Eisenvogel
Drei Frauen aus Tibet. Die Geschichte meiner Familie
Sie hatten nur den einen, schlichten Wunsch: ein Leben im Einklang mit der Natur und der Tradition des Landes zu führen. Doch es war ihnen nicht vergönnt.
Von den 20er Jahren bis heute: Fast ein ganzes Jahrhundert umspannt die Geschichte...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Eisenvogel “
Sie hatten nur den einen, schlichten Wunsch: ein Leben im Einklang mit der Natur und der Tradition des Landes zu führen. Doch es war ihnen nicht vergönnt.
Von den 20er Jahren bis heute: Fast ein ganzes Jahrhundert umspannt die Geschichte dieser drei Frauen, die zugleich die Geschichte Tibets ist. Machtpolitik und Gewalt haben die Nonne Kunsang aus der klösterlichen Abgeschiedenheit in der kargen Berg welt Tibets vertrieben - heute kämpft ihre Enkelin Yangzom für die Heimat ihrer Mutter und Großmutter.
"Diese Familiengeschichte ist so bewegend, dass sie uns Kummer vergessen machen kann."
BRIGITTE
Klappentext zu „Eisenvogel “
Sie hatten nur den einen, schlichten Wunsch: ein Leben im Einklang mit der Natur und der Tradition des Landes zu führen. Doch es war ihnen nicht vergönnt ...Von den 20er Jahren bis heute: Fast ein ganzes Jahrhundert umspannt die Geschichte dieser drei Frauen, die zugleich die Geschichte Tibets ist. Machtpolitik und Gewalt haben die Nonne Kunsang aus der klösterlichen Abgeschiedenheit in der kargen Berg welt Tibets vertrieben - heute kämpft ihre Enkelin Yangzom für die Heimat ihrer Mutter und Großmutter.
Ausstattung: 16 seitiger Farbteil
Lese-Probe zu „Eisenvogel “
Eisenvogel von Yangzom Brauen Prolog
Am Ziel
Es ist später Herbst. Der Wind pfeift und rattert über verdorrte Wiesen und Felder. Sobald ich aus dem Schatten des Hauses trete, drückt mich diese himmlische Kraft so stark zur Seite, dass ich mich dagegenstemmen muss wie gegen jemanden, der mich wegschieben will. Mola kann nur breitbeinig gehen, sonst würde sie umfallen. Der Wind fährt in ihr bodenlanges rotes Kleid wie in ein Segel, und sie muss aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mola bedeutet »Großmutter« auf Tibetisch. Meine Mola ist eine neunundachtzigjährige buddhistische Nonne, die, wie es sich gehört, ihr schlohweißes Haar kurz geschoren hat und keine anderen Farben außer Rot, Orange und Gelb trägt. Mola will um das Haus herumgehen und kora machen, wie sie das jeden Tag tut. Kora nennen wir Tibeter den in Gebeten versunkenen Rundweg um etwas Heiliges, eine Art Pilgerschaft, die viele Hundert Kilometer, aber auch nur ein paar Hundert Meter lang sein kann.
Hier gibt es kein buddhistisches Heiligtum, denn wir sind auf der griechischen Insel Paros versammelt, meine gesamte Familie und ich. Mola hat ihre eigenen Kultgegenstände mitgebracht, ein Foto vom Dalai Lama, ein Bildchen von ihrem Guru Dudjom Rinpoche und ein kleines, in einen Goldrahmen gefasstes Bild Buddhas. Sie hat die beiden in einer Mauernische im Wohnzimmer des uralten Bauernhofs aufgestellt, in dem wir unsere Ferien verbringen, gleich gegenüber von ihrem Bett. Davor hat sie ein paar Räucherstäbchen gelegt, und fertig war ihr kleiner Reisealtar. Für sie ist der das Heiligste auf der ganzen Insel, und darum wollte sie um ihren Altar kora machen, einmal im Uhrzeigersinn um das Haus und den Garten herum, aber der Wind ist so stark, dass sie ihren Gang auf später verschieben muss.
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Wie meine Eltern und mein Bruder auch ist meine Mola nur für einen kurzen Urlaub nach Paros gekommen, denn eigentlich lebt sie in Bern, im alten Schweizer Haus meiner Familie. Dort hat sie ihren großen Altar stehen, alle ihre Kostbarkeiten, dort verrichtet sie ihre täglichen Gebete, dort reicht sie ihre Opfer dar, denn eine tibetische Nonne hat ein umfangreiches tägliches Programm zu absolvieren.
Das Leben hat meine Familie in alle Windrichtungen verstreut: Bern, Zürich, Los Angeles, New York, Berlin. Eigentlich müssten wir alle in Pang leben, einem abgelegenen Bergdorf im Südosten Tibets. Dort, wo meine Großeltern Mönch und Nonne in einem Kloster waren, aus dem sie im Winter 1959/1960 flüchten mussten vor den chinesischen Soldaten, die Kloster für Kloster systematisch dem Erdboden gleichmachten. Noch heute ächzt Tibet, das Land meiner Mutter und meiner Großmutter, das Land, aus dem sie vor fünfzig Jahren geflohen sind, mein Land, unter der chinesischen Besatzung. Ohne diese Flucht wären wir nicht auf Paros, ohne diese Flucht würden wir nicht in diesen Sonnenuntergang sehen.
Der rote Ball ist fast schon versunken, als Mola zu singen beginnt. Als Kinder hörten mein Bruder und ich oft ihre alten Lieder, aber nun hatten wir Mola schon lange nicht mehr singen gehört. Mit dieser Stimme, die schon ein wenig brüchig klingt, aber doch klar ist und mild und uns etwas erzählt von einer lange versunkenen, weit entfernten Welt. Mit dieser Stimme, die uns von Tibet erzählt. Mola singt, wie sie als junges Mädchen sang, als sie als Einsiedlerin unter anderen Nonnen in einer Laubhütte hoch oben in den tibetischen Bergen lebte. Damals meditierte sie zu den ersten Lichtstrahlen des Tages.
Nun meditiert Mola zu den letzten Strahlen des Tages, gegen Ende ihres langen Lebens. Sie tut das ohne Schmerz, ohne Wehmut und ohne Trauer. Sie ist ganz da, ganz bei uns. Sie weiß, dass sie eines Tages in vielleicht nicht so ferner Zukunft gehen wird, doch das macht ihr keine Angst. Sie ist ruhig und gelassen, sie hält nichts Irdisches fest.
Wir sehen der Sonne nach, wie sie hinter den Bergen versinkt und uns in einer dunkler und dunkler werdenden Landschaft aus Stein und Himmel zurücklässt. Fast sieht es hier wie in Tibet aus, und darum gefällt es meiner Familie hier auch so gut. Als das letzte Leuchten verlischt, verstummt auch Mola. Ich muss schlucken. Mir ist, als wären wir am Ziel einer weiten Reise. Einer Reise, von der ich jetzt erzählen möchte.
Gefangen
Aus Angst vor chinesischen Posten marschierten die Flüchtlinge immer nachts durch die Eiseskälte. Nur die Sterne leuchteten ihnen den Weg und erst kurz vor dem Morgengrauen der neue Mond. Schwarz standen die Bergriesen vor einem dunklen Himmel, nur hie und da waren Schneeflecken zu erahnen, Felswände und Wolkenfetzen. Selbst ihren Landsleuten, den Tibetern aus Kongpo im Südosten des Landes, musste die Flüchtlingsgruppe aus dem Weg gehen, denn dort lebte das Bergvolk der Loba. Die Loba arbeiteten für ein paar Säcke Reis oder eine Kiste Schnaps als Wächter für die Chinesen. In der Ferne sahen die Flüchtenden den Widerschein ihrer Feuer und hörten ihre grellen Rufe, hoy, hoy, hoy. Dann gingen sie noch schneller. Sonam klopfte das Herz bis zum Hals, stumm rannte sie hinter den Erwachsenen her, die Angst lief ihr trotz der beißenden Kälte heiß den Rücken hinab.
Sechs Jahre alt war Sonam. Sie ist meine Mutter.
Die Gruppe von knapp einem Dutzend Flüchtlingen war kurz vor dem tibetischen Neujahrsfest aufgebrochen, das wie der chinesische Jahresbeginn meist auf den zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende fällt. Das Neujahrsfest galt unter den vielen Flüchtlingen, die sich damals auf den Weg machten, als günstigste Zeit: Dann waren die hohen Pässe zwar verschneit, dann pfiffen eisige Winde über die Höhen, dann gab es kaum ein trockenes Plätzchen zum Rasten, doch die Schneedecke war zumindest nachts festgefroren und manchmal sogar tagsüber stabil, im Gegensatz zur warmen Jahreszeit, in der Wanderer an den Flanken der Berge bei jedem Schritt knietief oder bis zum Bauchnabel in einer Mischung aus Schnee, Firn, Wasser, Schlamm und Geröll einsanken. Außerdem war allgemein bekannt, dass sich die chinesischen Grenzwächter im Winter lieber in ihren behelfsmäßigen Kasernen wärmten, als in der beißenden Kälte auf Patrouille zu gehen. Überhaupt würden die Soldaten zum Neujahrsfest, also an den wichtigsten chinesischen Feiertagen, das Feiern, Trinken und Kartenspielen ihren eigentlichen Aufgaben vorziehen.
Als die Rufe der Loba langsam in der Winternacht verklangen, sahen die Flüchtlinge in der Ferne bereits die nächste Gefahr heraufziehen. Im Tal tief unterhalb ihres Pfades tauchten hell erleuchtete große Häuser auf, in denen nur chinesische Soldaten sein konnten, denn Tibeter besaßen keine solch riesigen und gleichförmig gebauten Häuser, in denen so helles Licht brannte und aus denen so ungewöhnliche Laute drangen. Aus diesen Häusern war Stimmengewirr zu hören, krachende Musik, Gelächter, manchmal furchterregendes Geschrei, denn die chinesischen Soldaten liebten chang, das tibetische Bier, und Gerstenschnaps, womit sie sich vermutlich über die Feiertage reichlich eingedeckt hatten. Es war eine schauerliche Geräuschkulisse, wie eine ferne Versammlung einer wilden Herde, vor der sich die kleine Sonam noch mehr ängstigte als vor den Rufen der Loba von den Lagerfeuern, doch ihre Mutter beruhigte sie flüsternd. »Es ist gut, dass sie feiern«, sagte sie, »wenn sie es warm haben und betrunken sind, kommen sie nicht hierherauf.«
Der Pfad, den die Flüchtlingsgruppe in jener Nacht eingeschlagen hatte, war schmal und steinig und in der Finsternis kaum zu erkennen, so dass es keinen Unterschied machte, ob es diesen Pfad überhaupt gab oder nicht. Oft musste sich die Gruppe durch dorniges Gestrüpp und Geröllfelder, und dann wieder zwischen niedrigen Bäumen hindurch einen Weg bahnen. Die Luftwurzeln der Bäume brachten die Fliehenden zum Stolpern, und die trockenen Äste zerkratzten ihnen Gesichter und Hände. Alle waren verschrammt, hatten blutige Füße, ihre Kleidung war zerrissen. Je höher hinauf sie kamen, desto öfter mussten sie Schneefelder durchqueren. Im Winter lag der Schnee in den Tälern bis auf dreitausend Meter herab. Das klingt für Europäer nicht sehr winterlich, doch Tibet liegt nicht nur hoch, sondern auch sehr südlich, auf demselben Breitengrad wie Ägypten oder die Kanarischen Inseln.
Im Winter 1959, desselben Jahres, in dem der Dalai Lama ins Exil geflohen war, verließ auch meine Familie Tibet und flüchtete nach Indien. Damals wurde auf erschreckende Weise eine Weissagung des Padmasambhava, dem »Lotusgeborenen« und Begründer des tibetischen Buddhismus, wahr. Die Ursprünge dieser angeblich zwölf Jahrhunderte alten Prophezeiung liegen aber im Dunkeln. Sie besagt: »Wenn der Eisenvogel fliegt und die Pferde auf Rädern rollen, dann wird das Volk der Tibeter wie die Ameisen über die ganze Welt verstreut, und die buddhistische Lehre wird das Land des roten Mannes erreichen.« So flogen die Eisenvögel, die chinesischen Flugzeuge, tatsächlich über mein Land, und die Pferde auf Rädern, die chinesischen Eisenbahnen, brachten Truppen bis fast an die Grenze, als sich meine Vorfahren auf ihren gefährlichen Weg machen mussten.
Die Chinesen hatten unser Land zwar schon 1950 überfallen und besetzt, doch erst Jahre später ließen sie ihre anfängliche falsche Freundlichkeit fallen und begannen damit, systematisch Tibeter zu verhaften, zu foltern und einzusperren, besonders buddhistische Geistliche und Adlige. Da meine Großeltern Nonne und Mönch waren, befanden sie sich in großer Gefahr. Ihr Kloster wurde von chinesischen Soldaten überfallen und ausgeraubt. Auch im Dorf unterhalb des Klosters wüteten die Chinesen. Sie zerrten Adlige an den Haaren über den Dorfplatz und verprügelten sie, ließen sie Latrinen putzen, zerstörten ihre Häuser, raubten ihre heiligen Statuen und verteilten ihr Land. Sie stahlen Vieh, beschimpften hochehrwürdige Lamas und traten die jahrhundertealte Ordnung des Dorfes mit Füßen. Wegen dieser Barbarei hatten sich meine Großmutter Kunsang Wangmo und mein Großvater Tsering Dhondup zusammen mit meiner Mutter Sonam Dölma und ihrer vierjährigen Schwester zur Flucht nach Indien entschlossen. Sie wollten zu Fuß den Himalaja überqueren, mit wenig Geld, ohne Vorstellung von den Strapazen der Strecke. Mit nichts ausgerüstet als mit selbst genähten Lederschuhen, Wolldecken, einem großen Sack tsampa, geröstete und danach gemahlene Gerste, und der sicheren Überzeugung, dass die Flucht in das Land, das auch den Dalai Lama aufgenommen hatte, ihre einzige Überlebenschance sei. Eine Überzeugung, die durch nichts begründet war als durch ihren felsenfesten Glauben: Meine Großeltern konnten kein Wort einer indischen Sprache, sie kannten keinen Menschen auf dem ganzen Subkontinent, sie wussten nicht, wohin sie sich dort wenden sollten, und sie hatten nicht die geringste Vorstellung, was sie erwarten würde - bis auf das Wissen, dass der für sie höchsten Autorität dort Gnade widerfahren war, dem Dalai Lama, den sie noch dazu nie in ihrem Leben gesehen hatten. Sie wussten nur wenig über den Himalaja, den höchsten Gebirgszug der Welt, der zwischen ihnen und dem Dalai Lama stand. Ich glaube, sie konnten ihre Flucht nur deshalb beginnen, weil sie keine Ahnung von den unerwarteten Schwierigkeiten hatten, die sich ihnen auf ihrem wochenlangen Weg entgegenstellen sollten.
Die Schwester meiner Mutter, deren Namen diese längst vergessen hat, starb kurz nach der anstrengenden Flucht. Auch meine Großmutter hat den Namen ihrer jüngsten Tochter vergessen, aber der ist für uns Tibeter auch nicht von Belang.
Wir sprechen nicht gerne über die Toten. Das gehört sich nicht in unserer Kultur. Kunsang, meine Oma, die von meiner ganzen Familie immer nur Mola gerufen wird, mit dem tibetischen Wort für Großmutter, würde mir den Namen ihrer toten Tochter nicht einmal sagen, wenn sie ihn noch wüsste. Wurde sie von Behörden nach einem Namen befragt, nach dem Namen ihrer Eltern oder dem ihres Mannes, wusste sie ihn nicht mehr. Erst nach langem Druck und mit Hilfe meiner Mutter fi ng sie an, sich an diese verschütteten Namen zu erinnern, doch aussprechen wollte sie sie nie. Mola meint, dass das Bewusstsein eines Verstorbenen durch das Nennen seines Namens oder das Vorzeigen seiner Fotografie angeregt und herbeigerufen werde, und das sei schädlich. So ist auch das Bewusstsein ihrer toten Tochter längst woanders und soll in Ruhe gelassen werden.
Die Führung des Flüchtlingstrupps hatte kein professioneller Schlepper übernommen, wie das heute üblich ist, denn den hätten weder meine Großeltern noch die meisten der anderen Gruppenmitglieder bezahlen können, abgesehen davon, dass es damals kaum professionelle Fluchthelfer gab. Diesen Trupp sollte ein tibetischer Händler über die Berge geleiten, der die Strecke zusammen mit seinen Trägern schon mehrmals zu Fuß bewältigt hatte, um Waren nach Indien und andere Güter zurück nach Tibet zu schaffen. Damals war das die normale Form des Handels. Zwischen Tibet und Indien gab es nur Pfade, aber keine Straßen, Eisenbahn- oder Flugverbindungen. Als Tragtiere kamen auf den hohen Pässen nur Yaks infrage, da Pferde oder Esel in der dünnen Luft keine Arbeit verrichten können.
Diese Reise sollte die letzte sein für den Kaufmann, denn er wollte nicht mehr zurück nach Tibet, er war selbst auf der Flucht nach Indien, um sich dort eine neue Zukunft aufzubauen. Ohne seine ortskundige Begleitung wäre die Gruppe bei der auf vielen Strecken weglosen Überquerung des Himalajas gescheitert. Die Flüchtlinge hätten sich sicherlich verlaufen, sie wären erfroren oder verhungert. Wieder zeigte sich, dass Mola, die den Führer ausgesucht hatte, intuitiv richtig handelte. In meiner Familie hatte meine Oma immer schon den Ruf, in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen, weil sie ein Gespür für die zukünftige Entwicklung der Dinge hat.
Die Schuhe meiner Mutter waren alles andere als berg- oder wintertauglich. Mit ihren glatten Ledersohlen schlitterte sie bei jedem Schritt über den Schnee, alle paar Meter geriet sie ins Straucheln oder stürzte zu Boden. Socken hatte sie keine, und der Schnee drang allmählich durch die grob gestickten Nähte der Schuhe und machte das Heu, das sich meine Mutter gegen die Kälte in die Schuhe gestopft hatte, kalt und glitschig. Sie wollte immerzu weinen, doch ihr fehlte die Zeit und auch die Kraft dazu, denn sie musste sich mit ihrem ganzen Willen darauf konzentrieren weiterzukommen, Schritt für Schritt und Schneeloch für Schneeloch, das die Erwachsenen vor ihr in dem kaum sichtbaren Pfad hinterlassen hatten. Nur nicht zurückbleiben, denn das wäre ihr Ende. Instinktiv spürte meine Mutter das, als ob sie es schon immer gewusst hätte.
Das Weiterkommen wurde für Sonam immer schwerer. Längst war das Wasser in ihren Schuhen gefroren. Ihre Füße fühlten sich wie dicke, schwere Eisklumpen an, die sie durch die Gegend schleppen musste. Ihre kleine Schwester hatte es besser: Das fast vierjährige Mädchen konnte zwar schon selbst gehen, hätte aber keinesfalls das Marschtempo und die Strapazen der Wegstrecke bewältigen können. Deshalb trug Mola ihre kleine Tochter die meiste Zeit. Fest wie einen Rucksack hatte sie sich ihr Kind auf den Rücken geschnürt, dick in Decken eingewickelt, um es warm zu halten. Niemals hatte die Kleine geweint oder geschrien. Sie streichelte sogar während des Gehens aus ihren Decken heraus den Kopf ihrer Mutter und flüsterte ihr immer wieder tröstend »ela oh« ins Ohr. Das bedeutet in der Sprache Kongpos so viel wie »oh, es tut mir leid«. Es war, als wollte sich das Kind bei der Mutter entschuldigen, dass es nicht leichter war. Sehnsüchtig sah Sonam immer wieder zu dem warmen Bündel auf dem Rücken Molas hinauf. Dort drinnen zu hängen, wäre für sie das höchste Glück auf Erden!
Doch meine Mutter musste weiter durch den Schnee stapfen, sich mit zusammengebissenen Zähnen durch die Finsternis quälen. Als nach einem langen Nachtmarsch wieder einmal einer dieser für sie so wenig erfreulichen Morgen graute, suchte die Gruppe Zuflucht unter einem Felsüberhang, unter dem sich zwischen Schnee und Stein eine schmale Höhle auftat, in der ein Kleinkind eben noch aufrecht stehen konnte. Die Wanderer waren froh, diesmal nicht im Schnee liegen zu müssen. Sie waren froh, dass ihnen der Wind diesmal nicht ins Gesicht blies und sie hier bestimmt niemand sehen konnte. Doch zwischen den blanken Felswänden, von denen Eiszapfen hingen, war es bitterkalt. Die Füße meiner Mutter waren schon fast taub, wobei sie kaum unterscheiden konnte, ob diese Taubheit von den Schmerzen herrührte oder durch Eis und Kälte verursacht wurde. Vorsichtig schälte Mola die kleinen Füße ihrer Tochter aus dem mit Eis verklebten Leder, das eher zerfetzten Gamaschen glich als Schuhen. Noch vorsichtiger zupfte sie die halb gefrorenen, halb zermatschten Strohhalme von den blau angelaufenen Sohlen, um sich Sonams Füße unter ihren Umhang zu schieben, tief hinein in die wärmenden Falten des Gewands, auf die nackte Haut zwischen ihren Brüsten. Was muss das für ein Kälteschock für meine arme Großmutter gewesen sein, und was für eine unbeschreibliche Wohltat für meine kleine Mutter, die ich mir nie so gut als Mädchen vorstellen konnte wie in den Bildern dieser Flucht, die ich durch die vielen Erzählungen darüber lebhaft vor mir sehe.
Das war das einzig Angenehme an der kurzen Rast, die sich die Gruppe erlaubte. Niemand durfte Feuer machen, niemand konnte Schnee zu Trinkwasser schmelzen, und die Flüchtenden hatten bald nicht mehr genügend Nahrungsmittel, war doch niemand auf eine wochenlange Wanderung vorbereitet gewesen. Auch meine Großeltern hatten nach einigen Wochen nur mehr ein paar Handvoll tsampa für jeden dabei.
Um den brennenden Durst zu stillen und die aufgesprungenen Lippen zu glätten, gab es nur die Möglichkeit, an einer eisfreien Stelle Wasser von einem der über die Steine laufenden Rinnsale mit den hohlen Händen aufzufangen oder sich etwas Schnee in den Mund zu schieben. Das löschte zwar den Durst, hielt aber nur kurze Zeit vor und hinterließ ein grausam eisiges Gefühl im Hals und in der Brust und später im Magen. Ein Gefühl, das nicht viel besser war als der Durst und der staubtrockene Gaumen und die rissigen Lippen, die immer wieder zu bluten anfingen.
An dem Morgen, als sie hoch genug gestiegen und weit genug entfernt waren von den chinesischen Posten, um auch untertags weitergehen zu können, standen die Berge zum ersten Mal nicht nur als düstere, kaum sichtbare Schemen, sondern hart, hell und weiß und schwarz vor den Flüchtlingen. Wie eine Mauer erhoben sie sich vor ihnen, noch nie hatte meine Mutter etwas Ähnliches gesehen, auch wenn sie immer im Gebirge gelebt hatte. Das waren andere Berge als die, die sie von zu Hause kannte. Diese Berge hatten keine bewaldeten Flanken, keine grünen Wiesen. Auf diesen Bergen grasten keine Yaks, diese Berge wuchsen senkrecht in die Höhe, und sie waren schwarz. Nur dort, wo die Wände weniger steil waren, lag Schnee. Wie ein Stein gewordener Alptraum standen die Berge vor der Gruppe der Flüchtenden, ein so unglaubliches Hindernis auf dem Weg nach Indien, wie sie es auch in ihren übelsten Träumen nie vor sich gesehen hatten. Wenn ihnen damals jemand gesagt hätte, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die nur zum Spaß auf solche Berge steigen, hätten sie kein Wort davon geglaubt.
Doch mit Fels und Eis und Schnee hatte die Natur noch nicht genug Hindernisse vor den Flüchtenden aufgebaut. Aus den Flanken der Berge schoss nach allen paar Stunden Wegzeit ein Bach hervor, ein schäumender Wasserfall oder ein wilder Fluss zwischen senkrechten Felswänden. Die meisten dieser Flüsse waren nur teilweise zugefroren und zeigten frech ihre Kraft. Sie zu durchwaten und mit mindestens bis zu den Hüften durchnässten Kleidern weiterzugehen, war schrecklich. Auf die an den Sohlen festgefrorenen Steinchen zu treten machte jeden Schritt zur höllischen Qual.
Als die Füße meiner Mutter nach ein paar Stunden Marsch wieder ein wenig besser durchblutet waren, hörte sie von weitem ein Rauschen, das sich nach einem reißenden Bach anhörte. Doch dieses Rauschen wurde lauter und lauter, obwohl noch immer kein Wasserlauf zu sehen war, bis meiner Großmutter klar wurde, dass hier der größte Fluss zu queren war, den sie je im Gebirge gesehen hatte. Wild tosend schoss die Flut durch die Felsen, und über die Schlucht war eine Hängebrücke gespannt. Gott sei Dank, dachte meine Großmutter im ersten Moment, bis sie sah, in welchem Zustand sich diese Brücke befand: Nur vier Seile waren über den Abgrund gespannt, die unten mit Stricken als Querstreben aneinandergebunden waren. Diese Stricke sollten wohl als Trittstufen dienen, doch wie weit waren sie voneinander entfernt, wie viel Gischt und Schaum und Abgrund war zwischen jedem Strick und dem nächstfolgenden zu sehen? Bestimmt, dachte meine Mutter mit Grauen, würde sie da hinunterfallen, würde zwischen zwei Stricken den Halt verlieren und von diesem wackligen, zitternden Brückengespenst in die bodenlose Tiefe stürzen.
Mola ließ ihrer Tochter keine Zeit für solche Gedanken. Mit einem Ruck schob sie sie in Richtung des Abgrundes, um dann selbst voranzugehen, fest an die Seile gekrallt, aber immer mit einer freien Hand für Sonam. Die Brücke fing schrecklich zu schaukeln an, das Wasser tobte so laut, dass selbst Mola, obwohl sie direkt vor meiner Mutter ging, deren grellen Schrei kaum hören konnte. Doch sie fing ihre rutschende Tochter ab, hielt sie oben auf den Seilen und zog sie weiter, selber balancierend und angsterfüllt. Schritt für Schritt kamen sie so über den Fluss auf die andere Seite der Schlucht. Genauso wie die anderen Flüchtenden vor ihnen und vermutlich noch viele Flüchtlinge, die nach ihnen diesen Weg in die Freiheit Indiens gewählt hatten.
Nach der Querung der luftigen Brücke begann für meine Mutter wieder die gewohnte Quälerei: Fuß vor Fuß durch die immer schneereichere und immer eisigere Bergwüste zu stapfen, ohne erkennbares Ziel vor Augen, denn sie sah nichts als Schnee und Eis und Felsen, wie sie schon die letzten Tage nichts als Schnee und Eis und Felsen gesehen hatte. Dazu wurde es kälter, und der Wind pfiff schärfer. Weiter und weiter stieg die Gruppe hinauf in die eisigen Höhen des Himalajas.
Plötzlich brach der Schnee unter Sonams Füßen weg. Meine Mutter rutschte in eine Gletscherspalte neben den Fußspuren der vor ihr Gehenden, die von frischem Schnee zugedeckt war, prallte gegen eine eisige Wand und fiel zwei Meter tiefer in harten Schnee. Voller Panik sah sie, dass es neben ihr noch weiter hinunterging. Sie sah auch, wie weit es hinauf war, nach oben, wo ein weißer, gleichgültiger Himmel voller Schneeflocken über den Bergen lag. Niemand hatte sie fallen gesehen, denn sie war als Letzte gegangen. Sie wartete, atemlos, lauschte, aber nichts war zu hören außer dem Pfeifen des Windes. Sie weinte. Sie schrie nicht, weil sie Angst hatte zu schreien. Was immer geschieht, rufe nicht, weine nicht, schreie nicht, das hatten ihr die Erwachsenen Dutzende Male eingeschärft. Kein Feuer, kein Lärm, kein Gekreische, denn die Chinesen können überall sein. In panischer Angst krallte sie sich an die eisigen Seiten ihrer Falle, suchte verzweifelt einen Weg nach oben, doch wieder und wieder rutschten ihre glatten, nassen, schneeverklumpten Schuhe an den Wänden ihres Gefängnisses ab und ließen sie sogar noch ein Stück tiefer fallen, als sie vorher gelegen hatte. Sollte ihre Flucht hier zu Ende sein? Sollte sie ihre Mutter, ihren Vater nie mehr wiedersehen? Sollte sie für immer in diesem dunklen Eisloch gefangen bleiben?
Copyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Wie meine Eltern und mein Bruder auch ist meine Mola nur für einen kurzen Urlaub nach Paros gekommen, denn eigentlich lebt sie in Bern, im alten Schweizer Haus meiner Familie. Dort hat sie ihren großen Altar stehen, alle ihre Kostbarkeiten, dort verrichtet sie ihre täglichen Gebete, dort reicht sie ihre Opfer dar, denn eine tibetische Nonne hat ein umfangreiches tägliches Programm zu absolvieren.
Das Leben hat meine Familie in alle Windrichtungen verstreut: Bern, Zürich, Los Angeles, New York, Berlin. Eigentlich müssten wir alle in Pang leben, einem abgelegenen Bergdorf im Südosten Tibets. Dort, wo meine Großeltern Mönch und Nonne in einem Kloster waren, aus dem sie im Winter 1959/1960 flüchten mussten vor den chinesischen Soldaten, die Kloster für Kloster systematisch dem Erdboden gleichmachten. Noch heute ächzt Tibet, das Land meiner Mutter und meiner Großmutter, das Land, aus dem sie vor fünfzig Jahren geflohen sind, mein Land, unter der chinesischen Besatzung. Ohne diese Flucht wären wir nicht auf Paros, ohne diese Flucht würden wir nicht in diesen Sonnenuntergang sehen.
Der rote Ball ist fast schon versunken, als Mola zu singen beginnt. Als Kinder hörten mein Bruder und ich oft ihre alten Lieder, aber nun hatten wir Mola schon lange nicht mehr singen gehört. Mit dieser Stimme, die schon ein wenig brüchig klingt, aber doch klar ist und mild und uns etwas erzählt von einer lange versunkenen, weit entfernten Welt. Mit dieser Stimme, die uns von Tibet erzählt. Mola singt, wie sie als junges Mädchen sang, als sie als Einsiedlerin unter anderen Nonnen in einer Laubhütte hoch oben in den tibetischen Bergen lebte. Damals meditierte sie zu den ersten Lichtstrahlen des Tages.
Nun meditiert Mola zu den letzten Strahlen des Tages, gegen Ende ihres langen Lebens. Sie tut das ohne Schmerz, ohne Wehmut und ohne Trauer. Sie ist ganz da, ganz bei uns. Sie weiß, dass sie eines Tages in vielleicht nicht so ferner Zukunft gehen wird, doch das macht ihr keine Angst. Sie ist ruhig und gelassen, sie hält nichts Irdisches fest.
Wir sehen der Sonne nach, wie sie hinter den Bergen versinkt und uns in einer dunkler und dunkler werdenden Landschaft aus Stein und Himmel zurücklässt. Fast sieht es hier wie in Tibet aus, und darum gefällt es meiner Familie hier auch so gut. Als das letzte Leuchten verlischt, verstummt auch Mola. Ich muss schlucken. Mir ist, als wären wir am Ziel einer weiten Reise. Einer Reise, von der ich jetzt erzählen möchte.
Gefangen
Aus Angst vor chinesischen Posten marschierten die Flüchtlinge immer nachts durch die Eiseskälte. Nur die Sterne leuchteten ihnen den Weg und erst kurz vor dem Morgengrauen der neue Mond. Schwarz standen die Bergriesen vor einem dunklen Himmel, nur hie und da waren Schneeflecken zu erahnen, Felswände und Wolkenfetzen. Selbst ihren Landsleuten, den Tibetern aus Kongpo im Südosten des Landes, musste die Flüchtlingsgruppe aus dem Weg gehen, denn dort lebte das Bergvolk der Loba. Die Loba arbeiteten für ein paar Säcke Reis oder eine Kiste Schnaps als Wächter für die Chinesen. In der Ferne sahen die Flüchtenden den Widerschein ihrer Feuer und hörten ihre grellen Rufe, hoy, hoy, hoy. Dann gingen sie noch schneller. Sonam klopfte das Herz bis zum Hals, stumm rannte sie hinter den Erwachsenen her, die Angst lief ihr trotz der beißenden Kälte heiß den Rücken hinab.
Sechs Jahre alt war Sonam. Sie ist meine Mutter.
Die Gruppe von knapp einem Dutzend Flüchtlingen war kurz vor dem tibetischen Neujahrsfest aufgebrochen, das wie der chinesische Jahresbeginn meist auf den zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende fällt. Das Neujahrsfest galt unter den vielen Flüchtlingen, die sich damals auf den Weg machten, als günstigste Zeit: Dann waren die hohen Pässe zwar verschneit, dann pfiffen eisige Winde über die Höhen, dann gab es kaum ein trockenes Plätzchen zum Rasten, doch die Schneedecke war zumindest nachts festgefroren und manchmal sogar tagsüber stabil, im Gegensatz zur warmen Jahreszeit, in der Wanderer an den Flanken der Berge bei jedem Schritt knietief oder bis zum Bauchnabel in einer Mischung aus Schnee, Firn, Wasser, Schlamm und Geröll einsanken. Außerdem war allgemein bekannt, dass sich die chinesischen Grenzwächter im Winter lieber in ihren behelfsmäßigen Kasernen wärmten, als in der beißenden Kälte auf Patrouille zu gehen. Überhaupt würden die Soldaten zum Neujahrsfest, also an den wichtigsten chinesischen Feiertagen, das Feiern, Trinken und Kartenspielen ihren eigentlichen Aufgaben vorziehen.
Als die Rufe der Loba langsam in der Winternacht verklangen, sahen die Flüchtlinge in der Ferne bereits die nächste Gefahr heraufziehen. Im Tal tief unterhalb ihres Pfades tauchten hell erleuchtete große Häuser auf, in denen nur chinesische Soldaten sein konnten, denn Tibeter besaßen keine solch riesigen und gleichförmig gebauten Häuser, in denen so helles Licht brannte und aus denen so ungewöhnliche Laute drangen. Aus diesen Häusern war Stimmengewirr zu hören, krachende Musik, Gelächter, manchmal furchterregendes Geschrei, denn die chinesischen Soldaten liebten chang, das tibetische Bier, und Gerstenschnaps, womit sie sich vermutlich über die Feiertage reichlich eingedeckt hatten. Es war eine schauerliche Geräuschkulisse, wie eine ferne Versammlung einer wilden Herde, vor der sich die kleine Sonam noch mehr ängstigte als vor den Rufen der Loba von den Lagerfeuern, doch ihre Mutter beruhigte sie flüsternd. »Es ist gut, dass sie feiern«, sagte sie, »wenn sie es warm haben und betrunken sind, kommen sie nicht hierherauf.«
Der Pfad, den die Flüchtlingsgruppe in jener Nacht eingeschlagen hatte, war schmal und steinig und in der Finsternis kaum zu erkennen, so dass es keinen Unterschied machte, ob es diesen Pfad überhaupt gab oder nicht. Oft musste sich die Gruppe durch dorniges Gestrüpp und Geröllfelder, und dann wieder zwischen niedrigen Bäumen hindurch einen Weg bahnen. Die Luftwurzeln der Bäume brachten die Fliehenden zum Stolpern, und die trockenen Äste zerkratzten ihnen Gesichter und Hände. Alle waren verschrammt, hatten blutige Füße, ihre Kleidung war zerrissen. Je höher hinauf sie kamen, desto öfter mussten sie Schneefelder durchqueren. Im Winter lag der Schnee in den Tälern bis auf dreitausend Meter herab. Das klingt für Europäer nicht sehr winterlich, doch Tibet liegt nicht nur hoch, sondern auch sehr südlich, auf demselben Breitengrad wie Ägypten oder die Kanarischen Inseln.
Im Winter 1959, desselben Jahres, in dem der Dalai Lama ins Exil geflohen war, verließ auch meine Familie Tibet und flüchtete nach Indien. Damals wurde auf erschreckende Weise eine Weissagung des Padmasambhava, dem »Lotusgeborenen« und Begründer des tibetischen Buddhismus, wahr. Die Ursprünge dieser angeblich zwölf Jahrhunderte alten Prophezeiung liegen aber im Dunkeln. Sie besagt: »Wenn der Eisenvogel fliegt und die Pferde auf Rädern rollen, dann wird das Volk der Tibeter wie die Ameisen über die ganze Welt verstreut, und die buddhistische Lehre wird das Land des roten Mannes erreichen.« So flogen die Eisenvögel, die chinesischen Flugzeuge, tatsächlich über mein Land, und die Pferde auf Rädern, die chinesischen Eisenbahnen, brachten Truppen bis fast an die Grenze, als sich meine Vorfahren auf ihren gefährlichen Weg machen mussten.
Die Chinesen hatten unser Land zwar schon 1950 überfallen und besetzt, doch erst Jahre später ließen sie ihre anfängliche falsche Freundlichkeit fallen und begannen damit, systematisch Tibeter zu verhaften, zu foltern und einzusperren, besonders buddhistische Geistliche und Adlige. Da meine Großeltern Nonne und Mönch waren, befanden sie sich in großer Gefahr. Ihr Kloster wurde von chinesischen Soldaten überfallen und ausgeraubt. Auch im Dorf unterhalb des Klosters wüteten die Chinesen. Sie zerrten Adlige an den Haaren über den Dorfplatz und verprügelten sie, ließen sie Latrinen putzen, zerstörten ihre Häuser, raubten ihre heiligen Statuen und verteilten ihr Land. Sie stahlen Vieh, beschimpften hochehrwürdige Lamas und traten die jahrhundertealte Ordnung des Dorfes mit Füßen. Wegen dieser Barbarei hatten sich meine Großmutter Kunsang Wangmo und mein Großvater Tsering Dhondup zusammen mit meiner Mutter Sonam Dölma und ihrer vierjährigen Schwester zur Flucht nach Indien entschlossen. Sie wollten zu Fuß den Himalaja überqueren, mit wenig Geld, ohne Vorstellung von den Strapazen der Strecke. Mit nichts ausgerüstet als mit selbst genähten Lederschuhen, Wolldecken, einem großen Sack tsampa, geröstete und danach gemahlene Gerste, und der sicheren Überzeugung, dass die Flucht in das Land, das auch den Dalai Lama aufgenommen hatte, ihre einzige Überlebenschance sei. Eine Überzeugung, die durch nichts begründet war als durch ihren felsenfesten Glauben: Meine Großeltern konnten kein Wort einer indischen Sprache, sie kannten keinen Menschen auf dem ganzen Subkontinent, sie wussten nicht, wohin sie sich dort wenden sollten, und sie hatten nicht die geringste Vorstellung, was sie erwarten würde - bis auf das Wissen, dass der für sie höchsten Autorität dort Gnade widerfahren war, dem Dalai Lama, den sie noch dazu nie in ihrem Leben gesehen hatten. Sie wussten nur wenig über den Himalaja, den höchsten Gebirgszug der Welt, der zwischen ihnen und dem Dalai Lama stand. Ich glaube, sie konnten ihre Flucht nur deshalb beginnen, weil sie keine Ahnung von den unerwarteten Schwierigkeiten hatten, die sich ihnen auf ihrem wochenlangen Weg entgegenstellen sollten.
Die Schwester meiner Mutter, deren Namen diese längst vergessen hat, starb kurz nach der anstrengenden Flucht. Auch meine Großmutter hat den Namen ihrer jüngsten Tochter vergessen, aber der ist für uns Tibeter auch nicht von Belang.
Wir sprechen nicht gerne über die Toten. Das gehört sich nicht in unserer Kultur. Kunsang, meine Oma, die von meiner ganzen Familie immer nur Mola gerufen wird, mit dem tibetischen Wort für Großmutter, würde mir den Namen ihrer toten Tochter nicht einmal sagen, wenn sie ihn noch wüsste. Wurde sie von Behörden nach einem Namen befragt, nach dem Namen ihrer Eltern oder dem ihres Mannes, wusste sie ihn nicht mehr. Erst nach langem Druck und mit Hilfe meiner Mutter fi ng sie an, sich an diese verschütteten Namen zu erinnern, doch aussprechen wollte sie sie nie. Mola meint, dass das Bewusstsein eines Verstorbenen durch das Nennen seines Namens oder das Vorzeigen seiner Fotografie angeregt und herbeigerufen werde, und das sei schädlich. So ist auch das Bewusstsein ihrer toten Tochter längst woanders und soll in Ruhe gelassen werden.
Die Führung des Flüchtlingstrupps hatte kein professioneller Schlepper übernommen, wie das heute üblich ist, denn den hätten weder meine Großeltern noch die meisten der anderen Gruppenmitglieder bezahlen können, abgesehen davon, dass es damals kaum professionelle Fluchthelfer gab. Diesen Trupp sollte ein tibetischer Händler über die Berge geleiten, der die Strecke zusammen mit seinen Trägern schon mehrmals zu Fuß bewältigt hatte, um Waren nach Indien und andere Güter zurück nach Tibet zu schaffen. Damals war das die normale Form des Handels. Zwischen Tibet und Indien gab es nur Pfade, aber keine Straßen, Eisenbahn- oder Flugverbindungen. Als Tragtiere kamen auf den hohen Pässen nur Yaks infrage, da Pferde oder Esel in der dünnen Luft keine Arbeit verrichten können.
Diese Reise sollte die letzte sein für den Kaufmann, denn er wollte nicht mehr zurück nach Tibet, er war selbst auf der Flucht nach Indien, um sich dort eine neue Zukunft aufzubauen. Ohne seine ortskundige Begleitung wäre die Gruppe bei der auf vielen Strecken weglosen Überquerung des Himalajas gescheitert. Die Flüchtlinge hätten sich sicherlich verlaufen, sie wären erfroren oder verhungert. Wieder zeigte sich, dass Mola, die den Führer ausgesucht hatte, intuitiv richtig handelte. In meiner Familie hatte meine Oma immer schon den Ruf, in schwierigen Situationen die richtigen Entscheidungen zu treffen, weil sie ein Gespür für die zukünftige Entwicklung der Dinge hat.
Die Schuhe meiner Mutter waren alles andere als berg- oder wintertauglich. Mit ihren glatten Ledersohlen schlitterte sie bei jedem Schritt über den Schnee, alle paar Meter geriet sie ins Straucheln oder stürzte zu Boden. Socken hatte sie keine, und der Schnee drang allmählich durch die grob gestickten Nähte der Schuhe und machte das Heu, das sich meine Mutter gegen die Kälte in die Schuhe gestopft hatte, kalt und glitschig. Sie wollte immerzu weinen, doch ihr fehlte die Zeit und auch die Kraft dazu, denn sie musste sich mit ihrem ganzen Willen darauf konzentrieren weiterzukommen, Schritt für Schritt und Schneeloch für Schneeloch, das die Erwachsenen vor ihr in dem kaum sichtbaren Pfad hinterlassen hatten. Nur nicht zurückbleiben, denn das wäre ihr Ende. Instinktiv spürte meine Mutter das, als ob sie es schon immer gewusst hätte.
Das Weiterkommen wurde für Sonam immer schwerer. Längst war das Wasser in ihren Schuhen gefroren. Ihre Füße fühlten sich wie dicke, schwere Eisklumpen an, die sie durch die Gegend schleppen musste. Ihre kleine Schwester hatte es besser: Das fast vierjährige Mädchen konnte zwar schon selbst gehen, hätte aber keinesfalls das Marschtempo und die Strapazen der Wegstrecke bewältigen können. Deshalb trug Mola ihre kleine Tochter die meiste Zeit. Fest wie einen Rucksack hatte sie sich ihr Kind auf den Rücken geschnürt, dick in Decken eingewickelt, um es warm zu halten. Niemals hatte die Kleine geweint oder geschrien. Sie streichelte sogar während des Gehens aus ihren Decken heraus den Kopf ihrer Mutter und flüsterte ihr immer wieder tröstend »ela oh« ins Ohr. Das bedeutet in der Sprache Kongpos so viel wie »oh, es tut mir leid«. Es war, als wollte sich das Kind bei der Mutter entschuldigen, dass es nicht leichter war. Sehnsüchtig sah Sonam immer wieder zu dem warmen Bündel auf dem Rücken Molas hinauf. Dort drinnen zu hängen, wäre für sie das höchste Glück auf Erden!
Doch meine Mutter musste weiter durch den Schnee stapfen, sich mit zusammengebissenen Zähnen durch die Finsternis quälen. Als nach einem langen Nachtmarsch wieder einmal einer dieser für sie so wenig erfreulichen Morgen graute, suchte die Gruppe Zuflucht unter einem Felsüberhang, unter dem sich zwischen Schnee und Stein eine schmale Höhle auftat, in der ein Kleinkind eben noch aufrecht stehen konnte. Die Wanderer waren froh, diesmal nicht im Schnee liegen zu müssen. Sie waren froh, dass ihnen der Wind diesmal nicht ins Gesicht blies und sie hier bestimmt niemand sehen konnte. Doch zwischen den blanken Felswänden, von denen Eiszapfen hingen, war es bitterkalt. Die Füße meiner Mutter waren schon fast taub, wobei sie kaum unterscheiden konnte, ob diese Taubheit von den Schmerzen herrührte oder durch Eis und Kälte verursacht wurde. Vorsichtig schälte Mola die kleinen Füße ihrer Tochter aus dem mit Eis verklebten Leder, das eher zerfetzten Gamaschen glich als Schuhen. Noch vorsichtiger zupfte sie die halb gefrorenen, halb zermatschten Strohhalme von den blau angelaufenen Sohlen, um sich Sonams Füße unter ihren Umhang zu schieben, tief hinein in die wärmenden Falten des Gewands, auf die nackte Haut zwischen ihren Brüsten. Was muss das für ein Kälteschock für meine arme Großmutter gewesen sein, und was für eine unbeschreibliche Wohltat für meine kleine Mutter, die ich mir nie so gut als Mädchen vorstellen konnte wie in den Bildern dieser Flucht, die ich durch die vielen Erzählungen darüber lebhaft vor mir sehe.
Das war das einzig Angenehme an der kurzen Rast, die sich die Gruppe erlaubte. Niemand durfte Feuer machen, niemand konnte Schnee zu Trinkwasser schmelzen, und die Flüchtenden hatten bald nicht mehr genügend Nahrungsmittel, war doch niemand auf eine wochenlange Wanderung vorbereitet gewesen. Auch meine Großeltern hatten nach einigen Wochen nur mehr ein paar Handvoll tsampa für jeden dabei.
Um den brennenden Durst zu stillen und die aufgesprungenen Lippen zu glätten, gab es nur die Möglichkeit, an einer eisfreien Stelle Wasser von einem der über die Steine laufenden Rinnsale mit den hohlen Händen aufzufangen oder sich etwas Schnee in den Mund zu schieben. Das löschte zwar den Durst, hielt aber nur kurze Zeit vor und hinterließ ein grausam eisiges Gefühl im Hals und in der Brust und später im Magen. Ein Gefühl, das nicht viel besser war als der Durst und der staubtrockene Gaumen und die rissigen Lippen, die immer wieder zu bluten anfingen.
An dem Morgen, als sie hoch genug gestiegen und weit genug entfernt waren von den chinesischen Posten, um auch untertags weitergehen zu können, standen die Berge zum ersten Mal nicht nur als düstere, kaum sichtbare Schemen, sondern hart, hell und weiß und schwarz vor den Flüchtlingen. Wie eine Mauer erhoben sie sich vor ihnen, noch nie hatte meine Mutter etwas Ähnliches gesehen, auch wenn sie immer im Gebirge gelebt hatte. Das waren andere Berge als die, die sie von zu Hause kannte. Diese Berge hatten keine bewaldeten Flanken, keine grünen Wiesen. Auf diesen Bergen grasten keine Yaks, diese Berge wuchsen senkrecht in die Höhe, und sie waren schwarz. Nur dort, wo die Wände weniger steil waren, lag Schnee. Wie ein Stein gewordener Alptraum standen die Berge vor der Gruppe der Flüchtenden, ein so unglaubliches Hindernis auf dem Weg nach Indien, wie sie es auch in ihren übelsten Träumen nie vor sich gesehen hatten. Wenn ihnen damals jemand gesagt hätte, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die nur zum Spaß auf solche Berge steigen, hätten sie kein Wort davon geglaubt.
Doch mit Fels und Eis und Schnee hatte die Natur noch nicht genug Hindernisse vor den Flüchtenden aufgebaut. Aus den Flanken der Berge schoss nach allen paar Stunden Wegzeit ein Bach hervor, ein schäumender Wasserfall oder ein wilder Fluss zwischen senkrechten Felswänden. Die meisten dieser Flüsse waren nur teilweise zugefroren und zeigten frech ihre Kraft. Sie zu durchwaten und mit mindestens bis zu den Hüften durchnässten Kleidern weiterzugehen, war schrecklich. Auf die an den Sohlen festgefrorenen Steinchen zu treten machte jeden Schritt zur höllischen Qual.
Als die Füße meiner Mutter nach ein paar Stunden Marsch wieder ein wenig besser durchblutet waren, hörte sie von weitem ein Rauschen, das sich nach einem reißenden Bach anhörte. Doch dieses Rauschen wurde lauter und lauter, obwohl noch immer kein Wasserlauf zu sehen war, bis meiner Großmutter klar wurde, dass hier der größte Fluss zu queren war, den sie je im Gebirge gesehen hatte. Wild tosend schoss die Flut durch die Felsen, und über die Schlucht war eine Hängebrücke gespannt. Gott sei Dank, dachte meine Großmutter im ersten Moment, bis sie sah, in welchem Zustand sich diese Brücke befand: Nur vier Seile waren über den Abgrund gespannt, die unten mit Stricken als Querstreben aneinandergebunden waren. Diese Stricke sollten wohl als Trittstufen dienen, doch wie weit waren sie voneinander entfernt, wie viel Gischt und Schaum und Abgrund war zwischen jedem Strick und dem nächstfolgenden zu sehen? Bestimmt, dachte meine Mutter mit Grauen, würde sie da hinunterfallen, würde zwischen zwei Stricken den Halt verlieren und von diesem wackligen, zitternden Brückengespenst in die bodenlose Tiefe stürzen.
Mola ließ ihrer Tochter keine Zeit für solche Gedanken. Mit einem Ruck schob sie sie in Richtung des Abgrundes, um dann selbst voranzugehen, fest an die Seile gekrallt, aber immer mit einer freien Hand für Sonam. Die Brücke fing schrecklich zu schaukeln an, das Wasser tobte so laut, dass selbst Mola, obwohl sie direkt vor meiner Mutter ging, deren grellen Schrei kaum hören konnte. Doch sie fing ihre rutschende Tochter ab, hielt sie oben auf den Seilen und zog sie weiter, selber balancierend und angsterfüllt. Schritt für Schritt kamen sie so über den Fluss auf die andere Seite der Schlucht. Genauso wie die anderen Flüchtenden vor ihnen und vermutlich noch viele Flüchtlinge, die nach ihnen diesen Weg in die Freiheit Indiens gewählt hatten.
Nach der Querung der luftigen Brücke begann für meine Mutter wieder die gewohnte Quälerei: Fuß vor Fuß durch die immer schneereichere und immer eisigere Bergwüste zu stapfen, ohne erkennbares Ziel vor Augen, denn sie sah nichts als Schnee und Eis und Felsen, wie sie schon die letzten Tage nichts als Schnee und Eis und Felsen gesehen hatte. Dazu wurde es kälter, und der Wind pfiff schärfer. Weiter und weiter stieg die Gruppe hinauf in die eisigen Höhen des Himalajas.
Plötzlich brach der Schnee unter Sonams Füßen weg. Meine Mutter rutschte in eine Gletscherspalte neben den Fußspuren der vor ihr Gehenden, die von frischem Schnee zugedeckt war, prallte gegen eine eisige Wand und fiel zwei Meter tiefer in harten Schnee. Voller Panik sah sie, dass es neben ihr noch weiter hinunterging. Sie sah auch, wie weit es hinauf war, nach oben, wo ein weißer, gleichgültiger Himmel voller Schneeflocken über den Bergen lag. Niemand hatte sie fallen gesehen, denn sie war als Letzte gegangen. Sie wartete, atemlos, lauschte, aber nichts war zu hören außer dem Pfeifen des Windes. Sie weinte. Sie schrie nicht, weil sie Angst hatte zu schreien. Was immer geschieht, rufe nicht, weine nicht, schreie nicht, das hatten ihr die Erwachsenen Dutzende Male eingeschärft. Kein Feuer, kein Lärm, kein Gekreische, denn die Chinesen können überall sein. In panischer Angst krallte sie sich an die eisigen Seiten ihrer Falle, suchte verzweifelt einen Weg nach oben, doch wieder und wieder rutschten ihre glatten, nassen, schneeverklumpten Schuhe an den Wänden ihres Gefängnisses ab und ließen sie sogar noch ein Stück tiefer fallen, als sie vorher gelegen hatte. Sollte ihre Flucht hier zu Ende sein? Sollte sie ihre Mutter, ihren Vater nie mehr wiedersehen? Sollte sie für immer in diesem dunklen Eisloch gefangen bleiben?
Copyright © 2009 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Yangzom Brauen
Yangzom Brauen, 1980 in der Schweiz geboren, pendelt heute als Model und Schauspielerin zwischen Hollywood, New York, Berlin und Zürich. Sie engagiert sich ehrenamtlich für ein freies Tibet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Yangzom Brauen
- 2010, 416 Seiten, 16 farbige Abbildungen, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345364526X
- ISBN-13: 9783453645264
- Erscheinungsdatum: 04.11.2010
Rezension zu „Eisenvogel “
"Diese tibetische Familiengeschichte ist so bewegend, dass sie uns Kummer vergessen machen kann, während wir sie lesen." Brigitte
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