Siebenschön / Emilia Capelli und Mai Zhou Bd.1
Thriller. Originalausgabe
Zwei brillante junge Ermittlerinnen. Vier bizarr inszenierte Leichen. Eine mathematische Formel, die den Takt des Todes vorgibt.
Christina findet einen rätselhaften Brief: "Theo hat versagt. Du solltest Dich lieber beeilen. Die...
Christina findet einen rätselhaften Brief: "Theo hat versagt. Du solltest Dich lieber beeilen. Die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Siebenschön / Emilia Capelli und Mai Zhou Bd.1 “
Zwei brillante junge Ermittlerinnen. Vier bizarr inszenierte Leichen. Eine mathematische Formel, die den Takt des Todes vorgibt.
Christina findet einen rätselhaften Brief: "Theo hat versagt. Du solltest Dich lieber beeilen. Die Adresse ist: Fordstraße 237. Ach übrigens: Ihr Name ist Jennifer." Als Christina und ihr Mann zur angegebenen Adresse fahren, machen sie eine böse Entdeckung. Ein Fall für zwei brillante junge Ermittlerinnen.
Christina findet einen rätselhaften Brief: "Theo hat versagt. Du solltest Dich lieber beeilen. Die Adresse ist: Fordstraße 237. Ach übrigens: Ihr Name ist Jennifer." Als Christina und ihr Mann zur angegebenen Adresse fahren, machen sie eine böse Entdeckung. Ein Fall für zwei brillante junge Ermittlerinnen.
Klappentext zu „Siebenschön / Emilia Capelli und Mai Zhou Bd.1 “
Die neue Stimme der deutschen Spannungsliteratur!"'Theo hat versagt.' Erstaunt blickt Christina Höffgen auf. Wer um Himmels willen ist Theo? Sie liest weiter. 'Du solltest Dich lieber beeilen. Die Adresse ist: Fordstraße 237. Ach übrigens: Ihr Name ist Jennifer.'"
Der rätselhafte Brief lässt Christina nicht mehr los. Gemeinsam mit ihrem Mann fährt sie zu der angegebenen Adresse, auch wenn sie nicht daran glaubt, dort tatsächlich eine Jennifer zu finden. Ein großer Irrtum.
Die Abteilung für Kapitaldelikte der Zentralen Kriminaldirektion Frankfurt am Main spannt die beiden Kommissarinnen Emilia Capelli und Mai Zhou zusammen, um die bizarrste Mordserie aufzuklären, die die Stadt je erlebt hat. Unterschiedlich wie Tag und Nacht, misstrauen die beiden Frauen einander auf Anhieb. Doch wohl oder übel müssen sie sich zusammenraufen, denn bald jagen sie einen gewissenlosen Serienkiller, der seine Morde als grausige Themenwelten inszeniert. Und sein "Werk" ist noch nicht vollendet ...
Lese-Probe zu „Siebenschön / Emilia Capelli und Mai Zhou Bd.1 “
Siebenschön von Judith Winter Samstag, 27. Oktober
Die Nacht war sternenklar und längst nicht so kalt, wie der Wetterbericht angekündigt hatte. Zumindest kam es Alois Berneck so vor.
Schon seit über einer Woche hatte es nicht geregnet. Trockenes Laub raschelte auf dem Weg zu ihren Füßen. Sie gingen ohne Licht, dicht hintereinander. Durch die Kronen der hohen Bäume ringsum fiel silberner Mondschein, und die Luft duftete würzig nach Pilzen und offener Erde.
Eigentlich schön, dachte Berneck zitternd.
»Nach rechts«, befahl die Stimme, die er nicht kannte.
Rechts, das bedeutete jenseits des Weges.
Das ist nicht gut, dachte Berneck. Aber er wagte es nicht, Widerstand zu leisten.
Nach ein paar Hundert Metern meldete sich die Stimme in seinemRückenerneut: »Da vorn. DieLeiter.«
Berneck kniff die Augen zusammen, doch zuerst sah er gar nichts. Erst als sie näher herankamen, entdeckte er ein Stück vor sich ein paar morsche Holztritte. Stufen.
»Steig rauf!«
Er zögerte. Das Holz sah wenig vertrauenerweckend aus. Weiter oben schien eine Art Plattform zu sein. Doch davon war kaum mehr als eine vage Kontur zu erkennen. Berneck sah ein Tarnnetz, ganz ähnlich denen, die sie früher bei der Bundeswehr benutzt hatten, um im Manöver Panzer oder Schützengräben unkenntlich zu machen.
Offenbar ein Hochsitz für Jäger.
Direkt über ihren Köpfen donnerte ein Airbus vorüber. Landeanflug. Das ausgeklappte Fahrgestell zum Greifen nahe.
... mehr
Hilfe, flehte Berneck stumm, wohl wissend, dass man sie nicht sehen konnte. Nicht von diesem Flugzeug aus. Und doch wehte ihn beim bloßen Anblick des landenden Fliegers ein Hauch von Trost an. Noch einmal, ein letztes Mal die Nähe anderer Menschen spüren. Wissen, dass sie sich nah am Flughafen befanden. Ein winziger Orientierungspunkt in einem Meer von Fragen.
»Los, hoch!«, wiederholte die Stimme in seinem Nacken, während die blinkenden Lichter des Airbus hinter den düsteren Baumkronen verschwanden.
Und plötzlich war es doch kalt. Eisig wie in einem Schlachthaus.
»Was haben Sie vor?«, fragte Berneck. »Was wollen Sie von mir?«
Erwartungsgemäß erhielt er keine Antwort. Als er den Lauf der Flinte zwischen seinen Schulterblättern spürte, setzte er den Fuß auf die unterste Stufe. Dann verlagerte er vorsichtig das Gewicht, und tatsächlich: Die Leiter hielt.
Während er zögerlich Stufe um Stufe erklomm, dachte er über die Frage nach, warum der Mann hinter ihm so unendlich geduldig war. Er schien weder Angst noch Eile zu haben. Fast so, als würde er jede Sekunde dieses perfiden Spiels genießen.
Oben angekommen, blickte Berneck in die Tiefe, wo der Waldboden in der Dunkelheit verschwand, und er überlegte, ob es nicht besser wäre, der Sache selbst ein Ende zu bereiten. Allerdings hätte er nicht mit letzter Sicherheit sagen können, ob die Höhe ausreichte, um sich das Genick zu brechen. Und wenn er nicht sofort tot war, würde es nur noch schlimmer werden.
Noch schlimmer, wiederholte etwas tief in ihm. War das überhaupt möglich?
Auf der Leiter hinter ihm kamen die Schritte seines Verfolgers unaufhaltsam näher. Berneck hörte, wie die schweren Stiefel über dieletzteStuferutschten, undplötzlich kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht eine Chance gehabt hätte. Niemand konnte schießen und klettern zugleich. Und die steile Leiter zu erklimmen, ohne sich festzuhalten, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Du hattest die Chance, ihn zu besiegen.
Ein Tritt ins Gesicht, und er wäre vielleicht gestürzt ...
Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich Berneck wie gelähmt.
»Und jetzt?«, fragte er, als der Fremde hinter ihm auf der hölzernen Plattform stand.
Seltsamerweise hatte er keinen Zweifel daran, dass er sterben würde. Und doch interessierte er sich auf einmal für die Details.
Warum? Wann? Wie?
»Ist er ...« Seine Stimme klang verloren in der finsteren Weite des Waldes. »War er Ihr Vater oder so was?«
»Wer?«
»Karl ...« Er hustete trocken. »Karl Czernik.«
Lachen. »Nein.«
»Aber es hat mit ...« Berneck unterbrach sich und unternahm einen neuen Anlauf: »Aber es hat damit zu tun, oder?«
Der Mann antwortete nicht.
Berneck wartete. Lauschte seinem eigenen Atem, während sich nach und nach eine unwirkliche, fast gespenstische Ruhe in ihm breitmachte. Das Zittern verschwand. Seine Beine gehorchten ihm wieder. Zugleich war sein Kopf mit einem Mal von einer angenehmen Kühle erfüllt. Kühle und Klarheit. Es war absurd, aber er hatte tatsächlich das Gefühl, noch niemals im Leben so wach gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Im Angesicht des Todes.
»Knie dich hin«, befahl die Stimme.
Ein leiser Wind bewegte die Kronen der Bäume, und Berneck spürte etwas Warmes auf seiner Wange. Tränen.
Nach all diesen Jahren wirklich und wahrhaftig Tränen.
»Es tut mir leid«, flüsterte er.
Im selben Augenblick wurde sein Körper von einer Ladung Schrot zerfetzt. Ein paar Vögel flatterten erschreckt zwischen den kahlen Zweigen auf. Federn streiften dürre Äste. Die knappen Rufe heiser und nachtschwer.
Dann war es wieder still.
EINS
Donnerstag, 15. November
1
Die wenigen Zuhörer, die sich an diesem trüben Donnerstagmorgen im Sitzungssaal des Frankfurter Landgerichts, Gebäude E, eingefunden hatten, verfolgten die Urteilsverkündung mit einer Mischung aus Misstrauen und resignierter Langeweile. Die Aufmerksamkeit, die dem Fall anfänglich zuteilgeworden war, hatte sich bereits nach wenigen Prozesstagen verflüchtigt, was in erster Linie an der Angeklagten selbst lag. Die pummelige junge Frau mit den stumpfen braunen Augen erfüllte so wenig das Klischee der männermordenden Schwarzen Witwe, dass die meisten Schaulustigen bereits nach der ersten Anhörung enttäuscht aufgegeben hatten. Und so war der Prozess gegen Sarah Jessica Kindle nach spektakulärem Beginn nicht viel anders verlaufen als Dutzende andere Prozesse dieser Art. Zeugen und Gutachter waren gehört worden, die Staatsanwaltschaft hatte ihre Beweise vorgelegt, und Sarah Kindles Anwalt hatte ein viel diskutiertes Plädoyer gehalten. Doch bahnbrechende neue Erkenntnisse hatten sich aus all dem nicht ergeben. Und fast schien es, als hätten selbst die unmittelbar Beteiligten - Richter, Schöffen und Anwälte - mit der Zeit das Interesse an dem Fall verloren.
An dem Tag, an dem das hohe Gericht über ihre Zukunft entschied, trug Sarah Kindle einen rehfarbenen Pullover, und wie immer sprach sie langsam und auffallend leise, als sie dem Richter ein paar letzte, überwiegend formale Fragen beantwortete.
Emilia Capelli betrachtete das teigige Gesicht der Angeklagten und dachte, dass Sarah Kindle den Gerichtssaal in wenigen Minuten als freie Frau verlassen würde. Gleichzeitig überlegte sie, ob ihr diese Aussicht ein gutes Gefühl gab.
»Em«, wie Freunde und Kollegen Emilia scherzhaft nannten, war achtundzwanzig und hatte es trotz ihres jugendlichen Alters bereits zur Hauptkommissarin in der Abteilung für Kapitaldelikte der Zentralen Kriminaldirektion gebracht - ein Umstand, den sie in erster Linie ihrem unermüdlichen Fleiß und einem schier bodenlosen Ehrgeiz verdankte.
Dass sie einen Strafprozess verfolgte, kam eher selten vor. Noch dazu, wenn es um jemanden ging, gegen den sie nicht selbst ermittelt hatte. Aber in diesem Fall war sie als Zeugin gehört worden, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ihre Aufmerksamkeit zumindest so sehr an der Sache hängen geblieben, dass sie ihren freien Vormittag opferte, um der Entscheidung des Gerichts vor Ort beizuwohnen.
»Du hast sie ja nicht alle«, hatten ihre Kollegen gespottet, und im Stillen gab Em ihnen sogar recht. Doch hin und wieder tat man eben Dinge, die sich rational weder erklären noch begründen ließen.
Ihre Augen suchten wieder die verwaschenen Züge der Angeklagten, die den Ausführungen des Richters mit unbewegter Miene lauschte.
Dieser freilich ersparte Sarah Kindle weder den wiederholten Hinweis auf die zahlreichen Ungereimtheiten in dem Fall noch das offene Zurschautragen seiner persönlichen Antipathie. Er schloss mit den Worten: »Dennoch ergeht nach Anhörung sämtlicher Zeugen und vor dem Hintergrund der mehr als dürftigen Beweislage im Namen des Volkes folgendes Urteil ...«
Em spürte, wie angesichts dieser Ankündigung wieder Leben in den Gerichtssaal kam. Sie hörte das Quietschen von Füßen auf dem grauen Linoleum. Rascheln. Ein paar Meter hinter ihr räusperte sich jemand. Dann war der Raum von einem Moment auf den anderen von einer flirrenden Spannung erfüllt, und sämtliche Blicke richteten sich auf die Angeklagte, die noch immer vollkommen ausdruckslos auf die Tischkante vor sich hinuntersah.
»Möchten Sie noch etwas sagen?«, fragte der Richter, nachdem er den erwarteten Freispruch verkündet hatte.
Sarah Kindle sah ihn an und schüttelte wortlos den Kopf.
Der Richter nickte ohne Freundlichkeit. »Dann erkläre ich das Verfahren hiermit für geschlossen. Sie sind frei.«
Die beiden Beisitzer rechts und links von ihm erhoben sich. Staatsanwalt und Verteidiger eilten geschäftig zum Richtertisch. Im Zuschauerraum brach Gemurmel los.
Einzig Sarah Kindle stand nach wie vor unbewegt an ihrem Platz.
»Ich glaube ihr kein Wort«, hörte Em eine Frauenstimme in ihrem Rücken, und obwohl Sarah Kindle zu weit entfernt stand, um die Bemerkung aufzuschnappen, wandte sie just in diesem Augenblick den Kopf und blickte herüber. Noch immer lag ein Ausdruck von Stumpfheit auf ihrem Gesicht, doch ein paar flüchtige Sekunden lang glaubte Em, in den Tiefen der braunen Augen ein leises Glimmen zu erkennen. Einen Anflug von Triumph.
Sie sind frei ...
Der Eindruck verflog so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb das leere Gesicht einer jungen Frau, die soeben um satte viereinhalb Millionen Euro reicher geworden war.
Nur Sekunden später trat Sarah Kindles Anwalt vor seine Klientin und verstellte Em die Sicht. Seufzend bückte sie sich nach ihrer Handtasche und verließ mit einem diffusen Gefühl von Besorgnis den Gerichtssaal.
Von dem Mann, der nur wenige Meter entfernt auf der anderen Seite des Gangs saß, nahm sie keine Notiz. Er trug eine Perücke, aber das fiel niemandem auf. Ebenso wenig wie das schmale Notizheft, dessen Ecke aus der Brusttasche seines Jacketts herausragte. Seit 2007 gab es Sicherheitskontrollen an sämtlichen Eingängen des Gebäudes, was dazu geführt hatte, dass die meisten Leute, die hier ein und aus gingen, es nicht mehr für nötig hielten, ihre Instinkte zu bemühen. Außerdem hatte der Mann über einen langen Zeitraum hinweg die Fähigkeit perfektioniert, seine Mitmenschen genau das sehen zu lassen, was sie zu sehen erwarteten. Ein Talent, das ihm in Situationen wie dieser sehr zupasskam.
»He«, beschwerte sich die resolute ältere Dame, die schon seit geraumer Zeit neben seinem Stuhl stand. »Wären Sie wohl mal so nett, mich durchzulassen?«
Der Mann erhob sich ohne Hast und trat einen Schritt zurück.
»Danke.« Die Rentnerin schlängelte sich an ihm vorbei, wobei sie es bewusst vermied, dem Fremden ihren Allerwertesten zuzukehren. »Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Warum lächeln Sie?«
»Gutes Benehmen«, antwortete der Mann.
Die Frau warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Selten genug heutzutage.«
»Tja«, sagte die Frau. »Leider.«
Er nickte nur. Dann drehte er sich um und ging lächelnd davon.
2
Das Erste, was Jenny Dickinson wahrnahm, als ein Hauch von Bewusstsein in sie zurücksickerte, war ein unbestimmtes Gefühl von Enge.
Sie versuchte, den Kopf zu heben, aber es gelang nicht. Stattdessen entdeckte sie einen Schmerz, den sie nicht näher lokalisieren konnte. Schmerz und auch ein Kribbeln. Wie Blut, das langsam und zäh in einen abgestorbenen Teil von ihr zurückfloss.
Jenseits ihres Körpers schien die Welt dagegen ganz und gar aus Watte zu bestehen. Es gab keine Konturen. Keinen Bezugspunkt, an dem sie sich hätte orientieren können. Weder räumlich noch zeitlich. Nur ein dumpfes, bodenloses Nichts ohne Anfang und Ende.
Seltsamerweise hatte sie trotz allem den Eindruck von Begrenzung. Von Mauern oder Wänden, die ganz in ihrer Nähe waren. So dicht, dass sie die Kälte spüren konnte, die von ihnen ausging.
Sie lag ganz still und konzentrierte sich auf ihren Atem. Den Schlag ihres Herzens. Das Leben, das in ihren Adern pulste. Und irgendwann wurde ihr auch bewusst, dass sie nur durch die Nase Luft bekam. Auf ihren Lippen war etwas, das entfernt nach Blut und Gummi schmeckte. Klebeband vermutlich. Das harte Plastik machte ein knisterndes Geräusch, wenn sie schluckte, und die Erkenntnis, nicht schreien zu können, überschwemmte sie unvermittelt mit einer Welle von Panik. Zugleich schienen sich die Schleimhäute in ihrer Nase immer mehr zu verengen. Als ob sie versuche, durch einen Strohhalm zu atmen. Ihr Herz begann zu rasen, und Jenny merkte, wie sich nun auch ihr Magen zusammenzog. Übelkeit stieg auf.
Nicht kotzen, dachte sie verzweifelt. Wenn du kotzt, erstickst du.
Lenk dich ab! Immerhin hast du Psychologie studiert. Du weißt, wie man sich selbst austrickst. Wie man das Bewusstsein manipuliert.
Sie schluckte wieder, doch das Brennen in ihrer Kehle ließ nicht nach. Woran muss ich denken, wenn ich wieder zu Hause bin?, zwang sie sich, ihre Gedanken auf etwas völlig Banales zu lenken. Was muss erledigt werden?
Olivenöl, Brot, Magermilchjoghurt.
Das Kostüm für Margrets Party aus der Reinigung holen.
Das Geld für die Putzfrau zurechtlegen.
Alltäglichkeiten gegen den Horror. Doch ihre Strategie ging auf. Sie merkte, wie sich ihre Halsmuskeln ein wenig entspannten. Wie die Panik verebbte.
Gut so. Weiter. Von wo kommt der Schmerz?
Sie schloss die Augen und versuchte, ihren Körper zu erspüren. Da schien eine Wunde zu sein, ziemlich weit hinten am Kopf. Von dort kam ein unregelmäßiges, diffuses Stechen, das manchmal sprunghaft an und anschließend wieder abschwoll.
Okay, also eine Wunde am Kopf und Klebeband über den Lippen.
Was bedeutete das?
Das bedeutet, dass du entführt worden bist, gab sie sich selbst zur Antwort, während vor ihrem inneren Auge Bilder heraufdämmerten. Düstere, zutiefst verstörende Bilder: eine Kiste im Wald, tief unter der Erde. Der Kofferraum eines Autos, das langsam und schwerelos zum Grund eines Sees hinabsinkt. Und dann urplötzlich eine ganz andere Szenerie: eine Tiefgarage. Die Silhouette eines Menschen. Jemand, der direkt hinter ihr steht. Wie aus dem Boden gewachsen. Die Gestalt hob den Arm. Packt zu. Dreht sie so, dass sie mit dem Hinterkopf gegen das Auto kracht. Dann riss der Film abrupt, und die Gestalt verglomm in einem gleißenden Lichtblitz. Zurück blieben das Bewusstsein einer Verletzung an ihrem Kopf und der Schmerz, den die Wunde aussandte. Stoßweise im Takt ihres Herzens.
»Wer sind Sie?«, fragte sie stumm. »Was wollen Sie von mir?«
Doch die Bilder kehrten nicht zurück.
Sie erhielt keine Antwort.
Dafür lag die Dunkelheit des Ortes, an den er sie verschleppt hatte, auf ihr wie ein Bleigewicht. Idiotischerweise musste Jenny ausgerechnet jetzt an ihren ersten Sex denken. An den schweren Körper von Jeffrey Carson, den sie auf einer Party kennengelernt hatte. An Kondome mit Erdbeeraroma, jede Menge Bier und grobe, hektische Bewegungen. In ihrer alten Heimat war das gewesen. Somerville, Massachusetts. So weit entfernt wie der Mars. Und bis zu diesem Augenblick hatte sie genau das auch immer als großes Glück betrachtet.
Sie blinzelte eine Träne fort und konzentrierte sich wieder auf das, was sie wahrnahm. Sie lag auf etwas Hartem. So viel immerhin konnte sie sagen. Dass da keine Matte oder Decke war, kein Stoff unter ihr. Nur diese harte glatte Fläche.
Kein Holz, analysierte sie die Signale, die ihr Körper ihr sandte. Kein Holz, aber auch kein Steinboden.
Der Rest des Raumes hatte hingegen noch immer keinerlei Konturen. Etwas, das Jenny schier um den Verstand brachte. Vielleicht noch mehr als die Tatsache, dass es so dunkel war. Was sollte das alles? Und wo waren auf einmal all die Erklärungen, von denen sie sonst so viele parat hatte?
Sie konnte doch immer alles erklären. Jedem und jederzeit. Wenn Sie Ihrem Mann nicht klar und deutlich zu verstehen geben, dass sein Verhalten Sie quält, dann werden Sie niemals aus diesem Laufrad herauskommen. Wenn Sie Ihrer Tochter nicht endlich ein klares Ultimatum stellen, wird sie auch in Zukunft keinen Grund sehen, warum sie das warme Nest, das Sie ihr bieten, verlassen sollte. Warum sollte sie? Solche und ähnliche Dinge sagte sie den Menschen, die in ihrer Praxis Rat und Hilfe suchten, Tag für Tag. Und das mit Überzeugung. Denn im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen war Jenny von jeher der Ansicht gewesen, dass das Leben auf einem einzigen, einfachen Grundprinzip beruhte: wenn - dann. Folgerichtigkeit. Logik.
Doch leider kapitulierte dieses bewährte Prinzip ausgerechnet in dieser Situation. Jenny hatte auf einmal das Gefühl, laut lachen zu müssen. Das, was hier mit ihr geschah, war nicht folgerichtig. Es war nicht einmal erklärlich. Es war einfach nur absurd.
Sie versuchte, ihre Zehen zu bewegen, während ihr Verstand verzweifelt nach etwas suchte, das die Dinge wieder ins Lot brachte. Was hast du getan? Wer könnte etwas von dir wollen? Wem hast du eine so gravierende Verletzung zugefügt, dass er beschlossen hat, dir das hier anzutun?
Die Fragen bohrten sich in ihre Gedanken wie Stilette, aber es gelang ihr nicht, auch nur eine einzige davon zu beantworten.
Oder?
Bleib bei der Wahrheit. Es gäbe da schon jemanden ...
Unsinn, schalt sie sich. Das gehört nicht zusammen. Wie denn? Die Eltern sind tot, und die Schwester war ein kleines Mädchen. Nichts davon passte zu den Bildern aus der Tiefgarage.
Konzentrier dich lieber auf das, was ist.
Er hatte ihr Hände und Füße gefesselt. Jenny fühlte etwas StörrischHartes, das unsanft in ihre Gelenke schnitt. Kabelbinder vielleicht. Aber warum tat er das alles? Worum ging es diesem Mann?
Eine Verwechslung, durchfuhr es sie.
Er hält mich für jemand anderen.
Augenblicklich klammerte sich ihr Verstand an diese Möglichkeit wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Er würde seinen Irrtum bemerken. Vielleicht hatte er ihn längst bemerkt.
Und dann?, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Was ist die Konsequenz? Dass er dich gehen lässt? Immerhin hast du nicht viel von ihm zu Gesicht bekommen. Deine Erinnerungen stellen also keine Gefahr für ihn dar.
Falls er das weiß ...
Oder hatte er sie am Ende längst entsorgt?
Jenny erschrak vor dem Wort, das ihre Gedanken gewählt hatten. Entsorgt. Zugleich schienen sich die nicht vorhandenen Wände langsam auf sie zuzubewegen und den Raum, der sie umgab, weiter einzuengen. Wie eine Müllpresse ...
Jenny begann zu zappeln, und es gelang ihr tatsächlich, die Hüfte zu drehen und ihre gefesselten Beine ein Stück zu sich heranzuziehen. Doch weit kam sie nicht. Da war ein Widerstand, links von ihr. Die Wand, die sie bislang nur erahnt hatte. Sie war wirklich und wahrhaftig da! Sie nahm alle Kraft zusammen und warf sich herum. Auf die andere Seite. Nach rechts. Aber auch dort war nach wenigen Zentimetern Schluss.
Oh mein Gott! Sie erstarrte. Es ist ein Sarg!
Nein! Bitte nicht! BITTE!
© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Hilfe, flehte Berneck stumm, wohl wissend, dass man sie nicht sehen konnte. Nicht von diesem Flugzeug aus. Und doch wehte ihn beim bloßen Anblick des landenden Fliegers ein Hauch von Trost an. Noch einmal, ein letztes Mal die Nähe anderer Menschen spüren. Wissen, dass sie sich nah am Flughafen befanden. Ein winziger Orientierungspunkt in einem Meer von Fragen.
»Los, hoch!«, wiederholte die Stimme in seinem Nacken, während die blinkenden Lichter des Airbus hinter den düsteren Baumkronen verschwanden.
Und plötzlich war es doch kalt. Eisig wie in einem Schlachthaus.
»Was haben Sie vor?«, fragte Berneck. »Was wollen Sie von mir?«
Erwartungsgemäß erhielt er keine Antwort. Als er den Lauf der Flinte zwischen seinen Schulterblättern spürte, setzte er den Fuß auf die unterste Stufe. Dann verlagerte er vorsichtig das Gewicht, und tatsächlich: Die Leiter hielt.
Während er zögerlich Stufe um Stufe erklomm, dachte er über die Frage nach, warum der Mann hinter ihm so unendlich geduldig war. Er schien weder Angst noch Eile zu haben. Fast so, als würde er jede Sekunde dieses perfiden Spiels genießen.
Oben angekommen, blickte Berneck in die Tiefe, wo der Waldboden in der Dunkelheit verschwand, und er überlegte, ob es nicht besser wäre, der Sache selbst ein Ende zu bereiten. Allerdings hätte er nicht mit letzter Sicherheit sagen können, ob die Höhe ausreichte, um sich das Genick zu brechen. Und wenn er nicht sofort tot war, würde es nur noch schlimmer werden.
Noch schlimmer, wiederholte etwas tief in ihm. War das überhaupt möglich?
Auf der Leiter hinter ihm kamen die Schritte seines Verfolgers unaufhaltsam näher. Berneck hörte, wie die schweren Stiefel über dieletzteStuferutschten, undplötzlich kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht eine Chance gehabt hätte. Niemand konnte schießen und klettern zugleich. Und die steile Leiter zu erklimmen, ohne sich festzuhalten, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Du hattest die Chance, ihn zu besiegen.
Ein Tritt ins Gesicht, und er wäre vielleicht gestürzt ...
Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich Berneck wie gelähmt.
»Und jetzt?«, fragte er, als der Fremde hinter ihm auf der hölzernen Plattform stand.
Seltsamerweise hatte er keinen Zweifel daran, dass er sterben würde. Und doch interessierte er sich auf einmal für die Details.
Warum? Wann? Wie?
»Ist er ...« Seine Stimme klang verloren in der finsteren Weite des Waldes. »War er Ihr Vater oder so was?«
»Wer?«
»Karl ...« Er hustete trocken. »Karl Czernik.«
Lachen. »Nein.«
»Aber es hat mit ...« Berneck unterbrach sich und unternahm einen neuen Anlauf: »Aber es hat damit zu tun, oder?«
Der Mann antwortete nicht.
Berneck wartete. Lauschte seinem eigenen Atem, während sich nach und nach eine unwirkliche, fast gespenstische Ruhe in ihm breitmachte. Das Zittern verschwand. Seine Beine gehorchten ihm wieder. Zugleich war sein Kopf mit einem Mal von einer angenehmen Kühle erfüllt. Kühle und Klarheit. Es war absurd, aber er hatte tatsächlich das Gefühl, noch niemals im Leben so wach gewesen zu sein wie in diesem Augenblick. Im Angesicht des Todes.
»Knie dich hin«, befahl die Stimme.
Ein leiser Wind bewegte die Kronen der Bäume, und Berneck spürte etwas Warmes auf seiner Wange. Tränen.
Nach all diesen Jahren wirklich und wahrhaftig Tränen.
»Es tut mir leid«, flüsterte er.
Im selben Augenblick wurde sein Körper von einer Ladung Schrot zerfetzt. Ein paar Vögel flatterten erschreckt zwischen den kahlen Zweigen auf. Federn streiften dürre Äste. Die knappen Rufe heiser und nachtschwer.
Dann war es wieder still.
EINS
Donnerstag, 15. November
1
Die wenigen Zuhörer, die sich an diesem trüben Donnerstagmorgen im Sitzungssaal des Frankfurter Landgerichts, Gebäude E, eingefunden hatten, verfolgten die Urteilsverkündung mit einer Mischung aus Misstrauen und resignierter Langeweile. Die Aufmerksamkeit, die dem Fall anfänglich zuteilgeworden war, hatte sich bereits nach wenigen Prozesstagen verflüchtigt, was in erster Linie an der Angeklagten selbst lag. Die pummelige junge Frau mit den stumpfen braunen Augen erfüllte so wenig das Klischee der männermordenden Schwarzen Witwe, dass die meisten Schaulustigen bereits nach der ersten Anhörung enttäuscht aufgegeben hatten. Und so war der Prozess gegen Sarah Jessica Kindle nach spektakulärem Beginn nicht viel anders verlaufen als Dutzende andere Prozesse dieser Art. Zeugen und Gutachter waren gehört worden, die Staatsanwaltschaft hatte ihre Beweise vorgelegt, und Sarah Kindles Anwalt hatte ein viel diskutiertes Plädoyer gehalten. Doch bahnbrechende neue Erkenntnisse hatten sich aus all dem nicht ergeben. Und fast schien es, als hätten selbst die unmittelbar Beteiligten - Richter, Schöffen und Anwälte - mit der Zeit das Interesse an dem Fall verloren.
An dem Tag, an dem das hohe Gericht über ihre Zukunft entschied, trug Sarah Kindle einen rehfarbenen Pullover, und wie immer sprach sie langsam und auffallend leise, als sie dem Richter ein paar letzte, überwiegend formale Fragen beantwortete.
Emilia Capelli betrachtete das teigige Gesicht der Angeklagten und dachte, dass Sarah Kindle den Gerichtssaal in wenigen Minuten als freie Frau verlassen würde. Gleichzeitig überlegte sie, ob ihr diese Aussicht ein gutes Gefühl gab.
»Em«, wie Freunde und Kollegen Emilia scherzhaft nannten, war achtundzwanzig und hatte es trotz ihres jugendlichen Alters bereits zur Hauptkommissarin in der Abteilung für Kapitaldelikte der Zentralen Kriminaldirektion gebracht - ein Umstand, den sie in erster Linie ihrem unermüdlichen Fleiß und einem schier bodenlosen Ehrgeiz verdankte.
Dass sie einen Strafprozess verfolgte, kam eher selten vor. Noch dazu, wenn es um jemanden ging, gegen den sie nicht selbst ermittelt hatte. Aber in diesem Fall war sie als Zeugin gehört worden, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ihre Aufmerksamkeit zumindest so sehr an der Sache hängen geblieben, dass sie ihren freien Vormittag opferte, um der Entscheidung des Gerichts vor Ort beizuwohnen.
»Du hast sie ja nicht alle«, hatten ihre Kollegen gespottet, und im Stillen gab Em ihnen sogar recht. Doch hin und wieder tat man eben Dinge, die sich rational weder erklären noch begründen ließen.
Ihre Augen suchten wieder die verwaschenen Züge der Angeklagten, die den Ausführungen des Richters mit unbewegter Miene lauschte.
Dieser freilich ersparte Sarah Kindle weder den wiederholten Hinweis auf die zahlreichen Ungereimtheiten in dem Fall noch das offene Zurschautragen seiner persönlichen Antipathie. Er schloss mit den Worten: »Dennoch ergeht nach Anhörung sämtlicher Zeugen und vor dem Hintergrund der mehr als dürftigen Beweislage im Namen des Volkes folgendes Urteil ...«
Em spürte, wie angesichts dieser Ankündigung wieder Leben in den Gerichtssaal kam. Sie hörte das Quietschen von Füßen auf dem grauen Linoleum. Rascheln. Ein paar Meter hinter ihr räusperte sich jemand. Dann war der Raum von einem Moment auf den anderen von einer flirrenden Spannung erfüllt, und sämtliche Blicke richteten sich auf die Angeklagte, die noch immer vollkommen ausdruckslos auf die Tischkante vor sich hinuntersah.
»Möchten Sie noch etwas sagen?«, fragte der Richter, nachdem er den erwarteten Freispruch verkündet hatte.
Sarah Kindle sah ihn an und schüttelte wortlos den Kopf.
Der Richter nickte ohne Freundlichkeit. »Dann erkläre ich das Verfahren hiermit für geschlossen. Sie sind frei.«
Die beiden Beisitzer rechts und links von ihm erhoben sich. Staatsanwalt und Verteidiger eilten geschäftig zum Richtertisch. Im Zuschauerraum brach Gemurmel los.
Einzig Sarah Kindle stand nach wie vor unbewegt an ihrem Platz.
»Ich glaube ihr kein Wort«, hörte Em eine Frauenstimme in ihrem Rücken, und obwohl Sarah Kindle zu weit entfernt stand, um die Bemerkung aufzuschnappen, wandte sie just in diesem Augenblick den Kopf und blickte herüber. Noch immer lag ein Ausdruck von Stumpfheit auf ihrem Gesicht, doch ein paar flüchtige Sekunden lang glaubte Em, in den Tiefen der braunen Augen ein leises Glimmen zu erkennen. Einen Anflug von Triumph.
Sie sind frei ...
Der Eindruck verflog so schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb das leere Gesicht einer jungen Frau, die soeben um satte viereinhalb Millionen Euro reicher geworden war.
Nur Sekunden später trat Sarah Kindles Anwalt vor seine Klientin und verstellte Em die Sicht. Seufzend bückte sie sich nach ihrer Handtasche und verließ mit einem diffusen Gefühl von Besorgnis den Gerichtssaal.
Von dem Mann, der nur wenige Meter entfernt auf der anderen Seite des Gangs saß, nahm sie keine Notiz. Er trug eine Perücke, aber das fiel niemandem auf. Ebenso wenig wie das schmale Notizheft, dessen Ecke aus der Brusttasche seines Jacketts herausragte. Seit 2007 gab es Sicherheitskontrollen an sämtlichen Eingängen des Gebäudes, was dazu geführt hatte, dass die meisten Leute, die hier ein und aus gingen, es nicht mehr für nötig hielten, ihre Instinkte zu bemühen. Außerdem hatte der Mann über einen langen Zeitraum hinweg die Fähigkeit perfektioniert, seine Mitmenschen genau das sehen zu lassen, was sie zu sehen erwarteten. Ein Talent, das ihm in Situationen wie dieser sehr zupasskam.
»He«, beschwerte sich die resolute ältere Dame, die schon seit geraumer Zeit neben seinem Stuhl stand. »Wären Sie wohl mal so nett, mich durchzulassen?«
Der Mann erhob sich ohne Hast und trat einen Schritt zurück.
»Danke.« Die Rentnerin schlängelte sich an ihm vorbei, wobei sie es bewusst vermied, dem Fremden ihren Allerwertesten zuzukehren. »Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Warum lächeln Sie?«
»Gutes Benehmen«, antwortete der Mann.
Die Frau warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
»Selten genug heutzutage.«
»Tja«, sagte die Frau. »Leider.«
Er nickte nur. Dann drehte er sich um und ging lächelnd davon.
2
Das Erste, was Jenny Dickinson wahrnahm, als ein Hauch von Bewusstsein in sie zurücksickerte, war ein unbestimmtes Gefühl von Enge.
Sie versuchte, den Kopf zu heben, aber es gelang nicht. Stattdessen entdeckte sie einen Schmerz, den sie nicht näher lokalisieren konnte. Schmerz und auch ein Kribbeln. Wie Blut, das langsam und zäh in einen abgestorbenen Teil von ihr zurückfloss.
Jenseits ihres Körpers schien die Welt dagegen ganz und gar aus Watte zu bestehen. Es gab keine Konturen. Keinen Bezugspunkt, an dem sie sich hätte orientieren können. Weder räumlich noch zeitlich. Nur ein dumpfes, bodenloses Nichts ohne Anfang und Ende.
Seltsamerweise hatte sie trotz allem den Eindruck von Begrenzung. Von Mauern oder Wänden, die ganz in ihrer Nähe waren. So dicht, dass sie die Kälte spüren konnte, die von ihnen ausging.
Sie lag ganz still und konzentrierte sich auf ihren Atem. Den Schlag ihres Herzens. Das Leben, das in ihren Adern pulste. Und irgendwann wurde ihr auch bewusst, dass sie nur durch die Nase Luft bekam. Auf ihren Lippen war etwas, das entfernt nach Blut und Gummi schmeckte. Klebeband vermutlich. Das harte Plastik machte ein knisterndes Geräusch, wenn sie schluckte, und die Erkenntnis, nicht schreien zu können, überschwemmte sie unvermittelt mit einer Welle von Panik. Zugleich schienen sich die Schleimhäute in ihrer Nase immer mehr zu verengen. Als ob sie versuche, durch einen Strohhalm zu atmen. Ihr Herz begann zu rasen, und Jenny merkte, wie sich nun auch ihr Magen zusammenzog. Übelkeit stieg auf.
Nicht kotzen, dachte sie verzweifelt. Wenn du kotzt, erstickst du.
Lenk dich ab! Immerhin hast du Psychologie studiert. Du weißt, wie man sich selbst austrickst. Wie man das Bewusstsein manipuliert.
Sie schluckte wieder, doch das Brennen in ihrer Kehle ließ nicht nach. Woran muss ich denken, wenn ich wieder zu Hause bin?, zwang sie sich, ihre Gedanken auf etwas völlig Banales zu lenken. Was muss erledigt werden?
Olivenöl, Brot, Magermilchjoghurt.
Das Kostüm für Margrets Party aus der Reinigung holen.
Das Geld für die Putzfrau zurechtlegen.
Alltäglichkeiten gegen den Horror. Doch ihre Strategie ging auf. Sie merkte, wie sich ihre Halsmuskeln ein wenig entspannten. Wie die Panik verebbte.
Gut so. Weiter. Von wo kommt der Schmerz?
Sie schloss die Augen und versuchte, ihren Körper zu erspüren. Da schien eine Wunde zu sein, ziemlich weit hinten am Kopf. Von dort kam ein unregelmäßiges, diffuses Stechen, das manchmal sprunghaft an und anschließend wieder abschwoll.
Okay, also eine Wunde am Kopf und Klebeband über den Lippen.
Was bedeutete das?
Das bedeutet, dass du entführt worden bist, gab sie sich selbst zur Antwort, während vor ihrem inneren Auge Bilder heraufdämmerten. Düstere, zutiefst verstörende Bilder: eine Kiste im Wald, tief unter der Erde. Der Kofferraum eines Autos, das langsam und schwerelos zum Grund eines Sees hinabsinkt. Und dann urplötzlich eine ganz andere Szenerie: eine Tiefgarage. Die Silhouette eines Menschen. Jemand, der direkt hinter ihr steht. Wie aus dem Boden gewachsen. Die Gestalt hob den Arm. Packt zu. Dreht sie so, dass sie mit dem Hinterkopf gegen das Auto kracht. Dann riss der Film abrupt, und die Gestalt verglomm in einem gleißenden Lichtblitz. Zurück blieben das Bewusstsein einer Verletzung an ihrem Kopf und der Schmerz, den die Wunde aussandte. Stoßweise im Takt ihres Herzens.
»Wer sind Sie?«, fragte sie stumm. »Was wollen Sie von mir?«
Doch die Bilder kehrten nicht zurück.
Sie erhielt keine Antwort.
Dafür lag die Dunkelheit des Ortes, an den er sie verschleppt hatte, auf ihr wie ein Bleigewicht. Idiotischerweise musste Jenny ausgerechnet jetzt an ihren ersten Sex denken. An den schweren Körper von Jeffrey Carson, den sie auf einer Party kennengelernt hatte. An Kondome mit Erdbeeraroma, jede Menge Bier und grobe, hektische Bewegungen. In ihrer alten Heimat war das gewesen. Somerville, Massachusetts. So weit entfernt wie der Mars. Und bis zu diesem Augenblick hatte sie genau das auch immer als großes Glück betrachtet.
Sie blinzelte eine Träne fort und konzentrierte sich wieder auf das, was sie wahrnahm. Sie lag auf etwas Hartem. So viel immerhin konnte sie sagen. Dass da keine Matte oder Decke war, kein Stoff unter ihr. Nur diese harte glatte Fläche.
Kein Holz, analysierte sie die Signale, die ihr Körper ihr sandte. Kein Holz, aber auch kein Steinboden.
Der Rest des Raumes hatte hingegen noch immer keinerlei Konturen. Etwas, das Jenny schier um den Verstand brachte. Vielleicht noch mehr als die Tatsache, dass es so dunkel war. Was sollte das alles? Und wo waren auf einmal all die Erklärungen, von denen sie sonst so viele parat hatte?
Sie konnte doch immer alles erklären. Jedem und jederzeit. Wenn Sie Ihrem Mann nicht klar und deutlich zu verstehen geben, dass sein Verhalten Sie quält, dann werden Sie niemals aus diesem Laufrad herauskommen. Wenn Sie Ihrer Tochter nicht endlich ein klares Ultimatum stellen, wird sie auch in Zukunft keinen Grund sehen, warum sie das warme Nest, das Sie ihr bieten, verlassen sollte. Warum sollte sie? Solche und ähnliche Dinge sagte sie den Menschen, die in ihrer Praxis Rat und Hilfe suchten, Tag für Tag. Und das mit Überzeugung. Denn im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen war Jenny von jeher der Ansicht gewesen, dass das Leben auf einem einzigen, einfachen Grundprinzip beruhte: wenn - dann. Folgerichtigkeit. Logik.
Doch leider kapitulierte dieses bewährte Prinzip ausgerechnet in dieser Situation. Jenny hatte auf einmal das Gefühl, laut lachen zu müssen. Das, was hier mit ihr geschah, war nicht folgerichtig. Es war nicht einmal erklärlich. Es war einfach nur absurd.
Sie versuchte, ihre Zehen zu bewegen, während ihr Verstand verzweifelt nach etwas suchte, das die Dinge wieder ins Lot brachte. Was hast du getan? Wer könnte etwas von dir wollen? Wem hast du eine so gravierende Verletzung zugefügt, dass er beschlossen hat, dir das hier anzutun?
Die Fragen bohrten sich in ihre Gedanken wie Stilette, aber es gelang ihr nicht, auch nur eine einzige davon zu beantworten.
Oder?
Bleib bei der Wahrheit. Es gäbe da schon jemanden ...
Unsinn, schalt sie sich. Das gehört nicht zusammen. Wie denn? Die Eltern sind tot, und die Schwester war ein kleines Mädchen. Nichts davon passte zu den Bildern aus der Tiefgarage.
Konzentrier dich lieber auf das, was ist.
Er hatte ihr Hände und Füße gefesselt. Jenny fühlte etwas StörrischHartes, das unsanft in ihre Gelenke schnitt. Kabelbinder vielleicht. Aber warum tat er das alles? Worum ging es diesem Mann?
Eine Verwechslung, durchfuhr es sie.
Er hält mich für jemand anderen.
Augenblicklich klammerte sich ihr Verstand an diese Möglichkeit wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. Er würde seinen Irrtum bemerken. Vielleicht hatte er ihn längst bemerkt.
Und dann?, hämmerte es hinter ihrer Stirn. Was ist die Konsequenz? Dass er dich gehen lässt? Immerhin hast du nicht viel von ihm zu Gesicht bekommen. Deine Erinnerungen stellen also keine Gefahr für ihn dar.
Falls er das weiß ...
Oder hatte er sie am Ende längst entsorgt?
Jenny erschrak vor dem Wort, das ihre Gedanken gewählt hatten. Entsorgt. Zugleich schienen sich die nicht vorhandenen Wände langsam auf sie zuzubewegen und den Raum, der sie umgab, weiter einzuengen. Wie eine Müllpresse ...
Jenny begann zu zappeln, und es gelang ihr tatsächlich, die Hüfte zu drehen und ihre gefesselten Beine ein Stück zu sich heranzuziehen. Doch weit kam sie nicht. Da war ein Widerstand, links von ihr. Die Wand, die sie bislang nur erahnt hatte. Sie war wirklich und wahrhaftig da! Sie nahm alle Kraft zusammen und warf sich herum. Auf die andere Seite. Nach rechts. Aber auch dort war nach wenigen Zentimetern Schluss.
Oh mein Gott! Sie erstarrte. Es ist ein Sarg!
Nein! Bitte nicht! BITTE!
© 2014 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Judith Winter
Winter, JudithJudith Winter, 1969 in Frankfurt am Main geboren, studierte Germanistik und Psychologie in Berlin und Wien und arbeitete viele Jahre in einem renommierten wissenschaftlichen Institut, bevor sie sich selbständig machte. Nach Aufenthalten in Mailand und Paris lebt sie heute mit ihrer Familie in Konstanz.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Winter
- 2014, 448 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423214899
- ISBN-13: 9783423214896
- Erscheinungsdatum: 01.02.2014
Rezension zu „Siebenschön / Emilia Capelli und Mai Zhou Bd.1 “
"Ein Thriller, der Sie um den Schlaf bringen wird!"Alex Dengler, denglers-buchkritik.de 17.03.2014
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