Evelyn Meyers & Walter Pulanski Band 1: Rachesommer
Thriller
Vier mysteriöse Todesfälle, ein geheimnisvolles Mädchen - und ein Sommer der Rache
Wien. Vier wohlhabende Männer im besten Alter sterben innerhalb kürzester Zeit unter ähnlichen Umständen. Und nur die...
Wien. Vier wohlhabende Männer im besten Alter sterben innerhalb kürzester Zeit unter ähnlichen Umständen. Und nur die...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Evelyn Meyers & Walter Pulanski Band 1: Rachesommer “
Vier mysteriöse Todesfälle, ein geheimnisvolles Mädchen - und ein Sommer der Rache
Wien. Vier wohlhabende Männer im besten Alter sterben innerhalb kürzester Zeit unter ähnlichen Umständen. Und nur die Anwältin Evelyn Meyers glaubt nicht an Zufall.
Leipzig. Mehrere Jugendliche, allesamt Insassen psychiatrischer Kliniken, sollen Selbstmord begangen haben. Kommissar Pulaskis Misstrauen ist geweckt, er beginnt zu ermitteln. Seine Nachforschungen bringen ihn mit Evelyn zusammen, und ihre gemeinsame Spur führt sie bis zur Nordsee, zu einem Schiff, das ein schreckliches Geheimnis birgt.
Wien. Vier wohlhabende Männer im besten Alter sterben innerhalb kürzester Zeit unter ähnlichen Umständen. Und nur die Anwältin Evelyn Meyers glaubt nicht an Zufall.
Leipzig. Mehrere Jugendliche, allesamt Insassen psychiatrischer Kliniken, sollen Selbstmord begangen haben. Kommissar Pulaskis Misstrauen ist geweckt, er beginnt zu ermitteln. Seine Nachforschungen bringen ihn mit Evelyn zusammen, und ihre gemeinsame Spur führt sie bis zur Nordsee, zu einem Schiff, das ein schreckliches Geheimnis birgt.
Klappentext zu „Evelyn Meyers & Walter Pulanski Band 1: Rachesommer “
Vier mysteriöse Todesfälle, ein geheimnisvolles Mädchen - und ein Sommer der RacheWien. Vier wohlhabende Männer im besten Alter sterben innerhalb kürzester Zeit unter ähnlichen Umständen. Und nur die Anwältin Evelyn Meyers glaubt nicht an Zufall ...
Leipzig. Mehrere Jugendliche, allesamt Insassen psychiatrischer Kliniken, sollen Selbstmord begangen haben. Kommissar Pulaskis Misstrauen ist geweckt, er beginnt zu ermitteln. Seine Nachforschungen bringen ihn mit Evelyn zusammen, und ihre gemeinsame Spur führt sie bis zur Nordsee, zu einem Schiff, das ein schreckliches Geheimnis birgt ...
Lese-Probe zu „Evelyn Meyers & Walter Pulanski Band 1: Rachesommer “
Rachesommer von Andreas GruberProlog
So liebte er es. Blauer Himmel, nur das Kreischen der Möwen, das Brechen der Brandung und weit und breit kein anderes Fahr zeug auf der Küstenstraße.
Edward Hockinson trat das Gaspedal durch. Die Autoreifen quietschten in der Kurve. Er spürte den Fahrtwind im Gesicht und schmeckte die salzige Meeresbrise auf den Lippen. Was für ein Kribbeln im Bauch! Das Leben in vollen Zügen zu genießen bedeutete für ihn mit seinen sechzig Jahren: am Rande der Klippen zu fahren, die hundertachtzig PS des Cabrios bis zur Grenze auszuloten und das Motorengeheul zu hören, das gegen den Fahrtwind ankämpfte, während Benny Goodman aus den Lautsprechern drang. Die Küstenstraßen an der Nordsee waren wie geschaffen für eine Spritztour, die ihm eine Gänsehaut bescherte und das Gefühl gab, wie der jung und verrückt zu sein. King of Swing.
Der Leuchtturm an der vorgelagerten Felseninsel kam näher. An dieser Stelle, wo die Straße steil abfiel, lag die gefährlichste Kurve. Hockinson konnte sie mit siebzig Sachen nehmen, das war kein Problem. Die Reifen hielten das aus.
Doch so weit kam es nicht.
Wie aus dem Nichts stand auf der nächsten Geraden plötzlich eine Person auf der weißen Mittellinie. Hockinson stieg auf die Brem se. Die Frau sah nicht auf. Warum in aller Welt zog sie sich mitten auf der Straße die Stöckelschuhe aus und lief barfuß über den Asphalt? Er rollte mit dem Wagen im Schritttempo näher. Was für Beine!
... mehr
Hockinson schob sich die Sonnenbrille in das vom Wind zerzauste, grau melierte Haar. Als er auf gleicher Höhe mit der Frau war, hielt er an. Sie hätte seine Tochter sein können, eher seine Enkeltochter - gerade im richtigen Alter, dachte er. In dem blauen Kleidchen mit den Spaghettiträgern wirkte sie blass und hager. Dennoch strahlte sie mit der Stola und dem Kopftuch, unter dessen Saum das blonde Haar hervor fiel, eine Unverdorbenheit und zu gleich eine laszive Erotik aus, die ihn an Grace Kelly in ihren frühen Filmen erinnerte.
Hockinson drehte Benny Goodman leiser und lehnte sich über den Beifahrersitz. »Mit den Schuhen zum Leuchtturm unterwegs?«, rief er aus dem Cabrio.
»Scheiße, mir ist der Absatz abgebrochen.«
Er schmunzelte. »Wohin soll's denn gehen?«
»Jedenfalls weg von diesen Drecksmöwen - wenn ich die Viecher noch länger schreien höre, drehe ich durch.«
Hockinson musste grinsen. Die Kleine in dem blauen Kleid gefiel ihm. Sie war genau seine Kragenweite. »Spring rein, ich nehme dich ein Stück mit.«
Sie reckte ihr Gesicht gegen den Wind, als überlegte sie, ob sie einsteigen oder das Gekreische der Möwen länger ertragen sollte. Hockinson starrte auf ihre kleinen Brüste, die sich gegen das Kleid pressten.
»Okay«, erwiderte sie schließlich, »aber wir hören einen anderen Sender.«
Hockinson öffnete ihr die Tür. »Was immer du willst.«
Sie schlüpfte in ihre Stöckelschuhe und sprang ins Auto. Als Hockinson für einen Moment ihre Beine betrachtete, sah er, dass keiner der Absätze abgebrochen war. Aber was kümmerte ihn das? Sie saß im Auto - nur das zählte! Kaum hatte er Gas gegeben, fummelte sie auch schon am Sendersuchlauf des Radios herum. Als ein neumodischer Sound aus den Lautsprechern dröhnte, drehte sie lauter und lehnte sich entspannt in den Sitz.
»An schnallen?«, fragte Hockinson.
Sie rührte sich nicht. Den Blick über die Klippen zum Leuchtturm richtend, sagte sie: »Ich vertraue dir.« Die Kleine war ganz nach seinem Geschmack. Hockinson trat das Pedal durch. Plötzlich rutschte sie näher zu ihm. Er sah nicht, was sie machte, hörte nur, wie der Verschluss seines Sicherheitsgurtes klickte, dann glitt das Endstück quer über seinen Bauch.
»He, ich ...«
»Das Leben ist ein Risiko, oder etwa nicht, Eddie?« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich wette, du schaffst die Kurve da vorn niemals mit neunzig Sachen.«
Sein Puls beschleunigte. Woher zum Teufel kannte sie seinen Namen?
»Fahr schneller, Eddie! Besorg es mir ... so wie früher.«
Wie früher? Hockinson schielte aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. Er kannte diese Frau nicht!
Sie zog ihr Kopftuch herunter und schüttelte das lange blonde Haar aus. Dann nahm sie den Umhang von den Schultern. Stola und Kopftuch entpuppten sich als ein einziger, meterlanger, mit Perlen bestickter Schal. Sie riss die Arme hoch und ließ den Schal wie eine Fahne hinter sich her wehen.
»Steig aufs Gas, Eddie!«, rief sie.
»Hören Sie, ich werde ...«
Plötzlich rutschte sie zu ihm herüber, stemmte sich für einen Augenblick im Sitz hoch und schlüpfte mit einem Bein in seinen Fußbereich. »Ich sagte schneller!« Sie drückte ihren Stöckelschuh auf seinen Fuß und trat das Pedal bis zur Bodenplatte durch. Der Motor heulte auf. Hockinson fuhr der Schmerz durch den Fuß. Er riss das Lenkrad herum, und der Wagen geriet für eine Sekunde ins Schleudern. Als er versuchte, seinen Fuß vom Gaspedal zu ziehen, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen den Sitz und drückte mit aller Kraft auf das Pedal.
»Wer sind Sie, und was zum Teufel wollen Sie von mir?«, presste er hervor. Erst jetzt bemerkte er, dass er sie nicht mehr duzte.
»Eddie, Eddie, Eddie«, seufzte sie. »So ein schlechtes Gedächtnis? «
Während seine Hände das Lenkrad um klammerten, wickelte sie den Schal um seinen Hals und warf das Ende aus dem Auto. »Da mit dir nicht kalt ist, mein Süßer!«
Im Rückspiegel sah Hockinson, wie der lange Schal hinter dem Wagen herumwirbelte. Die Perlen schlugen gegen den Lack und wurden vom Wind immer wieder rauf und runter gerissen.
»Die Fahrt ist zu Ende, ich halte an!«, brüllte Hockinson.
»Lisa will nicht anhalten.« Erneut warf sie die Arme in die Luft.
Lisa? Woher kannte er diesen Namen? Als er aufsah, verriss er das Lenkrad erneut. Die Kurve vor dem Leuchtturm kam rasch näher. Er spähte auf den Tachometer. Die Nadel zitterte bei neunzig km/h.
Hockinson versuchte, die Frau mit dem Ellenbogen auf ihren Sitz zu drängen, doch sie war ungewöhnlich kräftig. Ihr Stöckelschuhabsatz bohrte sich in seinen Fuß. »Lisa, wir werden sterben!«
»Du wirst sterben!«
Fünfundneunzig km/h.
Im Seitenspiegel sah Hockinson, wie der Schal den Asphalt berührte und vom Wind wie der hoch gewirbelt wurde. Wenn sich der Stoff im hinteren Fahrwerk verhedderte, würde ihn der Schal strangulieren, bevor er Piep sagen konnte. Wollte die Kleine mit ihm sterben? War sie so verrückt? Er versuchte, sich den Schal vom Hals zu zerren, umklammerte das Lenkrad jedoch rasch wieder mit beiden Händen, als der Wagen über eine Bodenwelle sprang.
»Was wollen Sie von mir?«
»Wie lautet der letzte durchgestrichene Name auf der Passagierliste der Friedberg?«
Die Friedberg! Plötzlich wusste er, woher er Lisa kannte. »Mein Gott - das ist zehn Jahre her!«
»Der letzte durchgestrichene Name!«, drängte sie.
Hundert zehn km/h.
Er würde die Kurve niemals schaffen.
»Ich weiß es nicht!«
In diesem Moment sprang der Wagen über die letzte Bodenwelle und raste in die steil abfallende Kurve, die zum Leuchtturm führte.
»Ich weiß es nicht ...«, brüllte er.
Er wusste es wirklich nicht.
Die Reifen quietschten. Die Fliehkraft hob Hockinson aus dem Sitz.
Über ihren Köpfen kreischten die Möwen.
Drei Tage später ...
Montag, 15. September
1
Stimmengemurmel, schrilles Gelächter und das Knallen der Sektkorken drangen durch die dünne Milchglastür in Evelyn Meyers' Büro. Jedes Mal, wenn jemand durch den Gang marschierte, vibrierte die Scheibe. Mussten die so toben? Bei dem Lärm konnte sich niemand konzentrieren.
Eigentlich hatte Evelyn die Kanzlei schon längst verlassen wollen. Es war acht Uhr abends. Ihre beiden Katzen - Bonnie und Clyde - mussten gefüttert werden, und ihr Magen begann auch schon zu knurren. Im Grunde brauchte sie nur ins Foyer vorzugehen. Im Empfangsraum der Wiener Rechtsanwaltskanzlei standen die Cocktails zu Dutzenden auf den Tabletts, und im großen Besprechungsraum und den Besucherzimmern türmten sich Kaviar-, Lachs- und Thunfischbrötchen auf den Tischen. Aber dann hätte sie sich den Klienten und befreundeten Anwälten aussetzen müssen - und darauf konnte sie verzichten. Smalltalk war noch nie ihre Stärke gewesen.
Sie schob die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch auseinander und betrachtete die verschiedenen Gutachten, Polizeiprotokolle, Zeugeneinvernahmen und Fotos der Kripo und der Feuerwehr. Daneben lag die Mitschrift des ersten außergerichtlichen Vergleichsgesprächs, das sie mit dem Anwalt der Klägerin in einem Restaurant geführt hatte. Die Gegenseite gab sich nicht mit ein paar Tausend Euro zufrieden. Dieser verdammte Kanaldeckel-Fall! Sie wollte höchstens noch eine Stunde daran arbeiten. Natürlich konnte sie sich mit sämtlichen Unterlagen durch die Hintertür davon stehlen und zu Hause weiter machen. In Ruhe weitermachen! Denn bis auf Bonnie und Clyde gab es in ihrer Wohnung niemanden, der sie ablenken konnte. Aber sie kannte sich. Es würde so enden, dass sie neben den Resten einer kalten Pizza im Wohnzimmer saß, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah ... und um vier Uhr morgens auf der Couch aufwachte.
Am schlimmsten war jedoch, dass sie vor wenigen Tagen für einen Sekundenbruchteil ein merkwürdiges Déjà-vu-Gefühl gehabt hatte. Sie war wegen der vorbereitenden Tagsitzung im Landesgericht erschienen und hatte aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihre Unterlagen geworfen. Peng! Die Assoziation war genauso schnell wieder weg gewesen, wie sie gekommen war. In diesem Fall steckte ein Detail, das ihr etwas sagen wollte - aber sie kam nicht dahinter, was es war. Und je länger sie durch die Unterlagen blätterte, desto mehr zweifelte sie an ihrem Verstand.
Die weit entfernte, dumpfe Stimme ihres Chefs riss sie aus den Gedanken. Sie hörte ihn im Gang auf ihr Büro zukommen. Sein Schatten zeichnete sich hinter der Glastür ab, dann klopfte er an und betrat ihr Zimmer. Er klopfte immer an! In dieser Hinsicht war Krager ein Gentleman. Er trug einen Designeranzug von Armani, hatte grau melierte Schläfen, ein kantiges Gesicht, war groß und trotz seiner sechzig Jahre ein Charmeur - vielleicht sogar ein wenig zu galant. Außerdem war er redegewandt und ... Beinahe wäre ihr das Wort »seriös« in den Sinn gekommen. Von manchen Klienten hatte sie gehört, dass ein »seriöser Anwalt« ein Widerspruch in sich sei, womit sie zweifellos Recht hatten. Krager war bestimmt nicht die Mutter Teresa unter den Juristen, aber er bemühte sich um Fairness - sofern es das Geschäft zuließ. Seinen Spitznamen, Pitbull, besaß er nicht umsonst.
Dann stand er vor ihr, eine Akte und ein Sektglas in den Händen. »Evelyn, Sie müssen mir nicht beweisen, dass Sie eine toughe Anwältin sind - nicht heute.« Er hatte wieder seinen väterlichen Blick aufgesetzt. Evelyn wusste, er konnte auch anders, doch heute war sein Tag. Die Kanzlei Krager, Holobeck & Partner feierte ihr fünfundzwanzig jähriges Bestehen, und die Räume waren zum Bersten voll mit Notaren, Richtern, Presseleuten, befreundeten Wirtschaftsanwälten und den Vertretern großer Unternehmen. Krager nahm prinzipiell keine kleinen Firmen als Klienten. Hier gaben sich Bankdirektoren und Manager von Fluglinien, Versicherungskonzernen, Kaufhaus- und Elektrohandelsketten die Klinke in die Hand.
»Ich möchte nur noch diese Unterlagen ...«
»Evelyn, das sind doch bloß Ausreden«, unterbrach er sie. Dieses förmliche Sie, kombiniert mit ihrem Vornamen, duldete keinen Widerspruch. »Lassen Sie den Fall für eine Stunde liegen, und schließen Sie sich uns an. Sie verrennen sich da in eine Sache, die nichts bringt.«
Nichts bringt? Der Angeklagte war der beste Freund ihres Vaters gewesen, der einzige Mensch, der sich nach dem Unfall ihrer Eltern um sie gekümmert hatte - und das wusste Krager verdammt genau!
Bevor sie etwas sagen konnte, deutete Krager zur Tür. »Da draußen warten aufregendere Fälle: Ein batteriebetriebenes Radio schlittert über die Armaturenablage, knallt aufs Lenkrad, der Airbag öffnet sich und schleudert einem Stadtrat das Radio ins Gesicht. Die Witwe verklagt die Herstellerfirma des Airbags auf fünf Millionen Euro.«
Sie kannte den Fall. »Leider haben wir nicht gewonnen.«
»Ich weiß, aber das sind die Aufträge, die Geld bringen - im Gegensatz zu einem Fall, bei dem ein Mann über eine Baustellenabsperrung stolpert und sich in einem Kanal das Genick bricht.«
Es klang, als wollte er sich über sie lustig machen.
»Ich kenne den Angeklagten persönlich, und die Baustelle war ordnungsgemäß gesichert«, sagte sie.
»Ja, ich weiß, ein verlorener Prozess würde Ihren Bekannten in den Ruin treiben. Aber hören Sie zu ...« Seine Stimme hatte den väterlichen Ton verloren. »Wir sind nicht die Caritas, und für kleine soziale Angelegenheiten wie diese gibt es Kanzleien, die sich darauf spezialisiert haben.«
»Diesmal beißen Sie auf Granit«, entgegnete sie. Die Baufirma von Onkel Jan - wie sie den Freund ihres Vaters seit ihrer Kindheit nannte - lief nicht gerade gut, und eine Niederlage vor Gericht würde ihn ruinieren. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen, das war sie ihm schuldig.
Krager setzte sich salopp auf die Kante ihres Schreibtisches, was sonst nicht seine Art war. Dabei fiel sein Blick auf einen Stapel Farbfotos. Er schob die ersten davon auseinander. »Stammen die wieder von Ihrer dubiosen Quelle?«
Wie oft hatten sie das Thema schon durchgekaut? »Ich löse die Fälle auf meine Art«, antwortete sie nur. »Sie wollen Ergebnisse - wie ich sie liefere, bleibt meine Sache.«
Er starrte sie eine Weile an. »Von mir aus. Aber nachdem dieser Fall abgeschlossen ist, reden wir ein ernstes Wort miteinander. Es gibt da eine lukrative Sache, die ich Ihnen anvertrauen möchte.«
»Wird eine kleine Privatbank verklagt, weil sie unbürokratisch arbeitet, keine Kontospesen verrechnet und den Großbanken die Kunden wegschnappt?«
»Über lassen Sie die zynischen Bemerkungen besser mir, dafür sind Sie zu jung und zu hübsch.« Er nickte zur Tür. »Schließen Sie sich uns an?«
»Ich arbeite weiter.«
»Ihre Entscheidung.« Krager wedelte mit der Mappe. »Das Strafverfahren wurde eingestellt. Kieslingers Autopsiebericht kam heute Nachmittag vom Gericht herein.«
Evelyn fuhr im Stuhl hoch. Kieslinger war der Mann, der in den offenen Kanalschacht gefallen war. »Seit drei Tagen warte ich darauf!«
»Ich wollte Ihnen die Unterlagen erst morgen geben, nach der Feier. Aber da Sie sich ohnehin in den Fall verbeißen und nicht eher Ruhe geben ...« Er ließ den Satz unausgesprochen und legte die Mappe auf den Tisch.
Sofort schlug Evelyn den Deckel auf und überflog die Zeilen des Gerichtsmediziners, bis sie zu der Stelle mit Todeszeit und Todesursache kam.
Ihr stockte der Atem.
»Kieslinger ist weder an Genick- noch an Schädelbruch gestorben «, sagte Krager.
»Sie haben den Bericht gelesen?«
»Natürlich. Zwischen Sekt, Geplänkel und Kaviarbrötchen gibt es immer wieder eine stille Minute. Hören Sie, Evelyn ...« Wieder der väterliche Ton, doch diesmal mit einem leisen, gefährlichen Beigeschmack. »Sie werden den Fall verlieren. Der Obduktionsbericht bricht Ihnen das Genick. Kieslinger ist kopfüber in den engen Kanalschacht gestürzt und knapp über dem Boden stecken geblieben. Der Schacht stand dreißig Zentimeter unter Wasser. Kieslinger konnte sich nicht bewegen und ist ...«
»... ertrunken«, vollendete Evelyn den Satz. Sie blickte vom Autopsiebericht auf.
»In Luftröhre, Lunge und Magen befanden sich zwei Liter Abwasser.«
2
Die engen Gassen des zweiten Wiener Gemeindebezirks waren zu dieser späten Stunde wie leer gefegt. Wer dennoch durch die Gegend lief, war entweder Zuhälter, Geldeintreiber, ging auf den Strich oder wollte sein Geld um jeden Preis in einer Bar loswerden. Noch dazu sahen die Gassen bei Nacht verheerender aus als bei Tag. An manchen Stellen war die Straßenbeleuchtung ausgefallen. Müllsäcke stapelten sich auf und neben den vollen Tonnen, Hundekot lag an jeder Häuserecke, und aus manchen Wohnungen drang der übliche Ehestreit.
Das Geschrei erinnerte Evelyn an die Auseinandersetzungen ihrer Eltern, die sie als Mädchen belauscht hatte. Eigentlich war ihre Kindheit nicht so schlecht verlaufen - bis zu jenem Zeitpunkt, als sie den Mann kennen gelernt hatte, der alles veränderte. Ab diesem Moment war ihre Kindheit zu Ende gewesen.
Sie stieg über die leeren Holzpaletten eines Gemüseladens, dessen Rollläden zur Hälfte unten waren. Nachdem sie die Punkte des Autopsieberichts mehrmals in ihrem Büro durchgegangen war, hatte sie versucht, Patrick am Handy zu erreichen - ihre dubiose Quelle. Ab und zu war er ihr bei Ermittlungen behilflich, doch diesmal ging er nicht ans Telefon. Aber sie würde auch ohne ihn herausfinden, was vor zwei Wochen in der Czerningasse passiert war.
Evelyn hatte die Kanzlei durch die Hintertür verlassen, ohne den anderen ein Wort zu sagen. Noch ein paar Gläser Sekt, und nicht einmal Krager würde ihre Abwesenheit bemerken. Während der Autofahrt hatte sie mit der Tochter ihrer Nachbarin telefoniert, die einen Schlüssel zu Evelyns Wohnung besaß. Conny liebte es, wenn sie Bonnie und Clyde mit Hühnchen aus der Dose füttern durfte. Natürlich tat das Mädchen damit auch ihr einen Gefallen. Wegen all der Geschäftsessen und Abendtermine, die oft bis Mitternacht dauerten, hätten die beiden Katzen bestimmt schon längst den Aufstand geprobt, in Evelyns Schuhe gepinkelt oder die Vorhänge von den Gardinenstangen gefetzt.
Evelyns Ford Fiesta parkte unter einer der wenigen funktionierenden Laternen an der Häuserecke. Von dort war sie zu Fuß in die Czerningasse gegangen. Das Klappern ihrer Stöckelschuhe hallte von den Hauswänden wider. Nach wenigen Metern erreichte sie den Ort, wo Kieslinger vor zwei Wochen gestorben war. An der Ecke befand sich eine winzige Bankfiliale mit einem Geldautomaten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Bar. Die bunten Neonröhren über dem Eingang des Entrez- Nous waren zur Hälfte ausgefallen und surrten mehr, als dass sie blinkten. Die Autos, die vor dem Club parkten - ein Porsche, ein Mercedes und zwei Audis -, passten nicht in diese schäbige Wohngegend. Anscheinend ließen sich ihre Besitzer gern in einer Bar volllaufen, in der sie niemand vermuten würde.
Der Asphalt in der Straßenmitte war aufgerissen. Hinter der Baustellenabsperrung befand sich der offene Kanalschacht. Der Deckel lag immer noch daneben im Sand. Evelyn war schon einmal hier gewesen, doch nicht weit gekommen, da die Kripo den Unfallort abgeriegelt hatte. Mittlerweile scherte sich niemand mehr um die Baustelle. Was hatte Rudolf Kieslinger, den renommierten Kinderarzt im Ruhestand, wohl in diese Gegend geführt? Der Geldautomat?
Nicht einmal drei Tage nach seinem Tod führte die Witwe bereits eine Privatklage gegen Onkel Jan. Der Sachverständige von Onkel Jans Haftpflichtversicherung hatte die Baustelle für ausreichend gesichert befunden. Deshalb war die Versicherung ausgestiegen und hatte keinen Cent gezahlt. Falls Onkel Jan den Prozess verlor, haftete er mit seinem Privatvermögen.
Copyright © 2009 by RM Buch und Medien Vertrieb GmbH Ein Projekt der AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur www.ava-international.de
Hockinson schob sich die Sonnenbrille in das vom Wind zerzauste, grau melierte Haar. Als er auf gleicher Höhe mit der Frau war, hielt er an. Sie hätte seine Tochter sein können, eher seine Enkeltochter - gerade im richtigen Alter, dachte er. In dem blauen Kleidchen mit den Spaghettiträgern wirkte sie blass und hager. Dennoch strahlte sie mit der Stola und dem Kopftuch, unter dessen Saum das blonde Haar hervor fiel, eine Unverdorbenheit und zu gleich eine laszive Erotik aus, die ihn an Grace Kelly in ihren frühen Filmen erinnerte.
Hockinson drehte Benny Goodman leiser und lehnte sich über den Beifahrersitz. »Mit den Schuhen zum Leuchtturm unterwegs?«, rief er aus dem Cabrio.
»Scheiße, mir ist der Absatz abgebrochen.«
Er schmunzelte. »Wohin soll's denn gehen?«
»Jedenfalls weg von diesen Drecksmöwen - wenn ich die Viecher noch länger schreien höre, drehe ich durch.«
Hockinson musste grinsen. Die Kleine in dem blauen Kleid gefiel ihm. Sie war genau seine Kragenweite. »Spring rein, ich nehme dich ein Stück mit.«
Sie reckte ihr Gesicht gegen den Wind, als überlegte sie, ob sie einsteigen oder das Gekreische der Möwen länger ertragen sollte. Hockinson starrte auf ihre kleinen Brüste, die sich gegen das Kleid pressten.
»Okay«, erwiderte sie schließlich, »aber wir hören einen anderen Sender.«
Hockinson öffnete ihr die Tür. »Was immer du willst.«
Sie schlüpfte in ihre Stöckelschuhe und sprang ins Auto. Als Hockinson für einen Moment ihre Beine betrachtete, sah er, dass keiner der Absätze abgebrochen war. Aber was kümmerte ihn das? Sie saß im Auto - nur das zählte! Kaum hatte er Gas gegeben, fummelte sie auch schon am Sendersuchlauf des Radios herum. Als ein neumodischer Sound aus den Lautsprechern dröhnte, drehte sie lauter und lehnte sich entspannt in den Sitz.
»An schnallen?«, fragte Hockinson.
Sie rührte sich nicht. Den Blick über die Klippen zum Leuchtturm richtend, sagte sie: »Ich vertraue dir.« Die Kleine war ganz nach seinem Geschmack. Hockinson trat das Pedal durch. Plötzlich rutschte sie näher zu ihm. Er sah nicht, was sie machte, hörte nur, wie der Verschluss seines Sicherheitsgurtes klickte, dann glitt das Endstück quer über seinen Bauch.
»He, ich ...«
»Das Leben ist ein Risiko, oder etwa nicht, Eddie?« Sie zwinkerte ihm zu. »Ich wette, du schaffst die Kurve da vorn niemals mit neunzig Sachen.«
Sein Puls beschleunigte. Woher zum Teufel kannte sie seinen Namen?
»Fahr schneller, Eddie! Besorg es mir ... so wie früher.«
Wie früher? Hockinson schielte aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. Er kannte diese Frau nicht!
Sie zog ihr Kopftuch herunter und schüttelte das lange blonde Haar aus. Dann nahm sie den Umhang von den Schultern. Stola und Kopftuch entpuppten sich als ein einziger, meterlanger, mit Perlen bestickter Schal. Sie riss die Arme hoch und ließ den Schal wie eine Fahne hinter sich her wehen.
»Steig aufs Gas, Eddie!«, rief sie.
»Hören Sie, ich werde ...«
Plötzlich rutschte sie zu ihm herüber, stemmte sich für einen Augenblick im Sitz hoch und schlüpfte mit einem Bein in seinen Fußbereich. »Ich sagte schneller!« Sie drückte ihren Stöckelschuh auf seinen Fuß und trat das Pedal bis zur Bodenplatte durch. Der Motor heulte auf. Hockinson fuhr der Schmerz durch den Fuß. Er riss das Lenkrad herum, und der Wagen geriet für eine Sekunde ins Schleudern. Als er versuchte, seinen Fuß vom Gaspedal zu ziehen, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen den Sitz und drückte mit aller Kraft auf das Pedal.
»Wer sind Sie, und was zum Teufel wollen Sie von mir?«, presste er hervor. Erst jetzt bemerkte er, dass er sie nicht mehr duzte.
»Eddie, Eddie, Eddie«, seufzte sie. »So ein schlechtes Gedächtnis? «
Während seine Hände das Lenkrad um klammerten, wickelte sie den Schal um seinen Hals und warf das Ende aus dem Auto. »Da mit dir nicht kalt ist, mein Süßer!«
Im Rückspiegel sah Hockinson, wie der lange Schal hinter dem Wagen herumwirbelte. Die Perlen schlugen gegen den Lack und wurden vom Wind immer wieder rauf und runter gerissen.
»Die Fahrt ist zu Ende, ich halte an!«, brüllte Hockinson.
»Lisa will nicht anhalten.« Erneut warf sie die Arme in die Luft.
Lisa? Woher kannte er diesen Namen? Als er aufsah, verriss er das Lenkrad erneut. Die Kurve vor dem Leuchtturm kam rasch näher. Er spähte auf den Tachometer. Die Nadel zitterte bei neunzig km/h.
Hockinson versuchte, die Frau mit dem Ellenbogen auf ihren Sitz zu drängen, doch sie war ungewöhnlich kräftig. Ihr Stöckelschuhabsatz bohrte sich in seinen Fuß. »Lisa, wir werden sterben!«
»Du wirst sterben!«
Fünfundneunzig km/h.
Im Seitenspiegel sah Hockinson, wie der Schal den Asphalt berührte und vom Wind wie der hoch gewirbelt wurde. Wenn sich der Stoff im hinteren Fahrwerk verhedderte, würde ihn der Schal strangulieren, bevor er Piep sagen konnte. Wollte die Kleine mit ihm sterben? War sie so verrückt? Er versuchte, sich den Schal vom Hals zu zerren, umklammerte das Lenkrad jedoch rasch wieder mit beiden Händen, als der Wagen über eine Bodenwelle sprang.
»Was wollen Sie von mir?«
»Wie lautet der letzte durchgestrichene Name auf der Passagierliste der Friedberg?«
Die Friedberg! Plötzlich wusste er, woher er Lisa kannte. »Mein Gott - das ist zehn Jahre her!«
»Der letzte durchgestrichene Name!«, drängte sie.
Hundert zehn km/h.
Er würde die Kurve niemals schaffen.
»Ich weiß es nicht!«
In diesem Moment sprang der Wagen über die letzte Bodenwelle und raste in die steil abfallende Kurve, die zum Leuchtturm führte.
»Ich weiß es nicht ...«, brüllte er.
Er wusste es wirklich nicht.
Die Reifen quietschten. Die Fliehkraft hob Hockinson aus dem Sitz.
Über ihren Köpfen kreischten die Möwen.
Drei Tage später ...
Montag, 15. September
1
Stimmengemurmel, schrilles Gelächter und das Knallen der Sektkorken drangen durch die dünne Milchglastür in Evelyn Meyers' Büro. Jedes Mal, wenn jemand durch den Gang marschierte, vibrierte die Scheibe. Mussten die so toben? Bei dem Lärm konnte sich niemand konzentrieren.
Eigentlich hatte Evelyn die Kanzlei schon längst verlassen wollen. Es war acht Uhr abends. Ihre beiden Katzen - Bonnie und Clyde - mussten gefüttert werden, und ihr Magen begann auch schon zu knurren. Im Grunde brauchte sie nur ins Foyer vorzugehen. Im Empfangsraum der Wiener Rechtsanwaltskanzlei standen die Cocktails zu Dutzenden auf den Tabletts, und im großen Besprechungsraum und den Besucherzimmern türmten sich Kaviar-, Lachs- und Thunfischbrötchen auf den Tischen. Aber dann hätte sie sich den Klienten und befreundeten Anwälten aussetzen müssen - und darauf konnte sie verzichten. Smalltalk war noch nie ihre Stärke gewesen.
Sie schob die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch auseinander und betrachtete die verschiedenen Gutachten, Polizeiprotokolle, Zeugeneinvernahmen und Fotos der Kripo und der Feuerwehr. Daneben lag die Mitschrift des ersten außergerichtlichen Vergleichsgesprächs, das sie mit dem Anwalt der Klägerin in einem Restaurant geführt hatte. Die Gegenseite gab sich nicht mit ein paar Tausend Euro zufrieden. Dieser verdammte Kanaldeckel-Fall! Sie wollte höchstens noch eine Stunde daran arbeiten. Natürlich konnte sie sich mit sämtlichen Unterlagen durch die Hintertür davon stehlen und zu Hause weiter machen. In Ruhe weitermachen! Denn bis auf Bonnie und Clyde gab es in ihrer Wohnung niemanden, der sie ablenken konnte. Aber sie kannte sich. Es würde so enden, dass sie neben den Resten einer kalten Pizza im Wohnzimmer saß, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah ... und um vier Uhr morgens auf der Couch aufwachte.
Am schlimmsten war jedoch, dass sie vor wenigen Tagen für einen Sekundenbruchteil ein merkwürdiges Déjà-vu-Gefühl gehabt hatte. Sie war wegen der vorbereitenden Tagsitzung im Landesgericht erschienen und hatte aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihre Unterlagen geworfen. Peng! Die Assoziation war genauso schnell wieder weg gewesen, wie sie gekommen war. In diesem Fall steckte ein Detail, das ihr etwas sagen wollte - aber sie kam nicht dahinter, was es war. Und je länger sie durch die Unterlagen blätterte, desto mehr zweifelte sie an ihrem Verstand.
Die weit entfernte, dumpfe Stimme ihres Chefs riss sie aus den Gedanken. Sie hörte ihn im Gang auf ihr Büro zukommen. Sein Schatten zeichnete sich hinter der Glastür ab, dann klopfte er an und betrat ihr Zimmer. Er klopfte immer an! In dieser Hinsicht war Krager ein Gentleman. Er trug einen Designeranzug von Armani, hatte grau melierte Schläfen, ein kantiges Gesicht, war groß und trotz seiner sechzig Jahre ein Charmeur - vielleicht sogar ein wenig zu galant. Außerdem war er redegewandt und ... Beinahe wäre ihr das Wort »seriös« in den Sinn gekommen. Von manchen Klienten hatte sie gehört, dass ein »seriöser Anwalt« ein Widerspruch in sich sei, womit sie zweifellos Recht hatten. Krager war bestimmt nicht die Mutter Teresa unter den Juristen, aber er bemühte sich um Fairness - sofern es das Geschäft zuließ. Seinen Spitznamen, Pitbull, besaß er nicht umsonst.
Dann stand er vor ihr, eine Akte und ein Sektglas in den Händen. »Evelyn, Sie müssen mir nicht beweisen, dass Sie eine toughe Anwältin sind - nicht heute.« Er hatte wieder seinen väterlichen Blick aufgesetzt. Evelyn wusste, er konnte auch anders, doch heute war sein Tag. Die Kanzlei Krager, Holobeck & Partner feierte ihr fünfundzwanzig jähriges Bestehen, und die Räume waren zum Bersten voll mit Notaren, Richtern, Presseleuten, befreundeten Wirtschaftsanwälten und den Vertretern großer Unternehmen. Krager nahm prinzipiell keine kleinen Firmen als Klienten. Hier gaben sich Bankdirektoren und Manager von Fluglinien, Versicherungskonzernen, Kaufhaus- und Elektrohandelsketten die Klinke in die Hand.
»Ich möchte nur noch diese Unterlagen ...«
»Evelyn, das sind doch bloß Ausreden«, unterbrach er sie. Dieses förmliche Sie, kombiniert mit ihrem Vornamen, duldete keinen Widerspruch. »Lassen Sie den Fall für eine Stunde liegen, und schließen Sie sich uns an. Sie verrennen sich da in eine Sache, die nichts bringt.«
Nichts bringt? Der Angeklagte war der beste Freund ihres Vaters gewesen, der einzige Mensch, der sich nach dem Unfall ihrer Eltern um sie gekümmert hatte - und das wusste Krager verdammt genau!
Bevor sie etwas sagen konnte, deutete Krager zur Tür. »Da draußen warten aufregendere Fälle: Ein batteriebetriebenes Radio schlittert über die Armaturenablage, knallt aufs Lenkrad, der Airbag öffnet sich und schleudert einem Stadtrat das Radio ins Gesicht. Die Witwe verklagt die Herstellerfirma des Airbags auf fünf Millionen Euro.«
Sie kannte den Fall. »Leider haben wir nicht gewonnen.«
»Ich weiß, aber das sind die Aufträge, die Geld bringen - im Gegensatz zu einem Fall, bei dem ein Mann über eine Baustellenabsperrung stolpert und sich in einem Kanal das Genick bricht.«
Es klang, als wollte er sich über sie lustig machen.
»Ich kenne den Angeklagten persönlich, und die Baustelle war ordnungsgemäß gesichert«, sagte sie.
»Ja, ich weiß, ein verlorener Prozess würde Ihren Bekannten in den Ruin treiben. Aber hören Sie zu ...« Seine Stimme hatte den väterlichen Ton verloren. »Wir sind nicht die Caritas, und für kleine soziale Angelegenheiten wie diese gibt es Kanzleien, die sich darauf spezialisiert haben.«
»Diesmal beißen Sie auf Granit«, entgegnete sie. Die Baufirma von Onkel Jan - wie sie den Freund ihres Vaters seit ihrer Kindheit nannte - lief nicht gerade gut, und eine Niederlage vor Gericht würde ihn ruinieren. Sie konnte ihn nicht im Stich lassen, das war sie ihm schuldig.
Krager setzte sich salopp auf die Kante ihres Schreibtisches, was sonst nicht seine Art war. Dabei fiel sein Blick auf einen Stapel Farbfotos. Er schob die ersten davon auseinander. »Stammen die wieder von Ihrer dubiosen Quelle?«
Wie oft hatten sie das Thema schon durchgekaut? »Ich löse die Fälle auf meine Art«, antwortete sie nur. »Sie wollen Ergebnisse - wie ich sie liefere, bleibt meine Sache.«
Er starrte sie eine Weile an. »Von mir aus. Aber nachdem dieser Fall abgeschlossen ist, reden wir ein ernstes Wort miteinander. Es gibt da eine lukrative Sache, die ich Ihnen anvertrauen möchte.«
»Wird eine kleine Privatbank verklagt, weil sie unbürokratisch arbeitet, keine Kontospesen verrechnet und den Großbanken die Kunden wegschnappt?«
»Über lassen Sie die zynischen Bemerkungen besser mir, dafür sind Sie zu jung und zu hübsch.« Er nickte zur Tür. »Schließen Sie sich uns an?«
»Ich arbeite weiter.«
»Ihre Entscheidung.« Krager wedelte mit der Mappe. »Das Strafverfahren wurde eingestellt. Kieslingers Autopsiebericht kam heute Nachmittag vom Gericht herein.«
Evelyn fuhr im Stuhl hoch. Kieslinger war der Mann, der in den offenen Kanalschacht gefallen war. »Seit drei Tagen warte ich darauf!«
»Ich wollte Ihnen die Unterlagen erst morgen geben, nach der Feier. Aber da Sie sich ohnehin in den Fall verbeißen und nicht eher Ruhe geben ...« Er ließ den Satz unausgesprochen und legte die Mappe auf den Tisch.
Sofort schlug Evelyn den Deckel auf und überflog die Zeilen des Gerichtsmediziners, bis sie zu der Stelle mit Todeszeit und Todesursache kam.
Ihr stockte der Atem.
»Kieslinger ist weder an Genick- noch an Schädelbruch gestorben «, sagte Krager.
»Sie haben den Bericht gelesen?«
»Natürlich. Zwischen Sekt, Geplänkel und Kaviarbrötchen gibt es immer wieder eine stille Minute. Hören Sie, Evelyn ...« Wieder der väterliche Ton, doch diesmal mit einem leisen, gefährlichen Beigeschmack. »Sie werden den Fall verlieren. Der Obduktionsbericht bricht Ihnen das Genick. Kieslinger ist kopfüber in den engen Kanalschacht gestürzt und knapp über dem Boden stecken geblieben. Der Schacht stand dreißig Zentimeter unter Wasser. Kieslinger konnte sich nicht bewegen und ist ...«
»... ertrunken«, vollendete Evelyn den Satz. Sie blickte vom Autopsiebericht auf.
»In Luftröhre, Lunge und Magen befanden sich zwei Liter Abwasser.«
2
Die engen Gassen des zweiten Wiener Gemeindebezirks waren zu dieser späten Stunde wie leer gefegt. Wer dennoch durch die Gegend lief, war entweder Zuhälter, Geldeintreiber, ging auf den Strich oder wollte sein Geld um jeden Preis in einer Bar loswerden. Noch dazu sahen die Gassen bei Nacht verheerender aus als bei Tag. An manchen Stellen war die Straßenbeleuchtung ausgefallen. Müllsäcke stapelten sich auf und neben den vollen Tonnen, Hundekot lag an jeder Häuserecke, und aus manchen Wohnungen drang der übliche Ehestreit.
Das Geschrei erinnerte Evelyn an die Auseinandersetzungen ihrer Eltern, die sie als Mädchen belauscht hatte. Eigentlich war ihre Kindheit nicht so schlecht verlaufen - bis zu jenem Zeitpunkt, als sie den Mann kennen gelernt hatte, der alles veränderte. Ab diesem Moment war ihre Kindheit zu Ende gewesen.
Sie stieg über die leeren Holzpaletten eines Gemüseladens, dessen Rollläden zur Hälfte unten waren. Nachdem sie die Punkte des Autopsieberichts mehrmals in ihrem Büro durchgegangen war, hatte sie versucht, Patrick am Handy zu erreichen - ihre dubiose Quelle. Ab und zu war er ihr bei Ermittlungen behilflich, doch diesmal ging er nicht ans Telefon. Aber sie würde auch ohne ihn herausfinden, was vor zwei Wochen in der Czerningasse passiert war.
Evelyn hatte die Kanzlei durch die Hintertür verlassen, ohne den anderen ein Wort zu sagen. Noch ein paar Gläser Sekt, und nicht einmal Krager würde ihre Abwesenheit bemerken. Während der Autofahrt hatte sie mit der Tochter ihrer Nachbarin telefoniert, die einen Schlüssel zu Evelyns Wohnung besaß. Conny liebte es, wenn sie Bonnie und Clyde mit Hühnchen aus der Dose füttern durfte. Natürlich tat das Mädchen damit auch ihr einen Gefallen. Wegen all der Geschäftsessen und Abendtermine, die oft bis Mitternacht dauerten, hätten die beiden Katzen bestimmt schon längst den Aufstand geprobt, in Evelyns Schuhe gepinkelt oder die Vorhänge von den Gardinenstangen gefetzt.
Evelyns Ford Fiesta parkte unter einer der wenigen funktionierenden Laternen an der Häuserecke. Von dort war sie zu Fuß in die Czerningasse gegangen. Das Klappern ihrer Stöckelschuhe hallte von den Hauswänden wider. Nach wenigen Metern erreichte sie den Ort, wo Kieslinger vor zwei Wochen gestorben war. An der Ecke befand sich eine winzige Bankfiliale mit einem Geldautomaten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Bar. Die bunten Neonröhren über dem Eingang des Entrez- Nous waren zur Hälfte ausgefallen und surrten mehr, als dass sie blinkten. Die Autos, die vor dem Club parkten - ein Porsche, ein Mercedes und zwei Audis -, passten nicht in diese schäbige Wohngegend. Anscheinend ließen sich ihre Besitzer gern in einer Bar volllaufen, in der sie niemand vermuten würde.
Der Asphalt in der Straßenmitte war aufgerissen. Hinter der Baustellenabsperrung befand sich der offene Kanalschacht. Der Deckel lag immer noch daneben im Sand. Evelyn war schon einmal hier gewesen, doch nicht weit gekommen, da die Kripo den Unfallort abgeriegelt hatte. Mittlerweile scherte sich niemand mehr um die Baustelle. Was hatte Rudolf Kieslinger, den renommierten Kinderarzt im Ruhestand, wohl in diese Gegend geführt? Der Geldautomat?
Nicht einmal drei Tage nach seinem Tod führte die Witwe bereits eine Privatklage gegen Onkel Jan. Der Sachverständige von Onkel Jans Haftpflichtversicherung hatte die Baustelle für ausreichend gesichert befunden. Deshalb war die Versicherung ausgestiegen und hatte keinen Cent gezahlt. Falls Onkel Jan den Prozess verlor, haftete er mit seinem Privatvermögen.
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Autoren-Porträt von Andreas Gruber
Gruber, AndreasAndreas Gruber, 1968 in Wien geboren, lebt als freier Autor mit seiner Familie in Grillenberg in Niederösterreich. Er hat bereits mehrere äußerst erfolgreiche und preisgekrönte Erzählungen und Romane verfasst.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Gruber
- 2011, 411 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442473829
- ISBN-13: 9783442473823
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