Erinnerungen
Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt
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Produktinformationen zu „Erinnerungen “
Zum 100. Geburtstag von Willy Brandt
Klappentext zu „Erinnerungen “
Drei Jahre vor seinem Tod legte Willy Brandt seine Memoiren vor, in denen er seinen bewegenden persönlichen und politischen Werdegang nachzeichnet: seine uneheliche Herkunft aus dem Lübecker Arbeitermilieu, die Flucht vor den Nazis ins Exil, die aktive Teilnahme am Kampf gegen Hitler, seine Rückkehr nach Deutschland und die Karriere in der SPD, seine Zeit als erster sozialdemokratischer Kanzler, aber auch seinen Rücktritt anlässlich der Affäre um DDR-Spion Guillaume. Ein Zeitzeugnis ersten Ranges, das die bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.Lese-Probe zu „Erinnerungen “
Erinnerungen von Willy BrandtVORWORT '92
Meine Erinnerungen, die jetzt als Taschenbuch vorliegen, wurden 1988 geschrieben Lund im Frühjahr 1989 abgeschlossen. Warum nicht offen einräumen, daß ich nicht ahnte, wieviel Veränderungen die politische Landkarte im Laufe weniger turbulenter Jahre und in atemberaubendem Tempo erfahren würde! Doch ich hatte ja auch nicht über die vermutete Zukunft, sondern über Erfahrungen meines Lebens zu schreiben. Zu diesen Erfahrungen gehört nun auch, daß das sowjetische Herrschaftssystem zusammenbrach, der weltweite Ost-West-Konflikt sein Ende fand, die Teilung Deutschlands überwunden werden konnte.
Seit in Berlin die Mauer fiel und der Todesstreifen zwischen Lübeck und Hof entmint wurde, sind bald drei Jahre vergangen. Mit vielen anderen teilte ich die Freude darüber, daß wieder zusammenwachsen konnte, was zusammengehört. Auch damit durften wir zufrieden sein, daß die europäische Einigung neue Impulse erfuhr. Und daß immerhin die Chance besteht, nach der Überwindung des Kalten Krieges konnte ein Teil der Mittel freigesetzt werden, die bislang durch exzessive Rüstungen in Anspruch genommen wurden.
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Wenngleich die Freude darüber nicht nachläßt, daß Diktatur und Zerklüftung der Vergangenheit angehören, drangen sich neue sorgenvolle Fragen auf: War es unvermeidlich, daß die deutsche Einheit mit soviel Schwierigkeiten verbunden sein würde? Mit soviel raschen Veränderungen, die im Osten als Harten empfunden werden? Mit im Westen aufzubringenden Mitteln, die dort über alle Erwartungen hinausgehen und deren Ausmaß sogar die öffentlichen Finanzen gefährdet? Ich meine, die Träger politischer Verantwortung hatten im Zusammenwirken untereinander und mit den gesellschaftlichen Gruppen manche Fehlentwicklung vermeiden können - das Tempo freilich, in dem sich der Zusammenschluß vollzog, wurde durch die Landsleute im Osten bestimmt. Ich habe gehört und verstanden, wie sie insistierten: Wenn ihr uns nicht die D-Mark bringt, kommen wir zur D-Mark . . . Hatte man neue Grenzzaune ziehen sollen? Nein, das gewiß nicht, doch es blieb nicht wenig, das sich hatte anders und besser machen lassen, wäre unabhängiger Sachverstand mobilisiert, enges Gruppendenken zurückgedrängt, vielerorts vorhandene Opferbereitschaft in Anspruch genommen worden. Doch selten ist etwas so verfahren, daß es sich nicht flottmachen ließe.
Daß Deutschlands staatliche Einheit wiederhergestellt wurde, konnte nicht ohne Einfluß auf die Konstruktion Europas bleiben. Dies gilt erst recht für das Ende der Sowjetunion - als zweiter Supermacht und überhaupt. Zu den großen Überraschungen dieser Zeit gehört, daß es im Laufe weniger Monate des Jahres 1990 möglich war, sich über den außenpolitischen (und militärischen) Rahmen zu verständigen, innerhalb dessen die Teile Deutschlands zueinander finden konnten. Michail Gorbatschow, Noch-Präsident der Noch-Sowjetunion, bestimmte wesentlich das Tempo des Schleusenöffnens. Ich habe ihn im Oktober 1989 - am Tag bevor Honecker stürzte - im Kreml gesehen und konnte mir ein Bild machen, wie sehr die Dinge in Bewegung geraten waren. In Moskau dachte man, wo es um Deutschland ging, in den Kategorien stufenweiser Veränderung; das war in Bonn nicht viel anders.
Beide Seiten hatten zudem ein überragendes Interesse daran, daß die sowjetischen Streitkräfte nicht in Schwierigkeiten des Übergangs verwickelt würden. Wo sich Gelegenheit bot, habe ich inständig darum gebeten, alles zu vermeiden, was Konflikte mit den zum Abzug anstehenden Besatzungstruppen hatte auslosen können. Erst im Laufe der folgenden zwei Jahre trat offen zutage, wie sehr das kommunistisch-bürokratische Herrschaftssystem und die ihm untertane Wirtschaft ausgehöhlt waren - und wie schwierig es werden wurde, ein Abgleiten in chaotische Zustande abzuwenden.
Bei uns in Deutschland zeigte sich: Während die außenpolitischen Fragen der Einheit überraschend schnell und befriedigend beantwortet werden konnten, gestaltete sich deren innerer Teil wesentlich schwieriger, als durchweg vermutet worden war. Und dies nicht nur, weil die aufzuwendenden Mittel über die Erwartungen hinausgingen und nicht aus vermuteten westdeutschen Zuwachsen gespeist werden konnten. Auch nicht nur, weil es sich um einen Systemwandel ohne Präzedenz handelte und um ökologische wie infrastrukturelle Altlasten, die man in diesem Umfang nicht vorausgesehen hatte. Noch schwerer wogen die immateriellen Folgen nicht nur der Teilung, sondern einer totalitären Herrschaft, die sich in unterschiedlicher Färbung über fünfeinhalb Jahrzehnte erstreckt hatte. Das Verhalten der Menschen hatte davon nicht unbeeinflußt bleiben können.
Nicht wenige lebten in dem verständlichen Empfinden, ihnen sei der weitaus größere Teil der Last aufgebürdet worden, die sich Deutschland durch den Hitler-Krieg zugezogen hatte. Das Gift, das das kommunistische Regime in seinem »Staatssicherheit« genannten Spitzelwesen angesammelt hatte und das nun austrat, tat ein übriges. Ich habe zu deren gehört, die - dem Rechtsstaat gewiß nicht in die Speichen greifend - vom zu langen, selbstquälerischen Verharren in der Vergangenheit deutlich abrieten. Lieber als an archivierte Dokumente der Gemeinheit und Schwache erinnere ich mich der großen freiheitlichen Manifestationen, die den Zusammenbruch der Diktatur begleiteten.
Der Zusammenbruch im Osten, der in Polen begann und in der Mongolei nicht aufhörte, bedeutete weder ein »Ende der Geschichte«, von dem einige redeten, noch eine »neue Weltordnung«, die andere voreilig proklamierten. Ich konnte nicht die Auffassung derer teilen, die Deutschland eine neue »weltpolitische« Rolle zuerkennen oder antragen wollten. Doch eine gewachsene Verantwortung läßt sich weder bestreiten noch abschütteln. Am besten ist ihr im Rahmen gemeinsamer europäischer Anstrengungen gerecht zu werden - nicht in Abkehr von guter Partnerschaft mit den Amerikanern (und anderen Teilen der Welt), aber doch bei klarer Bekundung europäischer Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit.
Ich war sehr damit einverstanden, daß die amtliche deutsche Politik dem Eindruck entgegenwirkte, als sei mit der Einheit die europäische Einbettung weniger wichtig geworden. Tatsächlich hat das Bemühen um Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft - zur Wirtschafts- und Wahrungsunion, auch zu außen- und sicherheitspolitischer Gemeinsamkeit - neuen Auftrieb erhalten. Freilich ist die Besorgnis derer ernstzunehmen, die einen Verlust an demokratischer Substanz befürchten, wenn immer mehr Zuständigkeiten den nationalen Parlamenten entzogen werden, ohne auf europäischer Ebene eine angemessene Entsprechung zu finden.
Die Erweiterung der EG um Österreich und Schweden sowie andere Mitgliedsländer der Europäischen Freihandelszone ist nicht mehr umstritten. Bisherigen Ostblockstaaten wie Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, wird die Mitgliedschaft nicht verwehrt werden können, nachdem zusätzlich zu den demokratischen auch die materiellen Voraussetzungen gegeben sein werden. Aber es will nicht vernünftig erscheinen, eine übernationale Gemeinschaft vom Atlantik bis nach Wladiwostok auszudehnen. Der Einwand richtet sich nicht gegen Vorkehrungen, die der gemeinsamen Sicherheit dienen, gewiß auch nicht gegen möglichst umfassende Formen praktischer Zusammenarbeit.
Sorge hat mir bereitet, daß der Westen im ganzen, aber auch Westeuropa, nicht hinreichend bereit war, auf den ökonomischen Kollaps in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie auch in anderen Teilen des ehemaligen Ostblocks hinreichend hilfsbereit und kompetent zu reagieren. Deutschland zeigte sich weniger zugeknöpft; das war durch eigene, legitime Interessen bedingt, allerdings nicht durchweg effektiv. Mit bedauerlicher Hilflosigkeit standen wir auch dem Ausbruch nationalistischer Feindseligkeiten gegenüber, die - wie auf dem Balkan der Auflösung aufgezwungener kommunistischer Disziplin folgten. Die Art, in der Jugoslawien auseinanderfiel, war alles andere als ein europäisches Ruhmesblatt.
Nur mühsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß wir uns mit einem neuen - erweiterten - Verständnis von Sicherheit vertraut zu machen haben. Die Herausforderung durch nationalistische und fundamentalistische Wirren gehört dazu. Die Bedrohungen durch Ökologische Frevel und armutsbedingte Völkerwanderungen gehören dazu, explosives Wachstum der Weltbevölkerung ebenso wie durch Überschuldung zugrundegerichtete Volkswirtschaften. Doch wir haben es nicht nur mit Alarmzeichen zu tun. Zu den Zeichen der Hoffnung gehört, daß im südlichen Afrika die Apartheit überwunden wird. Daß mehr Menschen wissen, wie sehr sie durch die Zerstörung der natürlichen Umwelt bedroht sind. Daß, nachdem der Kalte Krieg zuendeging, eine reale Chance besteht, aus den Vereinten Nationen endlich das zu machen, was sie schon 1945 hätten werden sollen. Und daß es möglich sein muß, einen Teil der Mittel, die militärisch gebunden waren, für produktive Zwecke umzulenken.
Im Frühjahr 1991 habe ich mitgeholfen, jenen »Appell von Stockholm« auf den Weg zu bringen, der realistische Wege aufzeigt, wie die Vereinten Nationen gestärkt und - überzeugender als während des Golfkrieges - Konflikte beigelegt werden können. Ich habe mich auch in diesen Jahren auf allen Kontinenten umgeschaut und vor allem in der internationalen Gemeinschaft sozialdemokratischer Parteien um Frieden, Menschenrechte und Ausgleich bemüht. Damit verbundene Ämter lege ich in andere Hände. Erfahrungen zu vermitteln, Rat zu geben und parteiübergreifende Bemühungen anzuregen - dazu ist immer noch Zeit.
Unkel, Frühjahr 1992
Willy Brandt
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Wenngleich die Freude darüber nicht nachläßt, daß Diktatur und Zerklüftung der Vergangenheit angehören, drangen sich neue sorgenvolle Fragen auf: War es unvermeidlich, daß die deutsche Einheit mit soviel Schwierigkeiten verbunden sein würde? Mit soviel raschen Veränderungen, die im Osten als Harten empfunden werden? Mit im Westen aufzubringenden Mitteln, die dort über alle Erwartungen hinausgehen und deren Ausmaß sogar die öffentlichen Finanzen gefährdet? Ich meine, die Träger politischer Verantwortung hatten im Zusammenwirken untereinander und mit den gesellschaftlichen Gruppen manche Fehlentwicklung vermeiden können - das Tempo freilich, in dem sich der Zusammenschluß vollzog, wurde durch die Landsleute im Osten bestimmt. Ich habe gehört und verstanden, wie sie insistierten: Wenn ihr uns nicht die D-Mark bringt, kommen wir zur D-Mark . . . Hatte man neue Grenzzaune ziehen sollen? Nein, das gewiß nicht, doch es blieb nicht wenig, das sich hatte anders und besser machen lassen, wäre unabhängiger Sachverstand mobilisiert, enges Gruppendenken zurückgedrängt, vielerorts vorhandene Opferbereitschaft in Anspruch genommen worden. Doch selten ist etwas so verfahren, daß es sich nicht flottmachen ließe.
Daß Deutschlands staatliche Einheit wiederhergestellt wurde, konnte nicht ohne Einfluß auf die Konstruktion Europas bleiben. Dies gilt erst recht für das Ende der Sowjetunion - als zweiter Supermacht und überhaupt. Zu den großen Überraschungen dieser Zeit gehört, daß es im Laufe weniger Monate des Jahres 1990 möglich war, sich über den außenpolitischen (und militärischen) Rahmen zu verständigen, innerhalb dessen die Teile Deutschlands zueinander finden konnten. Michail Gorbatschow, Noch-Präsident der Noch-Sowjetunion, bestimmte wesentlich das Tempo des Schleusenöffnens. Ich habe ihn im Oktober 1989 - am Tag bevor Honecker stürzte - im Kreml gesehen und konnte mir ein Bild machen, wie sehr die Dinge in Bewegung geraten waren. In Moskau dachte man, wo es um Deutschland ging, in den Kategorien stufenweiser Veränderung; das war in Bonn nicht viel anders.
Beide Seiten hatten zudem ein überragendes Interesse daran, daß die sowjetischen Streitkräfte nicht in Schwierigkeiten des Übergangs verwickelt würden. Wo sich Gelegenheit bot, habe ich inständig darum gebeten, alles zu vermeiden, was Konflikte mit den zum Abzug anstehenden Besatzungstruppen hatte auslosen können. Erst im Laufe der folgenden zwei Jahre trat offen zutage, wie sehr das kommunistisch-bürokratische Herrschaftssystem und die ihm untertane Wirtschaft ausgehöhlt waren - und wie schwierig es werden wurde, ein Abgleiten in chaotische Zustande abzuwenden.
Bei uns in Deutschland zeigte sich: Während die außenpolitischen Fragen der Einheit überraschend schnell und befriedigend beantwortet werden konnten, gestaltete sich deren innerer Teil wesentlich schwieriger, als durchweg vermutet worden war. Und dies nicht nur, weil die aufzuwendenden Mittel über die Erwartungen hinausgingen und nicht aus vermuteten westdeutschen Zuwachsen gespeist werden konnten. Auch nicht nur, weil es sich um einen Systemwandel ohne Präzedenz handelte und um ökologische wie infrastrukturelle Altlasten, die man in diesem Umfang nicht vorausgesehen hatte. Noch schwerer wogen die immateriellen Folgen nicht nur der Teilung, sondern einer totalitären Herrschaft, die sich in unterschiedlicher Färbung über fünfeinhalb Jahrzehnte erstreckt hatte. Das Verhalten der Menschen hatte davon nicht unbeeinflußt bleiben können.
Nicht wenige lebten in dem verständlichen Empfinden, ihnen sei der weitaus größere Teil der Last aufgebürdet worden, die sich Deutschland durch den Hitler-Krieg zugezogen hatte. Das Gift, das das kommunistische Regime in seinem »Staatssicherheit« genannten Spitzelwesen angesammelt hatte und das nun austrat, tat ein übriges. Ich habe zu deren gehört, die - dem Rechtsstaat gewiß nicht in die Speichen greifend - vom zu langen, selbstquälerischen Verharren in der Vergangenheit deutlich abrieten. Lieber als an archivierte Dokumente der Gemeinheit und Schwache erinnere ich mich der großen freiheitlichen Manifestationen, die den Zusammenbruch der Diktatur begleiteten.
Der Zusammenbruch im Osten, der in Polen begann und in der Mongolei nicht aufhörte, bedeutete weder ein »Ende der Geschichte«, von dem einige redeten, noch eine »neue Weltordnung«, die andere voreilig proklamierten. Ich konnte nicht die Auffassung derer teilen, die Deutschland eine neue »weltpolitische« Rolle zuerkennen oder antragen wollten. Doch eine gewachsene Verantwortung läßt sich weder bestreiten noch abschütteln. Am besten ist ihr im Rahmen gemeinsamer europäischer Anstrengungen gerecht zu werden - nicht in Abkehr von guter Partnerschaft mit den Amerikanern (und anderen Teilen der Welt), aber doch bei klarer Bekundung europäischer Eigenständigkeit und Gleichwertigkeit.
Ich war sehr damit einverstanden, daß die amtliche deutsche Politik dem Eindruck entgegenwirkte, als sei mit der Einheit die europäische Einbettung weniger wichtig geworden. Tatsächlich hat das Bemühen um Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft - zur Wirtschafts- und Wahrungsunion, auch zu außen- und sicherheitspolitischer Gemeinsamkeit - neuen Auftrieb erhalten. Freilich ist die Besorgnis derer ernstzunehmen, die einen Verlust an demokratischer Substanz befürchten, wenn immer mehr Zuständigkeiten den nationalen Parlamenten entzogen werden, ohne auf europäischer Ebene eine angemessene Entsprechung zu finden.
Die Erweiterung der EG um Österreich und Schweden sowie andere Mitgliedsländer der Europäischen Freihandelszone ist nicht mehr umstritten. Bisherigen Ostblockstaaten wie Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, wird die Mitgliedschaft nicht verwehrt werden können, nachdem zusätzlich zu den demokratischen auch die materiellen Voraussetzungen gegeben sein werden. Aber es will nicht vernünftig erscheinen, eine übernationale Gemeinschaft vom Atlantik bis nach Wladiwostok auszudehnen. Der Einwand richtet sich nicht gegen Vorkehrungen, die der gemeinsamen Sicherheit dienen, gewiß auch nicht gegen möglichst umfassende Formen praktischer Zusammenarbeit.
Sorge hat mir bereitet, daß der Westen im ganzen, aber auch Westeuropa, nicht hinreichend bereit war, auf den ökonomischen Kollaps in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie auch in anderen Teilen des ehemaligen Ostblocks hinreichend hilfsbereit und kompetent zu reagieren. Deutschland zeigte sich weniger zugeknöpft; das war durch eigene, legitime Interessen bedingt, allerdings nicht durchweg effektiv. Mit bedauerlicher Hilflosigkeit standen wir auch dem Ausbruch nationalistischer Feindseligkeiten gegenüber, die - wie auf dem Balkan der Auflösung aufgezwungener kommunistischer Disziplin folgten. Die Art, in der Jugoslawien auseinanderfiel, war alles andere als ein europäisches Ruhmesblatt.
Nur mühsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß wir uns mit einem neuen - erweiterten - Verständnis von Sicherheit vertraut zu machen haben. Die Herausforderung durch nationalistische und fundamentalistische Wirren gehört dazu. Die Bedrohungen durch Ökologische Frevel und armutsbedingte Völkerwanderungen gehören dazu, explosives Wachstum der Weltbevölkerung ebenso wie durch Überschuldung zugrundegerichtete Volkswirtschaften. Doch wir haben es nicht nur mit Alarmzeichen zu tun. Zu den Zeichen der Hoffnung gehört, daß im südlichen Afrika die Apartheit überwunden wird. Daß mehr Menschen wissen, wie sehr sie durch die Zerstörung der natürlichen Umwelt bedroht sind. Daß, nachdem der Kalte Krieg zuendeging, eine reale Chance besteht, aus den Vereinten Nationen endlich das zu machen, was sie schon 1945 hätten werden sollen. Und daß es möglich sein muß, einen Teil der Mittel, die militärisch gebunden waren, für produktive Zwecke umzulenken.
Im Frühjahr 1991 habe ich mitgeholfen, jenen »Appell von Stockholm« auf den Weg zu bringen, der realistische Wege aufzeigt, wie die Vereinten Nationen gestärkt und - überzeugender als während des Golfkrieges - Konflikte beigelegt werden können. Ich habe mich auch in diesen Jahren auf allen Kontinenten umgeschaut und vor allem in der internationalen Gemeinschaft sozialdemokratischer Parteien um Frieden, Menschenrechte und Ausgleich bemüht. Damit verbundene Ämter lege ich in andere Hände. Erfahrungen zu vermitteln, Rat zu geben und parteiübergreifende Bemühungen anzuregen - dazu ist immer noch Zeit.
Unkel, Frühjahr 1992
Willy Brandt
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Autoren-Porträt von Willy Brandt
Willy Brandt, geboren 1913 in Lübeck. 1933 bis 1945 Exil in Norwegen und Schweden, 1957 bis 1966 Regierender Bürgermeister von Berlin, 1964 bis 1987 Parteivorsitzender der SPD, 1966 bis 1969 Bundesaußenminister, 1969 bis 1974 Bundeskanzler, 1971 Friedensnobelpreisträger, 1976 bis 1992 Präsident der Sozialistischen Internationale. Brandt starb 1992 in Unkel am Rhein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Willy Brandt
- 2013, 2. Aufl., 592 Seiten, 40 Abbildungen, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611664
- ISBN-13: 9783548611662
- Erscheinungsdatum: 11.09.2013
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