Flussfahrt in die Nacht
Jules, Chris und Carl beschließen, ein Floß zu bauen und den Fluss hinter ihren Häusern hinabzufahren - genau das Richtige, um der trägen Sommerhitze zu entgehen. So beginnt ein abenteuerlicher und rasanterTag für den plauderhaften Jules, den fast perfekten...
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Produktinformationen zu „Flussfahrt in die Nacht “
Klappentext zu „Flussfahrt in die Nacht “
Jules, Chris und Carl beschließen, ein Floß zu bauen und den Fluss hinter ihren Häusern hinabzufahren - genau das Richtige, um der trägen Sommerhitze zu entgehen. So beginnt ein abenteuerlicher und rasanterTag für den plauderhaften Jules, den fast perfekten Chris und den rast- und ruhelosen Zombie-Jäger Carl. Auf ihrer Reise werden sie mit Gewalt und Tod, Feuer und vom Himmel fallenden Fahrrädern und nicht zuletzt mit großen Gefühlen konfrontiert. Und dann ist da noch der mysteriöse Bonesaw ... Der Geist HuckleberryFinns schwebt über allem, was sie an diesem einen Tag erleben - dem letzten Tag ihrer Kindheit. Richard Scrimger beweist sein großartiges Gespür für die Träume und Ängste der Jugendlichen.
Lese-Probe zu „Flussfahrt in die Nacht “
Flussfahrt in die Nacht von Richard ScrimgerKapitel 1
Endlich!
... mehr
Wir saßen in Dun Killin und überlegten, was wir machen sollten. Es hatte gerade mal die erste Woche der Sommerferien begonnen, aber schon langweilten wir uns. Chris wollte uns etwas aus seinem aktuellen Lieblingsbuch zeigen, dem Survival-Handbuch.
»Abseilen«, sagte er und zeigte mir ein Bild von ein paar Leuten, die sich von einem Felsvorsprung fallen ließen.
»Zeig mal her!« Ich durchblätterte das Buch wie ein Daumenkino. Auf jeder Seite schien es um etwas Gefährliches zu gehen: Verzehr giftiger Pilze, gebrochene Beine, stark blutende Wunden ... Bäh! Ich gab ihm das Ding zurück.
»Wir könnten auch zu mir gehen und Marshmallow-Sandwiches machen. Ich hab heute Morgen das Rezept auf der Müslipackung gesehen, ist echt einfach. Keine Ahnung, ob wir Marshmallows zu Hause haben, notfalls gehen wir zum Supermarkt und holen welche.«
Chris runzelte die Stirn. »Marshmallows.«
»Ach, geh dich doch abseilen«, sagte ich.
Er schubste mich, ich schubste ihn zurück und wir wollten uns gerade eine ordentliche Schlacht liefern, da schlug Carl vor, Italien zu erobern.
»Das ist dieser Stiefel, ihr wisst schon«, sagte er. »Den könnten wir im Handumdrehen besetzen. Wir landen unten am Zeh und dringen dann vor wie ... Zebras!«
Stiefel ... Zeh ... Zebras. Typisch Carl. Chris zwinkerte mir zu. »Italien ... aha«, sagte er.
Meistens sind wir einer Meinung, wenn es um Carls Einfälle geht. Trotzdem, Chris muss immer alles so wörtlich und genau nehmen, dass ich manchmal nicht anders kann, als ein bisschen zu sticheln. »Jetzt komm schon, bei Eroberungen kann eine ungewöhnliche Taktik nie schaden. Außerdem gibt es in Italien das beste Eis. Denk an das Gelato, das deine Mutter vor Kurzem aus der Stadt mitgebracht hat. Wir wären zwar weit weg von zu Hause, dafür würden wir aber in der freien Natur leben. Vielleicht könnten wir sogar wilde Zebras zureiten.«
»Was?«
»Na ja, wir landen am Zeh und reiten auf Zebras. Stimmt's, Carl?« Carl schnappte sich einen der Zombie-Knüppel, die wir in der Höhle aufbewahrten.
»Ach, egal. Von mir aus auch Pickering!«, rief er. »Ja, wir erobern Pickering, das wäre auch cool!«
Er rannte raus und fing an, die Bäume mit dem Knüppel zu bearbeiten.
»Okay«, sagte ich zu Chris. »Das ist jedenfalls näher. Wir können auch klein anfangen. Zuerst unterwirfst du die benachbarten Regionen und dann ziehst du von dort aus weiter. Auf diese Weise ist jedes große Reich entstanden.« (Für die, die es vielleicht nicht wissen: Pickering ist der Vorort neben Scarborough.)
»Idiot«, murmelte Chris.
Die drückende Hitze des Nachmittags war einer eigenartigen Kühle gewichen, und die Wolken am Himmel türmten sich zu bedrohlichen Gebilden auf. Wir folgten Carl zu dem nahe gelegenen Überlaufbecken, der einzigen offenen Gegend in der ganzen Schlucht. Es gibt dort eine kleine Bucht mit Kieselsteinen unterhalb des Abflussrohres. Während Chris und ich uns auf die Suche nach flachen Steinen zum Werfen machten, attackierte Carl das Rohr mit seinem Zombie-Knüppel.
»Womit heizen die Untoten ihre Häuser?«, fragte er. Er hat eine Million solcher Witze auf Lager.
»Keine Ahnung«, rief ich.
»Mit Zomb-Öl!« Wie üblich lachte er am Lautesten über seinen Witz, ohne dabei seinem Feind eine Ruhepause zu gönnen.
»Hast du schon mal solche Wolken gesehen?«, fragte ich Chris. »Die stellen sich ja auf, als wollten sie den Himmel einrahmen.« Er schüttelte den Kopf.
»Habt ihr's kapiert? Das ist Öl für Zombies.«
»Ist gut, Carl. Wir haben's kapiert.«
Mein Stein sprang über die gekräuselte Wasseroberfläche. Chris sah genau hin.
»Das waren vier. Nicht schlecht, was?«
Carl tätowierte das Rohr mit einem Muster und starrte dabei in den Himmel. Er kniff die Augen zusammen, wie er es manchmal tut, wenn er eine Farbe genau erkennen will.
Chris warf seinen Stein mit einer komischen Armbewegung und verbog seinen schlacksigen Körper dabei wie eine Brezel. Beim Baseball ist er ein klasse Werfer. Und einer der besten Quarterbacks.
Wir zählten beide mit.
»Sieben«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.
Vor einiger Zeit nahm ich einmal ein Blatt Papier und zog in der Mitte eine senkrechte Linie. Ich legte eine Liste der Dinge an, in denen Chris besser ist als ich, und eine mit denen, die ich besser kann. Das war ziemlich aufschlussreich. Auf seiner Seite stand alles, was mit Sport und Spielen zu tun hat. Chris ist ein sportliches Naturtalent, schnell, kräftig und elegant. Außerdem kriegt er gute Noten - in den meisten Fächern besser als ich. Und er ist sehr beliebt. Wenn er an einer Gruppe Mädchen vorbeigeht, winken ihm alle zu, und wenn er zurückwinkt oder kurz nickt, fächeln sie sich Luft zu oder fallen in Ohnmacht. Wenn ich dabei bin, sage ich Hallo, was meistens misslingt und ein bisschen krächzend klingt - Ha-LLO -, sodass die Mädchen zu kichern anfangen. (Das heißt übrigens nicht, dass sie Humor haben. Wenn ich etwas wirklich Witziges sage, kichern sie nie.)
Auf meiner Liste stand: Hot-Dogs-Essen. Das war das Einzige, das mir einfiel, worin ich besser bin als Chris. Bei Leas Geburtstagsfeier im letzten Jahr habe ich sieben Stück verdrückt. Chris schaffte nur vier. (Normalerweise esse ich nicht so viel, aber ich wollte Lea beeindrucken. Und ich glaube, es hat funktioniert, jedenfalls hat sie sehr eigenartig geguckt.)
Als ich Chris die Liste gezeigt habe, legte er seinen Kopf schief und ergänzte: »Du redest mehr als ich.«
Wir standen unter einem Torbogen in seinem Garten. Er sprang hoch, hängte sich daran und wippte hin und her.
»Eigentlich redest du mehr als überhaupt irgendjemand, Jules.« Jetzt machte er ein paar Klimmzüge. Er nutzt jede Gelegenheit zum Trainieren - keine Ahnung, ob er gegen einen unsichtbaren Gegner oder seinen inneren Schweinehund antritt, oder sich einfach nur die Zeit vertreibt.
»Okay«, sagte ich. »Aber rede ich auch besser als du?«
Er stoppte mitten in der Bewegung, die Ellbogen nach außen gedreht, die Bizeps angeschwollen wie Tennisbälle, ohne jedes Zeichen von Anstrengung in seinem Gesicht, und dachte über die Frage nach. »Mehr.«
Er zwinkerte mir zu und ließ sich langsam runter, bis er wieder gerade hing.
»Sehr witzig«, sagte ich.
Nach ein paar weiteren Klimmzügen sprang er auf den Boden und beendete seine Übung mit einem perfekten Radschlag.
Ich seufzte. Ein Rad würde ich nichtmals hinkriegen, wenn es darum ginge, meine Seele zu retten. Noch ein Punkt auf seiner Seite der Liste.
Carl lag im Geröll auf dem Rücken, blinzelte in den Himmel und bewegte seine Arme und Beine rudernd nach oben und unten. Normalerweise macht man das im Schnee und nennt das sichtbare Ergebnis Schnee-Engel, aber ich schätze mal, man kann aus allem Engel machen.
»Grün«, sagte er schließlich. »Ein spargelgrüner Himmel.«
Chris und ich nahmen es gelassen hin. Wir waren in der vierten Klasse, als Carl in unsere Straße gezogen ist, und seitdem sind wir ein unzertrennliches Trio. Auf seine ganz eigene Art ist er unglaublich witzig - vor allem, weil man nie weiß, was er sich als nächstes einfallen lassen wird. Unsere Lehrer sind oft ziemlich genervt von ihm, es kann zum Beispiel durchaus passieren, dass er aus heiterem Himmel ruft: »Was soll der ganze Mist hier eigentlich?« Oder: »Riecht hier noch jemand Käse?« Dabei nicht laut loszuprusten, ist manchmal ganz schön anstrengend.
Man könnte ihn schon ›auffällig‹ nennen, allerdings nicht so, wie die Lehrer das Wort verwenden, im Sinne von ›langsam‹. Er ist wirklich auffällig. Okay, in Mathe und Englisch gehört er nicht zu den Besten, aber er ist ein wahrer Künstler.
Er malt Raumschiffe und Zombies, die so aussehen wie im Fernsehen, und seine Comics sind genial. Außerdem kennt er jede noch so seltene Farbe. Carl ist einfach ... na ja, eben Carl. Vor einiger Zeit haben die Lehrer es aufgegeben, ihm zu sagen, dass er in der Klasse seine rote Baseballmütze absetzen soll; sie haben inzwischen akzeptiert, dass sie einfach ein Teil von ihm ist.
Chris und ich hängen nicht mit ihm rum, weil wir nett sein wollen oder weil unsere Mütter uns gesagt haben, wir sollten uns um ihn kümmern. Wir mögen ihn beide und manchmal habe ich den Eindruck, er ist genau das, was Chris und mir gefehlt hat, als wir noch zu zweit waren. Vielleicht wären wir ohne ihn gar nicht so dick befreundet.
Im letzten Herbst hatten wir einmal Unterricht bei einer neuen Lehrerin und Carl schmuggelte eine Wasserpistole in die Klasse. Als sie etwas an die Tafel schrieb, erwischte er sie im Nacken und ließ die Pistole wieder verschwinden. Sie rastete völlig aus, aber zwei Minuten später bekam sie die nächste Ladung ab. Ehe sie ihn schließlich auf frischer Tat ertappte, hatte er sie vier Mal getroffen. »Steh auf!«, brüllte die Lehrerin ihn an und machte ein Gesicht, das aus einem seiner Comics hätte stammen können. Sie war schon etwas älter, das Make-up in ihrem Gesicht zeigte kleine Risse und sie schäumte vor Wut. Ich lasse mir bis heute nicht ausreden, dass ihr Kopf gedampft hat, aber vielleicht kam das vom Wasser.
»Gib sofort das Ding her!«
Was dann folgte, zeigt nur, dass es völlig zwecklos ist, sich über Carl zu ärgern. Er steckte sich die Wasserpistole vorn in die Hose und sagte: »Holen Sie sie sich doch.« Die ganze Klasse brach in schallendes Gelächter aus.
Als die Lehrerin ihn zum Direktor schickte, hielt er ihr anklagend den Zeigefinger vors Gesicht und kreischte: »Sie hassen mich nur, weil ich schwarz bin!«
Wie war das noch mit der Stecknadel? Wenn in diesem Moment eine auf den Boden gefallen wäre, hätte man es jedenfalls gehört. Aber nur für einen kurzen Moment, denn eine Sekunde später konnte sich niemand mehr halten vor Lachen. Ich weiß nicht, wie lustig die Situation gewesen wäre, wenn Carl wirklich schwarz wäre, oder braun oder olivgrün. Tatsache ist, dass er eher leichenblass als weiß ist, und wir fanden, dass sein Kommentar mit Abstand das Witzigste war, was er in der letzten Zeit zu bieten hatte.
Das Ganze ging dann übrigens so weiter, dass der Direktor (Hautfarbe: weiß) Carl für drei Tage beurlaubte. Ich machte mir in den nächsten Tagen Gedanken darüber, ob in mir ein Rassist schlummert, weil ich seinen Witz so gut fand. Chris fand das nicht, aber um sicherzugehen, fragte ich unsere Klassenlehrerin Mrs. Ottley, eine sehr freundliche Afroamerikanerin. Als sie von der Sache hörte, lachte sie sich kaputt - aber gut, sie kennt Carl schon lange.
Ein heller Blitz spaltete den Himmel in zwei Hälften, gefolgt von einer Windbö, die Chris und mich zu Boden warf. Als wir neben Carl lagen, zuckte der nächste Blitz über uns und wurde von einem ohrenbetäubenden Donner begleitet. Den Blick starr auf den Himmel gerichtet, fragte ich mich, ob ich meinen Augen trauen konnte. Mit Mühe rappelte ich mich auf die Knie, nahm Chris' Arm und zeigte wortlos nach oben - jeder Versuch, das Donnern des Windes mit der Stimme zu übertönen, wäre sowieso zwecklos gewesen. Chris hatte es auch schon gesehen. Genau über uns, im Zentrum des wirbelnden, wie eine Sturmflut tosenden und tatsächlich vollkommen grünen Himmels (hattest mal wieder recht, Carl), senkte sich eine einzelne tiefschwarze Wolke in die Tiefe.
Ein Tornado!
Auf diesem Teil der Erde gibt es keine Tornados. Ich hatte sie bisher nur im Fernsehen gesehen. Aber dieser hier sah anders aus als der beim »Zauberer von Oz«. (Kennst du vielleicht nicht, aber wenn du mal was echt Schräges sehen willst, schau es dir bei Youtube an: Wizard of Oz, Tornado.) Er hatte nicht diese typische Trichter-form, dafür war er oben zu eng. Die fette, wabernde Wolke senkte sich in Richtung Boden wie ... na ja, um ehrlich zu sein fand ich, es sah aus, als würde sich der Wolkenberg in einem Krampf über eine Kloschüssel beugen, um sich zu erleichtern, und der grollende Donner verstärkte dieses Bild sogar noch.
Carl stand mitten auf dem Weg und hielt sein Gesicht in den Wind. Zum Glück ist seine Baseball-Mütze etwas zu klein, sonst wäre sie längst weg gewesen. Er war völlig aus dem Häuschen.
»Mann, der muss mindestens zweihundertsiebenundvierzig Stundenkilometer drauf haben!«, brüllte er. Die Wolke senkte sich immer tiefer, wurde unten schmaler und oben inzwischen auch breiter - also doch der typische Trichter.
Als es anfing zu regnen, schnappten wir uns Carl und rannten den Weg zum oberen Ende der Schlucht hinauf. Wir wollten zu mir nach Hause. Ich hatte so einen Schiss, dass ich gar nicht merkte, wie heftig ich japste.
Wenn wir nicht am Fluss oder sonst wo draußen sind, gehen wir meistens zu mir. Chris ist ein Einzelkind. Seine Eltern arbeiten beide in der Stadt und mögen es nicht, wenn wir allein bei ihm zu Hause sind. Und bei Carl ist es wie in einem Irrenhaus. Ständig rennen ungefähr ein Dutzend kleiner Kinder rum, die sich mit Matsch oder Mayonnaise beschmieren oder sich unter riesigen Spielzeugbergen verstecken. (Neben seinen Geschwistern sind da noch einige fremde Kinder, die seine Mutter tagsüber betreut.)
Egal, jedenfalls hängen wir meistens bei mir rum. Seit meine Schwester July ausgezogen ist (ich weiß: Jules und July - so sind Eltern eben!), kann meine Ma ihre Sorgen und ihre Fürsorge vollständig auf mich ausgießen. Das klingt ein bisschen wie ein großer Topf voller dicker, klebriger Sauce, und eigentlich ist der Vergleich gar nicht so unpassend. Sie ist ziemlich ... na ja, sagen wir, sie hat eine kräftige Statur, und am liebsten steht sie mit den Händen in den Hüften da, die Arme gebogen wie zwei Henkel an einem Kessel. Und erhitzen kann man sie auch, bis sie kocht. Ich bin jedenfalls froh, dass ich sie mit Chris und Carl teilen kann, es ist für jeden von uns genug von ihr da.
»Mein Gott, Jules!«, kreischte sie, als wir durch die Gartentür reingerannt kamen. »Wo wart ihr denn? Ich habe mir solche Sorgen gemacht und überall nach euch gesucht! Habt ihr die Tornadowarnung denn nicht gehört? Das muss man sich mal vorstellen, ein Tornado hier in Scarborough! Chris, deine Mutter hat aus der Stadt angerufen, du sollst sie zurückrufen. Carl, warum sind denn dein Gesicht und deine Hände so beschmiert? Bei deiner Mutter und den Kleinen ist übrigens alles in Ordnung. Als ich eben dort war, um nach euch zu suchen, saßen sie alle auf dem Boden und aßen Kekse. Mein Gott! Da fliegt der Fliederbusch über den Rasen, dein Vater wird sich sehr ärgern, wo er ihn doch extra gepflanzt hat, damit er Mr. Freshanti nicht mehr beim Sonnenbaden sehen muss. Und die Sirenen? Habt ihr denn die Sirenen nicht gehört? Im Radio haben sie gesagt, man soll in den Keller gehen. Chris, bring doch bitte das Telefon mit runter. Und beeilt euch!« Also gingen wir runter in unseren Freizeitraum und Chris rief seine Mutter an, um Bescheid zu sagen, dass alles in Ordnung sei. Meine Ma machte Sandwiches und Kakao und brachte Carl dazu, sich zu waschen und zu Hause anzurufen. Danach sahen wir fern, zuckten immer wieder kurz zusammen, wenn das Licht flackerte, und lauschten gespannt dem Wüten des Sturms über uns.
Ich saß direkt neben dem Telefon, als es klingelte.
»Hallo?«
»Jules? Du, Jules?«
»Ah, hallo Baba.« Alles klar, bei dem Akzent. Baba ist meine einzige Oma und ich habe sie sehr gern, aber es ist nicht immer leicht, sie zu verstehen. Sie ist schon ungefähr zur Zeit der Kreuzzüge aus ihrer alten Heimat hierher gekommen, aber wenn sie spricht, könnte man meinen, sie sei gerade erst angespült worden.
»Herzliche Glückwunsch, Jules!«
Mein Geburtstag war genau in einem Monat, aber was soll's. »Danke Baba.«
»Was willst du für Geschenk?«
»Geschenk? Ähm ... welches Geschenk?«
»Nein-nein, was für Geschenk?«
»Ach so. Ich weiß nicht, Baba.«
Hm, was wünschte ich mir denn? Warum müssen ältere Leute einen immer unter Zugzwang setzen »Vielleicht ein Hemd?« »Gut-gut«, sagte sie und ließ ein Gemurmel auf Mazedonisch folgen.
»Hemd, gut. Jetzt fragst du, wie dir geht, Jules?«
»Danke, mir geht's gut.«
»Nein-nein, du fragst mich.«
Mazedonien ist ziemlich weit weg, von Kanada aus noch ein Stück weiter als Italien. Es gehört zu diesen Ländern in Osteuropa, die früher mal anders hießen. Soweit ich weiß, ist dort inzwischen alles wieder in Ordnung, und ich habe keine Ahnung, warum alle da weg wollten. Trotzdem kamen Tausende hierher, unter anderem auch alle meine Vorfahren. In Scarborough gibt es so viele von ihnen, dass meine Baba nie richtig Englisch lernen musste. Deshalb ist jedes Telefonat mit ihr eine echte Herausforderung: Man versucht angestrengt, sie zu verstehen - und das Telefon so schnell wie möglich loszuwerden.
»Jules? Du fragst, wie mir geht?«
»Ist gut, Baba. Wie geht es dir?«
»Gut, Jules. Danke. Außer, ich bin oben ohne.«
Sie gackerte ins Telefon. So ist sie eben, meine Baba, immer für einen Scherz zu haben. Na ja, ich hoffte jedenfalls, das war ein Scherz, und musste mich unwillkürlich schütteln.
»Soll ich dir Mama geben?«
»Wie?«
Meine Ma stand schon neben mir und streckte mir eine Hand entgegen. Sie ist ein sehr beherrschter Mensch, aber jetzt entfuhr ihr ein Seufzer - meine Baba kann sogar ihr das Leben schwer machen.
»Kako si?« Wie geht's? auf Mazedonisch.
Chris stand am Lichtschacht.
»Der Sturm scheint vorbei zu sein«, sagte er.
»Kommt, wir gehen raus und schauen uns die Verwüstung an!«, schlug Carl vor.
Meine Mutter lehnte sich nach vorn und sprach mit gerunzelter Stirn in den Hörer. Obwohl ich außer »Hallo«, »Danke« und »Kann ich ein Glas Milch haben?« kein Mazedonisch kann, verstand ich genau, was los war.
»Mein Gott, Mama!«, sagte sie. »Wie ist denn das passiert?«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wir saßen in Dun Killin und überlegten, was wir machen sollten. Es hatte gerade mal die erste Woche der Sommerferien begonnen, aber schon langweilten wir uns. Chris wollte uns etwas aus seinem aktuellen Lieblingsbuch zeigen, dem Survival-Handbuch.
»Abseilen«, sagte er und zeigte mir ein Bild von ein paar Leuten, die sich von einem Felsvorsprung fallen ließen.
»Zeig mal her!« Ich durchblätterte das Buch wie ein Daumenkino. Auf jeder Seite schien es um etwas Gefährliches zu gehen: Verzehr giftiger Pilze, gebrochene Beine, stark blutende Wunden ... Bäh! Ich gab ihm das Ding zurück.
»Wir könnten auch zu mir gehen und Marshmallow-Sandwiches machen. Ich hab heute Morgen das Rezept auf der Müslipackung gesehen, ist echt einfach. Keine Ahnung, ob wir Marshmallows zu Hause haben, notfalls gehen wir zum Supermarkt und holen welche.«
Chris runzelte die Stirn. »Marshmallows.«
»Ach, geh dich doch abseilen«, sagte ich.
Er schubste mich, ich schubste ihn zurück und wir wollten uns gerade eine ordentliche Schlacht liefern, da schlug Carl vor, Italien zu erobern.
»Das ist dieser Stiefel, ihr wisst schon«, sagte er. »Den könnten wir im Handumdrehen besetzen. Wir landen unten am Zeh und dringen dann vor wie ... Zebras!«
Stiefel ... Zeh ... Zebras. Typisch Carl. Chris zwinkerte mir zu. »Italien ... aha«, sagte er.
Meistens sind wir einer Meinung, wenn es um Carls Einfälle geht. Trotzdem, Chris muss immer alles so wörtlich und genau nehmen, dass ich manchmal nicht anders kann, als ein bisschen zu sticheln. »Jetzt komm schon, bei Eroberungen kann eine ungewöhnliche Taktik nie schaden. Außerdem gibt es in Italien das beste Eis. Denk an das Gelato, das deine Mutter vor Kurzem aus der Stadt mitgebracht hat. Wir wären zwar weit weg von zu Hause, dafür würden wir aber in der freien Natur leben. Vielleicht könnten wir sogar wilde Zebras zureiten.«
»Was?«
»Na ja, wir landen am Zeh und reiten auf Zebras. Stimmt's, Carl?« Carl schnappte sich einen der Zombie-Knüppel, die wir in der Höhle aufbewahrten.
»Ach, egal. Von mir aus auch Pickering!«, rief er. »Ja, wir erobern Pickering, das wäre auch cool!«
Er rannte raus und fing an, die Bäume mit dem Knüppel zu bearbeiten.
»Okay«, sagte ich zu Chris. »Das ist jedenfalls näher. Wir können auch klein anfangen. Zuerst unterwirfst du die benachbarten Regionen und dann ziehst du von dort aus weiter. Auf diese Weise ist jedes große Reich entstanden.« (Für die, die es vielleicht nicht wissen: Pickering ist der Vorort neben Scarborough.)
»Idiot«, murmelte Chris.
Die drückende Hitze des Nachmittags war einer eigenartigen Kühle gewichen, und die Wolken am Himmel türmten sich zu bedrohlichen Gebilden auf. Wir folgten Carl zu dem nahe gelegenen Überlaufbecken, der einzigen offenen Gegend in der ganzen Schlucht. Es gibt dort eine kleine Bucht mit Kieselsteinen unterhalb des Abflussrohres. Während Chris und ich uns auf die Suche nach flachen Steinen zum Werfen machten, attackierte Carl das Rohr mit seinem Zombie-Knüppel.
»Womit heizen die Untoten ihre Häuser?«, fragte er. Er hat eine Million solcher Witze auf Lager.
»Keine Ahnung«, rief ich.
»Mit Zomb-Öl!« Wie üblich lachte er am Lautesten über seinen Witz, ohne dabei seinem Feind eine Ruhepause zu gönnen.
»Hast du schon mal solche Wolken gesehen?«, fragte ich Chris. »Die stellen sich ja auf, als wollten sie den Himmel einrahmen.« Er schüttelte den Kopf.
»Habt ihr's kapiert? Das ist Öl für Zombies.«
»Ist gut, Carl. Wir haben's kapiert.«
Mein Stein sprang über die gekräuselte Wasseroberfläche. Chris sah genau hin.
»Das waren vier. Nicht schlecht, was?«
Carl tätowierte das Rohr mit einem Muster und starrte dabei in den Himmel. Er kniff die Augen zusammen, wie er es manchmal tut, wenn er eine Farbe genau erkennen will.
Chris warf seinen Stein mit einer komischen Armbewegung und verbog seinen schlacksigen Körper dabei wie eine Brezel. Beim Baseball ist er ein klasse Werfer. Und einer der besten Quarterbacks.
Wir zählten beide mit.
»Sieben«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.
Vor einiger Zeit nahm ich einmal ein Blatt Papier und zog in der Mitte eine senkrechte Linie. Ich legte eine Liste der Dinge an, in denen Chris besser ist als ich, und eine mit denen, die ich besser kann. Das war ziemlich aufschlussreich. Auf seiner Seite stand alles, was mit Sport und Spielen zu tun hat. Chris ist ein sportliches Naturtalent, schnell, kräftig und elegant. Außerdem kriegt er gute Noten - in den meisten Fächern besser als ich. Und er ist sehr beliebt. Wenn er an einer Gruppe Mädchen vorbeigeht, winken ihm alle zu, und wenn er zurückwinkt oder kurz nickt, fächeln sie sich Luft zu oder fallen in Ohnmacht. Wenn ich dabei bin, sage ich Hallo, was meistens misslingt und ein bisschen krächzend klingt - Ha-LLO -, sodass die Mädchen zu kichern anfangen. (Das heißt übrigens nicht, dass sie Humor haben. Wenn ich etwas wirklich Witziges sage, kichern sie nie.)
Auf meiner Liste stand: Hot-Dogs-Essen. Das war das Einzige, das mir einfiel, worin ich besser bin als Chris. Bei Leas Geburtstagsfeier im letzten Jahr habe ich sieben Stück verdrückt. Chris schaffte nur vier. (Normalerweise esse ich nicht so viel, aber ich wollte Lea beeindrucken. Und ich glaube, es hat funktioniert, jedenfalls hat sie sehr eigenartig geguckt.)
Als ich Chris die Liste gezeigt habe, legte er seinen Kopf schief und ergänzte: »Du redest mehr als ich.«
Wir standen unter einem Torbogen in seinem Garten. Er sprang hoch, hängte sich daran und wippte hin und her.
»Eigentlich redest du mehr als überhaupt irgendjemand, Jules.« Jetzt machte er ein paar Klimmzüge. Er nutzt jede Gelegenheit zum Trainieren - keine Ahnung, ob er gegen einen unsichtbaren Gegner oder seinen inneren Schweinehund antritt, oder sich einfach nur die Zeit vertreibt.
»Okay«, sagte ich. »Aber rede ich auch besser als du?«
Er stoppte mitten in der Bewegung, die Ellbogen nach außen gedreht, die Bizeps angeschwollen wie Tennisbälle, ohne jedes Zeichen von Anstrengung in seinem Gesicht, und dachte über die Frage nach. »Mehr.«
Er zwinkerte mir zu und ließ sich langsam runter, bis er wieder gerade hing.
»Sehr witzig«, sagte ich.
Nach ein paar weiteren Klimmzügen sprang er auf den Boden und beendete seine Übung mit einem perfekten Radschlag.
Ich seufzte. Ein Rad würde ich nichtmals hinkriegen, wenn es darum ginge, meine Seele zu retten. Noch ein Punkt auf seiner Seite der Liste.
Carl lag im Geröll auf dem Rücken, blinzelte in den Himmel und bewegte seine Arme und Beine rudernd nach oben und unten. Normalerweise macht man das im Schnee und nennt das sichtbare Ergebnis Schnee-Engel, aber ich schätze mal, man kann aus allem Engel machen.
»Grün«, sagte er schließlich. »Ein spargelgrüner Himmel.«
Chris und ich nahmen es gelassen hin. Wir waren in der vierten Klasse, als Carl in unsere Straße gezogen ist, und seitdem sind wir ein unzertrennliches Trio. Auf seine ganz eigene Art ist er unglaublich witzig - vor allem, weil man nie weiß, was er sich als nächstes einfallen lassen wird. Unsere Lehrer sind oft ziemlich genervt von ihm, es kann zum Beispiel durchaus passieren, dass er aus heiterem Himmel ruft: »Was soll der ganze Mist hier eigentlich?« Oder: »Riecht hier noch jemand Käse?« Dabei nicht laut loszuprusten, ist manchmal ganz schön anstrengend.
Man könnte ihn schon ›auffällig‹ nennen, allerdings nicht so, wie die Lehrer das Wort verwenden, im Sinne von ›langsam‹. Er ist wirklich auffällig. Okay, in Mathe und Englisch gehört er nicht zu den Besten, aber er ist ein wahrer Künstler.
Er malt Raumschiffe und Zombies, die so aussehen wie im Fernsehen, und seine Comics sind genial. Außerdem kennt er jede noch so seltene Farbe. Carl ist einfach ... na ja, eben Carl. Vor einiger Zeit haben die Lehrer es aufgegeben, ihm zu sagen, dass er in der Klasse seine rote Baseballmütze absetzen soll; sie haben inzwischen akzeptiert, dass sie einfach ein Teil von ihm ist.
Chris und ich hängen nicht mit ihm rum, weil wir nett sein wollen oder weil unsere Mütter uns gesagt haben, wir sollten uns um ihn kümmern. Wir mögen ihn beide und manchmal habe ich den Eindruck, er ist genau das, was Chris und mir gefehlt hat, als wir noch zu zweit waren. Vielleicht wären wir ohne ihn gar nicht so dick befreundet.
Im letzten Herbst hatten wir einmal Unterricht bei einer neuen Lehrerin und Carl schmuggelte eine Wasserpistole in die Klasse. Als sie etwas an die Tafel schrieb, erwischte er sie im Nacken und ließ die Pistole wieder verschwinden. Sie rastete völlig aus, aber zwei Minuten später bekam sie die nächste Ladung ab. Ehe sie ihn schließlich auf frischer Tat ertappte, hatte er sie vier Mal getroffen. »Steh auf!«, brüllte die Lehrerin ihn an und machte ein Gesicht, das aus einem seiner Comics hätte stammen können. Sie war schon etwas älter, das Make-up in ihrem Gesicht zeigte kleine Risse und sie schäumte vor Wut. Ich lasse mir bis heute nicht ausreden, dass ihr Kopf gedampft hat, aber vielleicht kam das vom Wasser.
»Gib sofort das Ding her!«
Was dann folgte, zeigt nur, dass es völlig zwecklos ist, sich über Carl zu ärgern. Er steckte sich die Wasserpistole vorn in die Hose und sagte: »Holen Sie sie sich doch.« Die ganze Klasse brach in schallendes Gelächter aus.
Als die Lehrerin ihn zum Direktor schickte, hielt er ihr anklagend den Zeigefinger vors Gesicht und kreischte: »Sie hassen mich nur, weil ich schwarz bin!«
Wie war das noch mit der Stecknadel? Wenn in diesem Moment eine auf den Boden gefallen wäre, hätte man es jedenfalls gehört. Aber nur für einen kurzen Moment, denn eine Sekunde später konnte sich niemand mehr halten vor Lachen. Ich weiß nicht, wie lustig die Situation gewesen wäre, wenn Carl wirklich schwarz wäre, oder braun oder olivgrün. Tatsache ist, dass er eher leichenblass als weiß ist, und wir fanden, dass sein Kommentar mit Abstand das Witzigste war, was er in der letzten Zeit zu bieten hatte.
Das Ganze ging dann übrigens so weiter, dass der Direktor (Hautfarbe: weiß) Carl für drei Tage beurlaubte. Ich machte mir in den nächsten Tagen Gedanken darüber, ob in mir ein Rassist schlummert, weil ich seinen Witz so gut fand. Chris fand das nicht, aber um sicherzugehen, fragte ich unsere Klassenlehrerin Mrs. Ottley, eine sehr freundliche Afroamerikanerin. Als sie von der Sache hörte, lachte sie sich kaputt - aber gut, sie kennt Carl schon lange.
Ein heller Blitz spaltete den Himmel in zwei Hälften, gefolgt von einer Windbö, die Chris und mich zu Boden warf. Als wir neben Carl lagen, zuckte der nächste Blitz über uns und wurde von einem ohrenbetäubenden Donner begleitet. Den Blick starr auf den Himmel gerichtet, fragte ich mich, ob ich meinen Augen trauen konnte. Mit Mühe rappelte ich mich auf die Knie, nahm Chris' Arm und zeigte wortlos nach oben - jeder Versuch, das Donnern des Windes mit der Stimme zu übertönen, wäre sowieso zwecklos gewesen. Chris hatte es auch schon gesehen. Genau über uns, im Zentrum des wirbelnden, wie eine Sturmflut tosenden und tatsächlich vollkommen grünen Himmels (hattest mal wieder recht, Carl), senkte sich eine einzelne tiefschwarze Wolke in die Tiefe.
Ein Tornado!
Auf diesem Teil der Erde gibt es keine Tornados. Ich hatte sie bisher nur im Fernsehen gesehen. Aber dieser hier sah anders aus als der beim »Zauberer von Oz«. (Kennst du vielleicht nicht, aber wenn du mal was echt Schräges sehen willst, schau es dir bei Youtube an: Wizard of Oz, Tornado.) Er hatte nicht diese typische Trichter-form, dafür war er oben zu eng. Die fette, wabernde Wolke senkte sich in Richtung Boden wie ... na ja, um ehrlich zu sein fand ich, es sah aus, als würde sich der Wolkenberg in einem Krampf über eine Kloschüssel beugen, um sich zu erleichtern, und der grollende Donner verstärkte dieses Bild sogar noch.
Carl stand mitten auf dem Weg und hielt sein Gesicht in den Wind. Zum Glück ist seine Baseball-Mütze etwas zu klein, sonst wäre sie längst weg gewesen. Er war völlig aus dem Häuschen.
»Mann, der muss mindestens zweihundertsiebenundvierzig Stundenkilometer drauf haben!«, brüllte er. Die Wolke senkte sich immer tiefer, wurde unten schmaler und oben inzwischen auch breiter - also doch der typische Trichter.
Als es anfing zu regnen, schnappten wir uns Carl und rannten den Weg zum oberen Ende der Schlucht hinauf. Wir wollten zu mir nach Hause. Ich hatte so einen Schiss, dass ich gar nicht merkte, wie heftig ich japste.
Wenn wir nicht am Fluss oder sonst wo draußen sind, gehen wir meistens zu mir. Chris ist ein Einzelkind. Seine Eltern arbeiten beide in der Stadt und mögen es nicht, wenn wir allein bei ihm zu Hause sind. Und bei Carl ist es wie in einem Irrenhaus. Ständig rennen ungefähr ein Dutzend kleiner Kinder rum, die sich mit Matsch oder Mayonnaise beschmieren oder sich unter riesigen Spielzeugbergen verstecken. (Neben seinen Geschwistern sind da noch einige fremde Kinder, die seine Mutter tagsüber betreut.)
Egal, jedenfalls hängen wir meistens bei mir rum. Seit meine Schwester July ausgezogen ist (ich weiß: Jules und July - so sind Eltern eben!), kann meine Ma ihre Sorgen und ihre Fürsorge vollständig auf mich ausgießen. Das klingt ein bisschen wie ein großer Topf voller dicker, klebriger Sauce, und eigentlich ist der Vergleich gar nicht so unpassend. Sie ist ziemlich ... na ja, sagen wir, sie hat eine kräftige Statur, und am liebsten steht sie mit den Händen in den Hüften da, die Arme gebogen wie zwei Henkel an einem Kessel. Und erhitzen kann man sie auch, bis sie kocht. Ich bin jedenfalls froh, dass ich sie mit Chris und Carl teilen kann, es ist für jeden von uns genug von ihr da.
»Mein Gott, Jules!«, kreischte sie, als wir durch die Gartentür reingerannt kamen. »Wo wart ihr denn? Ich habe mir solche Sorgen gemacht und überall nach euch gesucht! Habt ihr die Tornadowarnung denn nicht gehört? Das muss man sich mal vorstellen, ein Tornado hier in Scarborough! Chris, deine Mutter hat aus der Stadt angerufen, du sollst sie zurückrufen. Carl, warum sind denn dein Gesicht und deine Hände so beschmiert? Bei deiner Mutter und den Kleinen ist übrigens alles in Ordnung. Als ich eben dort war, um nach euch zu suchen, saßen sie alle auf dem Boden und aßen Kekse. Mein Gott! Da fliegt der Fliederbusch über den Rasen, dein Vater wird sich sehr ärgern, wo er ihn doch extra gepflanzt hat, damit er Mr. Freshanti nicht mehr beim Sonnenbaden sehen muss. Und die Sirenen? Habt ihr denn die Sirenen nicht gehört? Im Radio haben sie gesagt, man soll in den Keller gehen. Chris, bring doch bitte das Telefon mit runter. Und beeilt euch!« Also gingen wir runter in unseren Freizeitraum und Chris rief seine Mutter an, um Bescheid zu sagen, dass alles in Ordnung sei. Meine Ma machte Sandwiches und Kakao und brachte Carl dazu, sich zu waschen und zu Hause anzurufen. Danach sahen wir fern, zuckten immer wieder kurz zusammen, wenn das Licht flackerte, und lauschten gespannt dem Wüten des Sturms über uns.
Ich saß direkt neben dem Telefon, als es klingelte.
»Hallo?«
»Jules? Du, Jules?«
»Ah, hallo Baba.« Alles klar, bei dem Akzent. Baba ist meine einzige Oma und ich habe sie sehr gern, aber es ist nicht immer leicht, sie zu verstehen. Sie ist schon ungefähr zur Zeit der Kreuzzüge aus ihrer alten Heimat hierher gekommen, aber wenn sie spricht, könnte man meinen, sie sei gerade erst angespült worden.
»Herzliche Glückwunsch, Jules!«
Mein Geburtstag war genau in einem Monat, aber was soll's. »Danke Baba.«
»Was willst du für Geschenk?«
»Geschenk? Ähm ... welches Geschenk?«
»Nein-nein, was für Geschenk?«
»Ach so. Ich weiß nicht, Baba.«
Hm, was wünschte ich mir denn? Warum müssen ältere Leute einen immer unter Zugzwang setzen »Vielleicht ein Hemd?« »Gut-gut«, sagte sie und ließ ein Gemurmel auf Mazedonisch folgen.
»Hemd, gut. Jetzt fragst du, wie dir geht, Jules?«
»Danke, mir geht's gut.«
»Nein-nein, du fragst mich.«
Mazedonien ist ziemlich weit weg, von Kanada aus noch ein Stück weiter als Italien. Es gehört zu diesen Ländern in Osteuropa, die früher mal anders hießen. Soweit ich weiß, ist dort inzwischen alles wieder in Ordnung, und ich habe keine Ahnung, warum alle da weg wollten. Trotzdem kamen Tausende hierher, unter anderem auch alle meine Vorfahren. In Scarborough gibt es so viele von ihnen, dass meine Baba nie richtig Englisch lernen musste. Deshalb ist jedes Telefonat mit ihr eine echte Herausforderung: Man versucht angestrengt, sie zu verstehen - und das Telefon so schnell wie möglich loszuwerden.
»Jules? Du fragst, wie mir geht?«
»Ist gut, Baba. Wie geht es dir?«
»Gut, Jules. Danke. Außer, ich bin oben ohne.«
Sie gackerte ins Telefon. So ist sie eben, meine Baba, immer für einen Scherz zu haben. Na ja, ich hoffte jedenfalls, das war ein Scherz, und musste mich unwillkürlich schütteln.
»Soll ich dir Mama geben?«
»Wie?«
Meine Ma stand schon neben mir und streckte mir eine Hand entgegen. Sie ist ein sehr beherrschter Mensch, aber jetzt entfuhr ihr ein Seufzer - meine Baba kann sogar ihr das Leben schwer machen.
»Kako si?« Wie geht's? auf Mazedonisch.
Chris stand am Lichtschacht.
»Der Sturm scheint vorbei zu sein«, sagte er.
»Kommt, wir gehen raus und schauen uns die Verwüstung an!«, schlug Carl vor.
Meine Mutter lehnte sich nach vorn und sprach mit gerunzelter Stirn in den Hörer. Obwohl ich außer »Hallo«, »Danke« und »Kann ich ein Glas Milch haben?« kein Mazedonisch kann, verstand ich genau, was los war.
»Mein Gott, Mama!«, sagte sie. »Wie ist denn das passiert?«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Richard Scrimger
Richard Scrimger, 1957 in Cobourg, Kanada geboren, ist ein Multitalent und in allen Genres der Literatur zu Hause. Neben Jugendbüchern schreibt er Bilder- und Kinderbücher ebenso wie Sachbücher und Belletristik. Unverkennbares Markenzeichen seiner Bücher ist sein ganz eigener, nicht selten scharfer Humor. Nach Wo bitte geht's nach Schenectady? (2005) ist dies sein zweites Buch im Verlag Urachhaus. Seine vier Kinder nennt er seine schärfsten Kritiker.
Bibliographische Angaben
- Autor: Richard Scrimger
- Altersempfehlung: Ab 11 Jahre
- 2010, 317 Seiten, Maße: 15,1 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Michael Stehle
- Verlag: Urachhaus
- ISBN-10: 3825176924
- ISBN-13: 9783825176921
- Erscheinungsdatum: 05.03.2010
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