist mit dem schärfsten Typen in ganz Surrey verheiratet, meine Liebe!«
»Ich weiß«, sagt Mum in die Blumen. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob sie es wirklich weiß. Bis vor Kurzem hat Greg sie so glücklich ge-macht, dass sie jedes Mal strahlte wie die chine-sischen Glückslaternen, die ihre Hochzeitsgäste auf Himmelsreise schickten. Damals strahlte sie so richtig von innen heraus und schwebte über allem. Und jetzt sind Greg, ihre Liebe zueinander, ihr gemeinsames Glück, ihre Ehe Dinge, die kommen und gehen. Und vermutlich wird auch all das eines Tages ganz weg sein.
»Gut. Wollen wir?« Ich nicke Richtung Tür. Eigentlich besteht kein Grund, sofort zu gehen. Aber ich merke, dass ich es kaum aushalte, den Abschied von diesem Beruf, den meine Mutter so geliebt hat, unnötig in die Länge zu ziehen. Wenn sie heute die Schule verlässt, lässt sie einen Teil von sich zurück. Etwas, das sie als Mensch ausgemacht hat. Und je länger sie jetzt bleibt, desto schlimmer wird es.
Heute, morgen oder übermorgen wird Greg oder Gran oder vielleicht sogar Mum auffallen, dass ich doch eigentlich längst wieder an der Uni sein müsste. Dann wird alles herauskommen. Jeder wird seine Meinung dazu haben und sich dazu äußern. Aber genau das will ich nicht. Ich will nicht, dass alle Fehler, die ich gemacht und so wunderbar vertuscht habe, dass all meine kleinen und größeren Geheimnisse plötzlich und alle auf einmal ans Licht kommen. Dann wäre der Schlamassel, in den ich mich manövriert habe, genauso plötzlich ganz real, und dazu bin ich noch nicht bereit. Ich weiß, das klingt schrecklich, aber ganz ehrlich: Als Mum ihre Diagnose bekam, kurz nachdem ich für die Sommersemesterferien nach Hause gekommen war, war ich erleichtert. Erleichtert, einen Grund zu haben, niemandem zu erzählen, wie gründlich ich mir mein Leben versaut habe. Und das ist genau der Punkt, der mich selber völlig fertigmacht. Ich meine, ich werde bald einundzwanzig, aber ich bin immer noch so doof, so unreif und so egoistisch, dass ich der Nachricht, dass meine Mutter an frühmanifester Alzheimerdemenz leidet, etwas Positives abgewinnen kann. So bin ich, so ein Mensch bin ich, und ich weiß einfach nicht, wie ich ein besserer Mensch werden kann. Auf einmal muss ich ganz schnell erwachsen werden und entscheiden, was zu tun ist. Aber ich will nicht. Ich will mich mit einem Buch unter meiner Bettdecke verkriechen, wie ich es noch bis vor Kurzem immer gemacht habe.
»Bist du so weit, Mum?«
Mum rührt sich nicht. Sie sitzt in dem klobigen, braunen, grottenhässlichen Schulsessel, und auf einmal füllen sich ihre Augen mit Tränen. Ich spüre, wie die Kraft aus meinen Beinen weicht, setze mich neben sie und lege den Arm um sie.
»Ich liebe meine Arbeit«, sagt sie. »Ich bin so gerne Lehrerin, und ich bin eine gute Lehrerin. Ich schaffe es, bei den Schülern Interesse zu wecken, echtes Interesse für Shakespeare und Austen und … Das ist meine Berufung. Ich will nicht aufhören. Ich will hier nicht weg.« Sie wen-det sich an Julia. »Sie können mich doch nicht zwingen, oder? Gibt es denn gar nichts, was wir tun können? Das sind doch alles nur Vorurteile gegenüber Alzheimer.« Vor lauter Empörung und womöglich Panik spricht sie immer lauter. »Gibt es nicht irgendein Gericht, vor das wir ziehen können, um meine Menschenrechte durchzusetzen? Sie können mich doch nicht zwingen aufzuhören, Julia! Das geht doch nicht!«
Julia lächelt, als wäre alles in bester Ordnung, geht vor ihrer Freundin in die Hocke und legt ihr die Hände auf die Schultern, um sie zu erden. Dabei grinst sie wie immer. Als wenn das alles nur ein Scherz wäre. Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Das geht in letzter Zeit immer ratzfatz.
»Süße …« Sie sieht Mum direkt in die Augen. »Du bist die beste Lehrerin, Trinkerin, Tänzerin und Freundin, die es je gegeben hat. Und so doof die Regel auch sein mag, dass Lehrer keine Briefkästen direkt vor ihren Schulen umnieten dürfen, sie gilt nun mal. Aber jetzt wein bitte nicht, ja? Kopf hoch. Geh hier raus, als würde dich das überhaupt nicht jucken. Als würdest du deine Freiheit genießen.« Julia drückt Mum einen Kuss auf den Mund. »Na los, jetzt geh schon. Geh und sei frei. Für mich. Und sei weiter der großartige Mensch, der du schon immer gewesen bist. Sei dieser großartige Mensch, und schick diesen Haufen undankbarer Wichser zur Hölle. Denn weißt du was, Süße? Jetzt kannst du das Leben so richtig genießen. Du kannst tun und lassen, was du willst, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.«
»Ich will aber nicht gehen.« Mum steht auf und drückt sich die Blumen so fest an die Brust, dass einige Blütenblätter herunterfallen.
»Überleg doch mal. Das ewige Korrigieren. Die Verwaltung. Die Affäre zwischen Jessica Stains und Tony James, die unbedingt geheim gehalten werden muss, obwohl wir alle wissen, dass sie sich immer heimlich im Materialraum treffen. Und dann die Politik, diese Scheißregierung, die wirklich alles dafür tut, um unsere wunderbare Schule mit beschissenen neuen Regeln kaputt zu machen. Denk dran: All das wirst du los, wenn du jetzt gehst. Du wirst frei. Und ich möchte dich bitten, dich so durchgeknallt und abenteuerlustig wie nur möglich aufzuführen. Mir zuliebe.«
»Okay.« Mum nimmt Julia in den Arm. »Obwohl meine Abenteuerlust sich innerhalb eines ziemlich kleinen Radius abspielen wird. Schließlich darf ich nicht mehr Auto fahren.«
»Wunderbar.« Julia drückt Mum ebenfalls an sich. »Ich ruf dich in ein paar Tagen an, dann verabreden wir uns und machen abends mal wieder die Stadt unsicher. Okay?« »Okay.« Mum dreht sich um und betrachtet ein letztes Mal das Lehrerzimmer. »Tschüss, Leben.«
Wir gehen zum Auto, und ich ertappe mich dabei, wie ich fast schon so tue, als ob es nicht da sei, nur damit Mum nicht bemerkt, dass ich ihr geliebtes rotes Auto mit neuem Kotflügel fahre. Sie bleibt an der Beifahrertür stehen, während ich auf den Fahrersitz klettere und den Schlüssel ins Zündschloss stecke. Ich warte, dass sie die Tür öffnet. Irgendwann lehne ich mich hinüber und mache sie ihr auf. Sie lässt sich auf den Sitz gleiten und schnallt sich an. Heute Morgen hatte ich das für sie machen müssen. Das war also etwas, das nur vorübergehend weg war. Ein kleiner Sieg.
»Na? Und? Morgen geht’s wieder zurück zum Ernst des Lebens, ja?« Völlig unvermittelt lächelt Mum mich an und ist mit einem Mal wieder voll da. »Hast du schon gepackt? Du hast dieses Mal ja gar nicht so große Wäscheberge produziert wie sonst. Jetzt erzähl bloß nicht, dass du inzwi-schen selber wäschst! Nein, warte! Ich wette, Gran hat das für dich gemacht! Stimmt’s oder hab ich recht? Das Problem mit Gran ist, dass sie jetzt ganz brav deine Wäsche wäscht – aber dass du später dafür bezahlen wirst. Und zwar über Jahre.«
Mum lacht, und ich halte die Luft an. Sie ist wieder da. Sie ist hier. Mum. Hundertprozent Mum. In diesen Augenblicken wird mir immer besonders schmerzhaft bewusst, wie sehr sie mir fehlt, wenn sie weg ist.
»Morgen geht es zurück in die Welt der Hoffnungen, der Träume und der Zukunft, Caitlin«, plappert sie fröhlich weiter und hat dabei den Abschied von der Schule völlig vergessen. »In ein paar Monaten hast du deinen Abschluss. Stell dir vor! Ich kann es kaum erwarten, dich mit Hut und Robe zu sehen! Ich verspreche dir, so lange noch einigermaßen bei Verstand zu bleiben und dich an deinem großen Tag nicht für Batman und mich für Catwoman zu halten. Obwohl mir die Vorstellung, zu deiner Abschlussfeier einen Catsuit zu tragen, ziemlich gut gefällt.«
Ich lächele. Wie soll ich es ihr bloß beibringen? Ich hefte den Blick fest auf die Straße und konzentriere mich auf den Verkehr, die Fußgänger, die Radarfalle.
»Ethan Grave hat geweint«, erzählt Mum un-vermittelt. Ihre Miene verdunkelt sich wieder beim Gedanken an ihren letzten Arbeitstag. »Die Mädchen aus meiner Klasse haben mir eine Karte gebastelt. Oh …« Sie dreht sich nach hinten um. »Ich habe die Karte liegen lassen.«
»Ich ruf Julia an, dass sie sie mitnimmt.«
»Die Mädchen hatten mir eine Karte gebastelt und einen kleinen Tanz aufgeführt. Mädchenhafter ging’s echt nicht. Als hätten sie ein Musical geschrieben, Titel: Wir werden Sie vermissen, Miss. Und ich fand’s großartig. Gott sei Dank hatten sie kein Lied à la »Alzheimer ist echt nicht witzig« oder so gedichtet. Aber egal. Dann kam Ethan Grave auf mich zu, wollte sich wohl verabschieden und fing einfach an zu weinen. Vor allen anderen. Einfach so. Der Ärmste, dafür wird er nächste Woche von den anderen Jungs eine Abreibung bekommen. Bis dahin bin ich längst vergessen, und alles glotzt nur auf den üppigen Vorbau der Vertretungslehrerin.«
»Das glaube ich nicht, dass er eine Abreibung bekommt. Die Kinder lieben dich. Alle. Auch die, die immer so getan haben, als wenn sie dich nicht ausstehen könnten.«
»Glaubst du, sie werden sich an mich erin-nern?«, fragt Mum. »Wenn sie mal erwachsen sind? Glaubst du, sie wissen dann noch, wie ich hieß?«
»Klar!« Zwei Straßen noch, dann sind wir zu Hause.
»Aber Esther wird sich nicht an mich erinnern, oder?« Das kommt so unvermittelt, dass ich fast in die Eisen steige. Als glaubte mein Körper, es käme gleich zu einem Zusammenprall.
»Doch. Natürlich«, sage ich.
Mum schüttelt den Kopf. »Ich kann mich nicht an die Zeit erinnern, als ich drei war. Du?«
Ich denke kurz nach. Ich kann mich an Sonnenschein erinnern, daran, dass ich in dem Buggy saß, für den ich bereits viel zu groß war, und ein Brötchen aß. Da war ich vielleicht drei. Oder zwei. Oder fünf. Keine Ahnung. »Ja«, antworte ich. »Ich kann mich noch an alles erinnern. Ich kann mich an dich erinnern.«
»Esther wird sich nicht erinnern. Höchstens bruchstückhaft. Aber sie wird sich nicht wirklich an mich erinnern, an den Menschen, der ich war, und daran, wie sehr ich sie geliebt habe. Das musst du ihr erzählen, Caitlin. Bitte. Überlass es nicht Gran, Esther von mir zu erzählen. Das würde nicht reichen. Gran hält mich für lebensuntüchtig und doof. Hat sie schon immer getan. Du musst Esther erzählen, dass ich lustig war, klug und schön und dass ich sie und dich mehr geliebt habe als … Sag ihr das bitte, ja?«
»Sie wird sich an dich erinnern. Dich vergisst man so schnell nicht, selbst wenn man es wollte. Abgesehen davon stirbst du ja nicht morgen. Dir bleiben noch Jahre mit Esther.« Ich sage das, obwohl wir beide genau wissen, dass das eher unwahrscheinlich ist. Dann sehe zu ihr hinüber. Ich muss es ihr jetzt sagen.
»Mum? Ich muss dir was erzählen.«
»Du kannst meine Schuhe haben. Alle. Aber vor allem die roten mit den hohen Absätzen, die dir immer so gut gefallen haben. Und ich will, dass du dich mit deinem Vater triffst.«
Dieses Mal steige ich dann doch in die Eisen. Wir sind nur noch wenige Minuten von zu Hause entfernt, aber ich fahre einfach links ran und schalte den Motor ab. Ich warte kurz, bis mein Herz nicht mehr rast und ich nicht mehr hyperventiliere.
»Was soll das denn jetzt bitte?« Völlig unerwartet rauscht Wut durch meinen Körper wie Adrenalin. »Warum sollte ich?«
Mum sieht sehr wohl, dass ich sauer bin, geht aber nicht darauf ein. Sie bleibt ganz ruhig sitzen, die Hände im Schoß gefaltet. »Weil ich bald nicht mehr da bin. Und du brauchst …«
»Bullshit«, falle ich ihr ins Wort. »Ich brauche keinen Ersatz für dich, Mum. Und abgesehen davon: So funktioniert das nicht. Schließlich hat er mich nie gewollt. Ich war ein Versehen, ein Fehler, mit dem er nicht umgehen konnte, den er ungeschehen machen wollte. Stimmt doch, oder? Sag schon!«
»Die haben übrigens mal Gran gehört, die roten Schuhe. Das war, bevor sie mit dem LSD aufhörte und beschloss, eine zickige Alte zu werden.«
»Mum!« Unwillkürlich haue ich mit beiden Händen aufs Lenkrad. Sie weiß, dass ich nichts über ihn hören will, sie weiß, dass der Gedanke an ihn, an diesen Menschen, der in meinem Le-ben nie eine Rolle gespielt hat, mich komplett auf die Palme bringt. Dass es das tut, ärgert mich nur noch mehr, weil es zeigt, dass ich für diesen Mann, der mich nicht wollte, trotzdem irgendet-was empfinde. »Hör auf. Sag mir nicht, dass ich ihn kennenlernen soll. Hör auf damit.«
»Caitlin. Du und ich, wir waren uns immer so nah, solange wir zu zweit waren. Oder zu dritt, wenn wir Gran mitrechnen. Und ich habe immer gedacht, das wäre genug, und das würde ich auch immer noch finden, wenn ich nicht …«
»Nein!«, beharre ich, die Augen wieder randvoll mit Tränen. »Nein. Jetzt tu nicht so, als würde deine Krankheit alles ändern!«
»Aber sie ändert nun mal alles. Denn erst durch die Krankheit habe ich erkannt, dass es ein Fehler war zu glauben, du könntest ganz und gar ohne deinen Vater leben, ohne zu wissen, wer er überhaupt ist und was er macht und … Caitlin, ich muss dir etwas sagen. Etwas, das dir ganz und gar nicht gefallen wird.«
Mum verstummt. Aber nicht, um nachzudenken oder Luft zu holen. Sie hört einfach auf zu reden. Nach einer Weile begreife ich, dass das, was sie mir sagen wollte, in den Abgrund gestürzt ist. Es ist weg. Mum sitzt still da und hat keine Ahnung von der Wut, der Angst und der Verwirrung, die in mir toben. Sie lächelt selig und wartet darauf, dass irgendetwas passiert. Und dann kann ich mich nicht mehr beherrschen. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich beuge mich vornüber und lehne den Kopf ans Lenkrad, während meine Hände es gleichzeitig mit aller Kraft umklammern. Ich zittere am ganzen Körper und höre mich immer wieder sagen: »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Ich habe keine Ahnung, wann mein Schluchzen ein Ende haben wird und ich wieder in der Lage sein werde, den Motor anzulassen. Mir kommt es vor, als müssten wir für immer so hier sitzen bleiben. Dann höre ich, wie Mum ihren Gurt löst, und spüre, wie sie die Arme um mich schlingt.
»Ist ja gut«, gurrt sie mir ins Ohr. »Mein tapferes, großes Mädchen. Da hast du dich ganz schön erschrocken, was? Aber morgen ist alles wieder gut. Dann ist nur noch ein blauer Fleck übrig, auf den du stolz sein kannst. Mein tapfe-res, großes Mädchen. Ich liebe dich, mein Schatz.«
Ich schmiege mich in ihre Arme und lasse mich von ihr trösten, denn ganz gleich, welchen Tag unseres früheren Lebens sie da gerade wieder durchlebt: Ich wünschte, ich wäre auch da. Da, wo nach einem Kuss und einer Umarmung alles wieder gut war.
Als wir zu Hause angekommen sind und ich Mum die Haustür öffne, fällt mir auf, dass ich ihr immer noch nicht mein Geheimnis erzählt habe. Und dass auch sie irgendetwas Wichtiges hatte sagen wollen.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe: 2014 Piper Verlag GmbH, München
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Autoren-Porträt von Rowan Coleman
Rowan Coleman lebt mit ihrer Familie in Hertfordshire. Wenn sie nicht gerade ihren fünf Kindern hinterherjagt, darunter lebhafte Zwillinge, verbringt sie ihre Zeit am liebsten schlafend, sitzend oder mit dem Schreiben von Romanen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rowan Coleman
- 2014, 416 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Heimburger, Marieke
- Übersetzer: Marieke Heimburger
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492060013
- ISBN-13: 9783492060011
- Erscheinungsdatum: 11.08.2014
Rezension zu „Einfach unvergesslich “
"Eine ganz besondere Tragikomödie über Kraft und Macht wahrer Liebe.", Dolomiten Tagblatt der Südtiroler, 10.03.2016
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