Emil Nolde
Die Farben sind meine Noten
"Das Malen war mein besseres Sein" Emil Nolde
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Emil Nolde “
"Das Malen war mein besseres Sein" Emil Nolde
Klappentext zu „Emil Nolde “
Emil Nolde, einer der führenden Maler des deutschen Expressionismus, zählt zu den großen Künstlern des 20. Jahrhunderts. Seine ausdrucksstarken, farbintensiven Gemälde und Aquarelle gehören zum Bilderkanon unserer Zeit. Die erfahrene Biographin Kirsten Jüngling legt nun die erste große Nolde-Biographie vor. Auf der Basis umfangreicher Archivstudien und zahlreicher erstmals erschlossener Quellen wirft sie einen neuen Blick auf dieses bemerkenswerte Künstlerleben, in dem sich die großen Umbrüche der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegeln.Jüngling zeichnet Nolde als einen Mann der Widersprüche: einerseits Sympathisant der Lebensreformbewegung, Bewunderer fremder Kulturen und Anhänger moderner Ausdrucksformen in Kunst und Musik, andererseits zutiefst konservativer Propagandist einer »germanischen Kunst«, Antisemit und NSDAP-Mitglied. Trotz diverser Anbiederungsversuche an die NS-Machthaber wurden seine Werke als »entartet« diffamiert - was ihm nach dem Krieg rasch Rehabilitationund neuen Ruhm einbrachte. Ein spannendes Kapitel deutscher Kultur- und Zeitgeschichte, das Jüngling bravourös zu erzählen vermag.
Lese-Probe zu „Emil Nolde “
Emil Nolde von Kirsten Jüngling»Viel Schönheit und etwas Religiosität«
IM ELTERNHAUS
Da sitzt einer im Heufach. Hat sich zurückgezogen, verweigert sich dem väterlichen Anspruch, nach einer bescheidenen Schulkarriere in die Hofarbeit hineinzuwachsen wie die Brüder. Blaue Schimmelwolken nehmen ihm den Atem. Sechzig Rinder und zehn Pferde muss der 16-Jährige versorgen. Er ist sehr schlechter Stimmung. Denkt er an den vergangenen Sommer, sieht er die dichten weißen Nebelschwaden, wie sie auf den gemähten Wiesen lagern und gerade mal die Spitzen der zahllosen Heudiemen freigeben.2 Jetzt, im Winter, muss er das in der Feuchtigkeit zu festen Kuchen zusammengepappte schimmelige Gras auseinanderreißen und verfüttern.
... mehr
In diesen Monaten will Emil Missionar werden. In die Bibel vertieft er sich bis zur Extase. Vor Jahren schon hat er gelobt, seinem Gott ein Lied fürs Gesangbuch zu dichten. Damals hatte er in der Schule versagt, die vierte Klasse wiederholen müssen - zu viel Phantasie.3 »Zeitweise einfältig wie ein Narr, doch seinen Brüdern überlegen«4, so will Emil sich sehen. Das Gebiet, auf dem er ihren Respekt zu erringen sucht, soll das der Religion sein. Vorerst. Dem Breklumer Pastor Jensen könnte er folgen. Sich von der seit zehn Jahren dort ansässigen Nordelbischen Missionsgesellschaft schulen und nach Indien, Afrika, Indonesien oder China schicken lassen. Auch die Herrnhuter Brüdergemeinde in Christiansfeld, überschaubare siebzig Kilometer nördlich des heimatlichen Hofs an der Ostküste Südjütlands gelegen, könnte ihm zu einem Leben verhelfen, das den Neid der Brüder kitzeln und die verehrte Mutter glücklich machen würde. Im Jütländisch-Schleswigschen wimmelt es von sektiererischen Konventikeln, von Wanderpredigern, die auch in seiner Familie Gehör und in seinen Brüdern Mitstreiter finden.
Emil liebt und bewundert seine Mutter - weil sie zwar als Bäuerin ziemlich untüchtig, aber hellsichtig ist,und weil sie in ihm etwas Besonderes sieht: Geige sollte er spielen lernen. Das jedoch muss er ihr schuldig bleiben. Alltags geht sie in schönen Kleidern von grün-weißem Beiderwandstoff aus Leinen und Wolle. Sie mag es, den Kälbern ihre Milch zu geben oder Blumen aus dem Garten in Vasen und Schalen zu »Ewigkeitsranken « zu arrangieren, was ihrem Jüngsten ebenso in Erinnerung bleibt wie ihre Fest- und Feiertagskleider: blaurot- lila oder braun-violett aus feinstem Tuch mit Seidenfäden durchwebt und Tonderner Klöppelspitze verziert. All das, samt Spitzenhaube, Goldbrosche und Schlangenring, hebt die Mutter unter den Frauen der anderen Geestbauern hervor. Zusammen mit silbernen Löffeln, die Engelsköpfchen zieren, werden solche Schätze in einer eisenbeschlagenen Truhe verwahrt, in der auch zwölf kleine Holztafeln liegen, auf denen Szenen aus dem Leben Christi zu sehen sind, gemalte »mys tische Wunder«. Die Bilder wie auch die Schnitzereien am Alkovenpaneel und am grünen Schrank, der im dunklen Gang steht, sind etwas ganz Besonderes, Staunenswertes. Oder? Nein, all das findet sich so oder so ähnlich in vielen bäuerlichen Familiengeschichten.
Auch andere übliche Topoi fehlen nicht in den Erinnerungen des Erwachsenen - 63 Jahre wird Nolde alt sein, als er sie verfasst, veröffentlicht werden sie im Jahr darauf. Die Vorbildlichkeit des Vaters, dem nichts über einen Besuch im von Rindern dichtbesetzten Stall geht, der ein Pferde- und Wetterkenner und Inhaber vieler Ehrenämter ist. Die Extravaganz der Mutter, die Nolde in ihrem Blumengarten, mit jungen Lämmern oder den Vater über die Getreidefelder begleitend darstellt. Wenn sie im Winter mit den beiden Mägden nahe beim Ofen sitzt und spinnt, hat sie das feinste Spinnrad weit und breit. Und wenn sie ausnahmsweise selbst kocht, dann »seltene und feine Gerichte«. Wie sie den Vater unterstützt, wenn die großen Ochsen verkauft werden sollen, wie sie alles herrichtet und mit den fremden Herren, mit denen das Geschäft gemacht werden soll, »so fein und schön« spricht, das imponiert den Kindern, die sich stolz in eine Ecke drücken, um alles mitzubekommen.
Ein Idyll in der Geest, das ist es, was Nolde unter dem Titel Das eigene Leben entworfen hat. Die Eltern, die Geschwister, der Hof, das Dorf, das Leben in der Abfolge der Jahreszeiten. Das Hinaustreiben des Viehs zur Sommeräsung im Frühjahr. Die Tage, an denen »piepsend, bläkend, brüllend, wiehernd« all die Küken, Lämmer, Kälber, Füllen ums Haus herum tollen und der kleine Emil barfuß hinter ihnen herläuft. Im Sommer schaut er den singenden Knechten und Mägden nach, die auf Leiterwagen zur Heuernte fahren. Draußen gibt es später dickflüssige Mehlgrütze mit einem Butterklecks in der Mitte, in die auch Emil seinen Löffel hineintauchen darf. Beeren reifen im Garten, und es blühen vielfarbige Rosen »und ich der Knabe warf scherzend den Mädchen die Hände voll hin«. Die Roggenernte, das Fest auf der Tenne, das Karussellfahren auf dem Herbstmarkt in Tondern, Schlittschuhlaufen über zugefrorene Gräben, der Weihnachtsabend. Zwischendurch Fahrten in einer Reihe von Pheatons zu großen Familienfeiern, am liebsten zu den Verwandten in der Marsch, dorthin, wo der Vater alle Höfe beim Namen kennt und auch die Geschichten ihrer Inhaber ... Alles passt ins Klischee und soll es auch. Aber die Kindheitserinnerungen Emil Noldes, wie er sich seit seinem 35. Lebensjahr nennt, sind nicht nur »licht und schön«.
Tante Ellen, Mutters Schwester, ist fürs Grobe da. Fürs Alltagskochen, fürs Ausbessern verschlissener Kleidung, auch für die Erziehung der Kinder: Gut in der Fürsorge, radikal in der Bestrafung, urteilt Nolde. Einsperren in die dunkle Torfscheune gehört dazu, oder »wenn ich Schlimmes getan hatte, hielt sie mich an den Füßen hoch, mit dem Kopf nach unten, über die Spülgrube. ›Da kommst 'nein‹, sagte sie; unten sah ich spiegelnd mich selbst, und das war erschreckend.« Kein Gedanke an das verlockende eigene Abbild, sondern früh empfundenes Grauen. Allgegenwärtig wie das Wasser. Man kann darin umkommen, wie das Kindermädchen, das im nahen Bach ertrank. Trotz strengem Verbot reizt es Emil, nachzusehen, ob bei den Hechtschnüren, die die älteren Brüder in der Grünau hinterm Wehr ausgelegt haben, einer angebissen hat. Er fällt hinein, wird in einem Strudel hinabgezogen. Wäre sein Bruder Nicolai nicht zur Stelle gewesen, wer weiß.
Andere Gefahren kennt er nur vom Hörensagen. An den Winterabenden dürfen die Knechte mit in der Stube sitzen, am Alkovenpaneel, hinter dem die Betten der Familienmitglieder verborgen sind, nahe dem Ofen. Sie erzählen Schauergeschichten von knarrenden Türen und unerklärlichem Wagengetöse auf dem Hof. Von Räubern, die im Wald oder auf der Heide plötzlich aus Gräben springen. Und von Nis Puk, dem guten Hausgeist, der verschwindet, wenn man ihm nicht richtig huldigt. Die Geschichten und die Bilder, die sich dazu einstellen, während Emil sich beim Zuhören den Platz auf der Decke mit dem Hofhund teilt, um weniger Angst zu haben, blieben ihm in Erinnerung. Dazu kommen Ereignisse auf dem Hof, vor denen die Mutter zum Nachbarn flieht, die der Junge aber mit eigenen Augen sieht: Der Todeskampf eines laut schreienden Schweins, das Spalten des Schädels einer Kuh. Hinstürzen und letztes Zucken, während das Blut in einer weißen Schüssel aufgefangen wird.
Aber auch Erlebnisse ganz anderer Art hinterlassen Eindrücke: Wenn die beiden im Haus beschäftigten Mägde im Wechsel mit den Knechten von Liebesschwur und Liebesleid singen. Die vom Heufach aus beobachteten Tändeleien zwischen einer von ihnen und einem der Brüder in der Scheune. Süße Empfindungen sind das, die er nie vergisst, wie auch die: »Drei Jahre mag ich gewesen sein, als das Mädchen mich in der Morgenfrühe zum Ankleiden auf einen Stuhl stellte, und ich dann ihre Wangen streichelnd sagte: ›Kleine süße Ingeburg‹; ich hatte sie so gern«. Frühe zärtliche Spiele: Spannung und Erlösung - Löwe und Lamm mit Hans, dem ältesten Bruder, zur Dämmerstunde. Füchse in ihrem Bau mit einem Freund, in einer Höhlung hinter dem Deich, der den Garten gegen die Grünau schützt. Und »Bussemand-Spiele«: »Es wurde dann die Hose ausgezogen, über den Kopf geschoben, die Arme in die Beine hineingesteckt, unten hing das weiße Hemd und - wir waren furchtbar!«
Das träumerische Versagen in der Schule, riskante Kinder- streiche mit den Freunden aus dem Dorf, hinter dem Rücken der Erwachsenen. Ist es Stolz auf Kameraderie oder Rebellion, wenn Nolde so ausführlich davon berichtet? Wenn er noch nach so vielen Jahren die Jungen beim Namen nennt, mit denen er seine Exkursionen in verbotenes Terrain unternahm. Genau Auskunft gibt über die Knechte, die so viel bei ihm galten? Das alles passt in einen Lebensbericht, der dem entsprechen will, was man Anfang der dreißiger Jahre von einem solchen erwartetet. Aber Nolde schreibt auch über das, was das Kind Emil Hansen von den anderen unterschied: seine Mal- und Zeichensucht. Er malt, wo er geht und steht. Mit Mergelstückchen, mit Holunder- und Rote-Bete-Saft, mit »richtigen« Farben, die er zu Weihnachten geschenkt bekommt. Auf Scheunentore, Wagenbretter, die Schultafel, in seine Bibel. Er zeichnet die Kameraden, Gipsengel, die Kirche, die Schule, Tiere, eins seiner Augen, exakt bis zu den Wimpern ... Er wird sogar bezahlt: von den Großbauern für Karten von ihren Ländereien, von den Konfirmanden für Stammbuchblätter, das Stück zwei Pfennig. Ganz nutzlos war schon seine allererste künstlerische Produktion nicht. Fünf Jahre alt mag er da gewesen sein: kleine Lehmfiguren, dazu gemacht, auf Heckpfähle gestellt und von den Kameraden mit Steinen hinuntergeschmissen zu werden.
Neuruppiner Bilderbögen finden ihren Weg zu dem kleinen Jungen in Nolde, auch ein Heftchen über Dürer, ein Artikel über Makart. Kann man sich tatsächlich mit etwas anderem beschäftigen als mit Ackerbau und Viehzucht? Man kann. Man muss nicht hinter den großen Brüdern dreinlaufen, wie der kleine Emil einst auf dem Schulweg nach Buhrkall, und sich dabei im Bemühen, Schritt zu halten, blutige Knöchel schlagen mit den zu schweren Holzschuhen. Aber der Vater will es nicht. Er kann ziemlich unerbittlich sein. Er kann »heftig werden. Er dann faltete ein Tau zusammen und vornüber gebeugt, mit meinem Kopf zwischen seinen Knien, wurde ich Schlingel verbläut, bis laut ›lieber, lieber Vater‹ weinend ich schrie.« Schlachter kann er sich für seinen jüngsten Sohn vorstellen, auch Tischler. Da hilft es wenig, dass der Lehrer dessen Begabung erkennt und ihn durch Sonderaufgaben im Zeichnen fördert. Und nichts, dass ein Nachbar angesichts dessen, was der jüngste Hansen da verfertigt, nachdenklich wird. Eine Meinung der Mutter zu diesem Thema ist nicht überliefert. Man einigt sich schließlich auf eine Ausbildung zum Schnitzer. Vielleicht, so hoffen alle, kann Emil sich damit versöhnen.
Außer den Schnitzereien im Elternhaus kennt er die viel bedeutenderen in der Kirche von Buhrkall. Uralt steht sie nahe der Brücke über die Grünau, die auch am Hof der Eltern vorbei fließt. Jeden Sonntag muss Emil mit der Familie dorthin zum Gottesdienst. Eine langweilige, im Winter noch dazu ausgesprochen frostige Sache, die er durch Herumschauen abzukürzen sucht, weshalb ihm die Altartafeln sehr vertraut sind: im Halbrelief geschnitzte Motive nach Kupferstichen von Albrecht Dürer, angefertigt - sollte das wegweisend sein? - in einer Flensburger Werkstatt. Emil wird also nicht Bauer werden. Er wird den heimatlichen Hof verlassen, hoffend, damit auch seiner Schwermut zu entkommen, die ihn seit etwa zwei Jahren im Griff hat. So beliebt, wie er einmal war, so gemieden und verstoßen fühlt er sich, seit er nicht mehr der fröhliche Spielkamerad sein kann. »Ich, verstimmt, ging weg, mir Vorwürfe machend, bitter und im Innern tief traurig, weil ich ein so absonderlicher Mensch geworden war. Alle sonnige Lebensschönheit war mir genommen. Ich wurde wie in eine Wüste versetzt zur Selbstbesinnung, in schwere menschlich kaum zu ertragende Vereinsamung.« Den Kameraden entfremdet und zu befangen, sich den angehimmelten Mädchen zu nähern. Und: »Auch mein letztes Jahr in der Schule war einsam, ich war nur da mit mir selbst, aber fleißig war ich geworden. In dem einen Jahr lernte ich mehr, als in den neun vorangegangenen.«
Ist es verwunderlich, dass Emil sich vorkommt wie der biblische Joseph im Verhältnis zu seinen drei Brüdern? Ganz unten im Brunnen - wie in der Spülgrube? Er schafft es nicht, seine Pflichten auf dem elterlichen Hof zu erfüllen und seinem Malen nachzugehen. So wie Hans, der Älteste, der nebenbei aufschreibt, was ihm bedeutsam erscheint: Geschichtsdaten, Statistiken etwa. Oder wie Nicolai, der, wann immer er Zeit dafür findet, über Konstruktionszeichnungen für Maschinen sitzt, die er sich ausdenkt. Oder wie Leonhard, der sich vorgenommen hat, mehr über Handel und Tierheilkunde zu lernen. Was die kleine Schwester betrifft, nun ja: »Ihr sind keine besonderen Gaben gegeben.« Und: »Sie war Vaters liebes kleines Mädchen und lief so gern an seiner Hand hüpfend, plaudernd, fragend.«
Für sich selbst reklamiert er die »Kuriosität zweier Geburtstage «: Er kam am 7. August 1867 zur Welt, wurde aber als am 20. August geboren ins Kirchenbuch eingetragen. Er liebt das Aparte an seiner Biographie, wie die Geschichte des Kennenlernens seiner Eltern: Emils Vater, Niels Hansen, Sohn von Hans und Petrea Hansen, 1831 auf Merlingfeld in der Marsch geboren, war mit fünf Schwestern und drei Brüdern aufgewachsen. Der Hof, im Kirchspiel Aventoft gelegen, war ein Haubarg. Das bedeutet, dass Wohnräume, Stallungen und Scheune sich unter einem hohen, nach der Mitte zusammengefassten Reetdach befanden. »Die beiden jungen Brüder Jens und Niels Hansen reisten alljährlich zur Geest hinauf, um junge Ochsen für ihre Grasweiden auf Merlingfeld zu kaufen.
« Sie kamen auch in die Ortschaft Nolde, wo Niels auf einem der Höfe die Schwestern Lena, Ellen und Hanna Christine kennenlernte. Als im Alter von 49 Jahren Hans Hansen an Lungenentzündung starb und Petrea mit den neun Kindern Merlingfeld nicht halten konnte, fand Niels hier ein neues Zuhause, wobei er sich für Hanna Christine entschied. Sieben Jahre waren die beiden verlobt, danach »erfolgte bei der Heirat die Übernahme des elterlichen Hofes meiner Mutter durch meinen Vater.«
© Propyläen (Verlag)
In diesen Monaten will Emil Missionar werden. In die Bibel vertieft er sich bis zur Extase. Vor Jahren schon hat er gelobt, seinem Gott ein Lied fürs Gesangbuch zu dichten. Damals hatte er in der Schule versagt, die vierte Klasse wiederholen müssen - zu viel Phantasie.3 »Zeitweise einfältig wie ein Narr, doch seinen Brüdern überlegen«4, so will Emil sich sehen. Das Gebiet, auf dem er ihren Respekt zu erringen sucht, soll das der Religion sein. Vorerst. Dem Breklumer Pastor Jensen könnte er folgen. Sich von der seit zehn Jahren dort ansässigen Nordelbischen Missionsgesellschaft schulen und nach Indien, Afrika, Indonesien oder China schicken lassen. Auch die Herrnhuter Brüdergemeinde in Christiansfeld, überschaubare siebzig Kilometer nördlich des heimatlichen Hofs an der Ostküste Südjütlands gelegen, könnte ihm zu einem Leben verhelfen, das den Neid der Brüder kitzeln und die verehrte Mutter glücklich machen würde. Im Jütländisch-Schleswigschen wimmelt es von sektiererischen Konventikeln, von Wanderpredigern, die auch in seiner Familie Gehör und in seinen Brüdern Mitstreiter finden.
Emil liebt und bewundert seine Mutter - weil sie zwar als Bäuerin ziemlich untüchtig, aber hellsichtig ist,und weil sie in ihm etwas Besonderes sieht: Geige sollte er spielen lernen. Das jedoch muss er ihr schuldig bleiben. Alltags geht sie in schönen Kleidern von grün-weißem Beiderwandstoff aus Leinen und Wolle. Sie mag es, den Kälbern ihre Milch zu geben oder Blumen aus dem Garten in Vasen und Schalen zu »Ewigkeitsranken « zu arrangieren, was ihrem Jüngsten ebenso in Erinnerung bleibt wie ihre Fest- und Feiertagskleider: blaurot- lila oder braun-violett aus feinstem Tuch mit Seidenfäden durchwebt und Tonderner Klöppelspitze verziert. All das, samt Spitzenhaube, Goldbrosche und Schlangenring, hebt die Mutter unter den Frauen der anderen Geestbauern hervor. Zusammen mit silbernen Löffeln, die Engelsköpfchen zieren, werden solche Schätze in einer eisenbeschlagenen Truhe verwahrt, in der auch zwölf kleine Holztafeln liegen, auf denen Szenen aus dem Leben Christi zu sehen sind, gemalte »mys tische Wunder«. Die Bilder wie auch die Schnitzereien am Alkovenpaneel und am grünen Schrank, der im dunklen Gang steht, sind etwas ganz Besonderes, Staunenswertes. Oder? Nein, all das findet sich so oder so ähnlich in vielen bäuerlichen Familiengeschichten.
Auch andere übliche Topoi fehlen nicht in den Erinnerungen des Erwachsenen - 63 Jahre wird Nolde alt sein, als er sie verfasst, veröffentlicht werden sie im Jahr darauf. Die Vorbildlichkeit des Vaters, dem nichts über einen Besuch im von Rindern dichtbesetzten Stall geht, der ein Pferde- und Wetterkenner und Inhaber vieler Ehrenämter ist. Die Extravaganz der Mutter, die Nolde in ihrem Blumengarten, mit jungen Lämmern oder den Vater über die Getreidefelder begleitend darstellt. Wenn sie im Winter mit den beiden Mägden nahe beim Ofen sitzt und spinnt, hat sie das feinste Spinnrad weit und breit. Und wenn sie ausnahmsweise selbst kocht, dann »seltene und feine Gerichte«. Wie sie den Vater unterstützt, wenn die großen Ochsen verkauft werden sollen, wie sie alles herrichtet und mit den fremden Herren, mit denen das Geschäft gemacht werden soll, »so fein und schön« spricht, das imponiert den Kindern, die sich stolz in eine Ecke drücken, um alles mitzubekommen.
Ein Idyll in der Geest, das ist es, was Nolde unter dem Titel Das eigene Leben entworfen hat. Die Eltern, die Geschwister, der Hof, das Dorf, das Leben in der Abfolge der Jahreszeiten. Das Hinaustreiben des Viehs zur Sommeräsung im Frühjahr. Die Tage, an denen »piepsend, bläkend, brüllend, wiehernd« all die Küken, Lämmer, Kälber, Füllen ums Haus herum tollen und der kleine Emil barfuß hinter ihnen herläuft. Im Sommer schaut er den singenden Knechten und Mägden nach, die auf Leiterwagen zur Heuernte fahren. Draußen gibt es später dickflüssige Mehlgrütze mit einem Butterklecks in der Mitte, in die auch Emil seinen Löffel hineintauchen darf. Beeren reifen im Garten, und es blühen vielfarbige Rosen »und ich der Knabe warf scherzend den Mädchen die Hände voll hin«. Die Roggenernte, das Fest auf der Tenne, das Karussellfahren auf dem Herbstmarkt in Tondern, Schlittschuhlaufen über zugefrorene Gräben, der Weihnachtsabend. Zwischendurch Fahrten in einer Reihe von Pheatons zu großen Familienfeiern, am liebsten zu den Verwandten in der Marsch, dorthin, wo der Vater alle Höfe beim Namen kennt und auch die Geschichten ihrer Inhaber ... Alles passt ins Klischee und soll es auch. Aber die Kindheitserinnerungen Emil Noldes, wie er sich seit seinem 35. Lebensjahr nennt, sind nicht nur »licht und schön«.
Tante Ellen, Mutters Schwester, ist fürs Grobe da. Fürs Alltagskochen, fürs Ausbessern verschlissener Kleidung, auch für die Erziehung der Kinder: Gut in der Fürsorge, radikal in der Bestrafung, urteilt Nolde. Einsperren in die dunkle Torfscheune gehört dazu, oder »wenn ich Schlimmes getan hatte, hielt sie mich an den Füßen hoch, mit dem Kopf nach unten, über die Spülgrube. ›Da kommst 'nein‹, sagte sie; unten sah ich spiegelnd mich selbst, und das war erschreckend.« Kein Gedanke an das verlockende eigene Abbild, sondern früh empfundenes Grauen. Allgegenwärtig wie das Wasser. Man kann darin umkommen, wie das Kindermädchen, das im nahen Bach ertrank. Trotz strengem Verbot reizt es Emil, nachzusehen, ob bei den Hechtschnüren, die die älteren Brüder in der Grünau hinterm Wehr ausgelegt haben, einer angebissen hat. Er fällt hinein, wird in einem Strudel hinabgezogen. Wäre sein Bruder Nicolai nicht zur Stelle gewesen, wer weiß.
Andere Gefahren kennt er nur vom Hörensagen. An den Winterabenden dürfen die Knechte mit in der Stube sitzen, am Alkovenpaneel, hinter dem die Betten der Familienmitglieder verborgen sind, nahe dem Ofen. Sie erzählen Schauergeschichten von knarrenden Türen und unerklärlichem Wagengetöse auf dem Hof. Von Räubern, die im Wald oder auf der Heide plötzlich aus Gräben springen. Und von Nis Puk, dem guten Hausgeist, der verschwindet, wenn man ihm nicht richtig huldigt. Die Geschichten und die Bilder, die sich dazu einstellen, während Emil sich beim Zuhören den Platz auf der Decke mit dem Hofhund teilt, um weniger Angst zu haben, blieben ihm in Erinnerung. Dazu kommen Ereignisse auf dem Hof, vor denen die Mutter zum Nachbarn flieht, die der Junge aber mit eigenen Augen sieht: Der Todeskampf eines laut schreienden Schweins, das Spalten des Schädels einer Kuh. Hinstürzen und letztes Zucken, während das Blut in einer weißen Schüssel aufgefangen wird.
Aber auch Erlebnisse ganz anderer Art hinterlassen Eindrücke: Wenn die beiden im Haus beschäftigten Mägde im Wechsel mit den Knechten von Liebesschwur und Liebesleid singen. Die vom Heufach aus beobachteten Tändeleien zwischen einer von ihnen und einem der Brüder in der Scheune. Süße Empfindungen sind das, die er nie vergisst, wie auch die: »Drei Jahre mag ich gewesen sein, als das Mädchen mich in der Morgenfrühe zum Ankleiden auf einen Stuhl stellte, und ich dann ihre Wangen streichelnd sagte: ›Kleine süße Ingeburg‹; ich hatte sie so gern«. Frühe zärtliche Spiele: Spannung und Erlösung - Löwe und Lamm mit Hans, dem ältesten Bruder, zur Dämmerstunde. Füchse in ihrem Bau mit einem Freund, in einer Höhlung hinter dem Deich, der den Garten gegen die Grünau schützt. Und »Bussemand-Spiele«: »Es wurde dann die Hose ausgezogen, über den Kopf geschoben, die Arme in die Beine hineingesteckt, unten hing das weiße Hemd und - wir waren furchtbar!«
Das träumerische Versagen in der Schule, riskante Kinder- streiche mit den Freunden aus dem Dorf, hinter dem Rücken der Erwachsenen. Ist es Stolz auf Kameraderie oder Rebellion, wenn Nolde so ausführlich davon berichtet? Wenn er noch nach so vielen Jahren die Jungen beim Namen nennt, mit denen er seine Exkursionen in verbotenes Terrain unternahm. Genau Auskunft gibt über die Knechte, die so viel bei ihm galten? Das alles passt in einen Lebensbericht, der dem entsprechen will, was man Anfang der dreißiger Jahre von einem solchen erwartetet. Aber Nolde schreibt auch über das, was das Kind Emil Hansen von den anderen unterschied: seine Mal- und Zeichensucht. Er malt, wo er geht und steht. Mit Mergelstückchen, mit Holunder- und Rote-Bete-Saft, mit »richtigen« Farben, die er zu Weihnachten geschenkt bekommt. Auf Scheunentore, Wagenbretter, die Schultafel, in seine Bibel. Er zeichnet die Kameraden, Gipsengel, die Kirche, die Schule, Tiere, eins seiner Augen, exakt bis zu den Wimpern ... Er wird sogar bezahlt: von den Großbauern für Karten von ihren Ländereien, von den Konfirmanden für Stammbuchblätter, das Stück zwei Pfennig. Ganz nutzlos war schon seine allererste künstlerische Produktion nicht. Fünf Jahre alt mag er da gewesen sein: kleine Lehmfiguren, dazu gemacht, auf Heckpfähle gestellt und von den Kameraden mit Steinen hinuntergeschmissen zu werden.
Neuruppiner Bilderbögen finden ihren Weg zu dem kleinen Jungen in Nolde, auch ein Heftchen über Dürer, ein Artikel über Makart. Kann man sich tatsächlich mit etwas anderem beschäftigen als mit Ackerbau und Viehzucht? Man kann. Man muss nicht hinter den großen Brüdern dreinlaufen, wie der kleine Emil einst auf dem Schulweg nach Buhrkall, und sich dabei im Bemühen, Schritt zu halten, blutige Knöchel schlagen mit den zu schweren Holzschuhen. Aber der Vater will es nicht. Er kann ziemlich unerbittlich sein. Er kann »heftig werden. Er dann faltete ein Tau zusammen und vornüber gebeugt, mit meinem Kopf zwischen seinen Knien, wurde ich Schlingel verbläut, bis laut ›lieber, lieber Vater‹ weinend ich schrie.« Schlachter kann er sich für seinen jüngsten Sohn vorstellen, auch Tischler. Da hilft es wenig, dass der Lehrer dessen Begabung erkennt und ihn durch Sonderaufgaben im Zeichnen fördert. Und nichts, dass ein Nachbar angesichts dessen, was der jüngste Hansen da verfertigt, nachdenklich wird. Eine Meinung der Mutter zu diesem Thema ist nicht überliefert. Man einigt sich schließlich auf eine Ausbildung zum Schnitzer. Vielleicht, so hoffen alle, kann Emil sich damit versöhnen.
Außer den Schnitzereien im Elternhaus kennt er die viel bedeutenderen in der Kirche von Buhrkall. Uralt steht sie nahe der Brücke über die Grünau, die auch am Hof der Eltern vorbei fließt. Jeden Sonntag muss Emil mit der Familie dorthin zum Gottesdienst. Eine langweilige, im Winter noch dazu ausgesprochen frostige Sache, die er durch Herumschauen abzukürzen sucht, weshalb ihm die Altartafeln sehr vertraut sind: im Halbrelief geschnitzte Motive nach Kupferstichen von Albrecht Dürer, angefertigt - sollte das wegweisend sein? - in einer Flensburger Werkstatt. Emil wird also nicht Bauer werden. Er wird den heimatlichen Hof verlassen, hoffend, damit auch seiner Schwermut zu entkommen, die ihn seit etwa zwei Jahren im Griff hat. So beliebt, wie er einmal war, so gemieden und verstoßen fühlt er sich, seit er nicht mehr der fröhliche Spielkamerad sein kann. »Ich, verstimmt, ging weg, mir Vorwürfe machend, bitter und im Innern tief traurig, weil ich ein so absonderlicher Mensch geworden war. Alle sonnige Lebensschönheit war mir genommen. Ich wurde wie in eine Wüste versetzt zur Selbstbesinnung, in schwere menschlich kaum zu ertragende Vereinsamung.« Den Kameraden entfremdet und zu befangen, sich den angehimmelten Mädchen zu nähern. Und: »Auch mein letztes Jahr in der Schule war einsam, ich war nur da mit mir selbst, aber fleißig war ich geworden. In dem einen Jahr lernte ich mehr, als in den neun vorangegangenen.«
Ist es verwunderlich, dass Emil sich vorkommt wie der biblische Joseph im Verhältnis zu seinen drei Brüdern? Ganz unten im Brunnen - wie in der Spülgrube? Er schafft es nicht, seine Pflichten auf dem elterlichen Hof zu erfüllen und seinem Malen nachzugehen. So wie Hans, der Älteste, der nebenbei aufschreibt, was ihm bedeutsam erscheint: Geschichtsdaten, Statistiken etwa. Oder wie Nicolai, der, wann immer er Zeit dafür findet, über Konstruktionszeichnungen für Maschinen sitzt, die er sich ausdenkt. Oder wie Leonhard, der sich vorgenommen hat, mehr über Handel und Tierheilkunde zu lernen. Was die kleine Schwester betrifft, nun ja: »Ihr sind keine besonderen Gaben gegeben.« Und: »Sie war Vaters liebes kleines Mädchen und lief so gern an seiner Hand hüpfend, plaudernd, fragend.«
Für sich selbst reklamiert er die »Kuriosität zweier Geburtstage «: Er kam am 7. August 1867 zur Welt, wurde aber als am 20. August geboren ins Kirchenbuch eingetragen. Er liebt das Aparte an seiner Biographie, wie die Geschichte des Kennenlernens seiner Eltern: Emils Vater, Niels Hansen, Sohn von Hans und Petrea Hansen, 1831 auf Merlingfeld in der Marsch geboren, war mit fünf Schwestern und drei Brüdern aufgewachsen. Der Hof, im Kirchspiel Aventoft gelegen, war ein Haubarg. Das bedeutet, dass Wohnräume, Stallungen und Scheune sich unter einem hohen, nach der Mitte zusammengefassten Reetdach befanden. »Die beiden jungen Brüder Jens und Niels Hansen reisten alljährlich zur Geest hinauf, um junge Ochsen für ihre Grasweiden auf Merlingfeld zu kaufen.
« Sie kamen auch in die Ortschaft Nolde, wo Niels auf einem der Höfe die Schwestern Lena, Ellen und Hanna Christine kennenlernte. Als im Alter von 49 Jahren Hans Hansen an Lungenentzündung starb und Petrea mit den neun Kindern Merlingfeld nicht halten konnte, fand Niels hier ein neues Zuhause, wobei er sich für Hanna Christine entschied. Sieben Jahre waren die beiden verlobt, danach »erfolgte bei der Heirat die Übernahme des elterlichen Hofes meiner Mutter durch meinen Vater.«
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Autoren-Porträt von Kirsten Jüngling
Jüngling, KirstenDie Publizistin Kirsten Jüngling, geboren 1949, schrieb hochgelobte Biographien über Elly Heuss-Knapp, Elizabeth von Arnim, Frieda von Richthofen, Franz und Maria Marc, Katia Mann sowie die Doppelbiographie über Schillers Frau Charlotte und deren Schwester Caroline von Lengefeld. 2008 legte sie die erste Biographie von Heinrich Manns Ehefrau Nelly vor. Zuletzt erschien ihre Biographie über Emil Nolde. Kirsten Jüngling lebt in Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kirsten Jüngling
- 2014, 2, 352 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, 20 Abbildungen, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Propyläen
- ISBN-10: 3549074042
- ISBN-13: 9783549074046
- Erscheinungsdatum: 13.09.2013
Rezension zu „Emil Nolde “
"Wer Aufklärung sucht, kann zum Glück zu Kirsten Jünglings Biografie greifen. Auf knapp dreihundert Seiten erzählt die Autorin klug und kurzweilig Noldes Leben.", FAZ, Julia Voss, 10.02.2014
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