Elsa ungeheuer
Roman
Elsa ist starrköpfig, widerspenstig, verletzlich. Für den Künstler Lorenz Brauer und seinen Bruder Karl ist ihr Name gleichbedeutend mit Schicksal. Doch was ist am Ende stärker? Ruhm? Rausch? Rache? Liebe? Zärtlich und schonungslos schlägt Astrid Rosenfeld...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
21.90 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Elsa ungeheuer “
Elsa ist starrköpfig, widerspenstig, verletzlich. Für den Künstler Lorenz Brauer und seinen Bruder Karl ist ihr Name gleichbedeutend mit Schicksal. Doch was ist am Ende stärker? Ruhm? Rausch? Rache? Liebe? Zärtlich und schonungslos schlägt Astrid Rosenfeld einen Bogen von einer verrückten Kindheit auf dem Land bis zu den Perversionen der Kunstwelt.
Klappentext zu „Elsa ungeheuer “
Elsa ist starrköpfig, widerspenstig, verletzlich und manchmal schlicht und einfach ein Biest. Für den Künstler Lorenz Brauer und seinen Bruder Karl ist ihr Name gleichbedeutend mit Schicksal. Doch was ist am Ende stärker Ruhm? Rausch? Rache? Oder die Liebe?
Lese-Probe zu „Elsa ungeheuer “
Elsa ungeheuer von Astrid Rosenfeld 1
Für manche Menschen scheint die Erde einfach nicht der rechte Ort zu sein, und meine Mutter Hanna war so ein Mensch.
In dem kleinen oberpfälzischen Dorf, in dem wir lebten, betrachtete man die Sachen nüchterner und nannte sie einfach eine Verrückte. Natürlich äußerte man dergleichen nur hinter vorgehaltener Hand. Aber die vorgehaltene Hand war nicht mehr als eine Geste. Die Worte drangen laut und deutlich an unsere Ohren.
Mit sechzehn hatte Hanna Stimmen gehört. Mit siebzehn durfte sie die Psychiatrie wieder verlassen und mit achtzehn auch die Neuroleptika absetzen. Übrig blieb eine grüne Mütze, die ein Arzt ihr geschenkt hatte. Auch noch zwölf Jahre später thronte sie Sommer wie Winter auf Hannas Haupt. Ein Talisman.
Vor elf Tagen verschwand die grüne Mütze und Hanna Brauer, geborene van Dohl, zog sich eine rosa Unterhose über den Kopf und sprang vom Balkon.
Mein Vater Randolph Brauer vermietete vierzehn Fremdenzimmer, die schönsten im Ort. Unser Haus war fast so etwas wie ein Hotel.
Zum Haus gehörten eine Scheune, ein Stall, eine Koppel, die drei Ponys beherbergte, und ein Garten mit Gemüsebeeten, an dessen äußerem Rand der Mühlbach floss. Eine kleine Brücke, bestehend aus drei dunkelbraunen Holzbrettern und einem wackligen Geländer, spannte sich über den 1,50 Meter breiten Bach und verband unseren Garten mit der Hauptstraße.
Im Herbst und im Winter arbeitete mein Vater in der Kartoffelchips-Fabrik, die auf halber Strecke zwischen Dorf und Stadt lag. Im Frühling reisten die ersten Gäste an, und im Sommer platzte unser Haus aus allen Nähten.
... mehr
Vor vielen Jahren hatten auch Hanna van Dohl und ihr Vater die Sommerferien bei uns verbracht. Herr van Dohl fuhr Ende August zurück nach Den Haag, Hanna jedoch blieb in der Oberpfalz und heiratete Randolph Brauer.
Manchmal sperrte sich Hanna tagelang in ihr Schlafzimmer ein und weinte.
Manchmal überkam sie der Drang, seltsame Dinge zu tun, etwa nackt auf der Brücke zu stehen und unreifes Gemüse in den Mühlbach zu schmeißen. Sie hasste die Ponys und liebte den Esel. Bevor meine Eltern heirateten, hatten die vier Tiere zusammen in der Koppel gelebt, aber Hanna glaubte, dass die Ponys den Esel quälen würden, und bestand darauf, ihn ins Haus zu holen.
Randolph Brauer war ein bodenständiger Fast-Hotelier und Saisonarbeiter, aber mehr als alles andere war er Hannas Mann, und so bekam der Esel ein Zimmer im Erdgeschoss.
Das war noch vor unserer Geburt gewesen. Für meinen älteren Bruder Lorenz und mich war es das Normalste der Welt, dass ein Esel im Haus wohnte. Und niemals hätten wir die Geschichten, die unsere Mutter über die schrecklichen Ponys erzählte, in Zweifel gezogen.
»Sie mögen ihn nicht, weil er anders ist. Als der Esel noch bei ihnen leben musste, haben sie ihn gezwickt, die ganze Nacht. Mit den Zähnen. Wenn er trotz der Schmerzen einmal eingeschlafen ist, haben die Ponys ihm furchtbare Dinge ins Ohr geflüstert und sie in seine Träume geschickt.«
»Was für furchtbare Dinge?«
»Hunde, die nur aus Knochen bestehen und einem bei lebendigem Leib die Nieren rausreißen.«
Oft überlegte mein Vater, ihr zuliebe die drei Tiere abzuschieben. Aber in dem bebilderten Prospekt des hiesigen Tourismusbüros pries man unser Haus als »Ponyhof Brauer« an. Viele Familien mit Kindern verbrachten tatsächlich einzig und allein wegen der zwei braunen und des einen schwarzen Ponys ihre Ferien bei uns.
Hannas toter Körper wurde nach Den Haag transportiert. Seit ihrer Geburt wartete dort in der Familiengruft der van Dohls ein Platz auf sie. Mein Vater fuhr mit dem Zug hinterher und ließ Lorenz und mich in der Obhut unserer Haushälterin Frau Kratzler und unseres Dauergastes Herr Murmelstein zurück.
So wie in anderen Familien hässliche Kuckucksuhren von Generation zu Generation weitergegeben werden und niemand es wagt, das Erbstück trotz seiner Scheußlichkeit zu entsorgen, wurde bei uns Frau Kratzler durchgereicht. Wann Frau Kratzler in den Besitz der Brauers übergegangen war, wusste keiner so genau. Es lebte niemand mehr, der sich an eine Zeit ohne sie erinnern konnte. Frau Kratzler selbst hüllte sich in Schweigen. Ich glaube, einfach nur, um sich interessant zu machen.
Lorenz und ich vermuteten, dass sie eine der ältesten Frauen, wenn nicht sogar die älteste Frau der Welt war. Sollten wir sie eines Tages erben, dann würden wir sie an einen Zirkus oder ein Museum verkaufen.
Als wir Frau Kratzler diesen Plan unterbreiteten, haute sie uns mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Sie haute uns manchmal, oder besser gesagt, sie versuchte es, denn sobald sie ausholte, rannten wir davon. Allerdings hatten wir gedacht, dass ihr die Sache mit dem Zirkus gefallen würde, und so traf uns ihr Schlag unvermutet.
»Lauf, Karl!«, schrie mein Bruder aus dem Fenster. Ich stand im Garten und hatte die Kratzlerin nicht kommen sehen. Dieses Mal drohten mir keine Prügel, sondern der Kamm, den sie in ihrer Rechten hielt.
Nur meine Mutter durfte meine störrischen Haare bürsten, und meine Mutter war seit elf Tagen tot. Etwas, das an das Nest eines expressionistischen Vogelpärchens erinnerte, zierte meinen Kopf. Frau Kratzler hatte panische Angst, dass mich Läuse befallen könnten.
»Schneller, Karl«, rief Herr Murmelstein - das Murmeltier, wie Hanna ihn getauft hatte - aus einem anderen Fenster.
Nur wir vier waren zu Hause, sämtliche Sommergäste spazierten an diesem Julinachmittag durch den Bayerischen Wald oder sonnten sich am Stausee.
»Lauf!«, schrie Lorenz noch einmal.
Ich rannte, so schnell ich konnte. Die Innenseiten meiner speckigen Oberschenkel rieben aneinander, es brannte fürchterlich. Frau Kratzlers Entschlossenheit, meine Haare vor einer Läuseplage zu schützen, verlieh ihr ungeahnte Kräfte.
So hechelten wir durch den Garten, ein dicker achtjähriger Junge und die vielleicht älteste Frau der Welt.
»Lassen Sie doch das Kind in Ruhe, Kratzler, Sie böse Person. « Das Murmeltier und unsere Haushälterin verachteten einander zutiefst und gaben sich wenig Mühe, das zu verbergen.
Das Murmeltier lebte schon seit zehn Jahren bei uns.
Eigentlich hatte er sich damals nur auf der Durchreise befunden, aber dann krachte mitten auf der Hauptstraße ein Kabrio frontal in seinen Opel Admiral, und der Wagen erlitt einen Totalschaden. Das Murmeltier deutete den Unfall als Fügung des Schicksals und blieb in unserem Dorf.
Seither wohnte er in einem Zimmer im oberen Stockwerk, und der kaputte Opel Admiral verrottete in unserer Scheune.
Das Murmeltier war über sechzig, seine Haare grau, und oben links fehlten ihm drei Zähne: der Schneidezahn, der Eckzahn und der daneben. In der Lücke steckte meist ein qualmender Zigarrenstumpen.
Er hatte die ganze Welt bereist und doch nichts von ihr gesehen. Schuld an diesem Versäumnis waren die Frauen. Tausende von Frauen, die das Murmeltier in ihre Schlafgemächer und Hotelzimmer gelockt hatten. Zwischen ihren Beinen vergaß er all die Pläne und Ziele, die ihn einst dazu bewogen hatten, seine Koffer zu packen. Jahrzehnte später kam die Nacht, in der er zwar wollte, aber nicht mehr konnte.
Weder die vollsten Lippen noch die geschicktesten Hände brachten seinen Schwanz wieder zum Stehen, und auch kein Arzt. Das Leben verlor augenblicklich seinen Sinn, und so machte er sich auf den Weg zurück zum Ausgangspunkt seiner Reise - einem Ort an der österreichischen Grenze, nicht größer als unser Dorf -, in der Hoffnung, dort seine ursprünglichen Wünsche und Träume wiederzufinden. Getrieben von einer ungeheuren Wut auf alle Weiber dieser Erde, raste er mit 140 Stundenkilometern über unsere Hauptstraße. Der Fahrer des entgegenkommenden Autos befand sich, ebenfalls die Geschwindigkeitsbegrenzung missachtend, nach einem Überholmanöver auf der falschen Spur.
Beide blieben wie durch ein Wunder unverletzt.
Es war das ›Internationale Jahr der Frau‹, das Jahr, in dem Bill Gates und Paul Allen Microsoft gründeten, das Jahr, in dem der Vietnamkrieg endete, und laut Berechnung der Zeugen Jehovas das letzte Jahr überhaupt. Aber in unserem Dorf ging 1975 als das Jahr des Unfalls in die Annalen ein. Dafür sorgte mehr noch als das Murmeltier der zweite Protagonist des Geschehens: Viktor Janneck, ein junger Schweizer Privatier. Auch die Überreste seines roten Kabrios Mercedes Roadster 300sl fanden einen Platz in unserer Scheune.
Viktor verbrachte eine Woche in der Oberpfalz. Am achten Tag verschwand er in einem adac-Leihwagen und nahm Mathilde, die schönste Frau des Dorfes, mit. Dass Mathilde Gröhler, geborene Wiesinger, bereits verheiratet war und nicht nur drei Koffer, sondern auch ihre einjährige Tochter im Auto verstaute, bereicherte die Angelegenheit um weitere pikante Details.
Obwohl es nur zwei Augenzeugen gegeben hatte - meine schwangere Mutter, die gerade in dem 40 cm tiefen Mühlbach planschte, und Mathildes Mutter Frau Wiesinger, die Wirtin des Jagdhofes -, schilderte jeder Dorfbewohner den Unfall so, als wäre er an diesem Junitag dabeigewesen. Selbst wir Kinder erzählten Jahre später den Sommergästen die Geschichte mit einer solchen Inbrunst, dass sie ständig verwirrt nachfragten: »Und wann war das? Und wie alt bist du?«
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2013 Diogenes Verlag AG Zürich
Vor vielen Jahren hatten auch Hanna van Dohl und ihr Vater die Sommerferien bei uns verbracht. Herr van Dohl fuhr Ende August zurück nach Den Haag, Hanna jedoch blieb in der Oberpfalz und heiratete Randolph Brauer.
Manchmal sperrte sich Hanna tagelang in ihr Schlafzimmer ein und weinte.
Manchmal überkam sie der Drang, seltsame Dinge zu tun, etwa nackt auf der Brücke zu stehen und unreifes Gemüse in den Mühlbach zu schmeißen. Sie hasste die Ponys und liebte den Esel. Bevor meine Eltern heirateten, hatten die vier Tiere zusammen in der Koppel gelebt, aber Hanna glaubte, dass die Ponys den Esel quälen würden, und bestand darauf, ihn ins Haus zu holen.
Randolph Brauer war ein bodenständiger Fast-Hotelier und Saisonarbeiter, aber mehr als alles andere war er Hannas Mann, und so bekam der Esel ein Zimmer im Erdgeschoss.
Das war noch vor unserer Geburt gewesen. Für meinen älteren Bruder Lorenz und mich war es das Normalste der Welt, dass ein Esel im Haus wohnte. Und niemals hätten wir die Geschichten, die unsere Mutter über die schrecklichen Ponys erzählte, in Zweifel gezogen.
»Sie mögen ihn nicht, weil er anders ist. Als der Esel noch bei ihnen leben musste, haben sie ihn gezwickt, die ganze Nacht. Mit den Zähnen. Wenn er trotz der Schmerzen einmal eingeschlafen ist, haben die Ponys ihm furchtbare Dinge ins Ohr geflüstert und sie in seine Träume geschickt.«
»Was für furchtbare Dinge?«
»Hunde, die nur aus Knochen bestehen und einem bei lebendigem Leib die Nieren rausreißen.«
Oft überlegte mein Vater, ihr zuliebe die drei Tiere abzuschieben. Aber in dem bebilderten Prospekt des hiesigen Tourismusbüros pries man unser Haus als »Ponyhof Brauer« an. Viele Familien mit Kindern verbrachten tatsächlich einzig und allein wegen der zwei braunen und des einen schwarzen Ponys ihre Ferien bei uns.
Hannas toter Körper wurde nach Den Haag transportiert. Seit ihrer Geburt wartete dort in der Familiengruft der van Dohls ein Platz auf sie. Mein Vater fuhr mit dem Zug hinterher und ließ Lorenz und mich in der Obhut unserer Haushälterin Frau Kratzler und unseres Dauergastes Herr Murmelstein zurück.
So wie in anderen Familien hässliche Kuckucksuhren von Generation zu Generation weitergegeben werden und niemand es wagt, das Erbstück trotz seiner Scheußlichkeit zu entsorgen, wurde bei uns Frau Kratzler durchgereicht. Wann Frau Kratzler in den Besitz der Brauers übergegangen war, wusste keiner so genau. Es lebte niemand mehr, der sich an eine Zeit ohne sie erinnern konnte. Frau Kratzler selbst hüllte sich in Schweigen. Ich glaube, einfach nur, um sich interessant zu machen.
Lorenz und ich vermuteten, dass sie eine der ältesten Frauen, wenn nicht sogar die älteste Frau der Welt war. Sollten wir sie eines Tages erben, dann würden wir sie an einen Zirkus oder ein Museum verkaufen.
Als wir Frau Kratzler diesen Plan unterbreiteten, haute sie uns mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. Sie haute uns manchmal, oder besser gesagt, sie versuchte es, denn sobald sie ausholte, rannten wir davon. Allerdings hatten wir gedacht, dass ihr die Sache mit dem Zirkus gefallen würde, und so traf uns ihr Schlag unvermutet.
»Lauf, Karl!«, schrie mein Bruder aus dem Fenster. Ich stand im Garten und hatte die Kratzlerin nicht kommen sehen. Dieses Mal drohten mir keine Prügel, sondern der Kamm, den sie in ihrer Rechten hielt.
Nur meine Mutter durfte meine störrischen Haare bürsten, und meine Mutter war seit elf Tagen tot. Etwas, das an das Nest eines expressionistischen Vogelpärchens erinnerte, zierte meinen Kopf. Frau Kratzler hatte panische Angst, dass mich Läuse befallen könnten.
»Schneller, Karl«, rief Herr Murmelstein - das Murmeltier, wie Hanna ihn getauft hatte - aus einem anderen Fenster.
Nur wir vier waren zu Hause, sämtliche Sommergäste spazierten an diesem Julinachmittag durch den Bayerischen Wald oder sonnten sich am Stausee.
»Lauf!«, schrie Lorenz noch einmal.
Ich rannte, so schnell ich konnte. Die Innenseiten meiner speckigen Oberschenkel rieben aneinander, es brannte fürchterlich. Frau Kratzlers Entschlossenheit, meine Haare vor einer Läuseplage zu schützen, verlieh ihr ungeahnte Kräfte.
So hechelten wir durch den Garten, ein dicker achtjähriger Junge und die vielleicht älteste Frau der Welt.
»Lassen Sie doch das Kind in Ruhe, Kratzler, Sie böse Person. « Das Murmeltier und unsere Haushälterin verachteten einander zutiefst und gaben sich wenig Mühe, das zu verbergen.
Das Murmeltier lebte schon seit zehn Jahren bei uns.
Eigentlich hatte er sich damals nur auf der Durchreise befunden, aber dann krachte mitten auf der Hauptstraße ein Kabrio frontal in seinen Opel Admiral, und der Wagen erlitt einen Totalschaden. Das Murmeltier deutete den Unfall als Fügung des Schicksals und blieb in unserem Dorf.
Seither wohnte er in einem Zimmer im oberen Stockwerk, und der kaputte Opel Admiral verrottete in unserer Scheune.
Das Murmeltier war über sechzig, seine Haare grau, und oben links fehlten ihm drei Zähne: der Schneidezahn, der Eckzahn und der daneben. In der Lücke steckte meist ein qualmender Zigarrenstumpen.
Er hatte die ganze Welt bereist und doch nichts von ihr gesehen. Schuld an diesem Versäumnis waren die Frauen. Tausende von Frauen, die das Murmeltier in ihre Schlafgemächer und Hotelzimmer gelockt hatten. Zwischen ihren Beinen vergaß er all die Pläne und Ziele, die ihn einst dazu bewogen hatten, seine Koffer zu packen. Jahrzehnte später kam die Nacht, in der er zwar wollte, aber nicht mehr konnte.
Weder die vollsten Lippen noch die geschicktesten Hände brachten seinen Schwanz wieder zum Stehen, und auch kein Arzt. Das Leben verlor augenblicklich seinen Sinn, und so machte er sich auf den Weg zurück zum Ausgangspunkt seiner Reise - einem Ort an der österreichischen Grenze, nicht größer als unser Dorf -, in der Hoffnung, dort seine ursprünglichen Wünsche und Träume wiederzufinden. Getrieben von einer ungeheuren Wut auf alle Weiber dieser Erde, raste er mit 140 Stundenkilometern über unsere Hauptstraße. Der Fahrer des entgegenkommenden Autos befand sich, ebenfalls die Geschwindigkeitsbegrenzung missachtend, nach einem Überholmanöver auf der falschen Spur.
Beide blieben wie durch ein Wunder unverletzt.
Es war das ›Internationale Jahr der Frau‹, das Jahr, in dem Bill Gates und Paul Allen Microsoft gründeten, das Jahr, in dem der Vietnamkrieg endete, und laut Berechnung der Zeugen Jehovas das letzte Jahr überhaupt. Aber in unserem Dorf ging 1975 als das Jahr des Unfalls in die Annalen ein. Dafür sorgte mehr noch als das Murmeltier der zweite Protagonist des Geschehens: Viktor Janneck, ein junger Schweizer Privatier. Auch die Überreste seines roten Kabrios Mercedes Roadster 300sl fanden einen Platz in unserer Scheune.
Viktor verbrachte eine Woche in der Oberpfalz. Am achten Tag verschwand er in einem adac-Leihwagen und nahm Mathilde, die schönste Frau des Dorfes, mit. Dass Mathilde Gröhler, geborene Wiesinger, bereits verheiratet war und nicht nur drei Koffer, sondern auch ihre einjährige Tochter im Auto verstaute, bereicherte die Angelegenheit um weitere pikante Details.
Obwohl es nur zwei Augenzeugen gegeben hatte - meine schwangere Mutter, die gerade in dem 40 cm tiefen Mühlbach planschte, und Mathildes Mutter Frau Wiesinger, die Wirtin des Jagdhofes -, schilderte jeder Dorfbewohner den Unfall so, als wäre er an diesem Junitag dabeigewesen. Selbst wir Kinder erzählten Jahre später den Sommergästen die Geschichte mit einer solchen Inbrunst, dass sie ständig verwirrt nachfragten: »Und wann war das? Und wie alt bist du?«
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2013 Diogenes Verlag AG Zürich
... weniger
Autoren-Porträt von Astrid Rosenfeld
Astrid Rosenfeld wurde 1977 in Köln geboren. Nach dem Abitur ging sie für zwei Jahre nach Kalifornien, wo sie erste Berufserfahrungen am Theater sammelte. Danach begann sie eine Schauspielausbildung in Berlin, die sie nach anderthalb Jahren abbrach. Seither hat sie in diversen Jobs in der Filmbranche gearbeitet, unter anderem als Casterin. Astrid Rosenfeld lebt in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Astrid Rosenfeld
- 2013, 288 Seiten, Maße: 11,6 x 18,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257068506
- ISBN-13: 9783257068504
Kommentare zu "Elsa ungeheuer"
0 Gebrauchte Artikel zu „Elsa ungeheuer“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Elsa ungeheuer".
Kommentar verfassen