Flora Fox und das verflixte Vorgestern
Einmal Vergangenheit und zurück!
Stell dir vor, du sitzt im Zug und bist auf dem Weg zu deiner neuen Schule, doch statt in der topangesagten Eliteschmiede landest du in einem stockbiederen Mädcheninternat! Und das Allerschlimmste: Du landest nicht nur am...
Stell dir vor, du sitzt im Zug und bist auf dem Weg zu deiner neuen Schule, doch statt in der topangesagten Eliteschmiede landest du in einem stockbiederen Mädcheninternat! Und das Allerschlimmste: Du landest nicht nur am...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Flora Fox und das verflixte Vorgestern “
Klappentext zu „Flora Fox und das verflixte Vorgestern “
Einmal Vergangenheit und zurück!Stell dir vor, du sitzt im Zug und bist auf dem Weg zu deiner neuen Schule, doch statt in der topangesagten Eliteschmiede landest du in einem stockbiederen Mädcheninternat! Und das Allerschlimmste: Du landest nicht nur am falschen Ort, sondern auch in der falschen Zeit! Kein iPod, keine coole Frisur und lauter neue Freundinnen, die "tragbare Telefone" für den Witz des Jahrhunderts halten. Des letzten Jahrhunderts ... Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen, oder?
Bestsellerautorin Kate Saunders, wie wir sie lieben: charmant, witzig und originell!
Lese-Probe zu „Flora Fox und das verflixte Vorgestern “
Flora Fox und das verflixte Vorgestern von Kate Saunders 1
Schulbands und Ponys
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»Nun sieh dir doch wenigstens das Bild an!«, bat Floras Vater. »Willst du denn gar nicht wissen, was dich erwartet? « Er schob die Hochglanzbroschüre über den Tisch. Auf der Titelseite prangte ein großes weißes Haus auf einem sehr grünen Rasen, darunter standen die Worte: Penrice Hall - Individuelle Förderung in häuslicher Umgebung. Flora schnitt eine Grimasse und schob die Broschüre zu ihm zurück. »Ist doch egal, was mich erwartet! Ich hab ja sowieso keine Wahl, oder?« Ihr Vater wollte etwas erwidern, doch ihre Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Er meint doch nur, dass es dir dort gefallen könnte«, sagte sie. »Tja, das wird es nicht«, versicherte Flora. »Nichts auf der Welt kann mich dazu bringen, dass es mir dort gefällt. « Dad stieß einen langen Seufzer aus, der schon fast ein Stöhnen war. Er wirkte besorgt und erschöpft und noch älter als sonst - er hatte am Morgen keine Zeit zum Rasieren gehabt, und die Bartstoppeln an seinem Kinn schimmerten grau. Dass er eine Million Jahre älter war als alle anderen Väter, war Flora schon immer furchtbar peinlich gewesen. Auch ihre Mutter, die nicht ganz so greisenhaft war, sah heute schrecklich alt aus. Flora war sauer auf die beiden. Warum hatten sie diese Katastrophe nicht verhindert? Warum waren sie nur solche Waschlappen? Immer wieder entschuldigten sie sich, aber wem nützte das, wenn sie dann doch nichts änderten? »Ich brauche noch einen Kaffee«, sagte Dad und stand auf. »Flora, möchtest du auch noch etwas? Ein Croissant vielleicht?« »Nein!«, erwiderte Flora bissig. »Hör auf, mich mit Essen vollzustopfen! Reicht es nicht, dass ich traurig bin? Soll ich auch noch fett werden?« »Wir brauchen nichts mehr«, versicherte Mum. »Und hetz dich nicht, Liebling. Wir haben genug Zeit.« Sie saßen in einer Cafeteria am Bahnhof. Floras brandneuer Rucksack und die Laptop-Tasche lagen neben ihr auf dem Boden. Dad reihte sich in die lange Schlange vor der Theke ein. »Genug Zeit«, wiederholte Mum und sah auf die Uhr.
»Ich glaube wirklich, dass wir alles gut schaffen - auch wenn wir uns gleich sehr beeilen müssen, unseren Flug zu erwischen, sobald wir dich verabschiedet haben.« Sie lehnte sich über den Tisch. »Flora, sei nicht so hart zu deinem Dad, er macht gerade eine schwere Zeit durch.« »Er macht eine schwere Zeit durch? Und was ist mit mir?«, presste Flora wütend hervor. »Mein ganzes Leben wird gerade zerstört!« »Nun übertreib mal nicht.« »Ich werde von all meinen Freundinnen getrennt, mein Haus wird auseinandergenommen ...« »Flora!« Zum ersten Mal klang ihre Mutter leicht verärgert. »Diese ganze Situation tut uns wirklich furchtbar leid, aber wir können nicht das Geringste daran ändern, also meinst du nicht, du könntest allmählich anfangen, sie zu akzeptieren?« »Nein!«, sagte Flora. »Warum muss ich auf ein Internat gehen?« »Das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt«, entgegnete Mum, sichtlich um Geduld bemüht. »Wir wissen noch nicht, wie lange wir in Italien bleiben müssen, oder wie lange die Handwerker im Haus sein werden, und das ist einfach die beste Lösung. Es ist doch höchstens für ein Schuljahr.« »Warum müsst ihr unbedingt nach Italien?« »Hör auf, Flora. Du weißt ganz genau, warum - weil Granny sich die Hüfte gebrochen hat und nicht mehr allein zurechtkommt. Und weil wir ihr Haus verkaufen müssen und all die Möbel, die sich dort im Laufe eines ganzen Jahrhunderts angesammelt haben. Und Gott weiß, wann das neue Apartment in unserem eigenen Haus fertig sein wird. Warum musst du es uns noch schwerer machen? Bist du wirklich so egoistisch, dass du wegen eines einzigen Jahres in einem Internat solch ein Theater veranstalten musst? In einem äußerst luxuriösen und teuren Internat, wie ich hinzufügen möchte.« Das alles war so unfair, dass Flora kaum Luft bekam. »Aber du und Dad, ihr seid doch die Egoisten! Ihr habt das alles einfach beschlossen, ohne mich zu fragen.« Ihre Mutter sah plötzlich sehr müde aus. »Also gut ... Was hättest du denn anders gemacht?« Aber das war ja noch viel unfairer! Es war die Aufgabe ihrer Eltern, stets zu wissen, was zu tun war. »Ich sehe nicht ein, warum Granny herkommen und bei uns wohnen muss.« »Sie ist die Mutter deines Vaters, und sie ist allein«, erklärte Mum. »All ihre Ehemänner sind entweder tot oder anderweitig verheiratet. Sie ist alt und gebrechlich und kann sich nicht mehr allein versorgen. Wo soll sie denn sonst hin?« »Woher soll ich das wissen?«, gab Flora schnippisch zurück. »Kann Dad sie nicht in ein Heim stecken?« »Flora!« Flora wusste, wie ungezogen sie sich anhörte, aber das Elend der letzten drei Tage lastete so schwer auf ihrer Brust wie ein Felsen. Wenn sie nicht mehr die Böse spielte, musste sie womöglich noch weinen. »Dad mag Granny nicht einmal«, sagte sie verbittert. »Sei nicht albern.« »Sie hat ihn verlassen, als er klein war. Sie ist einfach mit ihrem Geliebten davongelaufen«, sagte Flora gehässig. Mum seufzte. »Tja ... das stimmt. Ihr Geliebter war ein berühmter Maler - und sie wurde berühmt dafür, dass sie ihn inspirierte.« »Dafür, dass sie mit ihm schlief, meinst du wohl.« »Lass bloß Dad nicht hören, wie du redest.« »Warum nicht?«, murmelte Flora. »Warum darf ich auf einmal nicht mehr die Wahrheit sagen?« Mum seufzte wieder und suchte stirnrunzelnd nach den richtigen Worten. »Sieh mal. Granny ist nicht gerade der mütterliche Typ, manche Frauen sind eben so. Und Dad war glücklich und zufrieden, dass er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter aufwachsen konnte. Seine eigene Mutter lernte er erst mit über zwanzig kennen.« Flora hatte die Geschichte schon viele Male gehört. »Ich weiß, ich weiß ... als er nach Italien trampte und plötzlich bei ihr vor der Tür stand.« »Er ist sehr stolz auf sie«, erklärte Mum fest. »Und das solltest du auch sein. Du bist nach ihr benannt, und sie ist eine faszinierende Frau. Die Leiterin von Penrice Hall war schwer beeindruckt, als sie hörte, dass Flora Arditti deine Großmutter ist. Viele Kinder an der Schule haben berühmte Eltern, aber ich bezweifle, dass man deren Bilder in der Nationalgalerie bewundern kann.«
»Aktbilder«, betonte Flora. Berühmte Gemälde der eigenen nackten Großmutter - wie peinlich war das denn? »Sie hat alle möglichen Leute kennengelernt, von Winston Churchill bis Mick Jagger. Picasso hat sie porträtiert. Zu ihrer Zeit war sie eine der schönsten Frauen Europas. Sie ist quasi eine lebende Legende, und du solltest froh sein, dass du die Gelegenheit bekommst, sie näher kennenzulernen. « »Tja, bin ich aber nicht.« Flora hatte genug davon, sich anhören zu müssen, wie faszinierend und wundervoll ihre Großmutter war. »Ich habe genügend Zeit mit ihr verbracht, um zu wissen, dass ich sie nicht leiden kann. Sie ist griesgrämig und gemein und schimpft andauernd mit mir. Und so wird mein Leben von jetzt an sein, oder? Nörgel, nörgel, nörgel. Kämm dir die Haare. Setz dich grade. Hör auf, beim Essen SMS zu schreiben.« »Tja«, meinte Mum, »ich schätze, du hast es bisher eben sehr leicht gehabt.« Sie sah Flora nachdenklich an, so als würde sie sie zum ersten Mal richtig sehen. »Wir haben alles Mögliche für dich getan.« »Willst du etwa sagen, ihr habt mich verwöhnt?« »Das nicht gerade«, erwiderte Mum zweifelnd. »Aber du bist es gewohnt, deinen Willen zu bekommen, und das ist Granny auch. Für sie wird es auch nicht einfach, vergiss das nicht. Sie ist daran gewöhnt, ein großes Haus für sich allein zu haben. Eine Einliegerwohnung in einer Doppelhaushälfte in Wimbledon fühlt sich da bestimmt wie ein Abstieg an.«
»Aber ich kann das nicht«, jammerte Flora. »Italien war schon schlimm genug.« Sie erinnerte sich nur zu gut an Casa Boffi, das riesige Haus ihrer Großmutter in Italien, in dem sie letzten Sommer zwei öde Wochen verbracht hatte. Es war dunkel und staubig gewesen, mitten auf dem Land, und trotz glühender Hitze gab es weit und breit keinen Swimmingpool. Die Möbel waren eigenartig, und überall hingen Gemälde, wie in einem stickigen, ungemütlichen Kunstmuseum. Die Mahlzeiten hatten immer ewig gedauert. Granny hatte dabei endlose Geschichten über ihre vier Ehemänner und unzähligen Liebhaber erzählt. Flora lief eine Träne über die Wange. Es war schrecklich gewesen. Sie hatte ihre beste Freundin Ella mitnehmen dürfen, aber Granny hatte den beiden kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Mum hatte immer laut husten müssen, wenn ihre Geschichten zu unanständig wurden. Wenn sie die Mädchen doch einmal bemerkte, vergaß sie, wie alt sie waren, und wollte ihnen Gin Tonic anbieten. »Welche davon ist noch mal meine Enkelin?«, hatte sie Dad eines Abends gefragt. »Ist es die Pummelige oder das kleine Wiesel?« Ella war jetzt ihre Exfreundin und hatte seitdem kaum noch mit ihr gesprochen. Flora war richtig wütend über das kleine Wiesel gewesen und verstand auch, dass Ella wegen der Bezeichnung pummelig böse auf Granny war. Aber warum war Ella sauer auf sie? Sie hatte immer wieder versucht, die Sache ins Reine zu bringen, aber Ella ignorierte sie einfach. Es hatte ihr das ganze erste Trimester am Alderman Popham Gymnasium verdorben, das so lustig hätte werden können. Und nun hatte ihre Großmutter auf einer zermatschten Weintraube ausrutschen und sich die Hüfte brechen müssen! Das Haus in Italien war zu groß für sie, also hatte Dad beschlossen, die Garage der Familie in ein kleines Apartment umbauen zu lassen. Die griesgrämige alte Frau hing wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben. »Ich komme mir vor, als hätte ich mein Zuhause verloren «, klagte Flora. Mum griff über den Tisch und drückte ihre Hand. »Mein Schatz, versuch bitte, es nicht so schwerzunehmen. Selbst wenn sie wollte, könnte Granny unsere Doppelhaushälfte in Wimbledon nicht in eine Kopie von Casa Boffi verwandeln. Wir werden uns alle miteinander arrangieren müssen.« »Aber ich muss jetzt in dieses Internat. Das wird ein Albtraum. « »Also ehrlich, mein Schatz, in Penrice Hall geht es unglaublich locker zu ... Du wirst dich dort wohlfühlen ... Du bekommst ein eigenes Zimmer ... Ich glaube, ihr dürft sogar selbst kochen und Essen bestellen ... Es gibt ein 50-Meter-Schwimmbecken ... fünf Schulbands ...« »Bla, bla, bla«, warf Flora frech dazwischen. »Ponys ...« »Es hat keinen Sinn, Mum. Ich weiß, dass ich es hassen werde.«
»Tja, dann musst du es eben hassen«, sagte Mum. In ihrer Stimme schwang eine Spur Verärgerung mit, das erkannte Flora sofort. Als sie drei war, hatte sie einmal geschrien und geschrien, bis sie schließlich im Turnanzug zum Kindergarten gehen durfte - im Januar. Mit genau derselben Stimme hatte Mum damals gesagt: »Tja, dann musst du dir eben eine Lungenentzündung holen.« Damals hatte Flora gelernt, dass kein noch so heftiges Schreien einen Januarmorgen wärmer machen konnte. Ihre Eltern erfüllten ihr fast alle Wünsche, aber sie konnten weder das Wetter beeinflussen noch alte Damen davor bewahren, sich die Hüfte zu brechen. Sie würden für drei Monate nach Italien fahren, und Flora musste auf diese schreckliche Schule gehen, und damit basta. »Ach, Mist«, sagte Flora. »Furzmist.« »Hör auf, so negativ zu sein.« »So bin ich nun mal. Ich werde es abgrundtief hassen. Ich werde buchstäblich meilenweit von allen entfernt sein, die ich auf dieser Welt kenne.« Dad kam an den Tisch zurück und bekam den letzten Satz mit. »Aber du hast doch dein Handy, Flora. Du kannst uns jederzeit anrufen oder E-Mails schicken.« »Das ist nicht dasselbe«, erwiderte Flora. »Außerdem würde es nichts nützen. Selbst wenn ich es dort hasse, würdet ihr mich nicht wegholen.« »Stimmt, aber vielleicht hasst du es ja gar nicht. Penrice Hall hat einen sehr guten Ruf. Wir hatten Glück, dass ein Platz frei war.«
»Dad, bitte. Ich hab gerade schon mit Mum darüber gesprochen. Erspar mir die Schulbands und Ponys.« Die nächsten Minuten verbrachten die drei mit ungemütlichem Schweigen. Flora betrachtete sich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Sie sah definitiv nicht wie ein Wiesel aus. Wenn sie nur nicht so klein und jung wirken würde! Yasmin, die so etwas wie ihre neue beste Freundin war, sah mindestens wie vierzehn aus. Immerhin ließen die blonden Strähnchen in ihrem hellbraunen Haar sie ein bisschen reifer wirken, und ihre neuen Kleider waren echt cool. Ihre Eltern hatten ein so schlechtes Gewissen, weil sie sie wegschickten, dass Mum endlich aufgehört hatte, sie in Röckchen und Blümchenjäckchen zu stecken wie eine Sechsjährige, und sie ihre Sachen selbst aussuchen ließ. Heute waren es eine schwarze Jeans mit silbernem Gürtel, rote Chucks, ein rotes T-Shirt und eine coole Lederjacke. Dad trank seine winzige Tasse schwarzen Kaffee in einem Zug aus. Er sah heute Morgen wirklich zerknittert aus, dachte Flora verstimmt. Aber er war selbst schuld, dass er so lange mit dem Heiraten und Kinderkriegen gewartet hatte. Manchmal hielten ihn die Leute für ihren Großvater. Er war so alt, weil er schon 1950 geboren worden war. Wenn er nicht so alt wäre, dann wäre auch seine Mutter nicht so ein Dinosaurier! Eine große Taube pickte die Krümel vom Boden. Über ihnen dröhnten undeutliche Durchsagen des Bahnhofspersonals.
»Das sind wir«, sagte Dad. »Bahnsteig sieben.« Er sprang auf und nahm Floras Koffer, fast so, als wäre er froh, sie loszuwerden. Zwei große Kisten waren bereits mit einem Transportunternehmen vorausgeschickt worden - Kisten voll neuer Kleidung, Schminksachen und Bücher. Flora hatte nur den schicken neuen Rucksack mit ihrem iPod dabei und die schmale Tasche mit ihrem Laptop. Sie musste zugeben, dass die Sache mit dem Internat auch ihr Gutes hatte. Yasmin hatte Flora sogar gestanden, eifersüchtig zu sein - »Ich würde glatt in ein Erziehungslager gehen, wenn ich dafür einen neuen Laptop bekäme.« Doch Yasmin verstand nicht, wie es war, von seinen Eltern enttäuscht zu werden. Floras selbstsüchtige Eltern hielten sich für Engel, weil sie Granny nicht in ein Pflegeheim geben wollten - auch wenn die alte Dame bekanntermaßen zäh war und es vielleicht sogar gemocht hätte. Gleichzeitig sahen sie nichts Falsches darin, ihre sensible Tochter in die Verbannung zu schicken. Flora wollte auf keinen Fall, dass sie sich einbildeten, sie habe ihnen verziehen. »Ihr braucht nicht mit mir in den Zug zu steigen«, verkündete sie herablassend. Doch wie gewöhnlich beachteten ihre Eltern nicht, was sie sagte, und kamen wie zwei alte Glucken mit in das Abteil. Dad legte ihren Laptop auf den kleinen Tisch. »Also, mein Schatz, der Schaffner weiß, dass du eine alleinreisende Minderjährige bist, und er wird ...«
»Dad, hör auf, mir das zu sagen. Das ist bestimmt das millionste Mal heute Morgen!« Mum reichte ihr ein dick belegtes Thunfischbaguette. »Er wird sich darum kümmern, dass du am richtigen Bahnhof aussteigst ...« »Ich bin kein Baby mehr«, entgegnete Flora böse. »Ich weiß, wo ich aussteigen muss.« »... und dann wird Fiona dich abholen. Sie ist eine der Lehrerinnen von Penrice Hall.« »Wenn es Probleme gibt, rufst du uns einfach an«, fügte Dad hinzu. »Ruf an, wann immer du willst.« »Ach, mein Schätzchen ...« Mum nahm sie fest in die Arme. »Ich werde dich ja so vermissen!« »Tschüs, Hoppelhäschen«, sagte Dad und drückte sie auch ganz fest. Dann schrillte die Pfeife, und sie mussten gehen. Flora gefiel dieser Moment ganz und gar nicht. Als sie ihre Eltern auf der anderen Seite des Fensters stehen sah, fühlte sie sich plötzlich furchtbar klein und verlassen. Die beiden winkten, als der Zug sich in Bewegung setzte, und versuchten ein tapferes Lächeln, auch wenn ihnen offensichtlich zum Heulen zumute war. Auf einmal dachte Flora nur noch daran, wie sehr sie ihre dummen alten Eltern liebte, und warf ihnen Kusshändchen zu, solange sie sie durch das Fenster sehen konnte. Gleichzeitig bekam sie einen dicken Kloß im Hals. Aber es waren noch andere Fahrgäste im Abteil, und Flora wollte nicht, dass sie sie für gefühlsduselig hielten - das Hoppelhäschen ihres Vaters war schon peinlich genug gewesen. Sie schniefte ein paarmal und starrte aus dem Fenster, bis die Gefahr eines Weinkrampfs vorüber war. Eine Frau kam mit einem Servierwagen, und Flora kaufte sich eine Flasche Apfelsaft. Allein zu reisen hatte irgendwie etwas Elegantes und Erwachsenes, fand sie. Der Zug fuhr so schnell, dass die nahe stehenden Häuser und Gärten als stumme, verschwommene Farbkleckse vorbeizogen. Nun, da ihre Eltern sie nicht länger beobachteten, konnte Flora sich die Broschüre von Penrice Hall genauer ansehen. Das große weiße Haus sah gar nicht so schlecht aus, musste sie zugeben. Im Innern der Broschüre war das Foto eines bärtigen Mannes abgebildet. Hallo, ich bin Jeff, der Internatsleiter, stand darunter. Wir in Penrice glauben, dass Ausbildung und Erziehung maßgeschneidert sein sollten. Junge Menschen wissen instinktiv, was sie lernen müssen, daher werden unsere Schülerinnen und Schüler ermutigt, ihre Stundenpläne selbst zusammenzustellen. Lehrerinnen und Lehrer sind gute Freunde, keine strengen Autoritätspersonen. Es gab Fotos vom Schwimmbad, einer Töpferstube und einem Aufnahmestudio, allesamt von grinsenden Kindern in coolen Klamotten bevölkert. Wenn es dort wirklich so aussah, war es vielleicht doch ganz okay. Sie hatte eine SMS an Yasmin schicken wollen - etwas wie vegimini -, aber Yasmin war keine so gute Freundin, wie Ella es gewesen war. Auf einmal war Flora schrecklich müde. Sie hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, als eine große Welle Schlaf sie auch schon mit sich riss.
Ganz dicht an ihrem Ohr sprach eine Stimme - so nah, dass Flora sie in ihrem Kopf hörte. Es war die Stimme eines Mädchens, ernst und deutlich.
»Wir rufen dich! Komm her zu uns! Wir rufen dich! Aus der Zukunft weiter Ferne! Nimm Barthaar vom Hasen Und Borsten vom Schwein, Zwei Stängel der Distel, Aus dem Flussbett ein Stein, Dazu ein Haar aus der Lunte des Fuchs!«
Flora wusste, das war keine echte Stimme. Sie war mitten in einem Traum. Es war stockfinster. Flora versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei. Dann jedoch konnte sie alles sehen, obwohl sie noch immer die Augen geschlossen hatte. Sie befand sich in einem dunklen Raum, der von zwei flackernden Kerzen erhellt wurde. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war, außer dass sie irgendwie dem mysteriösen Ruf gefolgt war. Sie sah drei weiß gekleidete Gestalten - wie Gespenster in einem Comic. Wollten sie ihr Angst einjagen? Flora versuchte sich stärker auf den Traum zu konzentrieren, damit sie die Gestalten besser sehen könnte. Falls das Arme waren, schienen sie damit zu winken. Dann ertönte ein seltsames Geräusch - wie laute Schreie aus der Ferne.
Flora hatte keine Angst. Sie war ganz ruhig. Sie sah ein großes Fenster mit langen, blau gemusterten Vorhängen an beiden Seiten. Einer der Geister kam auf sie zu, und Flora spürte, wie sie weggezogen wurde - nicht so, dass es weh tat, aber fest und bestimmt. Dann war das dunkle Zimmer mit den weißen Gestalten plötzlich verschwunden, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. Sie hatte das Gefühl zu fliegen oder war es ein Fallen? Es war, als würde sie in einen riesigen Staubsauger gesogen. Flora sah nichts außer Dunkelheit, und in ihrem Kopf blubberte ein Wirrwarr aus Geräuschen - Stimmen, Maschinen, Explosionen, jubelnde Massen. Sie flog schneller als der Wind. Es dauerte nicht lange. Als Flora mit einem Ruck aus dem Traum gerissen und wieder in ihren schlafenden Körper im Zugabteil katapultiert wurde, stöhnte sie laut auf. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ihre Arme und Beine schienen in mehrere Lagen dicken, weichen Stoffs gewickelt zu sein. Und ihre Füße steckten in harten, schweren Schuhen. »Flora«, sagte eine Frauenstimme. »Wach auf, Liebes. Wir sind fast da.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Nun sieh dir doch wenigstens das Bild an!«, bat Floras Vater. »Willst du denn gar nicht wissen, was dich erwartet? « Er schob die Hochglanzbroschüre über den Tisch. Auf der Titelseite prangte ein großes weißes Haus auf einem sehr grünen Rasen, darunter standen die Worte: Penrice Hall - Individuelle Förderung in häuslicher Umgebung. Flora schnitt eine Grimasse und schob die Broschüre zu ihm zurück. »Ist doch egal, was mich erwartet! Ich hab ja sowieso keine Wahl, oder?« Ihr Vater wollte etwas erwidern, doch ihre Mutter legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Er meint doch nur, dass es dir dort gefallen könnte«, sagte sie. »Tja, das wird es nicht«, versicherte Flora. »Nichts auf der Welt kann mich dazu bringen, dass es mir dort gefällt. « Dad stieß einen langen Seufzer aus, der schon fast ein Stöhnen war. Er wirkte besorgt und erschöpft und noch älter als sonst - er hatte am Morgen keine Zeit zum Rasieren gehabt, und die Bartstoppeln an seinem Kinn schimmerten grau. Dass er eine Million Jahre älter war als alle anderen Väter, war Flora schon immer furchtbar peinlich gewesen. Auch ihre Mutter, die nicht ganz so greisenhaft war, sah heute schrecklich alt aus. Flora war sauer auf die beiden. Warum hatten sie diese Katastrophe nicht verhindert? Warum waren sie nur solche Waschlappen? Immer wieder entschuldigten sie sich, aber wem nützte das, wenn sie dann doch nichts änderten? »Ich brauche noch einen Kaffee«, sagte Dad und stand auf. »Flora, möchtest du auch noch etwas? Ein Croissant vielleicht?« »Nein!«, erwiderte Flora bissig. »Hör auf, mich mit Essen vollzustopfen! Reicht es nicht, dass ich traurig bin? Soll ich auch noch fett werden?« »Wir brauchen nichts mehr«, versicherte Mum. »Und hetz dich nicht, Liebling. Wir haben genug Zeit.« Sie saßen in einer Cafeteria am Bahnhof. Floras brandneuer Rucksack und die Laptop-Tasche lagen neben ihr auf dem Boden. Dad reihte sich in die lange Schlange vor der Theke ein. »Genug Zeit«, wiederholte Mum und sah auf die Uhr.
»Ich glaube wirklich, dass wir alles gut schaffen - auch wenn wir uns gleich sehr beeilen müssen, unseren Flug zu erwischen, sobald wir dich verabschiedet haben.« Sie lehnte sich über den Tisch. »Flora, sei nicht so hart zu deinem Dad, er macht gerade eine schwere Zeit durch.« »Er macht eine schwere Zeit durch? Und was ist mit mir?«, presste Flora wütend hervor. »Mein ganzes Leben wird gerade zerstört!« »Nun übertreib mal nicht.« »Ich werde von all meinen Freundinnen getrennt, mein Haus wird auseinandergenommen ...« »Flora!« Zum ersten Mal klang ihre Mutter leicht verärgert. »Diese ganze Situation tut uns wirklich furchtbar leid, aber wir können nicht das Geringste daran ändern, also meinst du nicht, du könntest allmählich anfangen, sie zu akzeptieren?« »Nein!«, sagte Flora. »Warum muss ich auf ein Internat gehen?« »Das habe ich dir doch schon tausendmal erklärt«, entgegnete Mum, sichtlich um Geduld bemüht. »Wir wissen noch nicht, wie lange wir in Italien bleiben müssen, oder wie lange die Handwerker im Haus sein werden, und das ist einfach die beste Lösung. Es ist doch höchstens für ein Schuljahr.« »Warum müsst ihr unbedingt nach Italien?« »Hör auf, Flora. Du weißt ganz genau, warum - weil Granny sich die Hüfte gebrochen hat und nicht mehr allein zurechtkommt. Und weil wir ihr Haus verkaufen müssen und all die Möbel, die sich dort im Laufe eines ganzen Jahrhunderts angesammelt haben. Und Gott weiß, wann das neue Apartment in unserem eigenen Haus fertig sein wird. Warum musst du es uns noch schwerer machen? Bist du wirklich so egoistisch, dass du wegen eines einzigen Jahres in einem Internat solch ein Theater veranstalten musst? In einem äußerst luxuriösen und teuren Internat, wie ich hinzufügen möchte.« Das alles war so unfair, dass Flora kaum Luft bekam. »Aber du und Dad, ihr seid doch die Egoisten! Ihr habt das alles einfach beschlossen, ohne mich zu fragen.« Ihre Mutter sah plötzlich sehr müde aus. »Also gut ... Was hättest du denn anders gemacht?« Aber das war ja noch viel unfairer! Es war die Aufgabe ihrer Eltern, stets zu wissen, was zu tun war. »Ich sehe nicht ein, warum Granny herkommen und bei uns wohnen muss.« »Sie ist die Mutter deines Vaters, und sie ist allein«, erklärte Mum. »All ihre Ehemänner sind entweder tot oder anderweitig verheiratet. Sie ist alt und gebrechlich und kann sich nicht mehr allein versorgen. Wo soll sie denn sonst hin?« »Woher soll ich das wissen?«, gab Flora schnippisch zurück. »Kann Dad sie nicht in ein Heim stecken?« »Flora!« Flora wusste, wie ungezogen sie sich anhörte, aber das Elend der letzten drei Tage lastete so schwer auf ihrer Brust wie ein Felsen. Wenn sie nicht mehr die Böse spielte, musste sie womöglich noch weinen. »Dad mag Granny nicht einmal«, sagte sie verbittert. »Sei nicht albern.« »Sie hat ihn verlassen, als er klein war. Sie ist einfach mit ihrem Geliebten davongelaufen«, sagte Flora gehässig. Mum seufzte. »Tja ... das stimmt. Ihr Geliebter war ein berühmter Maler - und sie wurde berühmt dafür, dass sie ihn inspirierte.« »Dafür, dass sie mit ihm schlief, meinst du wohl.« »Lass bloß Dad nicht hören, wie du redest.« »Warum nicht?«, murmelte Flora. »Warum darf ich auf einmal nicht mehr die Wahrheit sagen?« Mum seufzte wieder und suchte stirnrunzelnd nach den richtigen Worten. »Sieh mal. Granny ist nicht gerade der mütterliche Typ, manche Frauen sind eben so. Und Dad war glücklich und zufrieden, dass er bei seinem Vater und seiner Stiefmutter aufwachsen konnte. Seine eigene Mutter lernte er erst mit über zwanzig kennen.« Flora hatte die Geschichte schon viele Male gehört. »Ich weiß, ich weiß ... als er nach Italien trampte und plötzlich bei ihr vor der Tür stand.« »Er ist sehr stolz auf sie«, erklärte Mum fest. »Und das solltest du auch sein. Du bist nach ihr benannt, und sie ist eine faszinierende Frau. Die Leiterin von Penrice Hall war schwer beeindruckt, als sie hörte, dass Flora Arditti deine Großmutter ist. Viele Kinder an der Schule haben berühmte Eltern, aber ich bezweifle, dass man deren Bilder in der Nationalgalerie bewundern kann.«
»Aktbilder«, betonte Flora. Berühmte Gemälde der eigenen nackten Großmutter - wie peinlich war das denn? »Sie hat alle möglichen Leute kennengelernt, von Winston Churchill bis Mick Jagger. Picasso hat sie porträtiert. Zu ihrer Zeit war sie eine der schönsten Frauen Europas. Sie ist quasi eine lebende Legende, und du solltest froh sein, dass du die Gelegenheit bekommst, sie näher kennenzulernen. « »Tja, bin ich aber nicht.« Flora hatte genug davon, sich anhören zu müssen, wie faszinierend und wundervoll ihre Großmutter war. »Ich habe genügend Zeit mit ihr verbracht, um zu wissen, dass ich sie nicht leiden kann. Sie ist griesgrämig und gemein und schimpft andauernd mit mir. Und so wird mein Leben von jetzt an sein, oder? Nörgel, nörgel, nörgel. Kämm dir die Haare. Setz dich grade. Hör auf, beim Essen SMS zu schreiben.« »Tja«, meinte Mum, »ich schätze, du hast es bisher eben sehr leicht gehabt.« Sie sah Flora nachdenklich an, so als würde sie sie zum ersten Mal richtig sehen. »Wir haben alles Mögliche für dich getan.« »Willst du etwa sagen, ihr habt mich verwöhnt?« »Das nicht gerade«, erwiderte Mum zweifelnd. »Aber du bist es gewohnt, deinen Willen zu bekommen, und das ist Granny auch. Für sie wird es auch nicht einfach, vergiss das nicht. Sie ist daran gewöhnt, ein großes Haus für sich allein zu haben. Eine Einliegerwohnung in einer Doppelhaushälfte in Wimbledon fühlt sich da bestimmt wie ein Abstieg an.«
»Aber ich kann das nicht«, jammerte Flora. »Italien war schon schlimm genug.« Sie erinnerte sich nur zu gut an Casa Boffi, das riesige Haus ihrer Großmutter in Italien, in dem sie letzten Sommer zwei öde Wochen verbracht hatte. Es war dunkel und staubig gewesen, mitten auf dem Land, und trotz glühender Hitze gab es weit und breit keinen Swimmingpool. Die Möbel waren eigenartig, und überall hingen Gemälde, wie in einem stickigen, ungemütlichen Kunstmuseum. Die Mahlzeiten hatten immer ewig gedauert. Granny hatte dabei endlose Geschichten über ihre vier Ehemänner und unzähligen Liebhaber erzählt. Flora lief eine Träne über die Wange. Es war schrecklich gewesen. Sie hatte ihre beste Freundin Ella mitnehmen dürfen, aber Granny hatte den beiden kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Mum hatte immer laut husten müssen, wenn ihre Geschichten zu unanständig wurden. Wenn sie die Mädchen doch einmal bemerkte, vergaß sie, wie alt sie waren, und wollte ihnen Gin Tonic anbieten. »Welche davon ist noch mal meine Enkelin?«, hatte sie Dad eines Abends gefragt. »Ist es die Pummelige oder das kleine Wiesel?« Ella war jetzt ihre Exfreundin und hatte seitdem kaum noch mit ihr gesprochen. Flora war richtig wütend über das kleine Wiesel gewesen und verstand auch, dass Ella wegen der Bezeichnung pummelig böse auf Granny war. Aber warum war Ella sauer auf sie? Sie hatte immer wieder versucht, die Sache ins Reine zu bringen, aber Ella ignorierte sie einfach. Es hatte ihr das ganze erste Trimester am Alderman Popham Gymnasium verdorben, das so lustig hätte werden können. Und nun hatte ihre Großmutter auf einer zermatschten Weintraube ausrutschen und sich die Hüfte brechen müssen! Das Haus in Italien war zu groß für sie, also hatte Dad beschlossen, die Garage der Familie in ein kleines Apartment umbauen zu lassen. Die griesgrämige alte Frau hing wie ein dunkler Schatten über ihrem Leben. »Ich komme mir vor, als hätte ich mein Zuhause verloren «, klagte Flora. Mum griff über den Tisch und drückte ihre Hand. »Mein Schatz, versuch bitte, es nicht so schwerzunehmen. Selbst wenn sie wollte, könnte Granny unsere Doppelhaushälfte in Wimbledon nicht in eine Kopie von Casa Boffi verwandeln. Wir werden uns alle miteinander arrangieren müssen.« »Aber ich muss jetzt in dieses Internat. Das wird ein Albtraum. « »Also ehrlich, mein Schatz, in Penrice Hall geht es unglaublich locker zu ... Du wirst dich dort wohlfühlen ... Du bekommst ein eigenes Zimmer ... Ich glaube, ihr dürft sogar selbst kochen und Essen bestellen ... Es gibt ein 50-Meter-Schwimmbecken ... fünf Schulbands ...« »Bla, bla, bla«, warf Flora frech dazwischen. »Ponys ...« »Es hat keinen Sinn, Mum. Ich weiß, dass ich es hassen werde.«
»Tja, dann musst du es eben hassen«, sagte Mum. In ihrer Stimme schwang eine Spur Verärgerung mit, das erkannte Flora sofort. Als sie drei war, hatte sie einmal geschrien und geschrien, bis sie schließlich im Turnanzug zum Kindergarten gehen durfte - im Januar. Mit genau derselben Stimme hatte Mum damals gesagt: »Tja, dann musst du dir eben eine Lungenentzündung holen.« Damals hatte Flora gelernt, dass kein noch so heftiges Schreien einen Januarmorgen wärmer machen konnte. Ihre Eltern erfüllten ihr fast alle Wünsche, aber sie konnten weder das Wetter beeinflussen noch alte Damen davor bewahren, sich die Hüfte zu brechen. Sie würden für drei Monate nach Italien fahren, und Flora musste auf diese schreckliche Schule gehen, und damit basta. »Ach, Mist«, sagte Flora. »Furzmist.« »Hör auf, so negativ zu sein.« »So bin ich nun mal. Ich werde es abgrundtief hassen. Ich werde buchstäblich meilenweit von allen entfernt sein, die ich auf dieser Welt kenne.« Dad kam an den Tisch zurück und bekam den letzten Satz mit. »Aber du hast doch dein Handy, Flora. Du kannst uns jederzeit anrufen oder E-Mails schicken.« »Das ist nicht dasselbe«, erwiderte Flora. »Außerdem würde es nichts nützen. Selbst wenn ich es dort hasse, würdet ihr mich nicht wegholen.« »Stimmt, aber vielleicht hasst du es ja gar nicht. Penrice Hall hat einen sehr guten Ruf. Wir hatten Glück, dass ein Platz frei war.«
»Dad, bitte. Ich hab gerade schon mit Mum darüber gesprochen. Erspar mir die Schulbands und Ponys.« Die nächsten Minuten verbrachten die drei mit ungemütlichem Schweigen. Flora betrachtete sich im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Sie sah definitiv nicht wie ein Wiesel aus. Wenn sie nur nicht so klein und jung wirken würde! Yasmin, die so etwas wie ihre neue beste Freundin war, sah mindestens wie vierzehn aus. Immerhin ließen die blonden Strähnchen in ihrem hellbraunen Haar sie ein bisschen reifer wirken, und ihre neuen Kleider waren echt cool. Ihre Eltern hatten ein so schlechtes Gewissen, weil sie sie wegschickten, dass Mum endlich aufgehört hatte, sie in Röckchen und Blümchenjäckchen zu stecken wie eine Sechsjährige, und sie ihre Sachen selbst aussuchen ließ. Heute waren es eine schwarze Jeans mit silbernem Gürtel, rote Chucks, ein rotes T-Shirt und eine coole Lederjacke. Dad trank seine winzige Tasse schwarzen Kaffee in einem Zug aus. Er sah heute Morgen wirklich zerknittert aus, dachte Flora verstimmt. Aber er war selbst schuld, dass er so lange mit dem Heiraten und Kinderkriegen gewartet hatte. Manchmal hielten ihn die Leute für ihren Großvater. Er war so alt, weil er schon 1950 geboren worden war. Wenn er nicht so alt wäre, dann wäre auch seine Mutter nicht so ein Dinosaurier! Eine große Taube pickte die Krümel vom Boden. Über ihnen dröhnten undeutliche Durchsagen des Bahnhofspersonals.
»Das sind wir«, sagte Dad. »Bahnsteig sieben.« Er sprang auf und nahm Floras Koffer, fast so, als wäre er froh, sie loszuwerden. Zwei große Kisten waren bereits mit einem Transportunternehmen vorausgeschickt worden - Kisten voll neuer Kleidung, Schminksachen und Bücher. Flora hatte nur den schicken neuen Rucksack mit ihrem iPod dabei und die schmale Tasche mit ihrem Laptop. Sie musste zugeben, dass die Sache mit dem Internat auch ihr Gutes hatte. Yasmin hatte Flora sogar gestanden, eifersüchtig zu sein - »Ich würde glatt in ein Erziehungslager gehen, wenn ich dafür einen neuen Laptop bekäme.« Doch Yasmin verstand nicht, wie es war, von seinen Eltern enttäuscht zu werden. Floras selbstsüchtige Eltern hielten sich für Engel, weil sie Granny nicht in ein Pflegeheim geben wollten - auch wenn die alte Dame bekanntermaßen zäh war und es vielleicht sogar gemocht hätte. Gleichzeitig sahen sie nichts Falsches darin, ihre sensible Tochter in die Verbannung zu schicken. Flora wollte auf keinen Fall, dass sie sich einbildeten, sie habe ihnen verziehen. »Ihr braucht nicht mit mir in den Zug zu steigen«, verkündete sie herablassend. Doch wie gewöhnlich beachteten ihre Eltern nicht, was sie sagte, und kamen wie zwei alte Glucken mit in das Abteil. Dad legte ihren Laptop auf den kleinen Tisch. »Also, mein Schatz, der Schaffner weiß, dass du eine alleinreisende Minderjährige bist, und er wird ...«
»Dad, hör auf, mir das zu sagen. Das ist bestimmt das millionste Mal heute Morgen!« Mum reichte ihr ein dick belegtes Thunfischbaguette. »Er wird sich darum kümmern, dass du am richtigen Bahnhof aussteigst ...« »Ich bin kein Baby mehr«, entgegnete Flora böse. »Ich weiß, wo ich aussteigen muss.« »... und dann wird Fiona dich abholen. Sie ist eine der Lehrerinnen von Penrice Hall.« »Wenn es Probleme gibt, rufst du uns einfach an«, fügte Dad hinzu. »Ruf an, wann immer du willst.« »Ach, mein Schätzchen ...« Mum nahm sie fest in die Arme. »Ich werde dich ja so vermissen!« »Tschüs, Hoppelhäschen«, sagte Dad und drückte sie auch ganz fest. Dann schrillte die Pfeife, und sie mussten gehen. Flora gefiel dieser Moment ganz und gar nicht. Als sie ihre Eltern auf der anderen Seite des Fensters stehen sah, fühlte sie sich plötzlich furchtbar klein und verlassen. Die beiden winkten, als der Zug sich in Bewegung setzte, und versuchten ein tapferes Lächeln, auch wenn ihnen offensichtlich zum Heulen zumute war. Auf einmal dachte Flora nur noch daran, wie sehr sie ihre dummen alten Eltern liebte, und warf ihnen Kusshändchen zu, solange sie sie durch das Fenster sehen konnte. Gleichzeitig bekam sie einen dicken Kloß im Hals. Aber es waren noch andere Fahrgäste im Abteil, und Flora wollte nicht, dass sie sie für gefühlsduselig hielten - das Hoppelhäschen ihres Vaters war schon peinlich genug gewesen. Sie schniefte ein paarmal und starrte aus dem Fenster, bis die Gefahr eines Weinkrampfs vorüber war. Eine Frau kam mit einem Servierwagen, und Flora kaufte sich eine Flasche Apfelsaft. Allein zu reisen hatte irgendwie etwas Elegantes und Erwachsenes, fand sie. Der Zug fuhr so schnell, dass die nahe stehenden Häuser und Gärten als stumme, verschwommene Farbkleckse vorbeizogen. Nun, da ihre Eltern sie nicht länger beobachteten, konnte Flora sich die Broschüre von Penrice Hall genauer ansehen. Das große weiße Haus sah gar nicht so schlecht aus, musste sie zugeben. Im Innern der Broschüre war das Foto eines bärtigen Mannes abgebildet. Hallo, ich bin Jeff, der Internatsleiter, stand darunter. Wir in Penrice glauben, dass Ausbildung und Erziehung maßgeschneidert sein sollten. Junge Menschen wissen instinktiv, was sie lernen müssen, daher werden unsere Schülerinnen und Schüler ermutigt, ihre Stundenpläne selbst zusammenzustellen. Lehrerinnen und Lehrer sind gute Freunde, keine strengen Autoritätspersonen. Es gab Fotos vom Schwimmbad, einer Töpferstube und einem Aufnahmestudio, allesamt von grinsenden Kindern in coolen Klamotten bevölkert. Wenn es dort wirklich so aussah, war es vielleicht doch ganz okay. Sie hatte eine SMS an Yasmin schicken wollen - etwas wie vegimini -, aber Yasmin war keine so gute Freundin, wie Ella es gewesen war. Auf einmal war Flora schrecklich müde. Sie hatte kaum Zeit, sich darüber zu wundern, als eine große Welle Schlaf sie auch schon mit sich riss.
Ganz dicht an ihrem Ohr sprach eine Stimme - so nah, dass Flora sie in ihrem Kopf hörte. Es war die Stimme eines Mädchens, ernst und deutlich.
»Wir rufen dich! Komm her zu uns! Wir rufen dich! Aus der Zukunft weiter Ferne! Nimm Barthaar vom Hasen Und Borsten vom Schwein, Zwei Stängel der Distel, Aus dem Flussbett ein Stein, Dazu ein Haar aus der Lunte des Fuchs!«
Flora wusste, das war keine echte Stimme. Sie war mitten in einem Traum. Es war stockfinster. Flora versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei. Dann jedoch konnte sie alles sehen, obwohl sie noch immer die Augen geschlossen hatte. Sie befand sich in einem dunklen Raum, der von zwei flackernden Kerzen erhellt wurde. Sie wusste nicht, wie sie dorthin gekommen war, außer dass sie irgendwie dem mysteriösen Ruf gefolgt war. Sie sah drei weiß gekleidete Gestalten - wie Gespenster in einem Comic. Wollten sie ihr Angst einjagen? Flora versuchte sich stärker auf den Traum zu konzentrieren, damit sie die Gestalten besser sehen könnte. Falls das Arme waren, schienen sie damit zu winken. Dann ertönte ein seltsames Geräusch - wie laute Schreie aus der Ferne.
Flora hatte keine Angst. Sie war ganz ruhig. Sie sah ein großes Fenster mit langen, blau gemusterten Vorhängen an beiden Seiten. Einer der Geister kam auf sie zu, und Flora spürte, wie sie weggezogen wurde - nicht so, dass es weh tat, aber fest und bestimmt. Dann war das dunkle Zimmer mit den weißen Gestalten plötzlich verschwunden, als hätte jemand eine Kerze ausgepustet. Sie hatte das Gefühl zu fliegen oder war es ein Fallen? Es war, als würde sie in einen riesigen Staubsauger gesogen. Flora sah nichts außer Dunkelheit, und in ihrem Kopf blubberte ein Wirrwarr aus Geräuschen - Stimmen, Maschinen, Explosionen, jubelnde Massen. Sie flog schneller als der Wind. Es dauerte nicht lange. Als Flora mit einem Ruck aus dem Traum gerissen und wieder in ihren schlafenden Körper im Zugabteil katapultiert wurde, stöhnte sie laut auf. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ihre Arme und Beine schienen in mehrere Lagen dicken, weichen Stoffs gewickelt zu sein. Und ihre Füße steckten in harten, schweren Schuhen. »Flora«, sagte eine Frauenstimme. »Wach auf, Liebes. Wir sind fast da.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Kate Saunders
Saunders, KateKate Saunders ist erfolgreiche Autorin zahlreicher Roman und Kinderbücher, für die sie - auch in Deutschland - ausgezeichnet wurde. Als Journalistin und Rezensentin schreibt sie u.a. für die »Sunday Times« und »Cosmopolitan«, ist als Jurorin tätig und arbeitet für das Radio. Sie ist begeisterte Londonerin.Literaturpreise:'Die genial gefährliche Unsterblichkeitsschokolade': Ulmer Unke 2015
Dulleck, Nina
Nina Dulleck, geboren 1975, zeichnet seit sie einen Stift halten kann. Mittlerweile hat sie viele Kinderbücher für verschiedene Verlage im In- und Ausland illustriert. Sie ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Rheinhessen inmitten von Kirschbaumplantagen und Weinbergen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kate Saunders
- Altersempfehlung: 10 - 12 Jahre
- 2013, 304 Seiten, Maße: 12,3 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hahn, Annette; Illustration: Dulleck, Nina
- Übersetzer: Annette Hahn
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596810485
- ISBN-13: 9783596810482
- Erscheinungsdatum: 26.09.2013
Rezension zu „Flora Fox und das verflixte Vorgestern “
erzählt [...] unterhaltsam, aber auch mit politischen Zeitbezügen, aus dem Internatsleben von vor 77 Jahren, gesehen aus dem irritierten Blick der Flora des 21. Jahrhunderts. Roswitha Budeus-Budde Süddeutsche Zeitung 20120706
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