Flieh, wenn du kannst
Roman
Ein neuer Psychothriller der erfolgreichen amerikanischen Autorin. Ein Anruf ist es, der das Leben der Lehrerin Bonnie Wheeler aus dem Gleichgewicht bringt: "Du bist in Gefahr. Und deine kleine Tochter auch!" Anruferin ist Joan, die ehemalige Ehefrau von...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Flieh, wenn du kannst “
Ein neuer Psychothriller der erfolgreichen amerikanischen Autorin. Ein Anruf ist es, der das Leben der Lehrerin Bonnie Wheeler aus dem Gleichgewicht bringt: "Du bist in Gefahr. Und deine kleine Tochter auch!" Anruferin ist Joan, die ehemalige Ehefrau von Rod, der inzwischen mit Bonnie verheiratet ist. Und dann wird Joan ermordet aufgefunden, und Bonnie gilt als Hauptverdächtige. Auf eigene Faust versucht sie, Licht in die mysteriöse Angelegenheit zu bringen. Die Ergebnisse ihrer Recherchen lassen sie an allem zweifeln, was ihr Leben bisher ausmachte: an Ehemann, Freunden, an der eigenen Vergangenheit.
Klappentext zu „Flieh, wenn du kannst “
"Sie sind in Gefahr. Sie und Amanda." Als Bonnie Wheeler von Joan, der Exfrau ihres Mannes, vor einer unbestimmten Gefahr für sie und ihre Tochter gewarnt wird, ist sie zunächst skeptisch. Doch bevor sie Genaueres erfährt, wird Joan ermordet. Und ihre Warnungen waren offensichtlich begründet. Für Bonnie beginnt ein wahrer Alptraum ...
'Ein Psychothriller, der Joy Fieldings Bestseller ' Lauf Jane, lauf' an Spannung noch übertrifft.' -- Brigitte
'Joy Fielding hat mit `Flieh, wenn du kannstŽ wieder ein Labyrinth der Alltagsängste geschaffen.' -- NDR
'Wieder ein richtig spannender Roman.' -- Gala
'Joy Fielding hat mit `Flieh, wenn du kannstŽ wieder ein Labyrinth der Alltagsängste geschaffen.' -- NDR
'Wieder ein richtig spannender Roman.' -- Gala
Lese-Probe zu „Flieh, wenn du kannst “
Sie dachte an Palmen, hohe braune Bäume, von Jahrzehnten stürmischer Winde gebeugt. Ihre langen grünen Blätter flatterten wie leere Handschuhe vor einem klaren blauen Himmel.Rod hatte von einer möglichen gemeinsamen Reise nach Miami im nächsten Monat gesprochen. Ein paar Tage Konferenzen mit den angeschlossenen Sendern, hatte er gesagt, den Rest der Woche dann allein am Strand wie einst Burt Lancaster und Deborah Kerr - wie sie das fände? Sie fand es sehr verlockend. Seitdem verfolgten sie Bilder von Palmen und blauem Himmel. So eine Reise würde sich allerdings nicht ohne gewisse Schwierigkeiten arrangieren lassen - sie würde ihren Schulleiter belügen müssen, ihm erzählen, sie sei krank, ausgerechnet sie, die sich immer damit brüstete, zu diesen widerlich gesunden Leuten zu gehören, denen Erkältungen oder Grippeviren nichts anhaben konnten. Sie würde außerdem ihre Stunden schon im voraus genau planen und einteilen müssen, damit die Lehrkraft, die für sie einsprang, wissen würde, was in welchem Tempo durchzunehmen war. Aber das waren nur kleinere Unannehmlichkeiten, die sie für eine romantische Woche mit dem Mann, den sie liebte und der seit fünf Jahren ihr Ehemann war, gern in Kauf nahm.
Bonnie holte tief Atem und verscheuchte die Bilder von Palmen, die sich im Wind wiegen, um wieder die Realität in den Blick zu bekommen. Kleinere Unannehmlichkeiten vielleicht. Aber wie sollte es ihr gelingen, eine weiß Gott nicht ungesunde Gesichtsfarbe vor einem mißtrauischen Schulleiter zu kaschieren? Wie sollte sie es schaffen, dem Mann ins Gesicht zu sehen, ohne rot zu werden, mit ihm zu sprechen, ohne ins Stottern zu geraten? Wie sollte sie mit seinen besorgten Fragen nach ihrem Befinden umgehen? Sie haßte Lügen, schätzte Ehrlichkeit höher als alles andere. ("Du bist meine Brave", hatte ihre Mutter oft gesagt.) Und sie war stolz darauf, daß sie in fast neunjähriger Tätigkeit als Lehrerin nicht einen Unterrichtstag wegen Krankheit versäumt hatte. Konnte sie es sich
... mehr
wirklich erlauben, fünf Tage hintereinander zu fehlen, nur um sich mit ihrem Mann an einem Strand in Florida zu aalen?
"Außerdem", sagte sie laut und sah zu ihrer dreijährigen Tochter hinunter, "wie soll ich es schaffen, dich fünf ganze Tage allein zu lassen?" Sie neigte sich zu Amanda hinüber und streichelte ihre Wange mit der kaum verheilten kleinen Narbe, die von einem kürzlichen Sturz vom Dreirad stammte. Wie zerbrechlich Kinder doch sind, dachte Bonnie, während sie den süßen Kindergeruch ihrer Tochter einatmete.
Amanda öffnete die großen blauen Augen.
"Oh, du bist wach, hm?" fragte Bonnie und gab ihrer Tochter einen Kuß auf die Stirn. "Keine bösen Träume mehr?"
Amanda schüttelte den Kopf, und Bonnie lächelte erleichtert. Amanda hatte sie um fünf Uhr morgens weinend geweckt, von einem Alptraum erschreckt, an den sie sich nicht recht erinnern konnte.
"Nicht weinen, mein Schatz", hatte Bonnie geflüstert und Amanda in ihr Bett geholt. "Du mußt nicht mehr weinen. Es ist ja alles gut. Mama ist da."
Als sich Bonnie jetzt über sie neigte, sagte sie zärtlich: "Ich hab' dich lieb, mein kleiner Schatz."
Amanda kicherte. "Ich hab' dich aber noch mehr lieb."
"Das ist unmöglich", entgegnete Bonnie. "Du kannst mich gar nicht mehr liebhaben als ich dich."
Amanda verschränkte mit ernsthafter Miene die Arme über ihrer Brust. "Okay, dann haben wir uns eben beide genau gleich lieb."
"Okay, wir haben uns beide gleich lieb."
"Außer daß ich dich noch mehr liebhab'."
Lachend schwang Bonnie ihre Beine aus dem Bett. "Ich glaube, jetzt wird's langsam Zeit, dich für den Kindergarten fertigzumachen."
"Das kann ich selber." Und schon im nächsten Moment rannte Amanda mit flatterndem rosa Nachthemd durch den Flur zu ihrem Zimmer.
Woher haben sie nur diese Energie? fragte sich Bonnie, während sie wieder unter die Decke kroch, um noch einen Augenblick die Stille des frühen Frühlingsmorgens zu genießen.
Das Telefon läutete. Das schrille Geräusch zerriß so unerwartet die Stille, daß Bonnie zusammenzuckte. Wer konnte um diese Zeit anrufen? Es war noch nicht einmal sieben Uhr.
Widerstrebend öffnete sie die Augen und blickte zu dem Telefon auf dem Nachttisch neben dem großen französischen Bett. Dann richtete sie sich unwillig auf und hob verärgert den Hörer ab.
"Hallo?" Überrascht stellte sie fest, daß ihre Stimme noch ganz verschlafen klang. Sie räusperte sich, während sie darauf wartete, daß der Anrufer sich meldete. "Hallo", sagte sie noch einmal, als es still blieb.
"Ich bin's, Joan. Ich muß mit Ihnen sprechen."
Bonnie stöhnte, und ihr Kopf fiel herab, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Nacken gegeben. Noch nicht einmal sieben Uhr morgens, und schon war die geschiedene Frau ihres Mannes am Telefon. "Ist etwas passiert?" fragte sie, augenblicklich das Schlimmste befürchtend. "Sam und Lauren...?"
"Den beiden geht es gut."
Bonnie atmete erleichtert auf. "Rod ist gerade unter der Dusche", sagte sie und dachte, daß es selbst für Joan reichlich früh wäre, sich einen zu genehmigen.
"Rod brauche ich nicht. Ich möchte mit Ihnen sprechen."
"Das ist jetzt aber keine gute Zeit", erwiderte Bonnie so freundlich, wie es ihr möglich war. "Ich muß mich für die Arbeit fertigmachen..."
"Sie brauchen doch heute gar nicht zur Arbeit. Sam hat mir gesagt, daß heute Weiterbildungstag ist." "Das ist richtig. Trotzdem..."
"Können wir uns nicht gegen Mittag irgendwo treffen?"
"Nein, das geht auf keinen Fall", antwortete Bonnie, erstaunt über die Bitte. "Ich bin den ganzen Morgen bei Vorträgen. Es geht, wie gesagt, um meine berufliche Weiterbildung."
"Dann wenigstens mittags. Sie haben doch bestimmt eine Mittagspause."
"Joan. Ich kann nicht..."
"Aber es muß sein."
"Was soll das heißen? Es muß sein? Was meinen Sie damit?"
Was redete diese Frau da? Bonnie blickte ratlos zur Badezimmertür. Die Dusche lief noch. Rod röhrte lauthals "Take Another Little Piece of My Heart". "Joan, ich muß jetzt wirklich Schluß machen."
"Sie sind in Gefahr!" Die Worte klangen wie ein Zischen.
"Was?"
"Sie sind in Gefahr. Sie und Amanda." Augenblicklich überfiel Bonnie eisige Panik. "Was soll das heißen? Wir sind in Gefahr? Was reden Sie da überhaupt?"
"Das läßt sich am Telefon nicht erklären. Es ist zu kompliziert", entgegnete Joan, deren Stimme plötzlich beängstigend ruhig klang. "Sie müssen sich schon mit mir treffen."
"Haben Sie getrunken?" fragte Bonnie jetzt ärgerlich, obwohl sie vorgehabt hatte, ruhig und freundlich zu bleiben.
"Klingt es so, als hätte ich getrunken?"
Bonnie mußte zugeben, daß es nicht so war.
"Hören Sie, Bonnie, ich zeige heute morgen mehreren Interessenten ein Haus in der Lombard Street 430. Ich veranstalte da so eine Art open house. Draußen in Newton. Spätestens um dreizehn Uhr, wenn die Eigentümerin nach Hause kommt, muß die Sache beendet sein."
"Aber ich hab' Ihnen doch schon gesagt, ich sitze den ganzen Tag in Vorträgen."
"Und ich hab' Ihnen gesagt, daß Sie in Gefahr sind", wiederholte Joan so abgehackt, als säße hinter jedem Wort ein Punkt.
Bonnie wollte schon protestieren, doch dann überlegte sie es sich anders. "Also gut", stimmte sie zu. "Ich werd' versuchen, in der Mittagspause rauszukommen."
"Aber vor eins", sagte Joan.
"Vor eins", bestätigte Bonnie.
"Und bitte erzählen Sie Rod nichts davon", fügte Joan hinzu. "Warum nicht?"
Statt einer Antwort hörte Bonnie das Knacken in der Leitung, als Joan auflegte.
"Es ist immer ein Vergnügen, von Ihnen zu hören", sagte Bonnie ärgerlich, legte ihrerseits auf und starrte einen Moment lang frustriert vor sich hin. Was für einen Blödsinn hatte sich Joan nun wieder in den alkoholbenebelten Kopf gesetzt?
Sie hatte allerdings tatsächlich keinen benebelten Eindruck gemacht, wie Bonnie einräumen mußte, als sie jetzt aufstand und zum Badezimmer ging. Sie hatte klar und präzise gesprochen, als wüßte sie genau, was sie sagte. Eine Frau mit einer Mission, dachte Bonnie. Sie ging ans Waschbecken, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, ging dann auf nackten Füßen über den blaugrauen dicken Teppich zum Wandschrank. Es wurde langsam Zeit, die Wintersachen wegzupacken und die Sommersachen in den Schrank zu hängen, aber wie lautete doch der dumme Spruch, den ihre Freundin Diana zu zitieren pflegte? Laß im Schrank die warmen Sachen, bis dem April vergeht das Lachen. Ja, richtig, dachte Bonnie und verschloß ihre Ohren den anderen, beunruhigenderen Stimmen, während sie sich ankleidete. Sie sind in Gefahr, hörte sie dann doch wieder Joans Stimme. Sie und Amanda.
Was konnte Joan damit gemeint haben? Was für eine Gefahr sollte ihr und ihrer Tochter drohen?
Bitte erzählen Sie Rod nichts davon.
"Warum nicht?" fragte Bonnie laut, als sie das rote Strickkleid über ihren schlanken Hüften glattstrich. Weshalb wollte Joan nicht, daß sie mit ihrem Mann über diese merkwürdige Behauptung sprach? Wahrscheinlich, weil er sie für verrückt erklären würde. Bonnie lachte. Rod war sowieso überzeugt davon, daß seine geschiedene Frau nicht richtig tickte.
Sie beschloß, sich nicht mit Joan zu treffen. Die Frau hatte ihr nichts zu sagen, was sie interessierte. Nichts, was ihr in irgendeiner Weise nützlich sein konnte. Doch schon während Bonnie den Entschluß faßte, war ihr klar, daß ihre Neugier die Oberhand gewinnen und sie sich vor dem Ende aus dem Vortrag stehlen würde, wahrscheinlich den wichtigsten Teil verpassen würde, um den ganzen Weg bis in die Lombard Street zu fahren und dort zu entdecken, daß Joan sich nicht einmal erinnerte, sie am Morgen angerufen zu haben. Ahnliches war schon des öfteren vorgekommen. Anrufe im Suff mitten in der Nacht, wütende Beschimpfungen zum Abendessen, tränenreiche Klagen, wenn man gerade zu Bett gehen wollte. Und hinterher alles vergessen. Wovon reden Sie? Ich habe Sie nie angerufen. Warum sollen Sie mir unbedingt das Leben schwermachen? Was, zum Teufel, reden Sie da?
Bonnie hatte sie gewähren lassen. Trotz allem, was sie von dieser Frau wußte, trotz des Kummers und der Sorgen, die sie Rod bereitet hatte, tat Joan ihr leid. ("Du bist eine gute Seele", pflegte ihre Mutter zu sagen.) Sie mußte sich immer wieder klarmachen, daß Joan für den größten Teil ihrer Probleme selbst verantwortlich war, daß sie ganz bewußt zum Alkohol gegriffen und nicht mehr davon abgelassen hatte. Es war zu einfach, ihr Verhalten damit zu entschuldigen, daß es verständlich sei, wenn eine Frau nach einer solchen Tragödie, wie sie sie erlebt hatte, zu trinken begann.
Selbst dieses tragische Ereignis, das ihr Leben so verändert hatte, hatte sie ja größtenteils selbst heraufbeschworen. Zweifellos hätte es abgewendet werden können, wäre Joan nicht so nachlässig gewesen, ihr vierzehn Monate altes Kind allein in der Badewanne zu lassen, wenn auch nicht einmal eine Minute, wie sie später verzweifelt behauptet hatte. Sie hatte alle möglichen Erklärungen gehabt: Sam und Lauren hatten im anderen Zimmer gestritten; Lauren hatte geschrien; es habe sich angehört, als könnte Sam ihr etwas antun; nur deshalb war Joan aus dem Badezimmer gestürzt. Sie hatte nachsehen wollen, was die beiden älteren Kinder trieben. Als sie wieder zurückgekommen war, war ihr jüngstes Kind tot und ihre Ehe zu Ende gewesen. Bitte erzählen Sie Rod nichts davon.
Weshalb ihn gleich am frühen Morgen aufregen, sagte sich Bonnie und beschloß, ihrem Mann nichts von Joans Anruf zu sagen, oder höchstens erst nach dem Zusammentreffen. Rod hatte im Augenblick im Studio genug um die Ohren - eine ungünstige Sendezeit am Nachmittag, eine unmögliche Moderatorin, ein abgedroschenes Konzept. Wie viele seichte Talkshows brauchte das Publikum eigentlich noch? Dennoch hatten sich unter seiner fachmännischen Leitung die Einschaltquoten stetig verbessert. Mittlerweile war sogar von landesweiter Ausstrahlung die Rede. Die Tagung, die nächsten Monat in Miami stattfinden sollte, war von zentraler Bedeutung.
Wieder sah sie sich unter hohen Palmen auf weißem Sandstrand stehen, und ein leichtes Lüftchen schien sie zu umfächeln, als sie sich an ihren kleinen Toilettentisch setzte, der dem Bett gegenüber stand; an der Wand daneben hatte sie einen Akt von Salvador Dali aufgehängt, eine gesichtslose Frau in gedämpftem Blau mit runden Hüften und überlangen Gliedern, deren kahlem Kopf strahlenförmig irgendwelche Emanationen entsprangen.
Vielleicht ist Glatzköpfigkeit die Lösung, dachte Bonnie, während sie vergeblich versuchte, ihr kinnlanges braunes Haar so um ihr schmales Gesicht zu arrangieren, wie die Friseuse es ihr gezeigt hatte. "Ach, gib's doch auf", sagte sie zu ihrem Spiegelbild und ließ ihr widerspenstiges Haar sein, wie es war. Trotz der feinen Linien rund um ihre tiefgrünen Augen, fand sie, daß sie gar nicht so übel aussah. Ihr hübsches Gesicht besaß jene Klarheit und Offenheit, die niemals wirklich außer Mode kamen und sie noch lange nicht wie fünfunddreißig erscheinen ließen. Als >frisch< hatte Joan es einmal beschrieben.
Vielfältige Bilder von Rods geschiedener Frau verdrängten erbarmungslos die Vision von Palmen und weißen Stränden, grell und siebdruckartig, den Bildnissen ähnlich, die Andy Warhol von Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe geschaffen hat. "Joan", sagte Bonnie vor sich hin und versuchte, das Wort in zwei Silben zu drehen, um es weicher zu machen, freundlicher. Joan. Joan. Es klappte nicht. Auch der Name blieb hartnäckig so, wie Joan im Leben war, unveränderbar, nicht zu retuschieren oder weichzuzeichnen.
Sie war eine imposante Frau, fast einen Meter achtzig groß, mit großen braunen Augen, von denen sie gern sagte, sie seien dunkel wie Zobel, flammend rotem Haar, das sie als tizianrot zu bezeichnen pflegte, und einem spektakulären Busen. Alles an ihr war Übertreibung, und dies war zweifellos einer der Gründe für ihren Erfolg als Immobilienmaklerin.
Was mochte sie diesmal wieder in petto haben? Warum das Melodram? Was war so kompliziert, daß sie es nicht am Telefon besprechen konnte? Was für eine Gefahr sollte das sein, von der sie gesprochen hatte?
Bonnie zuckte mit den Achseln. Sie würde es bald genug herausfinden, sagte sie sich.
Um zwölf Uhr achtunddreißig lenkte Bonnie ihren weißen Caprice in die Einfahrt des Hauses Lombard Street 430 - durch einen Verkehrsunfall war sie unterwegs aufgehalten worden und hatte über eine halbe Stunde bis hierher gebraucht. Sie stellte ihren Wagen direkt hinter Joans rotem Mercedes ab. Joans Geschäfte florierten offensichtlich. Trotz der Schwankungen auf dem Immobilienmarkt schien sie die letzte längere Durststrecke gut überstanden zu haben. Ja, Joan war eben eine Überlebenskünstlerin. Nur die in ihrer Nähe kamen um.
Dieses Haus dürfte nicht schwer zu verkaufen sein, dachte Bonnie, als sie, in die kühle Sonne blinzelnd, an dem großen Schild im Vorgarten vorüberging, auf dem die öffentlichen Besichtigungszeiten angekündigt waren. Es war ein einstöckiges Haus mit viel Holz, wie die meisten Häuser in diesem gediegenen Vorort von Boston, und hatte offensichtlich erst vor kurzem einen frischen weißen Anstrich erhalten. Bonnie stieg die Stufen zur vorderen Veranda hinauf. Die schwarze Haustür war nur angelehnt. Bonnie klopfte schüchtern, stieß die Tür dann ein Stück weiter auf. Augenblicklich hörte sie Stimmen aus einem der hinteren Zimmer. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Vielleicht Joan. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise mitten in einer Auseinandersetzung. Es war schwer zu sagen. Auf jeden Fall würde sie nicht lauschen. Sie würde ein paar Minuten warten, ein paarmal diskret hüsteln, die Leute wissen lassen, daß noch jemand im Haus war.
Sie sah sich um, nahm eines der Kurzexposes, die Joan in einem Stapel auf einem kleinen Hocker im Eingangsbereich bereitgelegt hatte. Dem Informationsblatt zufolge hatte das Haus eine Gesamtwohnfläche von zweihundertachtzig Quadratmetern, mit vier Schlaf- oder Gästezimmern im oberen Stockwerk und einem ausgebauten Souterrain. Im Erdgeschoß teilte eine breite Treppe das Haus in zwei symmetrische Flügel, auf der einen Seite das Wohnzimmer, auf der anderen das Eßzimmer. Küche und Arbeitszimmer befanden sich im hinteren Teil. Irgendwo dazwischen war ein Badezimmer.
Bonnie räusperte sich, zuerst gedämpft, dann noch einmal, lauter. Die Leute im hinteren Teil des Hauses redeten weiter. Sie sah auf ihre Uhr, ging dann etwas zaghaft ins Wohnzimmer, das ganze in Beige und Creme gehalten war. Sie würde bald gehen müssen. Sie würde sowieso schon zu spät zurückkommen und den ersten Teil des Nachmittagsvortrags zu der Frage, wie die
Schulen von heute sich auf die Teenager von heute einstellen sollten, verpassen. Wieder sah sie auf ihre Uhr und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf den Parkettboden. Es war wirklich absurd. Es war ihr unangenehm, Joan zu stören, während diese sich bemühte, einen Abschluß zu machen, Tatsache war jedoch, daß Joan sie ausdrücklich gebeten hatte, vor eins hier zu sein, und bis zur vollen Stunde fehlte nicht mehr viel.
"Joan!" rief sie und ging in den Eingangsbereich zurück und wandte sich in Richtung Küche.
Das Gerede ging weiter, als hätte sie keinen Ton von sich gegeben. Sie hörte abgerissene Sätze - "Nun, wenn diese Gesundheitsreform durchgeführt wird...", "Das ist eine wenig überzeugende Einschätzung der Dinge..." - und fragte sich, was da vorging. Weshalb sollte Joan anläßlich einer Hausbesichtigung eine solche Diskussion führen? "Ich muß unser Telefongespräch jetzt leider beenden, meine Dame", hörte sie plötzlich die Männerstimme. "Sie wissen offensichtlich nicht, wovon Sie reden, und ich habe jetzt Lust auf ein wenig Musik. Wie wär's mit dem immer klassischen Sound von Nirvana?"Es war das Radio. "Du lieber Himmel", murmelte Bonnie. Sie hatte ihre Zeit damit vertan, diskret zu hüsteln, damit irgendein unhöflicher Rundfunkmoderator ungestört einen gutgläubigen Anrufer beleidigen konnte. Wer ist hier eigentlich die Verrückte, fragte sie sich und versuchte nun endgültig die Geduld verlierend, die plötzliche Attacke von Nirvana zu übertönen. "Joan!" rief sie und trat in die gelb-weiße Küche.
"Außerdem", sagte sie laut und sah zu ihrer dreijährigen Tochter hinunter, "wie soll ich es schaffen, dich fünf ganze Tage allein zu lassen?" Sie neigte sich zu Amanda hinüber und streichelte ihre Wange mit der kaum verheilten kleinen Narbe, die von einem kürzlichen Sturz vom Dreirad stammte. Wie zerbrechlich Kinder doch sind, dachte Bonnie, während sie den süßen Kindergeruch ihrer Tochter einatmete.
Amanda öffnete die großen blauen Augen.
"Oh, du bist wach, hm?" fragte Bonnie und gab ihrer Tochter einen Kuß auf die Stirn. "Keine bösen Träume mehr?"
Amanda schüttelte den Kopf, und Bonnie lächelte erleichtert. Amanda hatte sie um fünf Uhr morgens weinend geweckt, von einem Alptraum erschreckt, an den sie sich nicht recht erinnern konnte.
"Nicht weinen, mein Schatz", hatte Bonnie geflüstert und Amanda in ihr Bett geholt. "Du mußt nicht mehr weinen. Es ist ja alles gut. Mama ist da."
Als sich Bonnie jetzt über sie neigte, sagte sie zärtlich: "Ich hab' dich lieb, mein kleiner Schatz."
Amanda kicherte. "Ich hab' dich aber noch mehr lieb."
"Das ist unmöglich", entgegnete Bonnie. "Du kannst mich gar nicht mehr liebhaben als ich dich."
Amanda verschränkte mit ernsthafter Miene die Arme über ihrer Brust. "Okay, dann haben wir uns eben beide genau gleich lieb."
"Okay, wir haben uns beide gleich lieb."
"Außer daß ich dich noch mehr liebhab'."
Lachend schwang Bonnie ihre Beine aus dem Bett. "Ich glaube, jetzt wird's langsam Zeit, dich für den Kindergarten fertigzumachen."
"Das kann ich selber." Und schon im nächsten Moment rannte Amanda mit flatterndem rosa Nachthemd durch den Flur zu ihrem Zimmer.
Woher haben sie nur diese Energie? fragte sich Bonnie, während sie wieder unter die Decke kroch, um noch einen Augenblick die Stille des frühen Frühlingsmorgens zu genießen.
Das Telefon läutete. Das schrille Geräusch zerriß so unerwartet die Stille, daß Bonnie zusammenzuckte. Wer konnte um diese Zeit anrufen? Es war noch nicht einmal sieben Uhr.
Widerstrebend öffnete sie die Augen und blickte zu dem Telefon auf dem Nachttisch neben dem großen französischen Bett. Dann richtete sie sich unwillig auf und hob verärgert den Hörer ab.
"Hallo?" Überrascht stellte sie fest, daß ihre Stimme noch ganz verschlafen klang. Sie räusperte sich, während sie darauf wartete, daß der Anrufer sich meldete. "Hallo", sagte sie noch einmal, als es still blieb.
"Ich bin's, Joan. Ich muß mit Ihnen sprechen."
Bonnie stöhnte, und ihr Kopf fiel herab, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Nacken gegeben. Noch nicht einmal sieben Uhr morgens, und schon war die geschiedene Frau ihres Mannes am Telefon. "Ist etwas passiert?" fragte sie, augenblicklich das Schlimmste befürchtend. "Sam und Lauren...?"
"Den beiden geht es gut."
Bonnie atmete erleichtert auf. "Rod ist gerade unter der Dusche", sagte sie und dachte, daß es selbst für Joan reichlich früh wäre, sich einen zu genehmigen.
"Rod brauche ich nicht. Ich möchte mit Ihnen sprechen."
"Das ist jetzt aber keine gute Zeit", erwiderte Bonnie so freundlich, wie es ihr möglich war. "Ich muß mich für die Arbeit fertigmachen..."
"Sie brauchen doch heute gar nicht zur Arbeit. Sam hat mir gesagt, daß heute Weiterbildungstag ist." "Das ist richtig. Trotzdem..."
"Können wir uns nicht gegen Mittag irgendwo treffen?"
"Nein, das geht auf keinen Fall", antwortete Bonnie, erstaunt über die Bitte. "Ich bin den ganzen Morgen bei Vorträgen. Es geht, wie gesagt, um meine berufliche Weiterbildung."
"Dann wenigstens mittags. Sie haben doch bestimmt eine Mittagspause."
"Joan. Ich kann nicht..."
"Aber es muß sein."
"Was soll das heißen? Es muß sein? Was meinen Sie damit?"
Was redete diese Frau da? Bonnie blickte ratlos zur Badezimmertür. Die Dusche lief noch. Rod röhrte lauthals "Take Another Little Piece of My Heart". "Joan, ich muß jetzt wirklich Schluß machen."
"Sie sind in Gefahr!" Die Worte klangen wie ein Zischen.
"Was?"
"Sie sind in Gefahr. Sie und Amanda." Augenblicklich überfiel Bonnie eisige Panik. "Was soll das heißen? Wir sind in Gefahr? Was reden Sie da überhaupt?"
"Das läßt sich am Telefon nicht erklären. Es ist zu kompliziert", entgegnete Joan, deren Stimme plötzlich beängstigend ruhig klang. "Sie müssen sich schon mit mir treffen."
"Haben Sie getrunken?" fragte Bonnie jetzt ärgerlich, obwohl sie vorgehabt hatte, ruhig und freundlich zu bleiben.
"Klingt es so, als hätte ich getrunken?"
Bonnie mußte zugeben, daß es nicht so war.
"Hören Sie, Bonnie, ich zeige heute morgen mehreren Interessenten ein Haus in der Lombard Street 430. Ich veranstalte da so eine Art open house. Draußen in Newton. Spätestens um dreizehn Uhr, wenn die Eigentümerin nach Hause kommt, muß die Sache beendet sein."
"Aber ich hab' Ihnen doch schon gesagt, ich sitze den ganzen Tag in Vorträgen."
"Und ich hab' Ihnen gesagt, daß Sie in Gefahr sind", wiederholte Joan so abgehackt, als säße hinter jedem Wort ein Punkt.
Bonnie wollte schon protestieren, doch dann überlegte sie es sich anders. "Also gut", stimmte sie zu. "Ich werd' versuchen, in der Mittagspause rauszukommen."
"Aber vor eins", sagte Joan.
"Vor eins", bestätigte Bonnie.
"Und bitte erzählen Sie Rod nichts davon", fügte Joan hinzu. "Warum nicht?"
Statt einer Antwort hörte Bonnie das Knacken in der Leitung, als Joan auflegte.
"Es ist immer ein Vergnügen, von Ihnen zu hören", sagte Bonnie ärgerlich, legte ihrerseits auf und starrte einen Moment lang frustriert vor sich hin. Was für einen Blödsinn hatte sich Joan nun wieder in den alkoholbenebelten Kopf gesetzt?
Sie hatte allerdings tatsächlich keinen benebelten Eindruck gemacht, wie Bonnie einräumen mußte, als sie jetzt aufstand und zum Badezimmer ging. Sie hatte klar und präzise gesprochen, als wüßte sie genau, was sie sagte. Eine Frau mit einer Mission, dachte Bonnie. Sie ging ans Waschbecken, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne, ging dann auf nackten Füßen über den blaugrauen dicken Teppich zum Wandschrank. Es wurde langsam Zeit, die Wintersachen wegzupacken und die Sommersachen in den Schrank zu hängen, aber wie lautete doch der dumme Spruch, den ihre Freundin Diana zu zitieren pflegte? Laß im Schrank die warmen Sachen, bis dem April vergeht das Lachen. Ja, richtig, dachte Bonnie und verschloß ihre Ohren den anderen, beunruhigenderen Stimmen, während sie sich ankleidete. Sie sind in Gefahr, hörte sie dann doch wieder Joans Stimme. Sie und Amanda.
Was konnte Joan damit gemeint haben? Was für eine Gefahr sollte ihr und ihrer Tochter drohen?
Bitte erzählen Sie Rod nichts davon.
"Warum nicht?" fragte Bonnie laut, als sie das rote Strickkleid über ihren schlanken Hüften glattstrich. Weshalb wollte Joan nicht, daß sie mit ihrem Mann über diese merkwürdige Behauptung sprach? Wahrscheinlich, weil er sie für verrückt erklären würde. Bonnie lachte. Rod war sowieso überzeugt davon, daß seine geschiedene Frau nicht richtig tickte.
Sie beschloß, sich nicht mit Joan zu treffen. Die Frau hatte ihr nichts zu sagen, was sie interessierte. Nichts, was ihr in irgendeiner Weise nützlich sein konnte. Doch schon während Bonnie den Entschluß faßte, war ihr klar, daß ihre Neugier die Oberhand gewinnen und sie sich vor dem Ende aus dem Vortrag stehlen würde, wahrscheinlich den wichtigsten Teil verpassen würde, um den ganzen Weg bis in die Lombard Street zu fahren und dort zu entdecken, daß Joan sich nicht einmal erinnerte, sie am Morgen angerufen zu haben. Ahnliches war schon des öfteren vorgekommen. Anrufe im Suff mitten in der Nacht, wütende Beschimpfungen zum Abendessen, tränenreiche Klagen, wenn man gerade zu Bett gehen wollte. Und hinterher alles vergessen. Wovon reden Sie? Ich habe Sie nie angerufen. Warum sollen Sie mir unbedingt das Leben schwermachen? Was, zum Teufel, reden Sie da?
Bonnie hatte sie gewähren lassen. Trotz allem, was sie von dieser Frau wußte, trotz des Kummers und der Sorgen, die sie Rod bereitet hatte, tat Joan ihr leid. ("Du bist eine gute Seele", pflegte ihre Mutter zu sagen.) Sie mußte sich immer wieder klarmachen, daß Joan für den größten Teil ihrer Probleme selbst verantwortlich war, daß sie ganz bewußt zum Alkohol gegriffen und nicht mehr davon abgelassen hatte. Es war zu einfach, ihr Verhalten damit zu entschuldigen, daß es verständlich sei, wenn eine Frau nach einer solchen Tragödie, wie sie sie erlebt hatte, zu trinken begann.
Selbst dieses tragische Ereignis, das ihr Leben so verändert hatte, hatte sie ja größtenteils selbst heraufbeschworen. Zweifellos hätte es abgewendet werden können, wäre Joan nicht so nachlässig gewesen, ihr vierzehn Monate altes Kind allein in der Badewanne zu lassen, wenn auch nicht einmal eine Minute, wie sie später verzweifelt behauptet hatte. Sie hatte alle möglichen Erklärungen gehabt: Sam und Lauren hatten im anderen Zimmer gestritten; Lauren hatte geschrien; es habe sich angehört, als könnte Sam ihr etwas antun; nur deshalb war Joan aus dem Badezimmer gestürzt. Sie hatte nachsehen wollen, was die beiden älteren Kinder trieben. Als sie wieder zurückgekommen war, war ihr jüngstes Kind tot und ihre Ehe zu Ende gewesen. Bitte erzählen Sie Rod nichts davon.
Weshalb ihn gleich am frühen Morgen aufregen, sagte sich Bonnie und beschloß, ihrem Mann nichts von Joans Anruf zu sagen, oder höchstens erst nach dem Zusammentreffen. Rod hatte im Augenblick im Studio genug um die Ohren - eine ungünstige Sendezeit am Nachmittag, eine unmögliche Moderatorin, ein abgedroschenes Konzept. Wie viele seichte Talkshows brauchte das Publikum eigentlich noch? Dennoch hatten sich unter seiner fachmännischen Leitung die Einschaltquoten stetig verbessert. Mittlerweile war sogar von landesweiter Ausstrahlung die Rede. Die Tagung, die nächsten Monat in Miami stattfinden sollte, war von zentraler Bedeutung.
Wieder sah sie sich unter hohen Palmen auf weißem Sandstrand stehen, und ein leichtes Lüftchen schien sie zu umfächeln, als sie sich an ihren kleinen Toilettentisch setzte, der dem Bett gegenüber stand; an der Wand daneben hatte sie einen Akt von Salvador Dali aufgehängt, eine gesichtslose Frau in gedämpftem Blau mit runden Hüften und überlangen Gliedern, deren kahlem Kopf strahlenförmig irgendwelche Emanationen entsprangen.
Vielleicht ist Glatzköpfigkeit die Lösung, dachte Bonnie, während sie vergeblich versuchte, ihr kinnlanges braunes Haar so um ihr schmales Gesicht zu arrangieren, wie die Friseuse es ihr gezeigt hatte. "Ach, gib's doch auf", sagte sie zu ihrem Spiegelbild und ließ ihr widerspenstiges Haar sein, wie es war. Trotz der feinen Linien rund um ihre tiefgrünen Augen, fand sie, daß sie gar nicht so übel aussah. Ihr hübsches Gesicht besaß jene Klarheit und Offenheit, die niemals wirklich außer Mode kamen und sie noch lange nicht wie fünfunddreißig erscheinen ließen. Als >frisch< hatte Joan es einmal beschrieben.
Vielfältige Bilder von Rods geschiedener Frau verdrängten erbarmungslos die Vision von Palmen und weißen Stränden, grell und siebdruckartig, den Bildnissen ähnlich, die Andy Warhol von Elizabeth Taylor und Marilyn Monroe geschaffen hat. "Joan", sagte Bonnie vor sich hin und versuchte, das Wort in zwei Silben zu drehen, um es weicher zu machen, freundlicher. Joan. Joan. Es klappte nicht. Auch der Name blieb hartnäckig so, wie Joan im Leben war, unveränderbar, nicht zu retuschieren oder weichzuzeichnen.
Sie war eine imposante Frau, fast einen Meter achtzig groß, mit großen braunen Augen, von denen sie gern sagte, sie seien dunkel wie Zobel, flammend rotem Haar, das sie als tizianrot zu bezeichnen pflegte, und einem spektakulären Busen. Alles an ihr war Übertreibung, und dies war zweifellos einer der Gründe für ihren Erfolg als Immobilienmaklerin.
Was mochte sie diesmal wieder in petto haben? Warum das Melodram? Was war so kompliziert, daß sie es nicht am Telefon besprechen konnte? Was für eine Gefahr sollte das sein, von der sie gesprochen hatte?
Bonnie zuckte mit den Achseln. Sie würde es bald genug herausfinden, sagte sie sich.
Um zwölf Uhr achtunddreißig lenkte Bonnie ihren weißen Caprice in die Einfahrt des Hauses Lombard Street 430 - durch einen Verkehrsunfall war sie unterwegs aufgehalten worden und hatte über eine halbe Stunde bis hierher gebraucht. Sie stellte ihren Wagen direkt hinter Joans rotem Mercedes ab. Joans Geschäfte florierten offensichtlich. Trotz der Schwankungen auf dem Immobilienmarkt schien sie die letzte längere Durststrecke gut überstanden zu haben. Ja, Joan war eben eine Überlebenskünstlerin. Nur die in ihrer Nähe kamen um.
Dieses Haus dürfte nicht schwer zu verkaufen sein, dachte Bonnie, als sie, in die kühle Sonne blinzelnd, an dem großen Schild im Vorgarten vorüberging, auf dem die öffentlichen Besichtigungszeiten angekündigt waren. Es war ein einstöckiges Haus mit viel Holz, wie die meisten Häuser in diesem gediegenen Vorort von Boston, und hatte offensichtlich erst vor kurzem einen frischen weißen Anstrich erhalten. Bonnie stieg die Stufen zur vorderen Veranda hinauf. Die schwarze Haustür war nur angelehnt. Bonnie klopfte schüchtern, stieß die Tür dann ein Stück weiter auf. Augenblicklich hörte sie Stimmen aus einem der hinteren Zimmer. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Vielleicht Joan. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise mitten in einer Auseinandersetzung. Es war schwer zu sagen. Auf jeden Fall würde sie nicht lauschen. Sie würde ein paar Minuten warten, ein paarmal diskret hüsteln, die Leute wissen lassen, daß noch jemand im Haus war.
Sie sah sich um, nahm eines der Kurzexposes, die Joan in einem Stapel auf einem kleinen Hocker im Eingangsbereich bereitgelegt hatte. Dem Informationsblatt zufolge hatte das Haus eine Gesamtwohnfläche von zweihundertachtzig Quadratmetern, mit vier Schlaf- oder Gästezimmern im oberen Stockwerk und einem ausgebauten Souterrain. Im Erdgeschoß teilte eine breite Treppe das Haus in zwei symmetrische Flügel, auf der einen Seite das Wohnzimmer, auf der anderen das Eßzimmer. Küche und Arbeitszimmer befanden sich im hinteren Teil. Irgendwo dazwischen war ein Badezimmer.
Bonnie räusperte sich, zuerst gedämpft, dann noch einmal, lauter. Die Leute im hinteren Teil des Hauses redeten weiter. Sie sah auf ihre Uhr, ging dann etwas zaghaft ins Wohnzimmer, das ganze in Beige und Creme gehalten war. Sie würde bald gehen müssen. Sie würde sowieso schon zu spät zurückkommen und den ersten Teil des Nachmittagsvortrags zu der Frage, wie die
Schulen von heute sich auf die Teenager von heute einstellen sollten, verpassen. Wieder sah sie auf ihre Uhr und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf den Parkettboden. Es war wirklich absurd. Es war ihr unangenehm, Joan zu stören, während diese sich bemühte, einen Abschluß zu machen, Tatsache war jedoch, daß Joan sie ausdrücklich gebeten hatte, vor eins hier zu sein, und bis zur vollen Stunde fehlte nicht mehr viel.
"Joan!" rief sie und ging in den Eingangsbereich zurück und wandte sich in Richtung Küche.
Das Gerede ging weiter, als hätte sie keinen Ton von sich gegeben. Sie hörte abgerissene Sätze - "Nun, wenn diese Gesundheitsreform durchgeführt wird...", "Das ist eine wenig überzeugende Einschätzung der Dinge..." - und fragte sich, was da vorging. Weshalb sollte Joan anläßlich einer Hausbesichtigung eine solche Diskussion führen? "Ich muß unser Telefongespräch jetzt leider beenden, meine Dame", hörte sie plötzlich die Männerstimme. "Sie wissen offensichtlich nicht, wovon Sie reden, und ich habe jetzt Lust auf ein wenig Musik. Wie wär's mit dem immer klassischen Sound von Nirvana?"Es war das Radio. "Du lieber Himmel", murmelte Bonnie. Sie hatte ihre Zeit damit vertan, diskret zu hüsteln, damit irgendein unhöflicher Rundfunkmoderator ungestört einen gutgläubigen Anrufer beleidigen konnte. Wer ist hier eigentlich die Verrückte, fragte sie sich und versuchte nun endgültig die Geduld verlierend, die plötzliche Attacke von Nirvana zu übertönen. "Joan!" rief sie und trat in die gelb-weiße Küche.
... weniger
Autoren-Porträt von Joy Fielding
Autoren-Porträt von Joy Fielding
Schon mitacht Jahren wollte Joy Fieldingnichts anderes als Schriftstellerin werden. Ihre erste Story allerdings, diesie damals an eine Magazin schickte, wurde abgelehnt. In der Highschool- und College-Zeit verfolgte sie ihr Ziel weiter. Mit demPsychothriller Lauf, Jane, lauf" gelang ihr der internationale Durchbruch. Joy Fielding lebt mit ihrem Mannund ihren beiden Töchtern in Toronto.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joy Fielding
- 1997, 411 Seiten, Maße: 11,4 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Sandberg-Ciletti, Mechtild
- Übersetzer: Mechthild Sandberg-Ciletti
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442432626
- ISBN-13: 9783442432622
Rezension zu „Flieh, wenn du kannst “
"Ein Psychothriller, der Joy Fieldings Bestseller 'Lauf Jane, lauf' an Spannung noch übertrifft." Brigitte
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