Fesseln der Erinnerung / Gestaltwandler Bd.8
Roman
Der Polizist Max wird von der Medialen Nikita Duncan auf einen brisanten Fall angesetzt: Er soll einen Mörder finden, der es auf Nikitas engsten Vertrauten abgesehen hat. Seine Partnerin: Die attraktive Mediale Sophia. Schon bald funkt es zwischen den beiden.
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Produktinformationen zu „Fesseln der Erinnerung / Gestaltwandler Bd.8 “
Der Polizist Max wird von der Medialen Nikita Duncan auf einen brisanten Fall angesetzt: Er soll einen Mörder finden, der es auf Nikitas engsten Vertrauten abgesehen hat. Seine Partnerin: Die attraktive Mediale Sophia. Schon bald funkt es zwischen den beiden.
Klappentext zu „Fesseln der Erinnerung / Gestaltwandler Bd.8 “
Der Polizist Max Shannon verfügt über eine besondere Gabe: Er ist den geistigen Manipulationsversuchen der Medialen gegenüber resistent. Umso mehr überrascht es ihn, als er von der mächtigen Medialen Nikita Duncan persönlich auf einen neuen und äußerst brisanten Fall angesetzt wird. Ein Unbekannter hat es auf das Leben von Nikitas engsten Vertrauten abgesehen, und Max soll den Mörder finden, bevor er erneut zuschlägt. Ihm wird die attraktive Mediale Sophia Russo an die Seite gestellt, die ihm bei den Ermittlungen helfen soll. Schon bald hegen die beiden tiefe Gefühle füreinander. Doch ihre Liebe zu Max bringt Sophia in große Gefahr ...
Lese-Probe zu „Fesseln der Erinnerung / Gestaltwandler Bd.8 “
Fesseln der Erinnerung von Nalini Singh1
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Man wird nicht durch die Lebensumstände geprägt. Denn sonst hätte ich mit zwölf zum ersten Mal gestohlen, mit fünfzehn den ersten Raubüberfall begangen und wäre mit siebzehn zum Mörder geworden. - aus den privaten Fallaufzeichnungen von Detective Max Shannon
Sophia Russo saß gerade einem Psychopathen gegenüber, als ihr drei unerbittliche Tatsachen bewusst wurden: Erstens: Aller Wahrscheinlichkeit nach würde in spätestens einem Jahr ihre umfassende Rehabilitation angeordnet werden. Im Gegensatz zu einer normalen Rehabilitation würde dieser Vorgang nicht nur ihre Persönlichkeit auslöschen und sie als hirnloses Gemüse dahinvegetieren lassen. Umfassend bedeutete, dass neunundneunzig Prozent ihrer Sinne ausgeschaltet würden. Nur zu ihrem eigenen Besten, versteht sich.
Zweitens: Nicht ein einziges Wesen würde sich auch nur an ihren Namen erinnern, nachdem sie aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war.
Drittens: Wenn sie nicht sehr aufpasste, würde sie bald so leer und unmenschlich sein wie der Mann, der ihr gegenübersaß ... denn das Andere in ihr hätte am liebsten sein Hirn zerquetscht, bis er wimmernd und blutend um Gnade gebettelt hätte. Das Böse ist schwer zu definieren, aber es sitzt in diesem Raum. Die Erinnerung an die Worte von Detective Max Shannon rissen sie vor dem verführerischen Abgrund zurück. Aus irgendeinem Grund war die Vorstellung, er könnte sie als böse bezeichnen ... keine Option. Er hatte sie anders als andere Männer angesehen, hatte die Narben bemerkt, sie aber offensichtlich als selbstverständlich zu ihrem Körper gehörig betrachtet. Dieses außergewöhnliche Verhalten hatte sie dazu veranlasst, ihm in die Augen zu sehen, um herauszufinden, was er dachte. Das hatte sich als unmöglich erwiesen. Aber sie wusste, was Max von ihr wollte. Nur Bonner selbst weiß, wo er die Leichen vergraben hat - wir müssen es aus ihm herausbekommen. Sophia schloss die Tür zu ihren dunklen Gedanken, öffnete ihr geistiges Auge und erforschte mit ihren telepathischen Sinnen die verschlungenen Wege im Kopf von Gerard Bonner. Im Lauf ihres Berufslebens war sie vielen verrückten Gehirnen begegnet, aber dieses hier war einzigartig. Die meisten, die solche Verbrechen begingen, waren auf irgendeine Art geistig krank. Doch Sophia war geübt darin, mit zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen umzugehen.
Bonners Gehirn hingegen war aufgeräumt, jede Erinnerung fein säuberlich abgelegt. Dennoch ergab alles keinen Sinn, da kalte, psychopathische Vorstellungen und Wünsche die Gedanken ordneten. Bonner sah die Welt, wie er es wollte, und so verzerrt, dass es nicht mehr möglich war, hinter dem Netz von Lügen die Wahrheit zu erkennen.
Sophia beendete ihren Rundgang und zentrierte sich, bevor sie auf der körperlichen Ebene die Augen öffnete und in die leuchtend blauen Augen des Mannes sah, den die Medien so faszinierend fanden. In den Nachrichten wurde er als gut aussehend, intelligent und anziehend geschildert. Tatsächlich hatte er einen Abschluss an einer renommierten Hochschule gemacht und stammte aus einer der ersten Familien der Menschen in Boston - noch immer konnten viele kaum glauben, dass er der Schlächter der Park Avenue sein sollte. Diesen Namen hatte die Öffentlichkeit dem Mörder von Carissa White gegeben, deren Leiche auf einem der berühmten „grünen" Mittelstreifen der Straße gefunden worden war.
Im Frühling wogte dort ein Meer von Tulpen und Osterglocken, doch es war Winter und Carissa lag in einer weißen Märchenlandschaft. Ihr Blut leuchtete dunkelrot, und auf den schneebedeckten Bäumen glitzerten Lichterketten. Sie war das einzige der Opfer, das man bislang gefunden hatte, der öffentliche Fundort der Leiche hatte ihren Mörder auf der Stelle zum Medienstar gemacht. Er wäre auch beinahe gefasst worden - nur der Umstand, dass der Zeuge, der ihn hatte wegrennen sehen, zu weit entfernt gewesen war, um der Polizei eine genaue Personenbeschreibung geben zu können, hatte die Bestie gerettet.
„Danach bin ich vorsichtiger geworden", sagte Bonner, und auf seinem Gesicht erschien jene Andeutung eines Lächelns, das Leute in dem Glauben wiegen konnte, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden. „Beim ersten Mal ist jeder ein wenig unbeholfen." Sophia ließ sich nicht anmerken, dass er gerade in „ihren Gedanken gelesen hatte", das hatte sie nicht anders erwartet. Den Akten nach war Gerard Bonner ein Meister der Manipulation, konnte anhand der Körpersprache und kleinster Veränderungen der Mimik fast schon genial Vorhersagen über sein Gegenüber treffen. Selbst Silentium schien keinen Schutz vor seinen Fähigkeiten zu bieten - Sophia hatte die Aufzeichnungen der Gerichtsverhandlung gesehen, Bonner war dasselbe auch bei anderen Medialen gelungen.
„Darum sind wir ja hier, Mr Bonner", sagte sie mit einer Ruhe, die bei jeder Befragung kälter zu werden schien - dieser Überlebensmechanismus würde bald die letzten Reste ihrer Seele zu
Eis erstarren lassen. „Sie haben sich bereit erklärt, im Gegenzug für bestimmte Privilegien im Gefängnis die Verstecke Ihrer anderen Opfer anzugeben." Bonner war dazu verurteilt worden, den Rest seines Lebens im D2 zu verbringen, einem abgelegenen Hochsicherheitsgefängnis in den Bergen von Wyoming. Diese Spezialeinrichtung beherbergte die Straftäter des Landes, die so gefährlich waren, dass eine Unterbringung im normalen Strafvollzug zu risikoreich war. „Ich mag Ihre Augen", sagte Bonner, sein Lächeln vertiefte sich, als er sie mit einem Blick ansah, den die Medien als „mörderisch sinnlich" bezeichneten. „Sie erinnern mich an meine zarten Blumen." Sophia ließ ihn reden, alles, was er sagte, war wichtig für die Fallanalytiker, die in dem Raum nebenan waren und das Gespräch auf einem großen Bildschirm mitverfolgten. Es waren auch Mediale dabei, eigentlich unüblich bei einem kriminellen Menschen, aber Bonners geistige Strukturen waren so anormal, dass ihr Interesse geweckt worden war. Doch nicht die Reaktion der erfahrenen medialen Analytiker interessierten Sophia, sondern die Schlüsse, die Max Shannon zog. Der Polizist hatte keine medialen Fähigkeiten, und im Gegensatz zu dem Schlächter vor ihr war er gertenschlank. Wie ein Puma, dachte sie. Doch wenn es darauf ankam, würde der Puma siegen - sowohl über das Muskelpaket in dem Gefängnisoverall als auch über die schlauen Köpfe der Medialen, die hinzugezogen worden waren, nachdem Bonners perverse Taten auch wirtschaftliche Konsequenzen gehabt hatten.
„Sie waren alle zarte Blumen." Bonner seufzte. „So hübsch, so süß. Leicht zu verletzen. Genau wie Sie." Er starrte auf eine Narbe, die sich über ihr Jochbein zog. Sophia ignorierte die offene Provokation. „Was haben Sie mit ihnen gemacht?" Bonner war durch die Spuren überführt worden, die er an der Leiche seines ersten Opfers hinterlassen hatte. Bei den anderen Fällen hatte es nichts dergleichen gegeben, und man hatte ihn nur mit den Verbrechen in Verbindung bringen können, weil die Umstände ganz ähnlich gewesen waren und weil Max Shannon so hartnäckig ihre Aufklärung betrieben hatte. „ So zart und so zerstört", murmelte Bonner und sah auf ihre Lippen. „Verletzte Frauen haben mich schon immer angezogen." „Sie lügen, Mr Bonner." Wie konnten ihn die Leute bloß attraktiv finden - sie konnte die Fäulnis beinahe riechen. „Ihre Opfer waren alle außergewöhnlich schön." „Vermutliche Opfer", sagte er, und die klaren blauen Augen leuchteten auf. „Man hat mich nur des Mordes an der armen Carissa überführt. Obwohl ich natürlich vollkommen unschuldig bin."
„Sie haben sich bereit erklärt zu kooperieren", erinnerte sie ihn. Ohne seine Kooperationsbereitschaft konnte sie nicht arbeiten. Denn - „Offensichtlich können Sie Ihre Gedanken bis zu einem gewissen Grad steuern." Auf diese Eigenschaft waren die Telepathen des J-Dienstes schon öfter bei psychopathischen Menschen gestoßen - anscheinend entwickelten solche Individuen eine beinahe mediale Fähigkeit, die eigenen Erinnerungen zu verändern. Bonner war ein Meister darin. Bei einer oberflächlichen Suche hatte sie absolut nichts gefunden - tiefer nachzuforschen konnte sein Gehirn für immer schädigen und gerade diejenigen Informationen auslöschen, die sie brauchte.
Aber, meldete sich das Andere in ihr, er musste auch nur lange genug am Leben bleiben, damit die Opfer gefunden werden konnten. Danach ...
„Ich bin ein Mensch." Er tat übertrieben überrascht. „Das haben sie Ihnen doch bestimmt gesagt - mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Darum brauche ich ja eine J-Mediale, die in meinen Kopf eindringt und die zarten Blumen ausgräbt." Er spielte mit ihr. Sophia war sicher, dass er bis auf den letzten Zentimeter die genaue Lage jeder einzelnen vergrabenen Leiche beschreiben konnte. Aber Bonner spielte den Unwissenden so gut, dass man sie hinzugezogen und damit Bonner die Chance gegeben hatte, sein krankes Bedürfnis noch einmal zu befriedigen. Sie sollte in seinen Kopf eindringen, damit er sie dort überwältigen konnte - nur so konnte er in seiner jetzigen Lage einer Frau noch wehtun. „Da ich offensichtlich nichts erreichen kann", sagte sie und stand auf, „werde ich meinen Kollegen Bryan Ames bitten, die Untersuchung zu übernehmen. Er ist -" „Nein." Der erste Riss in der polierten Oberfläche, doch er verschwand genauso schnell, wie er entstanden war. „Sie bekommen, was Sie brauchen." Sie zog das dünne schwarze Kunstleder des Handschuhs der linken Hand bis zur steifen Manschette ihrer weißen Bluse. „Meine Zeit ist teuer, ich möchte sie nicht verschwenden. Bei anderen Fällen könnte ich meine Fähigkeiten bestimmt nütz licher einbringen." Mit diesen Worten ging sie hinaus, ungeachtet seines Befehls - denn nichts anderes war es - zu bleiben.
Im Beobachtungsraum wandte sie sich an Max Shannon. „Sie sollten nur noch Männer zu ihm schicken." Er nickte knapp, seine Hand umklammerte die Stuhllehne. Seine Haut hatte einen warmen Goldton, der auf asiatische und europäische Wurzeln schließen ließ. Das asiatische Erbe zeigte sich in den schräg stehenden Augen, die europäische Seite hatte sich bei der Körpergröße durchgesetzt - sie schätzte ihn auf etwas unter einem Meter neunzig. So weit die Tatsachen. Aber die Wirkung war mehr als die Summe der Einzelteile. Er hatte etwas, das die Menschen Charisma nannten. Mediale vertraten zwar vehement die Ansicht, so etwas existiere nicht, aber sie wussten alle, dass das nicht stimmte. Selbst in der Silentium-Gattung gab es einige, die einen Raum betraten und ihn allein durch ihre Gegenwart ausfüllten. Sie sah, wie seine Fingerknöchel weiß wurden. „Der hat sich einen runtergeholt bei der Vorstellung, Sie würden in seinen Erinnerungen graben." Max erwähnte ihre Narben nicht, aber sie wusste genauso gut wie er, dass sie nicht unerheblich dazu beigetragen hatten, sie für Bonner attraktiv zu machen. Sie trug sie schon lange, diese blassen Spuren einer lange zurückliegenden Geschichte, die ihre Vergangenheit war. Ohne sie hätte sie überhaupt keine Vergangenheit gehabt. Bei Max Shan non gab es auch so etwas. Doch es zeigte sich nicht in seinem schönen - nicht nur gut aussehenden, sondern wirklich schönen - Gesicht. „Ich habe Schilde." Aber diese Schilde bröckelten, ein unabwendbarer Nebeneffekt ihrer Arbeit. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, wäre sie keine J-Mediale geworden. Mit acht Jahren war sie vor die Wahl gestellt worden, sich entweder für diesen Beruf zu entscheiden oder zu sterben. „Ich habe gehört, dass viele J-Mediale ein fotografisches Gedächtnis haben", sagte Max und sah sie forschend an.
„Das stimmt - aber nur in Bezug auf die Dinge, die wir während der Arbeit wahrnehmen." Sie hatte vieles aus ihrem „wirklichen Leben" vergessen, aber nicht einen Augenblick ihrer jahrelangen Arbeit im J-Dienst. Max wollte gerade etwas erwidern, als Staatsanwalt Bartholomew Reuben, der mit ihm eng zusammengearbeitet hatte, um Gerard Bonner festzunehmen und zu überführen, sein Gespräch mit zwei Fallanalytikern beendete und herüberkam. „Die Sache mit den männlichen J-Medialen ist ein kluger Schachzug. Wir lassen Bonner ein wenig schmoren - wenn er sich dann kooperativer zeigt, kommen Sie wieder ins Spiel." Max' Kiefer mahlten, als er antwortete. „Er hat uns lange genug hingehalten - die Mädchen sind nichts weiter als Schachfiguren für ihn." Bevor Reuben etwas darauf sagen konnte, rief ihn ein anderer Analytiker von ihnen weg, und Sophia war wieder allein mit Max. Überrascht stellte sie fest, dass sie bleiben wollte, obwohl ihr Platz nun, da ihre Aufgabe beendet war, bei den anderen M-Medialen gewesen wäre. Doch Perfektion würde sie nicht am Leben erhalten - so oder so würde sie in spätestens einem Jahr tot sein -, sie konnte also auch ruhig dem Verlangen nachgeben, sich noch weiter mit dem Detective zu unterhalten, dessen Gedanken sie so faszinierten. „Sein Ego wird ihn früher oder später dazu bringen, seine Geheimnisse preiszugeben", sagte sie, mit narzisstisch gestörten Persönlichkeiten hatte sie schon oft zu tun gehabt. „Er wird zeigen wollen, wie klug er ist." „Und, werden Sie sich alles anhören, selbst wenn er das Geheimnis um Daria Xiu zuerst lüftet?" Seine Stimme hörte sich rau an, als hätte er in letzter Zeit zu wenig geschlafen. Daria Xiu war der Grund, warum überhaupt eine J-Mediale hinzugezogen worden war, das wusste Sophia. Die Tochter eines einflussreichen Geschäftsmannes der Menschen war wahrscheinlich Bonners letztes Opfer. „Ja", sagte Sophia, sie würde dem Detective einen Teil der Wahrheit enthüllen. „Bonner weicht genügend von der Normalität ab, um ein wertvolles Studienobjekt für unsere Psychologen abzugeben." Vielleicht weil sich das abnorme Verhalten des Schlächters der Park Avenue auch in statistisch relevanter Zahl bei Medialen gezeigt hatte ... die nicht mehr völlig unter dem Einfluss von Silentium standen. Der Rat glaubte, die Bevölkerung wisse nichts davon, und vielleicht war es auch so. Doch für eine J-Mediale wie Sophia, die ihr Leben lang immer tiefer in den Sumpf des Bösen vorgedrungen war, hatten die neuen Schatten im Medialnet eine fast fühlbare Struktur - dick und fett durchlöcherten sie gekonnt das neuronale Netzwerk. „Und Sie selbst?", fragte Max und maß sie mit einem solch intensiven Blick, dass es sich anfühlte, als würde er mit seiner raschen Auffassungsgabe Geheimnisse entschlüsseln, die sie über zwei Jahrzehnte gut verborgen hatte. „Was ist mit Ihnen?"
Das Andere in ihr erstarrte, wollte die ungeschminkte, tödliche Wahrheit preisgeben, aber jemand, der sein Leben wie Max Shannon der Gerechtigkeit verschrieben hatte, durfte das niemals erfahren. „Ich tue nur meine Arbeit." Dann fügte sie noch etwas hinzu, das eine perfekte Mediale niemals gesagt hätte. „Wir werden sie nach Hause holen. Niemand sollte für immer dort draußen im Dunkeln liegen."
Max sah Sophia Russo nach, als sie mit den zivilen Beobachtern hinausging, er konnte den Blick einfach nicht von ihr lösen. Ihre Augen hatten es ihm angetan. Rivers Augen, hatte er gedacht, als sie hereingekommen war, sie hat Rivers Augen. Aber er hatte sich geirrt. Sophias Augen waren dunkler, tiefviolett, und so lebendig, dass er fast ihre weichen, vollen Lippen übersehen hätte. Hatte er aber dann doch nicht. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Denn auch wenn sie Kurven hatte und Narben im Gesicht, hinter denen er gewalttätige Erlebnisse in ihrer Vergangenheit vermutete, war sie immer noch eine Mediale. Eiskalt und an einen Rat gebunden, der mehr Blut an den Händen hatte als Gerard Bonner. Dennoch ... ihre letzten Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Wir werden sie nach Hause holen. Es hatte sich wie ein Schwur angehört. Aber vielleicht hatte er es auch nur so sehen wollen. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Reuben zu, der bei ihm geblieben war. „Trägt sie immer Handschuhe?" Das dünne schwarze Kunstleder verdeckte alles, was unter den Manschetten und den Ärmeln des Jacketts hätte hervorlugen können. Vielleicht hatte sie auch Narben auf den Händen und Handgelenken - doch Sophia Russo wirkte nicht wie jemand, der so etwas verstecken würde. „Ja. Jedenfalls immer, wenn ich ihr begegne." Einen Augenblick lang zeigten sich nachdenkliche Falten auf der Stirn des Staatsanwalts, dann schien er seine Gedanken abzuschütteln. „Sie hat eine exzellente Beurteilung - musste bis jetzt noch nie abgezogen werden." „Bei dem Prozess hat sich ja gezeigt, dass Bonner schlau genug ist, sein Gedächtnis zu manipulieren", sagte Max und sah zu, wie man den Gefangenen aus dem Vernehmungsraum führte. Der blauäugige Schlächter, den die Medien so mochten, starrte höhnisch lächelnd in die Kamera, bis sich die Tür hinter ihm schloss. „Selbst wenn der Typ in seinem Innersten nicht verdreht sein sollte, er kennt sich mit Pharmazeutika aus - hätte sich was beschaffen können." „Würde ich dem Scheißkerl sogar zutrauen", sagte Bart, die Linien um seinen Mund waren tiefe Furchen. „Für Bonners nächsten kleinen Auftritt werde ich ein paar männliche J-Mediale anfordern." „Hat Xiu einen solchen Einfluss?" Der Prozess von Gerard Bonner, Spross des Bostoner Geldadels und der sadistischste Mörder, den dieser Bundesstaat in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte, hatte ein Hinzuziehen von J-Medialen unumgänglich gemacht, nachdem sich gezeigt hatte, dass die Erinnerungen des Verurteilten sich als unzugänglich erwiesen hatten. „Psychopathen haben eine eigene Wahrheit", hatte ein J-Medialer zu Max gesagt, nachdem er nichts Nützliches aus dem Kopf des Angeklagten hatte holen können. „Zum Beispiel?", hatte Max gefragt, den es frustrierte, dass ein Mörder mehrerer junger Frauen wieder einmal durchs Netz geschlüpft war. „Den Erinnerungen Bonners zufolge hatte Carissa White einen Orgasmus, als er sie erstochen hat."
Max schüttelte diesen Beweis der verdrehten Wirklichkeit in Bonners Schädel ab und sah Bart an, der eine gerade angekommene S M S auf seinem Handy las. „Xiu?", riet er.
„Allerdings, scheint, als habe er hochrangige ‚Freunde‘ im Ministerium der Medialen. Sein Unternehmen machte mit ihnen Geschäfte." Bart steckte das Handy ein und schob seine Papiere zusammen. „Doch in diesem Fall ist er nur der gramgebeugte Vater. Daria war sein einziges Kind."
„Ich weiß." Die Gesichter der Opfer hatten sich Max eingeprägt. Die einundzwanzigjährige Daria hatte ein unbekümmertes Lächeln, das ihre Zahnlücken zeigte, einen Schopf krausen schwarzen Haars und eine Haut wie glänzendes Mahagoni. Sie hatte nichts mit den anderen Opfern gemein - im Gegensatz zu den meisten pathologischen Mördern war es Bonner egal gewesen, ob seine Opfer weiß oder schwarz waren, lateinamerikanische oder asiatische Wurzeln hatten. Ihr Alter und eine bestimmte Art von Schönheit hatten ihn angezogen. Max' Gedanken kehrten zurück zu der Frau, die dem Mörder ohne ein Blinzeln in die Augen geblickt hatte, während er selbst sich dazu hatte zwingen müssen, zuzusehen und nicht einzugreifen. „Sie passt in sein Schema - Ms Russo, meine ich." Ihre Augen und ihre Narben machten sie einzigartig - ein wichtiger Aspekt in Bonners kranker Auswahl. Sein Ziel waren Frauen, die in der Menge nicht untergingen - die Gewalt, die aus Sophia Russos Narben sprach, wäre für ihn das Sahnehäubchen auf dem Kuchen gewesen. „Hattest du das arrangiert?" Max' Hand umklammerte den Stift, als er Bart beim Aufräumen half.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Man wird nicht durch die Lebensumstände geprägt. Denn sonst hätte ich mit zwölf zum ersten Mal gestohlen, mit fünfzehn den ersten Raubüberfall begangen und wäre mit siebzehn zum Mörder geworden. - aus den privaten Fallaufzeichnungen von Detective Max Shannon
Sophia Russo saß gerade einem Psychopathen gegenüber, als ihr drei unerbittliche Tatsachen bewusst wurden: Erstens: Aller Wahrscheinlichkeit nach würde in spätestens einem Jahr ihre umfassende Rehabilitation angeordnet werden. Im Gegensatz zu einer normalen Rehabilitation würde dieser Vorgang nicht nur ihre Persönlichkeit auslöschen und sie als hirnloses Gemüse dahinvegetieren lassen. Umfassend bedeutete, dass neunundneunzig Prozent ihrer Sinne ausgeschaltet würden. Nur zu ihrem eigenen Besten, versteht sich.
Zweitens: Nicht ein einziges Wesen würde sich auch nur an ihren Namen erinnern, nachdem sie aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war.
Drittens: Wenn sie nicht sehr aufpasste, würde sie bald so leer und unmenschlich sein wie der Mann, der ihr gegenübersaß ... denn das Andere in ihr hätte am liebsten sein Hirn zerquetscht, bis er wimmernd und blutend um Gnade gebettelt hätte. Das Böse ist schwer zu definieren, aber es sitzt in diesem Raum. Die Erinnerung an die Worte von Detective Max Shannon rissen sie vor dem verführerischen Abgrund zurück. Aus irgendeinem Grund war die Vorstellung, er könnte sie als böse bezeichnen ... keine Option. Er hatte sie anders als andere Männer angesehen, hatte die Narben bemerkt, sie aber offensichtlich als selbstverständlich zu ihrem Körper gehörig betrachtet. Dieses außergewöhnliche Verhalten hatte sie dazu veranlasst, ihm in die Augen zu sehen, um herauszufinden, was er dachte. Das hatte sich als unmöglich erwiesen. Aber sie wusste, was Max von ihr wollte. Nur Bonner selbst weiß, wo er die Leichen vergraben hat - wir müssen es aus ihm herausbekommen. Sophia schloss die Tür zu ihren dunklen Gedanken, öffnete ihr geistiges Auge und erforschte mit ihren telepathischen Sinnen die verschlungenen Wege im Kopf von Gerard Bonner. Im Lauf ihres Berufslebens war sie vielen verrückten Gehirnen begegnet, aber dieses hier war einzigartig. Die meisten, die solche Verbrechen begingen, waren auf irgendeine Art geistig krank. Doch Sophia war geübt darin, mit zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen umzugehen.
Bonners Gehirn hingegen war aufgeräumt, jede Erinnerung fein säuberlich abgelegt. Dennoch ergab alles keinen Sinn, da kalte, psychopathische Vorstellungen und Wünsche die Gedanken ordneten. Bonner sah die Welt, wie er es wollte, und so verzerrt, dass es nicht mehr möglich war, hinter dem Netz von Lügen die Wahrheit zu erkennen.
Sophia beendete ihren Rundgang und zentrierte sich, bevor sie auf der körperlichen Ebene die Augen öffnete und in die leuchtend blauen Augen des Mannes sah, den die Medien so faszinierend fanden. In den Nachrichten wurde er als gut aussehend, intelligent und anziehend geschildert. Tatsächlich hatte er einen Abschluss an einer renommierten Hochschule gemacht und stammte aus einer der ersten Familien der Menschen in Boston - noch immer konnten viele kaum glauben, dass er der Schlächter der Park Avenue sein sollte. Diesen Namen hatte die Öffentlichkeit dem Mörder von Carissa White gegeben, deren Leiche auf einem der berühmten „grünen" Mittelstreifen der Straße gefunden worden war.
Im Frühling wogte dort ein Meer von Tulpen und Osterglocken, doch es war Winter und Carissa lag in einer weißen Märchenlandschaft. Ihr Blut leuchtete dunkelrot, und auf den schneebedeckten Bäumen glitzerten Lichterketten. Sie war das einzige der Opfer, das man bislang gefunden hatte, der öffentliche Fundort der Leiche hatte ihren Mörder auf der Stelle zum Medienstar gemacht. Er wäre auch beinahe gefasst worden - nur der Umstand, dass der Zeuge, der ihn hatte wegrennen sehen, zu weit entfernt gewesen war, um der Polizei eine genaue Personenbeschreibung geben zu können, hatte die Bestie gerettet.
„Danach bin ich vorsichtiger geworden", sagte Bonner, und auf seinem Gesicht erschien jene Andeutung eines Lächelns, das Leute in dem Glauben wiegen konnte, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden. „Beim ersten Mal ist jeder ein wenig unbeholfen." Sophia ließ sich nicht anmerken, dass er gerade in „ihren Gedanken gelesen hatte", das hatte sie nicht anders erwartet. Den Akten nach war Gerard Bonner ein Meister der Manipulation, konnte anhand der Körpersprache und kleinster Veränderungen der Mimik fast schon genial Vorhersagen über sein Gegenüber treffen. Selbst Silentium schien keinen Schutz vor seinen Fähigkeiten zu bieten - Sophia hatte die Aufzeichnungen der Gerichtsverhandlung gesehen, Bonner war dasselbe auch bei anderen Medialen gelungen.
„Darum sind wir ja hier, Mr Bonner", sagte sie mit einer Ruhe, die bei jeder Befragung kälter zu werden schien - dieser Überlebensmechanismus würde bald die letzten Reste ihrer Seele zu
Eis erstarren lassen. „Sie haben sich bereit erklärt, im Gegenzug für bestimmte Privilegien im Gefängnis die Verstecke Ihrer anderen Opfer anzugeben." Bonner war dazu verurteilt worden, den Rest seines Lebens im D2 zu verbringen, einem abgelegenen Hochsicherheitsgefängnis in den Bergen von Wyoming. Diese Spezialeinrichtung beherbergte die Straftäter des Landes, die so gefährlich waren, dass eine Unterbringung im normalen Strafvollzug zu risikoreich war. „Ich mag Ihre Augen", sagte Bonner, sein Lächeln vertiefte sich, als er sie mit einem Blick ansah, den die Medien als „mörderisch sinnlich" bezeichneten. „Sie erinnern mich an meine zarten Blumen." Sophia ließ ihn reden, alles, was er sagte, war wichtig für die Fallanalytiker, die in dem Raum nebenan waren und das Gespräch auf einem großen Bildschirm mitverfolgten. Es waren auch Mediale dabei, eigentlich unüblich bei einem kriminellen Menschen, aber Bonners geistige Strukturen waren so anormal, dass ihr Interesse geweckt worden war. Doch nicht die Reaktion der erfahrenen medialen Analytiker interessierten Sophia, sondern die Schlüsse, die Max Shannon zog. Der Polizist hatte keine medialen Fähigkeiten, und im Gegensatz zu dem Schlächter vor ihr war er gertenschlank. Wie ein Puma, dachte sie. Doch wenn es darauf ankam, würde der Puma siegen - sowohl über das Muskelpaket in dem Gefängnisoverall als auch über die schlauen Köpfe der Medialen, die hinzugezogen worden waren, nachdem Bonners perverse Taten auch wirtschaftliche Konsequenzen gehabt hatten.
„Sie waren alle zarte Blumen." Bonner seufzte. „So hübsch, so süß. Leicht zu verletzen. Genau wie Sie." Er starrte auf eine Narbe, die sich über ihr Jochbein zog. Sophia ignorierte die offene Provokation. „Was haben Sie mit ihnen gemacht?" Bonner war durch die Spuren überführt worden, die er an der Leiche seines ersten Opfers hinterlassen hatte. Bei den anderen Fällen hatte es nichts dergleichen gegeben, und man hatte ihn nur mit den Verbrechen in Verbindung bringen können, weil die Umstände ganz ähnlich gewesen waren und weil Max Shannon so hartnäckig ihre Aufklärung betrieben hatte. „ So zart und so zerstört", murmelte Bonner und sah auf ihre Lippen. „Verletzte Frauen haben mich schon immer angezogen." „Sie lügen, Mr Bonner." Wie konnten ihn die Leute bloß attraktiv finden - sie konnte die Fäulnis beinahe riechen. „Ihre Opfer waren alle außergewöhnlich schön." „Vermutliche Opfer", sagte er, und die klaren blauen Augen leuchteten auf. „Man hat mich nur des Mordes an der armen Carissa überführt. Obwohl ich natürlich vollkommen unschuldig bin."
„Sie haben sich bereit erklärt zu kooperieren", erinnerte sie ihn. Ohne seine Kooperationsbereitschaft konnte sie nicht arbeiten. Denn - „Offensichtlich können Sie Ihre Gedanken bis zu einem gewissen Grad steuern." Auf diese Eigenschaft waren die Telepathen des J-Dienstes schon öfter bei psychopathischen Menschen gestoßen - anscheinend entwickelten solche Individuen eine beinahe mediale Fähigkeit, die eigenen Erinnerungen zu verändern. Bonner war ein Meister darin. Bei einer oberflächlichen Suche hatte sie absolut nichts gefunden - tiefer nachzuforschen konnte sein Gehirn für immer schädigen und gerade diejenigen Informationen auslöschen, die sie brauchte.
Aber, meldete sich das Andere in ihr, er musste auch nur lange genug am Leben bleiben, damit die Opfer gefunden werden konnten. Danach ...
„Ich bin ein Mensch." Er tat übertrieben überrascht. „Das haben sie Ihnen doch bestimmt gesagt - mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Darum brauche ich ja eine J-Mediale, die in meinen Kopf eindringt und die zarten Blumen ausgräbt." Er spielte mit ihr. Sophia war sicher, dass er bis auf den letzten Zentimeter die genaue Lage jeder einzelnen vergrabenen Leiche beschreiben konnte. Aber Bonner spielte den Unwissenden so gut, dass man sie hinzugezogen und damit Bonner die Chance gegeben hatte, sein krankes Bedürfnis noch einmal zu befriedigen. Sie sollte in seinen Kopf eindringen, damit er sie dort überwältigen konnte - nur so konnte er in seiner jetzigen Lage einer Frau noch wehtun. „Da ich offensichtlich nichts erreichen kann", sagte sie und stand auf, „werde ich meinen Kollegen Bryan Ames bitten, die Untersuchung zu übernehmen. Er ist -" „Nein." Der erste Riss in der polierten Oberfläche, doch er verschwand genauso schnell, wie er entstanden war. „Sie bekommen, was Sie brauchen." Sie zog das dünne schwarze Kunstleder des Handschuhs der linken Hand bis zur steifen Manschette ihrer weißen Bluse. „Meine Zeit ist teuer, ich möchte sie nicht verschwenden. Bei anderen Fällen könnte ich meine Fähigkeiten bestimmt nütz licher einbringen." Mit diesen Worten ging sie hinaus, ungeachtet seines Befehls - denn nichts anderes war es - zu bleiben.
Im Beobachtungsraum wandte sie sich an Max Shannon. „Sie sollten nur noch Männer zu ihm schicken." Er nickte knapp, seine Hand umklammerte die Stuhllehne. Seine Haut hatte einen warmen Goldton, der auf asiatische und europäische Wurzeln schließen ließ. Das asiatische Erbe zeigte sich in den schräg stehenden Augen, die europäische Seite hatte sich bei der Körpergröße durchgesetzt - sie schätzte ihn auf etwas unter einem Meter neunzig. So weit die Tatsachen. Aber die Wirkung war mehr als die Summe der Einzelteile. Er hatte etwas, das die Menschen Charisma nannten. Mediale vertraten zwar vehement die Ansicht, so etwas existiere nicht, aber sie wussten alle, dass das nicht stimmte. Selbst in der Silentium-Gattung gab es einige, die einen Raum betraten und ihn allein durch ihre Gegenwart ausfüllten. Sie sah, wie seine Fingerknöchel weiß wurden. „Der hat sich einen runtergeholt bei der Vorstellung, Sie würden in seinen Erinnerungen graben." Max erwähnte ihre Narben nicht, aber sie wusste genauso gut wie er, dass sie nicht unerheblich dazu beigetragen hatten, sie für Bonner attraktiv zu machen. Sie trug sie schon lange, diese blassen Spuren einer lange zurückliegenden Geschichte, die ihre Vergangenheit war. Ohne sie hätte sie überhaupt keine Vergangenheit gehabt. Bei Max Shan non gab es auch so etwas. Doch es zeigte sich nicht in seinem schönen - nicht nur gut aussehenden, sondern wirklich schönen - Gesicht. „Ich habe Schilde." Aber diese Schilde bröckelten, ein unabwendbarer Nebeneffekt ihrer Arbeit. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, wäre sie keine J-Mediale geworden. Mit acht Jahren war sie vor die Wahl gestellt worden, sich entweder für diesen Beruf zu entscheiden oder zu sterben. „Ich habe gehört, dass viele J-Mediale ein fotografisches Gedächtnis haben", sagte Max und sah sie forschend an.
„Das stimmt - aber nur in Bezug auf die Dinge, die wir während der Arbeit wahrnehmen." Sie hatte vieles aus ihrem „wirklichen Leben" vergessen, aber nicht einen Augenblick ihrer jahrelangen Arbeit im J-Dienst. Max wollte gerade etwas erwidern, als Staatsanwalt Bartholomew Reuben, der mit ihm eng zusammengearbeitet hatte, um Gerard Bonner festzunehmen und zu überführen, sein Gespräch mit zwei Fallanalytikern beendete und herüberkam. „Die Sache mit den männlichen J-Medialen ist ein kluger Schachzug. Wir lassen Bonner ein wenig schmoren - wenn er sich dann kooperativer zeigt, kommen Sie wieder ins Spiel." Max' Kiefer mahlten, als er antwortete. „Er hat uns lange genug hingehalten - die Mädchen sind nichts weiter als Schachfiguren für ihn." Bevor Reuben etwas darauf sagen konnte, rief ihn ein anderer Analytiker von ihnen weg, und Sophia war wieder allein mit Max. Überrascht stellte sie fest, dass sie bleiben wollte, obwohl ihr Platz nun, da ihre Aufgabe beendet war, bei den anderen M-Medialen gewesen wäre. Doch Perfektion würde sie nicht am Leben erhalten - so oder so würde sie in spätestens einem Jahr tot sein -, sie konnte also auch ruhig dem Verlangen nachgeben, sich noch weiter mit dem Detective zu unterhalten, dessen Gedanken sie so faszinierten. „Sein Ego wird ihn früher oder später dazu bringen, seine Geheimnisse preiszugeben", sagte sie, mit narzisstisch gestörten Persönlichkeiten hatte sie schon oft zu tun gehabt. „Er wird zeigen wollen, wie klug er ist." „Und, werden Sie sich alles anhören, selbst wenn er das Geheimnis um Daria Xiu zuerst lüftet?" Seine Stimme hörte sich rau an, als hätte er in letzter Zeit zu wenig geschlafen. Daria Xiu war der Grund, warum überhaupt eine J-Mediale hinzugezogen worden war, das wusste Sophia. Die Tochter eines einflussreichen Geschäftsmannes der Menschen war wahrscheinlich Bonners letztes Opfer. „Ja", sagte Sophia, sie würde dem Detective einen Teil der Wahrheit enthüllen. „Bonner weicht genügend von der Normalität ab, um ein wertvolles Studienobjekt für unsere Psychologen abzugeben." Vielleicht weil sich das abnorme Verhalten des Schlächters der Park Avenue auch in statistisch relevanter Zahl bei Medialen gezeigt hatte ... die nicht mehr völlig unter dem Einfluss von Silentium standen. Der Rat glaubte, die Bevölkerung wisse nichts davon, und vielleicht war es auch so. Doch für eine J-Mediale wie Sophia, die ihr Leben lang immer tiefer in den Sumpf des Bösen vorgedrungen war, hatten die neuen Schatten im Medialnet eine fast fühlbare Struktur - dick und fett durchlöcherten sie gekonnt das neuronale Netzwerk. „Und Sie selbst?", fragte Max und maß sie mit einem solch intensiven Blick, dass es sich anfühlte, als würde er mit seiner raschen Auffassungsgabe Geheimnisse entschlüsseln, die sie über zwei Jahrzehnte gut verborgen hatte. „Was ist mit Ihnen?"
Das Andere in ihr erstarrte, wollte die ungeschminkte, tödliche Wahrheit preisgeben, aber jemand, der sein Leben wie Max Shannon der Gerechtigkeit verschrieben hatte, durfte das niemals erfahren. „Ich tue nur meine Arbeit." Dann fügte sie noch etwas hinzu, das eine perfekte Mediale niemals gesagt hätte. „Wir werden sie nach Hause holen. Niemand sollte für immer dort draußen im Dunkeln liegen."
Max sah Sophia Russo nach, als sie mit den zivilen Beobachtern hinausging, er konnte den Blick einfach nicht von ihr lösen. Ihre Augen hatten es ihm angetan. Rivers Augen, hatte er gedacht, als sie hereingekommen war, sie hat Rivers Augen. Aber er hatte sich geirrt. Sophias Augen waren dunkler, tiefviolett, und so lebendig, dass er fast ihre weichen, vollen Lippen übersehen hätte. Hatte er aber dann doch nicht. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Denn auch wenn sie Kurven hatte und Narben im Gesicht, hinter denen er gewalttätige Erlebnisse in ihrer Vergangenheit vermutete, war sie immer noch eine Mediale. Eiskalt und an einen Rat gebunden, der mehr Blut an den Händen hatte als Gerard Bonner. Dennoch ... ihre letzten Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Wir werden sie nach Hause holen. Es hatte sich wie ein Schwur angehört. Aber vielleicht hatte er es auch nur so sehen wollen. Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Reuben zu, der bei ihm geblieben war. „Trägt sie immer Handschuhe?" Das dünne schwarze Kunstleder verdeckte alles, was unter den Manschetten und den Ärmeln des Jacketts hätte hervorlugen können. Vielleicht hatte sie auch Narben auf den Händen und Handgelenken - doch Sophia Russo wirkte nicht wie jemand, der so etwas verstecken würde. „Ja. Jedenfalls immer, wenn ich ihr begegne." Einen Augenblick lang zeigten sich nachdenkliche Falten auf der Stirn des Staatsanwalts, dann schien er seine Gedanken abzuschütteln. „Sie hat eine exzellente Beurteilung - musste bis jetzt noch nie abgezogen werden." „Bei dem Prozess hat sich ja gezeigt, dass Bonner schlau genug ist, sein Gedächtnis zu manipulieren", sagte Max und sah zu, wie man den Gefangenen aus dem Vernehmungsraum führte. Der blauäugige Schlächter, den die Medien so mochten, starrte höhnisch lächelnd in die Kamera, bis sich die Tür hinter ihm schloss. „Selbst wenn der Typ in seinem Innersten nicht verdreht sein sollte, er kennt sich mit Pharmazeutika aus - hätte sich was beschaffen können." „Würde ich dem Scheißkerl sogar zutrauen", sagte Bart, die Linien um seinen Mund waren tiefe Furchen. „Für Bonners nächsten kleinen Auftritt werde ich ein paar männliche J-Mediale anfordern." „Hat Xiu einen solchen Einfluss?" Der Prozess von Gerard Bonner, Spross des Bostoner Geldadels und der sadistischste Mörder, den dieser Bundesstaat in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte, hatte ein Hinzuziehen von J-Medialen unumgänglich gemacht, nachdem sich gezeigt hatte, dass die Erinnerungen des Verurteilten sich als unzugänglich erwiesen hatten. „Psychopathen haben eine eigene Wahrheit", hatte ein J-Medialer zu Max gesagt, nachdem er nichts Nützliches aus dem Kopf des Angeklagten hatte holen können. „Zum Beispiel?", hatte Max gefragt, den es frustrierte, dass ein Mörder mehrerer junger Frauen wieder einmal durchs Netz geschlüpft war. „Den Erinnerungen Bonners zufolge hatte Carissa White einen Orgasmus, als er sie erstochen hat."
Max schüttelte diesen Beweis der verdrehten Wirklichkeit in Bonners Schädel ab und sah Bart an, der eine gerade angekommene S M S auf seinem Handy las. „Xiu?", riet er.
„Allerdings, scheint, als habe er hochrangige ‚Freunde‘ im Ministerium der Medialen. Sein Unternehmen machte mit ihnen Geschäfte." Bart steckte das Handy ein und schob seine Papiere zusammen. „Doch in diesem Fall ist er nur der gramgebeugte Vater. Daria war sein einziges Kind."
„Ich weiß." Die Gesichter der Opfer hatten sich Max eingeprägt. Die einundzwanzigjährige Daria hatte ein unbekümmertes Lächeln, das ihre Zahnlücken zeigte, einen Schopf krausen schwarzen Haars und eine Haut wie glänzendes Mahagoni. Sie hatte nichts mit den anderen Opfern gemein - im Gegensatz zu den meisten pathologischen Mördern war es Bonner egal gewesen, ob seine Opfer weiß oder schwarz waren, lateinamerikanische oder asiatische Wurzeln hatten. Ihr Alter und eine bestimmte Art von Schönheit hatten ihn angezogen. Max' Gedanken kehrten zurück zu der Frau, die dem Mörder ohne ein Blinzeln in die Augen geblickt hatte, während er selbst sich dazu hatte zwingen müssen, zuzusehen und nicht einzugreifen. „Sie passt in sein Schema - Ms Russo, meine ich." Ihre Augen und ihre Narben machten sie einzigartig - ein wichtiger Aspekt in Bonners kranker Auswahl. Sein Ziel waren Frauen, die in der Menge nicht untergingen - die Gewalt, die aus Sophia Russos Narben sprach, wäre für ihn das Sahnehäubchen auf dem Kuchen gewesen. „Hattest du das arrangiert?" Max' Hand umklammerte den Stift, als er Bart beim Aufräumen half.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Nalini Singh
Nalini Singh wurde auf den Fidschi-Inseln geboren und ist in Neuseeland aufgewachsen. Nach verschiedenen Tätigkeiten, unter anderem als Rechtsanwältin und Englischlehrerin, begann sie 2003 eine Karriere als Autorin von Liebesromanen und ist mit ihrer Gestaltwandler-Serie und der Gilde der Jäger regelmäßig in der Spiegel-Bestsellerliste vertreten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nalini Singh
- Altersempfehlung: Ab 16 Jahre
- 2011, 1. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Angela Herrmann
- Übersetzer: Nora Lachmann
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802584031
- ISBN-13: 9783802584039
- Erscheinungsdatum: 05.09.2011
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