Entführt
Thriller
Bis sie verstummt ...
Als Ylva ihr Büro verlässt, ahnt sie nicht, dass sich ihr Leben in Kürze für immer verändern wird. Sie verabschiedet sich von ihren Kollegen, wünscht allen einen schönen Abend und macht sich auf...
Als Ylva ihr Büro verlässt, ahnt sie nicht, dass sich ihr Leben in Kürze für immer verändern wird. Sie verabschiedet sich von ihren Kollegen, wünscht allen einen schönen Abend und macht sich auf...
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Produktinformationen zu „Entführt “
Bis sie verstummt ...
Als Ylva ihr Büro verlässt, ahnt sie nicht, dass sich ihr Leben in Kürze für immer verändern wird. Sie verabschiedet sich von ihren Kollegen, wünscht allen einen schönen Abend und macht sich auf den Heimweg. Nach wenigen Minuten hält ein Auto neben ihr. Alte Bekannte, wie es scheint. Sie bieten Ylva an, sie ein Stück mitzunehmen. Ylva fühlt sich unbehaglich, doch sie will nicht unhöflich sein, nimmt das Angebot an und steigt ein. Eine Entscheidung, die sie für immer bereuen wird.
Als Ylva ihr Büro verlässt, ahnt sie nicht, dass sich ihr Leben in Kürze für immer verändern wird. Sie verabschiedet sich von ihren Kollegen, wünscht allen einen schönen Abend und macht sich auf den Heimweg. Nach wenigen Minuten hält ein Auto neben ihr. Alte Bekannte, wie es scheint. Sie bieten Ylva an, sie ein Stück mitzunehmen. Ylva fühlt sich unbehaglich, doch sie will nicht unhöflich sein, nimmt das Angebot an und steigt ein. Eine Entscheidung, die sie für immer bereuen wird.
Klappentext zu „Entführt “
Bis sie verstummt ...Als Ylva ihr Büro verlässt, ahnt sie nicht, dass sich ihr Leben in Kürze für immer verändern wird. Sie verabschiedet sich von ihren Kollegen, wünscht allen einen schönen Abend und macht sich auf den Heimweg. Nach wenigen Minuten hält ein Auto neben ihr. Alte Bekannte, wie es scheint. Sie bieten Ylva an, sie ein Stück mitzunehmen. Ylva fühlt sich unbehaglich, doch sie will nicht unhöflich sein, nimmt das Angebot an und steigt ein. Eine Entscheidung, die sie für immer bereuen wird.
Lese-Probe zu „Entführt “
Entführt von Hans KoppelAus dem Schwedischen von Holger Wolandt
1. Kapitel
Sie hatte geschrieben, sie möge Waldspaziergänge und gemütliche Abende zu Hause. Sie suche jemanden mit Humor. Das war doch ein Witz, die Parodie auf den farblosesten Menschen, den die Welt je gesehen hatte. außerdem garnierte sie ihre Mails mit Smileys. Keine Zeile ohne ein gelbes Gesicht.
Sie hatten am Vorabend telefoniert und sich im Gondolen verabredet.
Sie klang älter als 32, fand Anders. Er hatte gescherzt, ob sie vielleicht ein altes Foto ins Netz gestellt habe, das etliche Jahre und Kilos früher aufgenommen worden sei. Da hatte sie ihm ein neues Foto gemailt, kurz vorm Zubettgehen mit dem Handy am ausgestreckten Arm aufgenommen.
Anders betrachtete das Foto und dachte, dass sie seinetwegen wie hundert klingen und dumm wie Stroh sein konnte, das kümmerte ihn herzlich wenig.
Ein Drink war ideal. In der Regel genügte eine halbe Minute, um zu entscheiden, ob es die Mühe wert war oder nicht. Ein Essen hatte fast schon was Masochistisches. Stundenlang dasitzen und leiden, während einem das Lächeln auf den Lippen gefror. Nur das nicht! alle mit etwas Routine trafen sich in einer Bar. Fiel das Ergebnis positiv aus, konnte man weitersehen.
Es war Punkt halb sieben, und Anders spähte in die Dunkelheit über Skeppsholmen hinweg Richtung Djurgården.
Wo ist der Haken?, überlegte er. Die affektierte Dummheit konnte es nicht sein. Nicht bei diesen formen. Eine schrille Lache vielleicht, die einem durch Mark und Bein ging? Mundgeruch wie ein alter Hund? Oder war sie frigide?
Nein, nein, stille Wasser ..., redete er sich ein.
Sein Handy vibrierte, er ging dran.
... mehr
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin's. Entschuldige, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Ich habe den ganzen Nachmittag in der Notaufnahme verbracht.«
»Notaufnahme? Alles in Ordnung mit dir?«
Anders Egerbladh lobte sich im stillen für seine gespielte Anteilnahme. Das nannte er Geistesgegenwart. Dabei interessierte ihn natürlich als allererstes, ob der Vorfall seine Chancen beeinträchtigte, mit ihr intim zu werden.
»Ich bin auf der Treppe gestolpert und habe mir den Fuß verstaucht«, sagte sie. »Zuerst dachte ich, er sei gebrochen, ich konnte kaum noch auftreten ...«
»Du Ärmste ...«
Anders trank vorsichtig von seinem Bier und schluckte ganz leise, um nicht uninteressiert zu wirken.
»So schlimm ist es nicht. Ich habe Krücken und einen Stützverband. Aber zum Gondolen zu hinken wäre mühsam. Vielleicht magst du zu mir kommen? Ich habe eine Flasche Weißwein kalt gestellt.«
»Klingt super«, sagte Anders, »gerne. Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht? Wir können es auch auf ein andermal verschieben, falls du nicht in Stimmung bist.«
Er war wirklich ein Genie!
»Das macht wirklich keine Umstände«, versicherte sie. »Nach fünf Stunden in der Notaufnahme kann ich etwas Ablenkung gebrauchen.«
»Hast du schon gegessen?«, fragte Anders. »Ich könnte was mitbringen.«
Albert fucking Einstein!
»Das ist nett von dir, aber nicht nötig. Mein Kühlschrank ist voll.«
Sie nannte ihm die Adresse und beschrieb ihm in wenigen Worten den Weg. Anders prägte sich alles ein und beschloss, unten auf dem Platz einen Strauß Blumen zu kaufen. Er hatte es nie ganz verstanden, aber das funktionierte immer. Blumen und Champagner.
Letzteren würde er sich für das nächste Mal aufheben.
Er kaufte ein paar langstielige bunte Blumen und im Zeitschriftenladen eine Schachtel Kinderpflaster. Als originelles Mitbringsel. Er spürte, dass dies ein kluger Schachzug war.
Er ging beschwingt den Katarinavägen hinauf, bog wie angewiesen in die Fjällgatan ein und ging dort auf dem rechten Bürgersteig bis zur Sista Styverns Trappa, der Holztreppe, die die Fjällgatan und die darüberliegende Stigbergsgatan miteinander verband.
Dem Auto, das auf der Straße parkte, schenkte er nicht weiter Beachtung. Er konnte ja auch nicht wissen, dass die Frau am Steuer jene Frau war, mit der er eben telefoniert hatte und die jetzt ihren Mann anrief und ihm mitteilte, es wäre so weit.
Anders ging die Treppe zwischen den pietätvoll renovierten Holzhäusern hinauf. Er stellte sich vor, wie er mit zarter Hand, den Kopf mitfühlend zur Seite geneigt, den geschwollenen Fuß der Frau untersuchen, wie er ihr ihre verspannten Schultern massieren und ihr verständnisvoll und einfühlend zuhören würde. Fünf Stunden habe sie warten müssen? Das schwedische Gesundheitswesen war wirklich unter aller Kritik.
Anders wusste nicht, dass die Fotos, die er angestarrt hatte, aus dem Internet kopiert waren und eine bloggende, alleinerziehende Mutter aus Holland zeigten. Genauso wenig ahnte er, dass der Mann, der ihm auf der Treppe begegnete, einen Hammer in seinem Mantelärmel verbarg.
Sie erreichten gleichzeitig und aus entgegengesetzter Richtung den unteren Treppenabsatz. Der Mann blieb stehen.
»Anders?«, sagte er.
Anders blieb stehen.
»Erkennst du mich nicht?«, sagte der Mann. »Ich bin Annikas Vater. Du erinnerst dich doch noch an Annika?«
Anders bekam einen trockenen Mund. Sein eben noch entspannter und erwartungsvoller Gesichtsausdruck war plötzlich starr und gequält.
»Das ist auch wirklich lange her«, fuhr der Mann fröhlich fort.
»Ich bin etwas in Eile.«
Anders hob seine freie Hand und deutete nach oben. Der Mann lächelte, als würde er ihn verstehen, und nickte in Richtung der Blumen.
»Verabredung?«
Anders nickte.
»Ich bin spät dran«, sagte er und versuchte, seine Stimme natürlich klingen zu lassen. »Sonst wäre ich gerne einen Moment stehen geblieben.«
»Verstehe«, sagte der Mann.
Er lächelte, machte aber keine Anstalten weiterzugehen. Anders drehte sich unsicher um und stellte den Fuß auf die nächste Treppenstufe.
»Ich habe mich mit Morgan unterhalten«, sagte der Mann und ließ den Hammer in die behandschuhte Hand gleiten.
Anders hielt mit dem Rücken zu dem Mann auf der Treppe inne. Er rührte sich nicht.
»Oder genau genommen hat er sich mit mir unterhalten «, sagte der Mann. »Er hatte viel zu erzählen. Wollte die letzte Chance nutzen, sich auszusprechen. Er war nur noch Haut und Knochen, als ich ihn traf. Vielleicht lag es ja am Morphium, dass er so ins Detail ging, jedenfalls hat er geredet wie ein Wasserfall.«
Anders drehte sich langsam um. An der Peripherie seines Gesichtsfeldes ahnte er etwas, das sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Zum Wegducken oder schützend den Arm zu heben war es zu spät. Der Hammer traf seinen Kopf und zerschmetterte den Schädelknochen direkt über der Schläfe. noch bevor er auf dem Boden aufschlug, verlor er das Bewusstsein.
Der Mann stellte sich breitbeinig über anders und hob den Hammer erneut. Die Schläge zwei und drei waren vermutlich tödlich, trotzdem schlug der Mann weiter auf den liegenden ein, um sich seiner Sache sicher zu sein. Als wollte er alle Eindrücke und Erfahrungen, die anders in seinem Leben gesammelt hatte, ausradieren und seine gesamte Existenz auslöschen. Der Mann hörte erst mit dem schlagen auf, als der Hammer in dem Schädelknochen stecken blieb.
Er ließ ihn stecken, schaute sich hastig um, ging dann die Treppe hinunter und stieg in das wartende Auto. Die Frau fuhr los.
»War es schwer?«, fragte sie.
»Überhaupt nicht«, sagte der Mann.
2. Kapitel
»Hallo, ich heiße Gösta Lundin und bin emeritierter Professor der Psychologie und Autor des Buches Opfer und Täter, das einige von ihnen vermutlich gelesen haben werden. Sie brauchen nicht aufzuzeigen, aber trotzdem danke, ich weiß das zu schätzen. Vielen Dank.
Bevor ich beginne: Wie viele von ihnen sind bei der Polizei? Jetzt dürfen sie gerne aufzeigen.
Gut. Und wie viele Sozialarbeiter sind anwesend?
Ungefähr die Hälfte. Gut, dann weiß ich Bescheid. Eigentlich ist die Frage irrelevant, da ich den Inhalt meines Vortrages nicht an den Beruf der Zuhörer anpasse. Ich bin einfach nur neugierig. Vermutlich würde ich mich etwas breitbeiniger hinstellen, wenn ich es nur mit Polizisten zu tun hätte, mit skeptischen Polizisten, die die arme vor der Brust verschränken. Das wäre möglich. Ich weiß nicht.
Egal. Für den Vortrag heute habe ich die Überschrift gewählt: Wie ist das möglich?
Diese Frage stellen wir uns oft. Wie ist das möglich? Warum wehren sie sich nicht? Warum fliehen sie nicht?
Das sind ungefähr dieselben Fragen, die Kinder stellen, wenn sie zum ersten Mal vom Holocaust hören. Wie ist das möglich? Warum haben sie sich nicht gewehrt? Warum sind sie nicht geflohen?
Lassen sie uns am anderen Ende beginnen. Bei Adolf Hitler.
Wie alle wissen, hat sich der schnurrbärtige Österreicher von einer historischen Person in eine mythologische Figur verwandelt. Hitler ist heute ein Referenzrahmen, das Symbol des Bösen in seiner reinsten Form.
Ich habe nur Befehle ausgeführt ist ein erstarrter Ausdruck, eine Ermahnung an uns, dass wir die Obrigkeit ständig infrage stellen und der eigenen Überzeugung folgen müssen.
Als das genaue Gegenteil von Adolf Hitler gilt in unserem Land Astrid Lindgren.
Astrid Lindgren steht als Symbol für alles, was im Leben gut ist. Die kluge, besonnene Humanistin, die an das Gute im Menschen glaubt und es fördert.
Es gibt eine Menge moralischer Geschichten und Redensarten, die Astrid Lindgren zugeschrieben werden. Eines der berühmtesten Zitate sagt, dass wir manche Dinge tun müssen, obwohl sie gefährlich sind. Weil wir sonst keine Menschen sind, sondern nur ein kleines Stück Dreck.
Adolf und Astrid, schwarz und weiß, böse und gut.
Diese naive Vorstellung von richtig und falsch ist verführerisch und verlockend. Wir wollen zu den Guten gehören und das richtige tun.
ich habe jahrelang Opfer und Täter befragt - Täter, die ebenfalls Opfer sind, das ist etwas, was wir gerne vergessen - und weiß deswegen, dass die meisten in diesem Raum, inklusive meiner selbst, ohne größere Probleme sowohl das eine als auch das andere werden können.
Wir tragen alle Adolf und Astrid in uns. Wer etwas anderes behauptet, stellt sich dumm.
Aber solche philosophischen Fragen sollen uns jetzt nicht interessieren. Ich bin hier, um darüber zu sprechen, wie es in der Praxis zugeht.
Die Methoden, die Täter anwenden, um ihre Opfer zu unterdrücken, sind auf der ganzen Welt dieselben und so alt wie die Menschheit. Chefs verwenden dieselben Techniken wie Alleinherrscher, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es nur zwei Führungsinstrumente gibt: Zuckerbrot und Peitsche. Einmal mehr von dem einen und weniger von dem anderen oder umgekehrt, aber bei allen Methoden handelt es sich nur um Varianten.
Ich werde leider nicht dafür bezahlt, hier zu stehen und komplizierte Dinge in einfache Worte zu fassen. Ich bin Akademiker, und als solcher habe ich gelernt, Dinge komplizierter zu machen, als sie sind, und mich selbst als intelligent und tiefgründig darzustellen.
Das ist auch der Grund dafür, dass die Power Point-Präsentation erfunden wurde.«
1. Ortswechsel, soziale Isolation
2. Breaking in violence
3. Hunger
4. Gewalt/Androhung von Gewalt
5. Demütigung
6. Schuld
7. Freundlichkeit, Privilegien
8. Blockierung des Ich
9. Die aussichtslose Zukunft
»Können alle gut sehen? Gut. Beginnen wir mit dem ersten Punkt ...«
3. Kapitel
Jörgen Petersson wartete, während die Verkäuferin das Poster von Homer Simpson einpackte, ein Geschenk für seinen jüngsten Sohn, der bald Geburtstag hatte. Jörgen sah sich im Laden um, und sein Blick blieb an einem Bild von Lasse Åberg hängen. Ausnahmsweise mal kein Micky-Maus-Motiv. Das Bild zeigte ein altes Klassenfoto. Die Hälfte der Gesichter war verblichen und nicht mehr zu erkennen, nur wenige waren intakt. Etwas wenig subtil vielleicht, aber Jörgen hatte Sinn für das schlichte. Er hatte nicht vor, seine Zeit im Auktionshaus Bukowskis auf der Jagd nach einem passenden Werk der drei namhaften, völlig überschätzten schwedischen Künstler zu vergeuden.
Das Kunstinteresse der Reichen konnte Jörgen nicht nachvollziehen. Das war doch nichts anderes als der vergebliche Versuch, sich freizukaufen. Eine Art, sich von denen zu distanzieren, die weder die Mittel noch die Möglichkeit besaßen.
Jörgen hätte es sich leisten können, alle drei Künstler in seine Diele zu hängen. Anders Zorn ging ja noch, aber auf diesen idiotischen Tiermaler Bruno Liljefors und den Idylliker Carl Larsson konnte er wirklich verzichten.
Im Übrigen besaß er bereits einen Zorn. Im Klohäuschen seines Sommerhauses hing ein Poster aus dem Museum in Mora. Jörgen betrachtete es immer, wenn er dort sein Geschäft verrichtete. Nutzen und Vergnügen in wunderbarer Harmonie. Weder seine Frau noch die Kinder verstanden ihn, wo es doch im Haus eine Toilette mit Fußbodenheizung gab. Seine Frau hatte sogar vorgeschlagen, das Trockenklosett einfach abzureißen.
Dagegen hatte sich Jörgen allerdings vehement gewehrt, obwohl er sich sonst in Entscheidungen, die den Haushalt betrafen, nicht einmischte. Aber da hörte der Spaß auf. Anderthalb Hektar Land, fast vierhundert Meter Uferlinie, und da sollte er nicht einmal in Ruhe in seinem eigenen Klohäuschen sitzen dürfen? In Gesellschaft halb gelöster Kreuzworträtsel in verblichenen Illustrierten.
Es war richtig gewesen, dass er Widerspruch eingelegt hatte. Das erhöhte den Respekt seiner Frau und ließ ihn noch exzentrischer und halsstarriger erscheinen. Und das waren für einen reichen Mann keine schlechten Eigenschaften.
Er betrachtete das Åberg-Bild noch eine Weile und überlegte sich, wie sein eigenes Klassenfoto aussah.
Wen hatte er vergessen? An wen erinnerte er sich?
Und wer erinnerte sich an ihn?
Vielleicht hatte der eine oder andere ja etwas über ihn gelesen? In den Wirtschaftsblättern hatte alles Mögliche über ihn gestanden, von Geld und Erfolg war dort die Rede gewesen. Aber es erkannte ihn niemand, wenn er in einen U-Bahn-Wagen einstieg.
Jörgens Leben erinnerte an eine erfolgreiche Partie Monopoly. Plötzlich hatte er mit allen Hotels und Häusern dagesessen und Geld verdient, ohne sich anstrengen zu müssen. Und die Geldstapel wuchsen.
Sein erstes Geld hatte er mit einer Internetfirma verdient. Sie hatten große Reden über die Zukunft und ihre Möglichkeiten geschwungen, aber im Grunde genommen nur Homepages entworfen. Damals hatten nur Eingeweihte mit der Abkürzung IT etwas anfangen können, während alle Firmen ihre Mitarbeiter weiter zu Kursen über die Anwendung einfachster Textverarbeitungsprogramme schickten.
Jörgen war dem Rampenlicht entronnen, weil seine beiden Kollegen und Mitbegründer der Firma PR-geil waren und jede Gelegenheit genutzt hatten, sich ablichten zu lassen.
Die Firma hatte nie Gewinne verzeichnet, trotzdem war sie zeitweilig an der Börse über zwei Milliarden Kronen wert gewesen. Jörgen konnte über diesen Irrsinn nur den Kopf schütteln, was seine vom Erfolg berauschten Kollegen provozierte, die fleißig in der Wirtschaftspresse zitiert wurden und offenbar selbst an ihre Zukunftsvisionen glaubten. Schließlich hatten sie sich anerboten, Jörgen auszuzahlen, indem sie ihm seinen Aktienposten zum halben Börsenwert abkauften. Sie lachten sich ins Fäustchen, als er ihr Angebot annahm, 100 Millionen Kronen bar auf die Hand, danke und Tschüs.
»Das dümmste Geschäft des Jahres?«, lautete die Überschrift der Zeitungsnotiz, die weitgehend mit der Pressemitteilung übereinstimmte, die Jörgens Kollegen gut gelaunt verschickt hatten.
Ein Jahr später waren die beiden hoch verschuldet, die Firma umstrukturiert und praktisch wertlos.
Da hatte die Presse plötzlich großes Interesse an Jörgen gezeigt. Der aber hatte freundlich, doch nachdrücklich jede Interviewanfrage abgelehnt, eingedenk der im Suff gerne wiederholten weisen Worte seines besten Freundes Calle Collin, der als freiberuflicher Journalist für Illustrierte arbeitete:
»Prominenz ist nie von Vorteil. Was immer du tust, zeige nie dein Gesicht. Sofern du kein Simon Spies bist, meide die Öffentlichkeit.«
Calle Collin war einer der wenigen, der auf dem Klassenfoto, wie Jörgen es sich vorstellte, noch zu erkennen wäre. An wen erinnerte er sich sonst noch? An einige der hübschen, unnahbaren Mädchen. Jörgen fragte sich, was aus ihnen wohl geworden war. Falsch, eigentlich war es ihm egal, er hätte nur gerne gewusst, wie sie heute aussahen. Er hatte sie gegoogelt, aber keine Fotos gefunden, nicht einmal in Facebook. Das konnte kaum ein Zufall sein.
Er stellte sich billigrotweingezeichnete Gesichter vor und tröstete sich mit dem Gedanken an ihren körperlichen Verfall. Brüste, die früher den Gesetzen der Schwerkraft getrotzt und seine sexuelle Fantasie beflügelt hatten, hingen nun verloren in kräftig gepolsterten Push-Up-BHs.
Oje, wie zynisch sich das anhörte. Jörgen hatte immer gedacht, dass er mehr über den Dingen stünde. oder etwa nicht?
4. Kapitel
Ortswechsel, soziale Isolation
Die Frau wird aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und in eine neue, unbekannte Umgebung versetzt. Das dient mehreren Zielen. Die Frau verliert ihren Kontakt zu Verwandten und Freunden, ist desorientiert und geografisch verunsichert und somit vollkommen abhängig von der einzigen ihr bekannten Person, dem Täter. Indem man die Frau eine längere Zeit gefangen hält, wird die zeitliche und räumliche Verwirrung noch verstärkt. Dauert die Isolation lang genug an, empfindet das Opfer schließlich Dankbarkeit für jede Form menschlichen Kontakts, selbst für den erzwungenen.
»Bist du sicher? nur ein Glas. Du bist dann immer noch rechtzeitig zum fernsehschauen wieder zu Hause.«
»Ja, komm schon.«
Ylva lachte. sie war dankbar, dass sie es wenigstens versuchten.
»Nein«, antwortete sie. »Ich bin heute mal brav.«
»Du?«, sagte Nour. »Warum ausgerechnet heute damit anfangen?«
»Weiß nicht. Vielleicht aus Spaß an der Abwechslung?«
»Nur ein Glas?«
»Nein.«
»Sicher?«
Ylva nickte.
»Ganz sicher«, sagte sie.
»Okay, okay, es sieht dir zwar nicht ähnlich, aber okay.«
»Dann bis Montag.«
»Ja, bis Montag. Grüße an die Familie.«
Ylva blieb stehen und drehte sich um.
»Aus eurem Mund klingt das, als sei Familie etwas schlechtes«, sagte sie und legte die Hand unschuldig auf die Brust.
Nour schüttelte den Kopf.
»Wir sind einfach nur neidisch.«
Ylva zog ihren iPod aus der Tasche und schlenderte das Gefälle hinunter. Das Kopfhörerkabel hatte sich verheddert, und sie blieb stehen, um es zu entwirren, die Stöpsel in die Ohren zu stecken und eine Wiedergabeliste auszuwählen. Nur Musik im Ohr und ein in die ferne gerichteter Blick verschonten einen vor Gerede über das Wetter. Es gab immer redselige Leute, die nach Aufmerksamkeit heischten und einem den neuesten Klatsch anvertrauen wollten. Das war der Nachteil einer Kleinstadt.
Obwohl Ylva eine Zugezogene war. Mike, der in der Stadt aufgewachsen war, konnte keinen Schritt tun, ohne über die Vorfälle der letzten Zeit Rechenschaft ablegen zu müssen.
Ylva ging durch die menschenleere, malerische Gasse und kam an einem parkenden Wagen mit getönten Scheiben vorbei, ohne ihn weiter zu beachten. Die Musik war so laut, dass sie nicht hörte, wie der Motor angelassen wurde.
Erst als das Auto langsam neben ihr herfuhr, ohne sie zu überholen, bemerkte sie es und drehte sich um. Das Seitenfenster glitt herunter.
Ylva vermutete, dass jemand sie nach dem Weg fragen wollte. Sie blieb stehen und überlegte, ob sie den iPod abstellen oder einfach die Ohrstöpsel herausnehmen sollte. Sie entschied sich für letzteres und trat einen Schritt auf das Auto zu, beugte sich vor und schaute hinein. Auf dem Beifahrersitz standen ein Karton und eine Handtasche. Die Frau am Lenkrad lächelte sie an.
»Ylva?«, sagte sie.
Eine Sekunde verging, dann verspürte sie ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube.
»Ich dachte doch, dass du das bist«, sagte die Fahrerin freundlich.
Ylva erwiderte ihr lächeln.
»Das ist wirklich lange her.«
Die Frau am Steuer wendete sich an einen Mann auf dem Rücksitz.
»Siehst du denn nicht, wer das ist?«
Er beugte sich vor.
»Hallo, Ylva.«
Ylva streckte den Arm durch das Seitenfenster und gab beiden die Hand.
»Was machen sie denn hier?«
»Was wir hier machen? Wir sind gerade hierhergezogen. Und du?«
Ylva begriff überhaupt nichts.
»Ich wohne hier«, sagte sie. »Seit fast sechs Jahren.«
Die Frau am Steuer schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht fassen.
»Und wo?«
Ylva sah sie an.
»In Hittarp«, antwortete sie.
Die Frau am Steuer drehte sich erstaunt zu dem Mann auf dem Rücksitz um und wandte sich dann wieder an Ylva.
»Du machst wohl Witze! Wir haben dort gerade ein Haus gekauft. Sagt dir Sundsliden was, eine Straße, die zum Ufer hinunterführt?«
Ylva nickte.
»Da wohne ich auch.«
»Sag bloß!«, sagte die Frau am Steuer. »Ist das die Möglichkeit! Hast du das gehört, Liebling? Sie wohnt in unserer Straße.«
»Ja«, sagte der Mann.
»So ein Zufall«, meinte die Frau. »Dann sind wir ja wieder Nachbarn. Bist du auf dem Weg nach Hause?«
»Ja, doch.«
»Steig ein, du kannst mitfahren.«
»Aber ich ...«
»Steig schon ein. Hinten. Auf dem Beifahrersitz liegt so viel Kram.«
Ylva zögerte, aber ihr fielen keine Einwände ein. Sie nahm den anderen Ohrhörer aus dem Ohr, wickelte das Kopfhörerkabel um den iPod, öffnete die Autotür und stieg ein.
Die Frau fuhr an.
»Also, so was«, sagte der Mann, »dass du hier wohnst. Gefällt es dir hier?«
»Ja«, sagte Ylva. »Die Stadt ist zwar kleiner, aber der Sund und die Strände sind fantastisch. Der Himmel ist ganz großartig. Es ist allerdings immer sehr windig, und die Winter sind auch kein Spaß.«
»Nicht? Wie meinst du das?«
»Nass und ungemütlich. Immer nur Schneeregen, nie weiß.«
»Hast du das gehört?«, sagte der Mann zu der Frau. »Keine richtigen Winter. Nur Schneeregen.«
»Ja«, erwiderte die Frau und sah Ylva im Rückspiegel an. »Aber jetzt ist es schön. In dieser Jahreszeit hat man keinen Grund zur Klage.«
Ylva lächelte und nickte.
»Ja, jetzt ist es schön.«
Sie versuchte, positiv zu klingen und ein unbeschwertes Gesicht zu machen, aber ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Was hatte es zu bedeuten, dass die beiden hierhergezogen waren? Wie würde das ihr Leben beeinflussen? Was wussten sie?
Das aufsteigende Unbehagen ließ sich nicht wegwischen.
»Das klingt wunderbar«, sagte der Mann auf der Rückbank. »Oder, Liebling? Herrlich!«
»Stimmt«, sagte die Frau am Steuer.
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Radom House GmbH.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin's. Entschuldige, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Ich habe den ganzen Nachmittag in der Notaufnahme verbracht.«
»Notaufnahme? Alles in Ordnung mit dir?«
Anders Egerbladh lobte sich im stillen für seine gespielte Anteilnahme. Das nannte er Geistesgegenwart. Dabei interessierte ihn natürlich als allererstes, ob der Vorfall seine Chancen beeinträchtigte, mit ihr intim zu werden.
»Ich bin auf der Treppe gestolpert und habe mir den Fuß verstaucht«, sagte sie. »Zuerst dachte ich, er sei gebrochen, ich konnte kaum noch auftreten ...«
»Du Ärmste ...«
Anders trank vorsichtig von seinem Bier und schluckte ganz leise, um nicht uninteressiert zu wirken.
»So schlimm ist es nicht. Ich habe Krücken und einen Stützverband. Aber zum Gondolen zu hinken wäre mühsam. Vielleicht magst du zu mir kommen? Ich habe eine Flasche Weißwein kalt gestellt.«
»Klingt super«, sagte Anders, »gerne. Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht? Wir können es auch auf ein andermal verschieben, falls du nicht in Stimmung bist.«
Er war wirklich ein Genie!
»Das macht wirklich keine Umstände«, versicherte sie. »Nach fünf Stunden in der Notaufnahme kann ich etwas Ablenkung gebrauchen.«
»Hast du schon gegessen?«, fragte Anders. »Ich könnte was mitbringen.«
Albert fucking Einstein!
»Das ist nett von dir, aber nicht nötig. Mein Kühlschrank ist voll.«
Sie nannte ihm die Adresse und beschrieb ihm in wenigen Worten den Weg. Anders prägte sich alles ein und beschloss, unten auf dem Platz einen Strauß Blumen zu kaufen. Er hatte es nie ganz verstanden, aber das funktionierte immer. Blumen und Champagner.
Letzteren würde er sich für das nächste Mal aufheben.
Er kaufte ein paar langstielige bunte Blumen und im Zeitschriftenladen eine Schachtel Kinderpflaster. Als originelles Mitbringsel. Er spürte, dass dies ein kluger Schachzug war.
Er ging beschwingt den Katarinavägen hinauf, bog wie angewiesen in die Fjällgatan ein und ging dort auf dem rechten Bürgersteig bis zur Sista Styverns Trappa, der Holztreppe, die die Fjällgatan und die darüberliegende Stigbergsgatan miteinander verband.
Dem Auto, das auf der Straße parkte, schenkte er nicht weiter Beachtung. Er konnte ja auch nicht wissen, dass die Frau am Steuer jene Frau war, mit der er eben telefoniert hatte und die jetzt ihren Mann anrief und ihm mitteilte, es wäre so weit.
Anders ging die Treppe zwischen den pietätvoll renovierten Holzhäusern hinauf. Er stellte sich vor, wie er mit zarter Hand, den Kopf mitfühlend zur Seite geneigt, den geschwollenen Fuß der Frau untersuchen, wie er ihr ihre verspannten Schultern massieren und ihr verständnisvoll und einfühlend zuhören würde. Fünf Stunden habe sie warten müssen? Das schwedische Gesundheitswesen war wirklich unter aller Kritik.
Anders wusste nicht, dass die Fotos, die er angestarrt hatte, aus dem Internet kopiert waren und eine bloggende, alleinerziehende Mutter aus Holland zeigten. Genauso wenig ahnte er, dass der Mann, der ihm auf der Treppe begegnete, einen Hammer in seinem Mantelärmel verbarg.
Sie erreichten gleichzeitig und aus entgegengesetzter Richtung den unteren Treppenabsatz. Der Mann blieb stehen.
»Anders?«, sagte er.
Anders blieb stehen.
»Erkennst du mich nicht?«, sagte der Mann. »Ich bin Annikas Vater. Du erinnerst dich doch noch an Annika?«
Anders bekam einen trockenen Mund. Sein eben noch entspannter und erwartungsvoller Gesichtsausdruck war plötzlich starr und gequält.
»Das ist auch wirklich lange her«, fuhr der Mann fröhlich fort.
»Ich bin etwas in Eile.«
Anders hob seine freie Hand und deutete nach oben. Der Mann lächelte, als würde er ihn verstehen, und nickte in Richtung der Blumen.
»Verabredung?«
Anders nickte.
»Ich bin spät dran«, sagte er und versuchte, seine Stimme natürlich klingen zu lassen. »Sonst wäre ich gerne einen Moment stehen geblieben.«
»Verstehe«, sagte der Mann.
Er lächelte, machte aber keine Anstalten weiterzugehen. Anders drehte sich unsicher um und stellte den Fuß auf die nächste Treppenstufe.
»Ich habe mich mit Morgan unterhalten«, sagte der Mann und ließ den Hammer in die behandschuhte Hand gleiten.
Anders hielt mit dem Rücken zu dem Mann auf der Treppe inne. Er rührte sich nicht.
»Oder genau genommen hat er sich mit mir unterhalten «, sagte der Mann. »Er hatte viel zu erzählen. Wollte die letzte Chance nutzen, sich auszusprechen. Er war nur noch Haut und Knochen, als ich ihn traf. Vielleicht lag es ja am Morphium, dass er so ins Detail ging, jedenfalls hat er geredet wie ein Wasserfall.«
Anders drehte sich langsam um. An der Peripherie seines Gesichtsfeldes ahnte er etwas, das sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Zum Wegducken oder schützend den Arm zu heben war es zu spät. Der Hammer traf seinen Kopf und zerschmetterte den Schädelknochen direkt über der Schläfe. noch bevor er auf dem Boden aufschlug, verlor er das Bewusstsein.
Der Mann stellte sich breitbeinig über anders und hob den Hammer erneut. Die Schläge zwei und drei waren vermutlich tödlich, trotzdem schlug der Mann weiter auf den liegenden ein, um sich seiner Sache sicher zu sein. Als wollte er alle Eindrücke und Erfahrungen, die anders in seinem Leben gesammelt hatte, ausradieren und seine gesamte Existenz auslöschen. Der Mann hörte erst mit dem schlagen auf, als der Hammer in dem Schädelknochen stecken blieb.
Er ließ ihn stecken, schaute sich hastig um, ging dann die Treppe hinunter und stieg in das wartende Auto. Die Frau fuhr los.
»War es schwer?«, fragte sie.
»Überhaupt nicht«, sagte der Mann.
2. Kapitel
»Hallo, ich heiße Gösta Lundin und bin emeritierter Professor der Psychologie und Autor des Buches Opfer und Täter, das einige von ihnen vermutlich gelesen haben werden. Sie brauchen nicht aufzuzeigen, aber trotzdem danke, ich weiß das zu schätzen. Vielen Dank.
Bevor ich beginne: Wie viele von ihnen sind bei der Polizei? Jetzt dürfen sie gerne aufzeigen.
Gut. Und wie viele Sozialarbeiter sind anwesend?
Ungefähr die Hälfte. Gut, dann weiß ich Bescheid. Eigentlich ist die Frage irrelevant, da ich den Inhalt meines Vortrages nicht an den Beruf der Zuhörer anpasse. Ich bin einfach nur neugierig. Vermutlich würde ich mich etwas breitbeiniger hinstellen, wenn ich es nur mit Polizisten zu tun hätte, mit skeptischen Polizisten, die die arme vor der Brust verschränken. Das wäre möglich. Ich weiß nicht.
Egal. Für den Vortrag heute habe ich die Überschrift gewählt: Wie ist das möglich?
Diese Frage stellen wir uns oft. Wie ist das möglich? Warum wehren sie sich nicht? Warum fliehen sie nicht?
Das sind ungefähr dieselben Fragen, die Kinder stellen, wenn sie zum ersten Mal vom Holocaust hören. Wie ist das möglich? Warum haben sie sich nicht gewehrt? Warum sind sie nicht geflohen?
Lassen sie uns am anderen Ende beginnen. Bei Adolf Hitler.
Wie alle wissen, hat sich der schnurrbärtige Österreicher von einer historischen Person in eine mythologische Figur verwandelt. Hitler ist heute ein Referenzrahmen, das Symbol des Bösen in seiner reinsten Form.
Ich habe nur Befehle ausgeführt ist ein erstarrter Ausdruck, eine Ermahnung an uns, dass wir die Obrigkeit ständig infrage stellen und der eigenen Überzeugung folgen müssen.
Als das genaue Gegenteil von Adolf Hitler gilt in unserem Land Astrid Lindgren.
Astrid Lindgren steht als Symbol für alles, was im Leben gut ist. Die kluge, besonnene Humanistin, die an das Gute im Menschen glaubt und es fördert.
Es gibt eine Menge moralischer Geschichten und Redensarten, die Astrid Lindgren zugeschrieben werden. Eines der berühmtesten Zitate sagt, dass wir manche Dinge tun müssen, obwohl sie gefährlich sind. Weil wir sonst keine Menschen sind, sondern nur ein kleines Stück Dreck.
Adolf und Astrid, schwarz und weiß, böse und gut.
Diese naive Vorstellung von richtig und falsch ist verführerisch und verlockend. Wir wollen zu den Guten gehören und das richtige tun.
ich habe jahrelang Opfer und Täter befragt - Täter, die ebenfalls Opfer sind, das ist etwas, was wir gerne vergessen - und weiß deswegen, dass die meisten in diesem Raum, inklusive meiner selbst, ohne größere Probleme sowohl das eine als auch das andere werden können.
Wir tragen alle Adolf und Astrid in uns. Wer etwas anderes behauptet, stellt sich dumm.
Aber solche philosophischen Fragen sollen uns jetzt nicht interessieren. Ich bin hier, um darüber zu sprechen, wie es in der Praxis zugeht.
Die Methoden, die Täter anwenden, um ihre Opfer zu unterdrücken, sind auf der ganzen Welt dieselben und so alt wie die Menschheit. Chefs verwenden dieselben Techniken wie Alleinherrscher, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil es nur zwei Führungsinstrumente gibt: Zuckerbrot und Peitsche. Einmal mehr von dem einen und weniger von dem anderen oder umgekehrt, aber bei allen Methoden handelt es sich nur um Varianten.
Ich werde leider nicht dafür bezahlt, hier zu stehen und komplizierte Dinge in einfache Worte zu fassen. Ich bin Akademiker, und als solcher habe ich gelernt, Dinge komplizierter zu machen, als sie sind, und mich selbst als intelligent und tiefgründig darzustellen.
Das ist auch der Grund dafür, dass die Power Point-Präsentation erfunden wurde.«
1. Ortswechsel, soziale Isolation
2. Breaking in violence
3. Hunger
4. Gewalt/Androhung von Gewalt
5. Demütigung
6. Schuld
7. Freundlichkeit, Privilegien
8. Blockierung des Ich
9. Die aussichtslose Zukunft
»Können alle gut sehen? Gut. Beginnen wir mit dem ersten Punkt ...«
3. Kapitel
Jörgen Petersson wartete, während die Verkäuferin das Poster von Homer Simpson einpackte, ein Geschenk für seinen jüngsten Sohn, der bald Geburtstag hatte. Jörgen sah sich im Laden um, und sein Blick blieb an einem Bild von Lasse Åberg hängen. Ausnahmsweise mal kein Micky-Maus-Motiv. Das Bild zeigte ein altes Klassenfoto. Die Hälfte der Gesichter war verblichen und nicht mehr zu erkennen, nur wenige waren intakt. Etwas wenig subtil vielleicht, aber Jörgen hatte Sinn für das schlichte. Er hatte nicht vor, seine Zeit im Auktionshaus Bukowskis auf der Jagd nach einem passenden Werk der drei namhaften, völlig überschätzten schwedischen Künstler zu vergeuden.
Das Kunstinteresse der Reichen konnte Jörgen nicht nachvollziehen. Das war doch nichts anderes als der vergebliche Versuch, sich freizukaufen. Eine Art, sich von denen zu distanzieren, die weder die Mittel noch die Möglichkeit besaßen.
Jörgen hätte es sich leisten können, alle drei Künstler in seine Diele zu hängen. Anders Zorn ging ja noch, aber auf diesen idiotischen Tiermaler Bruno Liljefors und den Idylliker Carl Larsson konnte er wirklich verzichten.
Im Übrigen besaß er bereits einen Zorn. Im Klohäuschen seines Sommerhauses hing ein Poster aus dem Museum in Mora. Jörgen betrachtete es immer, wenn er dort sein Geschäft verrichtete. Nutzen und Vergnügen in wunderbarer Harmonie. Weder seine Frau noch die Kinder verstanden ihn, wo es doch im Haus eine Toilette mit Fußbodenheizung gab. Seine Frau hatte sogar vorgeschlagen, das Trockenklosett einfach abzureißen.
Dagegen hatte sich Jörgen allerdings vehement gewehrt, obwohl er sich sonst in Entscheidungen, die den Haushalt betrafen, nicht einmischte. Aber da hörte der Spaß auf. Anderthalb Hektar Land, fast vierhundert Meter Uferlinie, und da sollte er nicht einmal in Ruhe in seinem eigenen Klohäuschen sitzen dürfen? In Gesellschaft halb gelöster Kreuzworträtsel in verblichenen Illustrierten.
Es war richtig gewesen, dass er Widerspruch eingelegt hatte. Das erhöhte den Respekt seiner Frau und ließ ihn noch exzentrischer und halsstarriger erscheinen. Und das waren für einen reichen Mann keine schlechten Eigenschaften.
Er betrachtete das Åberg-Bild noch eine Weile und überlegte sich, wie sein eigenes Klassenfoto aussah.
Wen hatte er vergessen? An wen erinnerte er sich?
Und wer erinnerte sich an ihn?
Vielleicht hatte der eine oder andere ja etwas über ihn gelesen? In den Wirtschaftsblättern hatte alles Mögliche über ihn gestanden, von Geld und Erfolg war dort die Rede gewesen. Aber es erkannte ihn niemand, wenn er in einen U-Bahn-Wagen einstieg.
Jörgens Leben erinnerte an eine erfolgreiche Partie Monopoly. Plötzlich hatte er mit allen Hotels und Häusern dagesessen und Geld verdient, ohne sich anstrengen zu müssen. Und die Geldstapel wuchsen.
Sein erstes Geld hatte er mit einer Internetfirma verdient. Sie hatten große Reden über die Zukunft und ihre Möglichkeiten geschwungen, aber im Grunde genommen nur Homepages entworfen. Damals hatten nur Eingeweihte mit der Abkürzung IT etwas anfangen können, während alle Firmen ihre Mitarbeiter weiter zu Kursen über die Anwendung einfachster Textverarbeitungsprogramme schickten.
Jörgen war dem Rampenlicht entronnen, weil seine beiden Kollegen und Mitbegründer der Firma PR-geil waren und jede Gelegenheit genutzt hatten, sich ablichten zu lassen.
Die Firma hatte nie Gewinne verzeichnet, trotzdem war sie zeitweilig an der Börse über zwei Milliarden Kronen wert gewesen. Jörgen konnte über diesen Irrsinn nur den Kopf schütteln, was seine vom Erfolg berauschten Kollegen provozierte, die fleißig in der Wirtschaftspresse zitiert wurden und offenbar selbst an ihre Zukunftsvisionen glaubten. Schließlich hatten sie sich anerboten, Jörgen auszuzahlen, indem sie ihm seinen Aktienposten zum halben Börsenwert abkauften. Sie lachten sich ins Fäustchen, als er ihr Angebot annahm, 100 Millionen Kronen bar auf die Hand, danke und Tschüs.
»Das dümmste Geschäft des Jahres?«, lautete die Überschrift der Zeitungsnotiz, die weitgehend mit der Pressemitteilung übereinstimmte, die Jörgens Kollegen gut gelaunt verschickt hatten.
Ein Jahr später waren die beiden hoch verschuldet, die Firma umstrukturiert und praktisch wertlos.
Da hatte die Presse plötzlich großes Interesse an Jörgen gezeigt. Der aber hatte freundlich, doch nachdrücklich jede Interviewanfrage abgelehnt, eingedenk der im Suff gerne wiederholten weisen Worte seines besten Freundes Calle Collin, der als freiberuflicher Journalist für Illustrierte arbeitete:
»Prominenz ist nie von Vorteil. Was immer du tust, zeige nie dein Gesicht. Sofern du kein Simon Spies bist, meide die Öffentlichkeit.«
Calle Collin war einer der wenigen, der auf dem Klassenfoto, wie Jörgen es sich vorstellte, noch zu erkennen wäre. An wen erinnerte er sich sonst noch? An einige der hübschen, unnahbaren Mädchen. Jörgen fragte sich, was aus ihnen wohl geworden war. Falsch, eigentlich war es ihm egal, er hätte nur gerne gewusst, wie sie heute aussahen. Er hatte sie gegoogelt, aber keine Fotos gefunden, nicht einmal in Facebook. Das konnte kaum ein Zufall sein.
Er stellte sich billigrotweingezeichnete Gesichter vor und tröstete sich mit dem Gedanken an ihren körperlichen Verfall. Brüste, die früher den Gesetzen der Schwerkraft getrotzt und seine sexuelle Fantasie beflügelt hatten, hingen nun verloren in kräftig gepolsterten Push-Up-BHs.
Oje, wie zynisch sich das anhörte. Jörgen hatte immer gedacht, dass er mehr über den Dingen stünde. oder etwa nicht?
4. Kapitel
Ortswechsel, soziale Isolation
Die Frau wird aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und in eine neue, unbekannte Umgebung versetzt. Das dient mehreren Zielen. Die Frau verliert ihren Kontakt zu Verwandten und Freunden, ist desorientiert und geografisch verunsichert und somit vollkommen abhängig von der einzigen ihr bekannten Person, dem Täter. Indem man die Frau eine längere Zeit gefangen hält, wird die zeitliche und räumliche Verwirrung noch verstärkt. Dauert die Isolation lang genug an, empfindet das Opfer schließlich Dankbarkeit für jede Form menschlichen Kontakts, selbst für den erzwungenen.
»Bist du sicher? nur ein Glas. Du bist dann immer noch rechtzeitig zum fernsehschauen wieder zu Hause.«
»Ja, komm schon.«
Ylva lachte. sie war dankbar, dass sie es wenigstens versuchten.
»Nein«, antwortete sie. »Ich bin heute mal brav.«
»Du?«, sagte Nour. »Warum ausgerechnet heute damit anfangen?«
»Weiß nicht. Vielleicht aus Spaß an der Abwechslung?«
»Nur ein Glas?«
»Nein.«
»Sicher?«
Ylva nickte.
»Ganz sicher«, sagte sie.
»Okay, okay, es sieht dir zwar nicht ähnlich, aber okay.«
»Dann bis Montag.«
»Ja, bis Montag. Grüße an die Familie.«
Ylva blieb stehen und drehte sich um.
»Aus eurem Mund klingt das, als sei Familie etwas schlechtes«, sagte sie und legte die Hand unschuldig auf die Brust.
Nour schüttelte den Kopf.
»Wir sind einfach nur neidisch.«
Ylva zog ihren iPod aus der Tasche und schlenderte das Gefälle hinunter. Das Kopfhörerkabel hatte sich verheddert, und sie blieb stehen, um es zu entwirren, die Stöpsel in die Ohren zu stecken und eine Wiedergabeliste auszuwählen. Nur Musik im Ohr und ein in die ferne gerichteter Blick verschonten einen vor Gerede über das Wetter. Es gab immer redselige Leute, die nach Aufmerksamkeit heischten und einem den neuesten Klatsch anvertrauen wollten. Das war der Nachteil einer Kleinstadt.
Obwohl Ylva eine Zugezogene war. Mike, der in der Stadt aufgewachsen war, konnte keinen Schritt tun, ohne über die Vorfälle der letzten Zeit Rechenschaft ablegen zu müssen.
Ylva ging durch die menschenleere, malerische Gasse und kam an einem parkenden Wagen mit getönten Scheiben vorbei, ohne ihn weiter zu beachten. Die Musik war so laut, dass sie nicht hörte, wie der Motor angelassen wurde.
Erst als das Auto langsam neben ihr herfuhr, ohne sie zu überholen, bemerkte sie es und drehte sich um. Das Seitenfenster glitt herunter.
Ylva vermutete, dass jemand sie nach dem Weg fragen wollte. Sie blieb stehen und überlegte, ob sie den iPod abstellen oder einfach die Ohrstöpsel herausnehmen sollte. Sie entschied sich für letzteres und trat einen Schritt auf das Auto zu, beugte sich vor und schaute hinein. Auf dem Beifahrersitz standen ein Karton und eine Handtasche. Die Frau am Lenkrad lächelte sie an.
»Ylva?«, sagte sie.
Eine Sekunde verging, dann verspürte sie ein unbehagliches Gefühl in der Magengrube.
»Ich dachte doch, dass du das bist«, sagte die Fahrerin freundlich.
Ylva erwiderte ihr lächeln.
»Das ist wirklich lange her.«
Die Frau am Steuer wendete sich an einen Mann auf dem Rücksitz.
»Siehst du denn nicht, wer das ist?«
Er beugte sich vor.
»Hallo, Ylva.«
Ylva streckte den Arm durch das Seitenfenster und gab beiden die Hand.
»Was machen sie denn hier?«
»Was wir hier machen? Wir sind gerade hierhergezogen. Und du?«
Ylva begriff überhaupt nichts.
»Ich wohne hier«, sagte sie. »Seit fast sechs Jahren.«
Die Frau am Steuer schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht fassen.
»Und wo?«
Ylva sah sie an.
»In Hittarp«, antwortete sie.
Die Frau am Steuer drehte sich erstaunt zu dem Mann auf dem Rücksitz um und wandte sich dann wieder an Ylva.
»Du machst wohl Witze! Wir haben dort gerade ein Haus gekauft. Sagt dir Sundsliden was, eine Straße, die zum Ufer hinunterführt?«
Ylva nickte.
»Da wohne ich auch.«
»Sag bloß!«, sagte die Frau am Steuer. »Ist das die Möglichkeit! Hast du das gehört, Liebling? Sie wohnt in unserer Straße.«
»Ja«, sagte der Mann.
»So ein Zufall«, meinte die Frau. »Dann sind wir ja wieder Nachbarn. Bist du auf dem Weg nach Hause?«
»Ja, doch.«
»Steig ein, du kannst mitfahren.«
»Aber ich ...«
»Steig schon ein. Hinten. Auf dem Beifahrersitz liegt so viel Kram.«
Ylva zögerte, aber ihr fielen keine Einwände ein. Sie nahm den anderen Ohrhörer aus dem Ohr, wickelte das Kopfhörerkabel um den iPod, öffnete die Autotür und stieg ein.
Die Frau fuhr an.
»Also, so was«, sagte der Mann, »dass du hier wohnst. Gefällt es dir hier?«
»Ja«, sagte Ylva. »Die Stadt ist zwar kleiner, aber der Sund und die Strände sind fantastisch. Der Himmel ist ganz großartig. Es ist allerdings immer sehr windig, und die Winter sind auch kein Spaß.«
»Nicht? Wie meinst du das?«
»Nass und ungemütlich. Immer nur Schneeregen, nie weiß.«
»Hast du das gehört?«, sagte der Mann zu der Frau. »Keine richtigen Winter. Nur Schneeregen.«
»Ja«, erwiderte die Frau und sah Ylva im Rückspiegel an. »Aber jetzt ist es schön. In dieser Jahreszeit hat man keinen Grund zur Klage.«
Ylva lächelte und nickte.
»Ja, jetzt ist es schön.«
Sie versuchte, positiv zu klingen und ein unbeschwertes Gesicht zu machen, aber ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Was hatte es zu bedeuten, dass die beiden hierhergezogen waren? Wie würde das ihr Leben beeinflussen? Was wussten sie?
Das aufsteigende Unbehagen ließ sich nicht wegwischen.
»Das klingt wunderbar«, sagte der Mann auf der Rückbank. »Oder, Liebling? Herrlich!«
»Stimmt«, sagte die Frau am Steuer.
Copyright © 2012 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Radom House GmbH.
... weniger
Autoren-Porträt von Hans Koppel
Hans Koppel wurde 1964 in Helsingborg geboren. Er hat lange als Journalist gearbeitet, bevor er sich gänzlich dem Schreiben zuwandte. Hans Koppel lebt heute mit seiner Frau und seiner Tochter in Stockholm.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hans Koppel
- 2013, Erstmals im TB, 352 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Holger Wolandt
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453437187
- ISBN-13: 9783453437180
- Erscheinungsdatum: 05.09.2013
Pressezitat
"Ein spannender Thriller um Rache und Vergeltung!" Maxima
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