Eistod
In diesem eisigen Winter wundert sich zunächst niemand, als in Zürich immer mehr Obdachlose erfroren aufgefunden werden. Doch dann entdeckt ein Gerichtsmediziner bei den Toten Reste eines rätselhaften Giftes. Die Ermittlungen führen Kommissar Eschenbach an das Biochemische Institut zu Professor Winter, der als Anwärter auf den Nobelpreis gilt. Hat sein alter Schulfreund tatsächlich etwas mit den Toten zu tun? Eschenbach werden Hinweise zugespielt, dass Winter womöglich biochemische Substanzen zur Folterung islamischer Terroristen entwickelt hat. Und wo steckt Winters Assistent, der plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist? Je weiter Eschenbach mit seinen Nachforschungen in die besseren Kreise vordringt, desto tiefer gerät er in einen Sumpf aus Intrigen, Lügen und Korruption. Nach dem Debüterfolg Im Sommer sterben der zweite atemberaubende Kriminalroman des Schweizer Autors Michael Theurillat.
Eistod von Michael Theurillat
LESEPROBE
»Du hasteine Erkältung, das ist alles«, sagte Christoph Burri,nachdem er Eschenbach gründlich untersucht hatte.
Eschenbachrang sich ein müdes Lächeln ab. Er kannte Burri länger,als er denken konnte. Der Kommissar und der Arzt waren sich zum ersten Mal vorihrer Geburt begegnet. Getrennt durch die Bauchdecken zweier Mütter, die dasGebären übten: Pressen, Hecheln und die indische Brücke. Einundfünfzig Jahrewar das her. Später spielten sie Fußball auf der Fritschi-Wiese,bastelten gemeinsam an ihren Fahrrädern und tauschten Erfahrungen aus; manchmalauch das Mädchen.
»Und schlafdich mal aus, so richtig, mein ich.«
»Ich könnteden ganzen Tag schlafen, Christoph.« Eschenbach knöpftesich Hemd und Hose zu, setzte sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch undschlug die Beine übereinander.
»SeitCorina ihre Sachen gepackt hat, bin ich nur noch ein halber Mensch.«
»Sie sagt,das wärst du vorher schon gewesen.«
»Vielleicht.«Der Kommissar zuckte die Schultern. »Aber jetzt merke ich es selbst. Der Trottbei uns, das Wetter ach, ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich aufhören undetwas ganz anderes machen.«
»Was denn?«Der Arzt sah diskret auf die Uhr.
»Theaterspielen Bienen züchten. Wenn ichs wüsste, dann hätte ichs vermutlich längstgetan.«
»Ich sehedich schon zwischen Honigtöpfen, in Imkeruniform und mit rauchender Zigarre.Oder als Winnie the Pooh ineiner Kindervorstellung im Theater am Hechtplatz.« Burri grinste.
Eschenbachschüttelte den Kopf. Er sah sich als König Lear. »Es muss ja nicht gleich sowas Abgefahrenes sein«, kam es in aufmunterndem Ton. »Geh unter die Leute, insMuseum von mir aus. Schau dir wieder mal die Impressionisten an.« Eschenbach musste niesen.
»Das istMedizin für die Seele, glaub mir. So zwischen alten Meistern und jungenKunststudentinnen «
DerKommissar dachte an Elsbeth, eine amour fou während der Skiferien in den FlumserBergen. Das war nach der Scheidung von Milena, seiner ersten Frau. Jetzt stander vor der zweiten - eine Runde weiter also.
»Da wardoch diese Studentin aus Bern «, Christoph Burri zwinkerteihm zu. »Glaub mir, ein Flirt produziert bei uns mehr Testosteron als das ganzePharmazeugs.«
»Dann liegtes bei mir doch an den Hormonen?«
»Nein. DieHormonwerte sind okay, für dein Alter.«
»Mein Alterist auch dein Alter, mein Lieber.« Eschenbach wundertesich über die Härte in seinem Tonfall.
»Eben.Deshalb sag ich, Flirten hilft.«
DerKommissar suchte in der Jackentasche nach einem Taschentuch. Wieder musste erniesen. »Ach, was ich dich noch fragen wollte: Nimmt Kathrin eigentlich diePille?«
»Dassolltest du besser wissen als ich, sie ist deine Tochter. Aber wenn dufragst wir haben es miteinander besprochen.«
»Und?«
»Sie istfünfzehn, das ist etwas früh. Wenn es irgendwie geht, sollte sie noch warten.« Nach einer Kunstpause fügte er hinzu: »Trotzdem, ich habeihr vorsorglich ein Rezept ausgestellt.«
Eschenbachschwieg.
»Ichdachte, es ist dir recht, wenn du noch nicht Großvater wirst.«Burri lächelte.
DemKommissar gefiel der Gedanke tatsächlich nicht. Auch wenn Kathrin nicht seineleibliche Tochter war; man würde ihn Opa rufen - und das reichte. »Das istschon okay«, sagte er. Was ihn mehr beschäftigte, war die Frage, wie weitKathrin in ihrer pubertierenden Neugier schon gegangen war. Gab es einenFreund? Jetzt, da sie nicht mehr im gleichen Haushalt lebten, spürte er dieDistanz zwischen ihnen. Sie schmerzte ihn mehr als das Stechen in der Brust unddie brennenden Augen. Er verabschiedete sich von Burri.Als Eschenbach mit Nasentropfen, Grippemitteln und einer Packung Vitamin C in derManteltasche die Arztpraxis verließ, war es früher Nachmittag. Es hatteangefangen zu schneien. Dicke Flocken suchten den Weg durch den Nebel und diefeuchte Kälte fuhr dem Kommissar bis ins Mark. Beim Römerplatz nahm er dieTram; holpernd und schnäuzend ging es den Berg hinunter bis zum Bellevue. Dortstieg er wieder aus. Die trockene Heizluft im Wageninnern und das Gehuste deranderen hatten ihm den Rest gegeben. Mit heißem Kopf und fröstelnden Gliedern schleppteer sich langsam entlang der Limmat Richtung Rathaus. InGedanken lag er längst in der Badewanne, mit Mozart und einer TasseLindenblütentee. Wird schon besser, dachte er. Da fiepte sein Handy.
Es waralles gelaufen, als der Kommissar am Tatort erschien. Martin Z. hatte sich vordem Crazy Girl selbst gerichtet. Zuvor hatte er derProstituierten Nora K. ein halbes Magazin Kugeln in die Brust gefeuert und demTürsteher Josef M. einen glatten Lungendurchschuss verpasst. Die Position vonOpfer und Täter, beide tot, war sorgfältig markiert worden und die Spuren derEreignisse, die sich vom Zimmer über Flur und Treppe bis vor das Lokal zogen,ordnungsgemäß fotografiert. Gewebe-, Blut- und Haarproben steckten bereits inPlastik- tütchen, und der Krankenwagen war mitBlaulicht Richtung Triemli-Spital unterwegs. Ob derTürsteher durchkommen würde, war ungewiss.
»O dufröhliche«, sagte Eschenbach, nachdem er sich vom Schlamassel ein Bild gemachthatte. Er zog an seiner Brissago und hustete denRauch in die kalte Dezemberluft. »Und morgen ist Heiligabend.«Etwas abseits der Hektik sah der Kommissar den Leichenwagen. Er stand quer aufdem Gehsteig. Ein schmächtiger Mann in dunklem Anzug versuchte Schneeketten überdas rechte Hinterrad zu ziehen.
Eschenbachging die paar Schritte zu dem schwarzen Kombi und hörte, wie der Mann fluchte.»Gehts?«, fragte er. »Einen Scheißdreck gehts!« Der Mann rasselte mit den Ketten, stand auf und holtetief Luft: »Erst ficken sie unsere Mädchen, dann schießen sie alles zusammenund am Schluss bekommt jeder einen Staatssarg. Gratis. Zahlen tut hier keiner was.« Nachdem er abermals tief durchgeatmet hatte, kniete ersich wieder neben das Hinterrad. »Scheißausländer«, zischte er. »Alle zusammenScheiße!«
»Sommerreifenim Winter sind auch Scheiße«, sagte Eschenbach und ging zurück zum Tatort.
© Claassen Verlag
- Autor: Michael Theurillat
- 2007, 1, 314 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: CLAASSEN VERLAG
- ISBN-10: 3546004205
- ISBN-13: 9783546004206
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