Aschenputtel / Fredrika Bergman Bd.1
Thriller
Ein Mädchen verschwindet aus einem Zug in Schweden. Die Nachforschungen der Polizei verlaufen ergebnislos. Da wird ein totes Mädchen in Nordschweden gefunden. Und das Grauen geht weiter: Ein anderes Kind verschwindet.
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Produktinformationen zu „Aschenputtel / Fredrika Bergman Bd.1 “
Ein Mädchen verschwindet aus einem Zug in Schweden. Die Nachforschungen der Polizei verlaufen ergebnislos. Da wird ein totes Mädchen in Nordschweden gefunden. Und das Grauen geht weiter: Ein anderes Kind verschwindet.
Klappentext zu „Aschenputtel / Fredrika Bergman Bd.1 “
Der Start der packenden Bestsellerreihe aus Schweden: »Wer auf klassische skandinavische Krimis steht, macht mit diesem Buch alles richtig.« NDR InfoHochsommer in Schweden. Es regnet Bindfäden. Der voll besetzte Schnellzug nach Stockholm muss außerplanmäßig halten. Eine junge Frau tritt hinaus aufs Bahngleis, um ungestört zu telefonieren - und wird von ihrer Tochter getrennt, als der Zug ohne Vorwarnung weiterfährt. Der Schaffner wird alarmiert, doch als er das kleine Mädchen abholen will, ist es spurlos verschwunden. Das Ermittlerteam um Kommissar Alex Recht und Fahndungsspezialistin Fredrika Bergman wird auf den Fall angesetzt. Als wenig später ein zweites Kind verschleppt wird, wird der Fall zu einem Albtraum ...
Lese-Probe zu „Aschenputtel / Fredrika Bergman Bd.1 “
Aschenputtel von Kristina OhlssonTEIL 1
Falsche Fährte
Montag
... mehr
AUS IRGENDEINEM GRUND MUSSTE ER, wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließ, früher oder später immer wieder an die Krankenakte denken. Meist geschah dies nachts.
Er lag ganz still in seinem Bett und sah zur Decke hinauf, wo eine Fliege saß. Dunkelheit und Ruhe waren nie sein Ding gewesen. Es war, als würde er wehrlos, sobald die Sonne verschwand und Müdigkeit und Dunkelheit heran-krochen, ihn zu umfangen. Und Wehrlosigkeit war etwas, das ihm zutiefst widerstrebte. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er daran gearbeitet, auf der Hut zu sein, vorbereitet. Aber selbst nach Jahren der Übung empfand er es als ungeheuer schwierig, aus der Ruhe heraus bereit zu sein. Bereitschaft erforderte einen wachen Geist. Er war es gewohnt, wach zu sein. Und er war daran gewöhnt, der Müdigkeit, die in seinem Körper steckte, wenn er sich den Schlaf verweigerte, nicht nachzugeben.
Es war inzwischen lange her, dass er nachts weinend aufgewacht war. Es war lange her, dass die Erinnerungen wehgetan und ihn schwach gemacht hatten. In dieser Hinsicht war er in seinem Kampf um Frieden schon beachtlich weit gekommen.
Aber dennoch ...
Wenn er die Augen ganz fest schloss und wenn es um ihn herum ganz, ganz still war, dann sah er sie wieder vor sich. Ihre große Gestalt löste sich aus den dunklen Schatten, und er sah sie auf sich zuschwanken. Langsam, ganz langsam, so wie sie sich immer bewegte.
Bei der Erinnerung an ihren Geruch musste er immer noch würgen. Dunkel, süß und staubig. Unmöglich, diesen Geruch einzuatmen. Wie der Geruch der Bücher in ihrer Bibliothek.
Und er konnte ihre Stimme hören.
»Du Nichtsnutz«, zischte sie. »Du wertlose Missgeburt.« Und dann packte sie ihn und hielt ihn fest.
Den Worten folgten stets Schmerz und Bestrafung. Feuer. Die Erinnerung an das Feuer lebte noch immer in Teilen seines Körpers. Aber wenn er mit dem Finger über die Narben strich, wusste er, dass er überlebt hatte.
Als er noch ganz klein gewesen war, hatte er angenommen, die Bestrafung wäre die Folge davon, dass er immer alles falsch machte. Dabei hatte er immerzu versucht, alles richtig zu machen. Verzweifelt und hartnäckig. Und doch: Es wurde nur Falsches daraus.
Als er älter wurde, begann er zu begreifen, dass es einfach nichts gab, was richtig war. Nicht nur seine Handlungen waren falsch und wurden bestraft. Sein ganzes Wesen und seine Existenz waren falsch. Er wurde dafür bestraft, dass es ihn gab. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre sie nicht gestorben.
»Dich hätte es nie geben dürfen!«, brüllte sie ihm ins Gesicht. »Du bist böse, böse, böse!«
Das Weinen, das danach kam, nach dem Feuer, musste immer lautlos sein. Still, still, damit sie nichts hörte. Denn dann kam sie wieder zurück. Wieder und wieder.
Er erinnerte sich daran, dass die Beschuldigungen lange Zeit eine große Angst in ihm hervorgerufen hatten. Angst davor, dass er sich niemals damit abfinden könnte, getan zu haben, was sie ihm vorwarf. Dass er sich nie rechtfertigen und seine Sünden würde büßen können.
Die Krankenakte.
Irgendwann suchte er das Krankenhaus auf, in dem sie gepflegt wurde, und las ihre Akte. Hauptsächlich, um eine Ahnung vom Ausmaß seines Verbrechens zu bekommen. Da war er bereits mündig. Mündig, aber auf ewig für seine Untaten in Schuld verstrickt. Doch der Inhalt der Krankenakte verwandelte ihn auf ganz unerwartete Weise von schuldig in frei. Mit der Befreiung kamen Kraft und Erholung. Er erhielt ein neues Leben und neue wichtige Fragen, zu denen er Stellung beziehen musste. Die Frage war nun nicht mehr, wie er für jemand anderen büßen sollte. Die Frage war, wie für ihn gebüßt werden konnte.
Er lag im Dunkeln, lächelte und betrachtete die neue Puppe, die er sich ausgesucht hatte. Er konnte sich natürlich nicht sicher sein, aber er glaubte, dass sie ihm länger erhalten bleiben würde als die früheren. Sie musste nur noch lernen, mit ihrer Vergangenheit umzugehen, so wie er es selbst auch gelernt hatte. Alles, was sie brauchte, war eine ruhige Hand, seine ruhige Hand.
Und Liebe. Sehr viel Liebe. Seine ganz besondere und wegweisende Liebe.
Vorsichtig strich er ihr über den Rücken. Aus Versehen - oder vielleicht weil er die Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, wirklich nicht sah - strich er über einen der ganz frischen Blutergüsse. Wie ein dunkler, kleiner See lag er auf ihrem Schulterblatt. Sie wachte mit einem Ruck auf und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen glänzten vor Angst. Sie wusste nie, was sie erwartete, wenn die Dunkelheit kam.
»Es ist so weit, Püppchen. Wir können loslegen.«
Die Anspannung in ihrem Gesicht ging in ein schönes, hellwaches Lächeln über.
»Morgen geht es los«, flüsterte er.
Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und fixierte die Fliege an der Decke. Wach und in Bereitschaft. Ohne auszuruhen.
Dienstag
ES WAR MITTEN IM SOMMER, und es wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu regnen, als das erste Kind verschwand. An einem Dienstag fing es an - an einem seltsamen Tag, der ein Tag wie jeder andere hätte werden können, am Ende dann aber das Leben einer ganzen Reihe von Menschen von Grund auf veränderte.
Henry Lindgren war einer von ihnen.
Es war der dritte Dienstag im Juli, und Henry fuhr eine Extraschicht im X2000 von Göteborg nach Stockholm. Er arbeitete schon seit mehr Jahren, als er sich eingestehen wollte, bei der Schwedischen Eisenbahn, und er hatte keine Ahnung, was aus ihm werden sollte, wenn sie ihn eines Tages in Rente schickten. Was würde er dann mit seiner Zeit anfangen, wo er doch nun allein war?
Vielleicht war es Henry Lindgrens Auge für Details, das ihm im Nachhinein half, sich so gut an die junge Frau zu erinnern, die während der Reise ihr Kind verlieren sollte - die junge, rotblonde Frau mit der grünen Leinenbluse und den offenen Sandalen, aus denen blau lackierte Zehnägel herausschauten. Wenn Henry und seine Frau eine Tochter gehabt hätten, dann hätte sie wahrscheinlich ganz ähnlich ausgesehen. Die Haare seiner Frau waren auch rot gewesen.
Als er ihre Fahrkarten abstempelte, kurz nachdem sie den Bahnhof von Göteborg verlassen hatten, stellte er fest, dass das kleine Mädchen seiner rothaarigen Mutter überhaupt nicht ähnlich sah. Die Haare des Kindes waren von dunklem Kastanienbraun und fielen ihm in derart sanften Wellen über den Kopf, dass sie fast künstlich wirkten. Sie endeten leicht auf seinen Schultern und krabbelten dann nach vorn, wie um das kleine Gesicht einzurahmen. Die Haut war dunkler als die der Mutter. Die Augen waren groß und blau. Auf dem Nasenrücken saßen winzig kleine Grüppchen von Sommersprossen, was das Gesicht nicht ganz so puppenhaft aussehen ließ.
Als Henry weiterging, lächelte er dem Kind zu. Es lächelte scheu zurück. Henry fand, dass das Mädchen müde aussah. Die Kleine wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster, den Kopf an die Rückbank gelehnt.
»Lilian, zieh deine Schuhe aus, wenn du mit den Füßen auf den Sitz willst«, hörte er die Frau zu dem Kind sagen, als er sich umdrehte, um die Fahrkarte des nächsten Reisenden abzustempeln. Als er ihnen danach noch einen Blick zuwarf, hatte das Kind die kleinen Sandalen bereits abgeschüttelt und die Beine unter sich gezogen. Die Sandalen würden dort noch liegen, als das Mädchen schon verschwunden war.
Es sollte eine unruhige Zugreise werden. Am Vorabend hatte ein Weltstar im Göteborger Ullevi-Stadion ein Konzert gegeben, und jede Menge Fans fuhren nun mit dem Vormittagszug, in dem Henry Schaffner war, zurück nach Stockholm. Das erste Problem stellte sich ihm in Wagen fünf, wo zwei junge Männer die Sitze vollgekotzt hatten, offenbar Nachwehen der zurückliegenden Ereignisse im Ullevi. Henry musste Putzmittel holen und nasse Lappen.
Ungefähr gleichzeitig fingen zwei jüngere Mädchen in Wagen drei an, sich zu prügeln. Eine Blonde beschuldigte eine Brünette, sie hätte versucht, ihr den Freund auszuspannen. Henry versuchte vergeblich, zwischen den beiden zu vermitteln, doch Ruhe und Ordnung stellten sich im Zug erst ein, als sie an Skövde vorbei waren. Da waren die Störenfriede endlich eingenickt, und Henry konnte mit Nellie aus dem Speisewagen einen Kaffee trinken. Auf dem Rückweg sah Henry aus dem Augenwinkel, dass auch die rothaarige Frau und ihre Tochter Lilian schliefen.
Danach verlief die Reise ruhig, bis man sich Stockholm näherte. Erst als der Zug wenige Kilometer vor der Hauptstadt den Bahnhof Flemingsberg erreichte, rief der zweite Zugchef Arvid Melin etwas über die Lautsprecher aus. Der Lokführer hatte die Nachricht erhalten, dass man wegen einer Signalstörung den Stockholmer Hauptbahnhof erst fünf bis zehn Minuten später anfahren könne.
Der Zug hielt in Flemingsberg, und Henry sah, wie die rothaarige Frau auf den Bahnsteig hinaustrat. Verstohlen beobachtete er sie durch das Fenster des kleinen Abteils in Wagen sechs, das für das Zugpersonal reserviert war. Er sah sie einige Schritte über den Bahnsteig gehen, auf die andere Seite hinüber, wo weniger Leute standen. Sie holte etwas aus ihrer Handtasche. Vielleicht ein Handy? Wahrscheinlich saß das Kind immer noch im Zug und schlief. Das hatte es zumindest getan, als der Zug an Katrineholm vorbeigerauscht war. Henry seufzte. Was um Himmels willen tat er nur, spionierte er schönen Frauen nach?
Er wandte den Blick ab und widmete sich einem Kreuzworträtsel in der neusten Ausgabe von Aret Runt. Er würde sich noch oft fragen, was wohl gewesen wäre, wenn er die Frau auf dem Bahnsteig nicht aus den Augen gelassen hätte, ganz gleich wie viele Leute später versuchten, ihn davon zu überzeugen, dass er das alles niemals habe ahnen können und sich keine Vorwürfe zu machen brauche. Henry war und blieb fest davon überzeugt, dass sein Eifer, ein Kreuzworträtsel in einer Zeitschrift zu lösen, das Leben einer jungen Mutter zerstört hatte. Und es gab absolut nichts, womit er dies ungeschehen machen konnte.
Henry saß immer noch über dem Kreuzworträtsel, als er Arvids Stimme aus dem Lautsprecher hörte. Der Zug sei nun bereit, die Fahrt nach Stockholm fortzusetzen.
Hinterher konnte sich niemand mehr daran erinnern, eine Frau gesehen zu haben, die dem Zug nachlief. Aber so musste es gewesen sein, denn nur wenige Minuten später erhielt Henry im Personalabteil einen dringenden Anruf. Die junge Frau, die auf Platz sechs in Wagen zwei neben ihrer Tochter gesessen hatte, sei auf dem Bahnsteig in Flemings-berg zurückgeblieben, als der Zug wieder losgefahren war, und sitze jetzt in einem Taxi auf dem Weg in die Stockholmer Innenstadt. Demnach befand sich ihre kleine Tochter allein im Zug.
»Verdammt«, fluchte Henry und legte auf. Dass immer er sich um alles kümmern musste! Dass er niemals seine Ruhe hatte!
Da man dem Ziel der Reise schon so nahe war, wurde gar nicht erst erwogen, den Zug an einem früheren Bahnhof anhalten zu lassen. Henry eilte in Wagen zwei. Ja, es musste die rothaarige Frau auf dem Bahnsteig gewesen sein, die den Zug verpasst hatte. Ihre Tochter saß tatsächlich allein auf ihrem Platz.
Er berichtete über Handy an die Kommunikationszentrale zurück, dass das Mädchen immer noch schlafe und es unnötig sei, es vor der Ankunft in Stockholm zu wecken und ihm mit der Information über die Abwesenheit der Mutter womöglich Angst zu machen. Am anderen Ende der Leitung war man der gleichen Ansicht, und Henry versprach, sich persönlich um das Mädchen zu kümmern, sobald der Zug im Bahnhof einfuhr. Persönlich. Ein Wort, das noch lange in Henrys Kopf nachklingen sollte.
Als der Zug den Südbahnhof passierte, fingen die Mädchen in Wagen drei wieder an zu streiten. Die Türen glitten auf, und Henry hörte, wie dort Glas zersplitterte. Er rief über Funk nach seinem Kollegen. »Arvid, sofort in Wagen drei!«
Doch von Arvid kam keine Reaktion. Also machte er sich selbst auf den Weg.
Noch ehe Henry die beiden Mädchen voneinander trennen konnte, hatten sie den Stockholmer Hauptbahnhof erreicht, und mit seinem charakteristischen Schnaufen, das wie das schwere, angestrengte Ausatmen eines alten Menschen klang, blieb der Zug stehen.
»Hure!«, brüllte die Blonde.
»Fotze!«, konterte ihre Freundin.
»Also, wie ihr euch benehmt«, sagte eine ältere Dame, die gerade aufgestanden war, um ihre Reisetasche aus der Gepäckablage zu angeln.
Henry drückte sich an den Fahrgästen vorbei, die sich bereits im Gang aufgereiht hatten, um auszusteigen, und rief noch über die Schulter zurück: »Ihr Mädchen macht jetzt, was ich sage, und verlasst sofort den Zug!« Dann eilte er zurück zu Wagen zwei. Wenn das Kind nur noch nicht aufgewacht war. Aber er war ja gleich da.
Auf seiner kurzen Wanderung rempelte Henry versehentlich einige Leute an, und hinterher sollte er schwören, dass er keine drei Minuten weg gewesen war.
Doch das änderte gar nichts.
Als er Wagen zwei erreichte, war das Mädchen verschwunden. Auf dem Boden lagen noch die kleinen Sandalen. Und die Menschen, die unter Henry Lindgrens Geleit von Göteborg nach Stockholm gereist waren, strömten aus dem Zug auf den Bahnsteig hinaus.
ALEX RECHT ARBEITETE SEIT mehr als einem Vierteljahrhundert bei der Polizei, und er war der Ansicht, mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen zu dürfen, eine mehr als achtbare Erfahrung zu besitzen und sich im Lauf der Jahre ein gewaltiges Maß an Fachkompetenz und eine hervorragende Intuition erworben zu haben. Man sagte ihm nach, er habe ein gutes Bauchgefühl.
Für einen Polizisten gab es kaum etwas Wichtigeres als ein gutes Bauchgefühl. Das war es, was den guten Polizisten auszeichnete - das ultimative Kriterium, das die Spreu vom Weizen trennte. Das Bauchgefühl konnte zwar niemals die Fakten ersetzen, aber es vervollständigte sie. Wenn alle Fakten auf dem Tisch lagen, wenn alle Puzzlestückchen identifiziert waren, dann galt es zu verstehen, was man sah, und die Fragmente des Wissens, die man vor sich hatte, zu einem Ganzen zusammenzufügen.
»Viele sind berufen, aber nur wenige auserwählt«, hatte Alex' Vater gesagt, als er zum Dienstantritt seines Sohnes eine Rede gehalten hatte.
Eigentlich hatte der Vater sich gewünscht, dass sein Sohn - wie die anderen Erstgeborenen in der Familie auch - Pfarrer würde. Es war ihm schwergefallen, sich damit abzufinden, dass der Sohn lieber Polizist werden wollte.
»Die Polizeiarbeit erfordert in der Tat auch eine gewisse Berufung«, hatte Alex gesagt, um ihn versöhnlich zu stimmen.
Der Vater hatte einige Monate lang darüber nachgedacht und ihm schließlich mitteilen lassen, dass er vorhabe, die Berufswahl seines Sohnes zu akzeptieren und zu respektieren. Vielleicht wurde das Ganze auch dadurch vereinfacht, dass irgendwann Alex' Bruder beschloss, Pfarrer zu werden. Ob dies nun miteinander zu tun hatte oder nicht - Alex war seinem Bruder jedenfalls auf ewig dankbar.
Alex arbeitete gern mit Menschen zusammen, die sich genau wie er selbst zu ihrer Arbeit berufen fühlten. Er arbeitete gern mit Menschen, die eine gute Intuition besaßen und ein Gefühl dafür hatten, was eine Tatsache war und was Unsinn.
Vielleicht, so dachte er bei sich, als er im Auto zum Stockholmer Hauptbahnhof saß, vielleicht fiel es ihm deshalb so schwer, sich an seine neue Kollegin zu gewöhnen. Fredrika Bergman schien sich weder berufen zu fühlen, noch wirkte sie besonders begabt für die Aufgabe. Allerdings glaubte er auch nicht, dass sie sonderlich lange bei der Polizei bleiben würde.
Alex schielte zu ihr hinüber. Sie hatte einen so unglaublich geraden Rücken. Eine Zeit lang hatte er überlegt, ob sie vom Militär kam. Er hatte sogar ein wenig gehofft, dass es so sein möge. Aber so gründlich er ihre Unterlagen auch durchgesehen hatte, gab es doch keine einzige Zeile, die darauf hinwies, dass sie auch nur eine Stunde bei der Armee verbracht hatte. Alex seufzte. Vermutlich war sie ganz einfach Sportlerin. So einen verflucht geraden Rücken hatte keine Frau, die nichts Spannenderes mit ihrem Leben anzufangen gewusst hatte, als an der Universität zu studieren.
Alex räusperte sich leise und überlegte, ob er vielleicht etwas zu dem Fall sagen sollte, ehe sie am Bahnhof ankamen. Fredrika hatte so etwas immerhin noch nie zuvor bearbeitet. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und dann konzentrierte sich Alex wieder auf die Straße.
»Ganz schön viel Verkehr heute«, murmelte er.
Als gäbe es Tage, an denen die Stockholmer Innenstadt frei von Autos wäre.
Alex hatte während seiner vielen Jahre bei der Polizei mit einer relativ großen Zahl verschwundener Kinder zu tun gehabt. Er war längst zu der Überzeugung gelangt: Kinder verschwanden nicht einfach von selbst, sondern sie wurden verloren. Es war fast immer so - fast immer -, dass hinter einem verlorenen Kind auch ein verlorener Elternteil stand, eine schwache Person, die sich nach Alex' Meinung gar nicht erst Kinder hätte anschaffen dürfen. Dabei musste diese Person nicht einmal in schwierigen Verhältnissen leben oder ein Alkoholproblem haben. Es konnte genauso gut jemand sein, der viel zu viel arbeitete, der sich zu oft und zu spät noch mit Freunden traf, oder jemand, der sich einfach nicht genug um sein Kind kümmerte. Wenn Kinder im Leben der Erwachsenen nur den verdienten Platz einnahmen, dann verschwanden sie auch nicht so leicht. Zumindest war Alex davon überzeugt.
Die Wolken hingen schwer und dunkel am Himmel, und ein leises Grollen kündete bereits von einem aufkommenden Gewitter, als sie aus dem Wagen stiegen. Die Luft war unbeschreiblich feucht und schwer; es war einer dieser Tage, an denen man sich nichts mehr wünschte als Regen, damit die Luft wieder leichter zu atmen war. Irgendwo hinter der Altstadt zeichnete sich schwach ein Blitz vor den Wolken ab. Das Unwetter war auf dem Weg.
Alex und Fredrika eilten durch den Haupteingang des Bahnhofs, als das dritte Mitglied des Ermittlerteams, Peder Rydh, Alex auf dem Handy anrief und mitteilte, dass er auf dem Weg sei. Alex war erleichtert. Er hätte kein gutes Gefühl dabei gehabt, die Ermittlung lediglich mit einer Schreibtischtäterin wie Fredrika an seiner Seite einleiten zu müssen.
Es war kurz nach halb vier, als sie Gleis siebzehn erreichten, wo der Zug angekommen und inzwischen zum Schauplatz einer ausgiebigen Tatortuntersuchung geworden war. Der Bahn war mitgeteilt worden, es sei unklar, wann der Zug wieder in Gebrauch genommen werden könne, was zu einer ganzen Reihe von Verspätungen an diesem Tag führte. Auf dem Bahnsteig standen nur wenige Personen, die keine Polizeiuniform trugen. Alex vermutete, dass es sich bei der rothaarigen Frau, die angeschlagen, aber dennoch gefasst aussah und die auf einer blauen Plastikkiste mit Streusand saß, um die Mutter des verschwundenen Kindes handelte. Er spürte intuitiv, dass die Frau nicht zu den Eltern gehörte, die ihr Kind verloren. Er schluckte. Wenn das Kind nicht verloren worden war, dann war es entführt worden. Und wenn es entführt worden war, dann stand ihnen ein schwieriger Fall bevor.
Alex mahnte sich zur Ruhe. Er wusste noch zu wenig von den Vorkommnissen.
Ein junger Mann in Polizeiuniform kam auf ihn und Fredrika zu. Sein Handschlag war fest, aber ein wenig feucht, der Blick leicht glasig und unstet. Er stellte sich knapp als Jens vor. Wahrscheinlich kam er frisch von der Polizeihochschule, und dies hier war einer seiner ersten Fälle. Wenn diese jungen Polizisten ihre erste Anstellung antraten, brachten sie erschreckend wenig praktische Erfahrung mit. Man sah ihnen an, wie sehr sie im ersten halben Jahr von Verwirrung und manchmal sogar Panik geschlagen waren. Alex fragte sich, ob der junge Mann, dem er soeben die Hand geschüttelt hatte, wohl an der Grenze zur Panik war. Bestimmt fragte er sich auch, was um Himmels willen Alex überhaupt hierhergeführt hatte. Es geschah nur selten, eigentlich fast nie, dass die Kommissare selbst hinausfuhren, um Zeugen zu befragen. Zumindest nicht in dieser frühen Phase einer Ermittlung.
Alex wollte gerade erklären, warum er hier war, als Jens schnell und abgehackt zu reden begann. »Der Notruf kam erst dreißig Minuten, nachdem der Zug angekommen war«, berichtete er mit schriller Stimme. »Und da waren schon fast alle Passagiere vom Bahnsteig verschwunden. Also, alle außer denen da.«
Er winkte etwas zu heftig in Richtung einer kleinen Ansammlung von Menschen ein Stück weit hinter der Frau, die Alex für die Mutter des Kindes hielt. Alex schielte auf seine Armbanduhr. Zwanzig vor vier. Das Kind war bald anderthalb Stunden verschwunden.
»Der Zug ist bereits komplett durchsucht. Sie ist nirgends. Das Mädchen, meine ich. Sechs Jahre alt. Und es scheint sie auch niemand gesehen zu haben. Zumindest niemand von denen, die wir schon befragt haben. Das Gepäck ist noch da. Das Mädchen hat nichts mitgenommen. Nicht einmal die Schuhe. Die lagen immer noch vor dem Sitz auf dem Fußboden.«
Die ersten Regentropfen prasselten auf das Dach über ihnen. Das Grollen kam jetzt näher. Einen so miesen Sommer hatte er wohl noch nie erlebt, dachte Alex.
»Ist das dort die Mutter des Kindes?«, fragte Fredrika und nickte diskret zu der rothaarigen Frau hinüber.
»Ja, genau«, erwiderte der junge Polizist. »Sie heißt Sara Sebastiansson. Sie geht nicht eher nach Hause, bis wir das Mädchen gefunden haben, sagt sie.«
Alex seufzte innerlich. Natürlich war die rothaarige Frau die Mutter des Kindes. Er selbst musste danach gar nicht erst fragen, er wusste es einfach, er spürte es. Diese Intuition fehlte Fredrika vollkommen. Sie fragte nach allem und stellte noch mehr infrage. Alex fühlte, wie er wütend wurde. So konnte man Polizeiarbeit nicht betreiben. Hoffentlich merkte sie bald selbst, wie wenig sie für den Beruf geeignet war, von dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach glaubte, dass er gut für sie wäre.
»Warum hat man erst nach dreißig Minuten die Polizei gerufen?«, fragte Fredrika weiter.
Alex merkte auf. Hatte sie tatsächlich eine relevante Frage gestellt?
Jens wand sich sichtlich.
»Also, die Geschichte ist ein wenig seltsam«, begann er. Alex merkte, wie der Junge versuchte, Fredrika nicht anzustarren. »Sie hatten einen längeren außerplanmäßigen Halt in Flemingsberg, und da ist die Mutter ausgestiegen, um zu telefonieren. Das Kind hat geschlafen, deshalb hat sie es im Zug gelassen.«
Alex nickte gedankenverloren. Kinder verschwinden nicht, sie werden verloren. Womöglich hatte er die Mutter falsch eingeschätzt.
»Dann ist eine junge Frau auf sie zugekommen, also auf Sara, und zwar auf dem Bahnsteig, und diese Frau hat sie um Hilfe bei ihrem kranken Hund gebeten. Und da hat sie den Zug verpasst, als der wieder losfuhr. Dann hat sie mithilfe von irgendjemandem vom Bahnhof in Flemingsberg bei der Bahn angerufen und gesagt, dass ihr Kind noch in dem Zug sei und dass sie selbst sofort ein Taxi nach Stockholm nehmen werde.«
Stirnrunzelnd hörte Alex zu.
»Aber als der Zug hier ankam, war das Kind weg. Der Schaffner und die anderen Bediensteten haben sofort nach der Kleinen gesucht. Kaum einer von den Passagieren hat geholfen, die wollten alle nur raus aus dem Zug. Ein Securitas-Wachmann, der sonst eine Etage tiefer vor dem Burger King steht, hat bei der Suche geholfen. Und dann ist die Mutter mit dem Taxi angekommen, also Sara Sebastiansson da drüben, und hat erfahren, dass ihre Tochter verschwunden ist. Sie haben weitergesucht und gedacht, vielleicht ist das Mädchen aufgewacht und dann als Erstes ausgestiegen oder so. Aber sie konnten es nirgends finden. Dann haben sie die Polizei gerufen. Aber wir konnten es auch nicht finden.«
»Ist das Mädchen über Lautsprecher ausgerufen worden?«, fragte Fredrika. »Ich meine, für den Fall, dass es den Bahnsteig hinunter- und ins Bahnhofsgebäude gegangen ist.«
Jens nickte erst und schüttelte dann abrupt den Kopf. Natürlich hatten sie sie ausgerufen. Derzeit durchsuchten noch immer mehrere Polizisten und Freiwillige den Hauptbahnhof. Ein Lokalsender würde überdies eine Suchmeldung bringen und die Stockholmer bitten, die Polizei zu rufen, wenn ihnen das Mädchen in der Innenstadt auffiele. Die Taxiunternehmen würden auch noch informiert. Auf eigene Faust würde das Kind nicht weit kommen.
Aber noch war es nicht wieder aufgetaucht.
Fredrika nickte langsam. Alex sah zu der Mutter auf der blauen Kiste hinüber. Sie wirkte mit den Nerven fertig. Am Boden zerstört.
»Lassen Sie sie auch noch in anderen Sprachen ausrufen«, sagte Fredrika.
Die zwei Männer sahen sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Hier sind jede Menge Leute unterwegs, deren Muttersprache nicht Schwedisch ist, die aber trotzdem etwas gesehen haben könnten. Lassen Sie sie auf Englisch ausrufen. Vielleicht auch auf Deutsch und Französisch, wenn das geht. Und vielleicht Arabisch.«
Alex nickte zustimmend und ermahnte Jens mit einem raschen Blick zu tun, was Fredrika vorgeschlagen hatte. Jens eilte davon, sichtlich nervös bei der Vorstellung, auf die Schnelle eine Person finden zu müssen, die Arabisch sprach.
Der Regen prasselte inzwischen heftig auf das Bahnhofsdach, und das Gewittergrollen war zu einem lauten Krachen geworden. Es war ein widerwärtiger Tag in einem widerwärtigen Sommer.
...
Übersetzung: Susanne Dahmann
copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
AUS IRGENDEINEM GRUND MUSSTE ER, wenn er seinen Gedanken freien Lauf ließ, früher oder später immer wieder an die Krankenakte denken. Meist geschah dies nachts.
Er lag ganz still in seinem Bett und sah zur Decke hinauf, wo eine Fliege saß. Dunkelheit und Ruhe waren nie sein Ding gewesen. Es war, als würde er wehrlos, sobald die Sonne verschwand und Müdigkeit und Dunkelheit heran-krochen, ihn zu umfangen. Und Wehrlosigkeit war etwas, das ihm zutiefst widerstrebte. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er daran gearbeitet, auf der Hut zu sein, vorbereitet. Aber selbst nach Jahren der Übung empfand er es als ungeheuer schwierig, aus der Ruhe heraus bereit zu sein. Bereitschaft erforderte einen wachen Geist. Er war es gewohnt, wach zu sein. Und er war daran gewöhnt, der Müdigkeit, die in seinem Körper steckte, wenn er sich den Schlaf verweigerte, nicht nachzugeben.
Es war inzwischen lange her, dass er nachts weinend aufgewacht war. Es war lange her, dass die Erinnerungen wehgetan und ihn schwach gemacht hatten. In dieser Hinsicht war er in seinem Kampf um Frieden schon beachtlich weit gekommen.
Aber dennoch ...
Wenn er die Augen ganz fest schloss und wenn es um ihn herum ganz, ganz still war, dann sah er sie wieder vor sich. Ihre große Gestalt löste sich aus den dunklen Schatten, und er sah sie auf sich zuschwanken. Langsam, ganz langsam, so wie sie sich immer bewegte.
Bei der Erinnerung an ihren Geruch musste er immer noch würgen. Dunkel, süß und staubig. Unmöglich, diesen Geruch einzuatmen. Wie der Geruch der Bücher in ihrer Bibliothek.
Und er konnte ihre Stimme hören.
»Du Nichtsnutz«, zischte sie. »Du wertlose Missgeburt.« Und dann packte sie ihn und hielt ihn fest.
Den Worten folgten stets Schmerz und Bestrafung. Feuer. Die Erinnerung an das Feuer lebte noch immer in Teilen seines Körpers. Aber wenn er mit dem Finger über die Narben strich, wusste er, dass er überlebt hatte.
Als er noch ganz klein gewesen war, hatte er angenommen, die Bestrafung wäre die Folge davon, dass er immer alles falsch machte. Dabei hatte er immerzu versucht, alles richtig zu machen. Verzweifelt und hartnäckig. Und doch: Es wurde nur Falsches daraus.
Als er älter wurde, begann er zu begreifen, dass es einfach nichts gab, was richtig war. Nicht nur seine Handlungen waren falsch und wurden bestraft. Sein ganzes Wesen und seine Existenz waren falsch. Er wurde dafür bestraft, dass es ihn gab. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre sie nicht gestorben.
»Dich hätte es nie geben dürfen!«, brüllte sie ihm ins Gesicht. »Du bist böse, böse, böse!«
Das Weinen, das danach kam, nach dem Feuer, musste immer lautlos sein. Still, still, damit sie nichts hörte. Denn dann kam sie wieder zurück. Wieder und wieder.
Er erinnerte sich daran, dass die Beschuldigungen lange Zeit eine große Angst in ihm hervorgerufen hatten. Angst davor, dass er sich niemals damit abfinden könnte, getan zu haben, was sie ihm vorwarf. Dass er sich nie rechtfertigen und seine Sünden würde büßen können.
Die Krankenakte.
Irgendwann suchte er das Krankenhaus auf, in dem sie gepflegt wurde, und las ihre Akte. Hauptsächlich, um eine Ahnung vom Ausmaß seines Verbrechens zu bekommen. Da war er bereits mündig. Mündig, aber auf ewig für seine Untaten in Schuld verstrickt. Doch der Inhalt der Krankenakte verwandelte ihn auf ganz unerwartete Weise von schuldig in frei. Mit der Befreiung kamen Kraft und Erholung. Er erhielt ein neues Leben und neue wichtige Fragen, zu denen er Stellung beziehen musste. Die Frage war nun nicht mehr, wie er für jemand anderen büßen sollte. Die Frage war, wie für ihn gebüßt werden konnte.
Er lag im Dunkeln, lächelte und betrachtete die neue Puppe, die er sich ausgesucht hatte. Er konnte sich natürlich nicht sicher sein, aber er glaubte, dass sie ihm länger erhalten bleiben würde als die früheren. Sie musste nur noch lernen, mit ihrer Vergangenheit umzugehen, so wie er es selbst auch gelernt hatte. Alles, was sie brauchte, war eine ruhige Hand, seine ruhige Hand.
Und Liebe. Sehr viel Liebe. Seine ganz besondere und wegweisende Liebe.
Vorsichtig strich er ihr über den Rücken. Aus Versehen - oder vielleicht weil er die Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, wirklich nicht sah - strich er über einen der ganz frischen Blutergüsse. Wie ein dunkler, kleiner See lag er auf ihrem Schulterblatt. Sie wachte mit einem Ruck auf und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen glänzten vor Angst. Sie wusste nie, was sie erwartete, wenn die Dunkelheit kam.
»Es ist so weit, Püppchen. Wir können loslegen.«
Die Anspannung in ihrem Gesicht ging in ein schönes, hellwaches Lächeln über.
»Morgen geht es los«, flüsterte er.
Dann drehte er sich wieder auf den Rücken und fixierte die Fliege an der Decke. Wach und in Bereitschaft. Ohne auszuruhen.
Dienstag
ES WAR MITTEN IM SOMMER, und es wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu regnen, als das erste Kind verschwand. An einem Dienstag fing es an - an einem seltsamen Tag, der ein Tag wie jeder andere hätte werden können, am Ende dann aber das Leben einer ganzen Reihe von Menschen von Grund auf veränderte.
Henry Lindgren war einer von ihnen.
Es war der dritte Dienstag im Juli, und Henry fuhr eine Extraschicht im X2000 von Göteborg nach Stockholm. Er arbeitete schon seit mehr Jahren, als er sich eingestehen wollte, bei der Schwedischen Eisenbahn, und er hatte keine Ahnung, was aus ihm werden sollte, wenn sie ihn eines Tages in Rente schickten. Was würde er dann mit seiner Zeit anfangen, wo er doch nun allein war?
Vielleicht war es Henry Lindgrens Auge für Details, das ihm im Nachhinein half, sich so gut an die junge Frau zu erinnern, die während der Reise ihr Kind verlieren sollte - die junge, rotblonde Frau mit der grünen Leinenbluse und den offenen Sandalen, aus denen blau lackierte Zehnägel herausschauten. Wenn Henry und seine Frau eine Tochter gehabt hätten, dann hätte sie wahrscheinlich ganz ähnlich ausgesehen. Die Haare seiner Frau waren auch rot gewesen.
Als er ihre Fahrkarten abstempelte, kurz nachdem sie den Bahnhof von Göteborg verlassen hatten, stellte er fest, dass das kleine Mädchen seiner rothaarigen Mutter überhaupt nicht ähnlich sah. Die Haare des Kindes waren von dunklem Kastanienbraun und fielen ihm in derart sanften Wellen über den Kopf, dass sie fast künstlich wirkten. Sie endeten leicht auf seinen Schultern und krabbelten dann nach vorn, wie um das kleine Gesicht einzurahmen. Die Haut war dunkler als die der Mutter. Die Augen waren groß und blau. Auf dem Nasenrücken saßen winzig kleine Grüppchen von Sommersprossen, was das Gesicht nicht ganz so puppenhaft aussehen ließ.
Als Henry weiterging, lächelte er dem Kind zu. Es lächelte scheu zurück. Henry fand, dass das Mädchen müde aussah. Die Kleine wandte den Blick ab und sah aus dem Fenster, den Kopf an die Rückbank gelehnt.
»Lilian, zieh deine Schuhe aus, wenn du mit den Füßen auf den Sitz willst«, hörte er die Frau zu dem Kind sagen, als er sich umdrehte, um die Fahrkarte des nächsten Reisenden abzustempeln. Als er ihnen danach noch einen Blick zuwarf, hatte das Kind die kleinen Sandalen bereits abgeschüttelt und die Beine unter sich gezogen. Die Sandalen würden dort noch liegen, als das Mädchen schon verschwunden war.
Es sollte eine unruhige Zugreise werden. Am Vorabend hatte ein Weltstar im Göteborger Ullevi-Stadion ein Konzert gegeben, und jede Menge Fans fuhren nun mit dem Vormittagszug, in dem Henry Schaffner war, zurück nach Stockholm. Das erste Problem stellte sich ihm in Wagen fünf, wo zwei junge Männer die Sitze vollgekotzt hatten, offenbar Nachwehen der zurückliegenden Ereignisse im Ullevi. Henry musste Putzmittel holen und nasse Lappen.
Ungefähr gleichzeitig fingen zwei jüngere Mädchen in Wagen drei an, sich zu prügeln. Eine Blonde beschuldigte eine Brünette, sie hätte versucht, ihr den Freund auszuspannen. Henry versuchte vergeblich, zwischen den beiden zu vermitteln, doch Ruhe und Ordnung stellten sich im Zug erst ein, als sie an Skövde vorbei waren. Da waren die Störenfriede endlich eingenickt, und Henry konnte mit Nellie aus dem Speisewagen einen Kaffee trinken. Auf dem Rückweg sah Henry aus dem Augenwinkel, dass auch die rothaarige Frau und ihre Tochter Lilian schliefen.
Danach verlief die Reise ruhig, bis man sich Stockholm näherte. Erst als der Zug wenige Kilometer vor der Hauptstadt den Bahnhof Flemingsberg erreichte, rief der zweite Zugchef Arvid Melin etwas über die Lautsprecher aus. Der Lokführer hatte die Nachricht erhalten, dass man wegen einer Signalstörung den Stockholmer Hauptbahnhof erst fünf bis zehn Minuten später anfahren könne.
Der Zug hielt in Flemingsberg, und Henry sah, wie die rothaarige Frau auf den Bahnsteig hinaustrat. Verstohlen beobachtete er sie durch das Fenster des kleinen Abteils in Wagen sechs, das für das Zugpersonal reserviert war. Er sah sie einige Schritte über den Bahnsteig gehen, auf die andere Seite hinüber, wo weniger Leute standen. Sie holte etwas aus ihrer Handtasche. Vielleicht ein Handy? Wahrscheinlich saß das Kind immer noch im Zug und schlief. Das hatte es zumindest getan, als der Zug an Katrineholm vorbeigerauscht war. Henry seufzte. Was um Himmels willen tat er nur, spionierte er schönen Frauen nach?
Er wandte den Blick ab und widmete sich einem Kreuzworträtsel in der neusten Ausgabe von Aret Runt. Er würde sich noch oft fragen, was wohl gewesen wäre, wenn er die Frau auf dem Bahnsteig nicht aus den Augen gelassen hätte, ganz gleich wie viele Leute später versuchten, ihn davon zu überzeugen, dass er das alles niemals habe ahnen können und sich keine Vorwürfe zu machen brauche. Henry war und blieb fest davon überzeugt, dass sein Eifer, ein Kreuzworträtsel in einer Zeitschrift zu lösen, das Leben einer jungen Mutter zerstört hatte. Und es gab absolut nichts, womit er dies ungeschehen machen konnte.
Henry saß immer noch über dem Kreuzworträtsel, als er Arvids Stimme aus dem Lautsprecher hörte. Der Zug sei nun bereit, die Fahrt nach Stockholm fortzusetzen.
Hinterher konnte sich niemand mehr daran erinnern, eine Frau gesehen zu haben, die dem Zug nachlief. Aber so musste es gewesen sein, denn nur wenige Minuten später erhielt Henry im Personalabteil einen dringenden Anruf. Die junge Frau, die auf Platz sechs in Wagen zwei neben ihrer Tochter gesessen hatte, sei auf dem Bahnsteig in Flemings-berg zurückgeblieben, als der Zug wieder losgefahren war, und sitze jetzt in einem Taxi auf dem Weg in die Stockholmer Innenstadt. Demnach befand sich ihre kleine Tochter allein im Zug.
»Verdammt«, fluchte Henry und legte auf. Dass immer er sich um alles kümmern musste! Dass er niemals seine Ruhe hatte!
Da man dem Ziel der Reise schon so nahe war, wurde gar nicht erst erwogen, den Zug an einem früheren Bahnhof anhalten zu lassen. Henry eilte in Wagen zwei. Ja, es musste die rothaarige Frau auf dem Bahnsteig gewesen sein, die den Zug verpasst hatte. Ihre Tochter saß tatsächlich allein auf ihrem Platz.
Er berichtete über Handy an die Kommunikationszentrale zurück, dass das Mädchen immer noch schlafe und es unnötig sei, es vor der Ankunft in Stockholm zu wecken und ihm mit der Information über die Abwesenheit der Mutter womöglich Angst zu machen. Am anderen Ende der Leitung war man der gleichen Ansicht, und Henry versprach, sich persönlich um das Mädchen zu kümmern, sobald der Zug im Bahnhof einfuhr. Persönlich. Ein Wort, das noch lange in Henrys Kopf nachklingen sollte.
Als der Zug den Südbahnhof passierte, fingen die Mädchen in Wagen drei wieder an zu streiten. Die Türen glitten auf, und Henry hörte, wie dort Glas zersplitterte. Er rief über Funk nach seinem Kollegen. »Arvid, sofort in Wagen drei!«
Doch von Arvid kam keine Reaktion. Also machte er sich selbst auf den Weg.
Noch ehe Henry die beiden Mädchen voneinander trennen konnte, hatten sie den Stockholmer Hauptbahnhof erreicht, und mit seinem charakteristischen Schnaufen, das wie das schwere, angestrengte Ausatmen eines alten Menschen klang, blieb der Zug stehen.
»Hure!«, brüllte die Blonde.
»Fotze!«, konterte ihre Freundin.
»Also, wie ihr euch benehmt«, sagte eine ältere Dame, die gerade aufgestanden war, um ihre Reisetasche aus der Gepäckablage zu angeln.
Henry drückte sich an den Fahrgästen vorbei, die sich bereits im Gang aufgereiht hatten, um auszusteigen, und rief noch über die Schulter zurück: »Ihr Mädchen macht jetzt, was ich sage, und verlasst sofort den Zug!« Dann eilte er zurück zu Wagen zwei. Wenn das Kind nur noch nicht aufgewacht war. Aber er war ja gleich da.
Auf seiner kurzen Wanderung rempelte Henry versehentlich einige Leute an, und hinterher sollte er schwören, dass er keine drei Minuten weg gewesen war.
Doch das änderte gar nichts.
Als er Wagen zwei erreichte, war das Mädchen verschwunden. Auf dem Boden lagen noch die kleinen Sandalen. Und die Menschen, die unter Henry Lindgrens Geleit von Göteborg nach Stockholm gereist waren, strömten aus dem Zug auf den Bahnsteig hinaus.
ALEX RECHT ARBEITETE SEIT mehr als einem Vierteljahrhundert bei der Polizei, und er war der Ansicht, mit Fug und Recht für sich in Anspruch nehmen zu dürfen, eine mehr als achtbare Erfahrung zu besitzen und sich im Lauf der Jahre ein gewaltiges Maß an Fachkompetenz und eine hervorragende Intuition erworben zu haben. Man sagte ihm nach, er habe ein gutes Bauchgefühl.
Für einen Polizisten gab es kaum etwas Wichtigeres als ein gutes Bauchgefühl. Das war es, was den guten Polizisten auszeichnete - das ultimative Kriterium, das die Spreu vom Weizen trennte. Das Bauchgefühl konnte zwar niemals die Fakten ersetzen, aber es vervollständigte sie. Wenn alle Fakten auf dem Tisch lagen, wenn alle Puzzlestückchen identifiziert waren, dann galt es zu verstehen, was man sah, und die Fragmente des Wissens, die man vor sich hatte, zu einem Ganzen zusammenzufügen.
»Viele sind berufen, aber nur wenige auserwählt«, hatte Alex' Vater gesagt, als er zum Dienstantritt seines Sohnes eine Rede gehalten hatte.
Eigentlich hatte der Vater sich gewünscht, dass sein Sohn - wie die anderen Erstgeborenen in der Familie auch - Pfarrer würde. Es war ihm schwergefallen, sich damit abzufinden, dass der Sohn lieber Polizist werden wollte.
»Die Polizeiarbeit erfordert in der Tat auch eine gewisse Berufung«, hatte Alex gesagt, um ihn versöhnlich zu stimmen.
Der Vater hatte einige Monate lang darüber nachgedacht und ihm schließlich mitteilen lassen, dass er vorhabe, die Berufswahl seines Sohnes zu akzeptieren und zu respektieren. Vielleicht wurde das Ganze auch dadurch vereinfacht, dass irgendwann Alex' Bruder beschloss, Pfarrer zu werden. Ob dies nun miteinander zu tun hatte oder nicht - Alex war seinem Bruder jedenfalls auf ewig dankbar.
Alex arbeitete gern mit Menschen zusammen, die sich genau wie er selbst zu ihrer Arbeit berufen fühlten. Er arbeitete gern mit Menschen, die eine gute Intuition besaßen und ein Gefühl dafür hatten, was eine Tatsache war und was Unsinn.
Vielleicht, so dachte er bei sich, als er im Auto zum Stockholmer Hauptbahnhof saß, vielleicht fiel es ihm deshalb so schwer, sich an seine neue Kollegin zu gewöhnen. Fredrika Bergman schien sich weder berufen zu fühlen, noch wirkte sie besonders begabt für die Aufgabe. Allerdings glaubte er auch nicht, dass sie sonderlich lange bei der Polizei bleiben würde.
Alex schielte zu ihr hinüber. Sie hatte einen so unglaublich geraden Rücken. Eine Zeit lang hatte er überlegt, ob sie vom Militär kam. Er hatte sogar ein wenig gehofft, dass es so sein möge. Aber so gründlich er ihre Unterlagen auch durchgesehen hatte, gab es doch keine einzige Zeile, die darauf hinwies, dass sie auch nur eine Stunde bei der Armee verbracht hatte. Alex seufzte. Vermutlich war sie ganz einfach Sportlerin. So einen verflucht geraden Rücken hatte keine Frau, die nichts Spannenderes mit ihrem Leben anzufangen gewusst hatte, als an der Universität zu studieren.
Alex räusperte sich leise und überlegte, ob er vielleicht etwas zu dem Fall sagen sollte, ehe sie am Bahnhof ankamen. Fredrika hatte so etwas immerhin noch nie zuvor bearbeitet. Ihre Blicke begegneten sich kurz, und dann konzentrierte sich Alex wieder auf die Straße.
»Ganz schön viel Verkehr heute«, murmelte er.
Als gäbe es Tage, an denen die Stockholmer Innenstadt frei von Autos wäre.
Alex hatte während seiner vielen Jahre bei der Polizei mit einer relativ großen Zahl verschwundener Kinder zu tun gehabt. Er war längst zu der Überzeugung gelangt: Kinder verschwanden nicht einfach von selbst, sondern sie wurden verloren. Es war fast immer so - fast immer -, dass hinter einem verlorenen Kind auch ein verlorener Elternteil stand, eine schwache Person, die sich nach Alex' Meinung gar nicht erst Kinder hätte anschaffen dürfen. Dabei musste diese Person nicht einmal in schwierigen Verhältnissen leben oder ein Alkoholproblem haben. Es konnte genauso gut jemand sein, der viel zu viel arbeitete, der sich zu oft und zu spät noch mit Freunden traf, oder jemand, der sich einfach nicht genug um sein Kind kümmerte. Wenn Kinder im Leben der Erwachsenen nur den verdienten Platz einnahmen, dann verschwanden sie auch nicht so leicht. Zumindest war Alex davon überzeugt.
Die Wolken hingen schwer und dunkel am Himmel, und ein leises Grollen kündete bereits von einem aufkommenden Gewitter, als sie aus dem Wagen stiegen. Die Luft war unbeschreiblich feucht und schwer; es war einer dieser Tage, an denen man sich nichts mehr wünschte als Regen, damit die Luft wieder leichter zu atmen war. Irgendwo hinter der Altstadt zeichnete sich schwach ein Blitz vor den Wolken ab. Das Unwetter war auf dem Weg.
Alex und Fredrika eilten durch den Haupteingang des Bahnhofs, als das dritte Mitglied des Ermittlerteams, Peder Rydh, Alex auf dem Handy anrief und mitteilte, dass er auf dem Weg sei. Alex war erleichtert. Er hätte kein gutes Gefühl dabei gehabt, die Ermittlung lediglich mit einer Schreibtischtäterin wie Fredrika an seiner Seite einleiten zu müssen.
Es war kurz nach halb vier, als sie Gleis siebzehn erreichten, wo der Zug angekommen und inzwischen zum Schauplatz einer ausgiebigen Tatortuntersuchung geworden war. Der Bahn war mitgeteilt worden, es sei unklar, wann der Zug wieder in Gebrauch genommen werden könne, was zu einer ganzen Reihe von Verspätungen an diesem Tag führte. Auf dem Bahnsteig standen nur wenige Personen, die keine Polizeiuniform trugen. Alex vermutete, dass es sich bei der rothaarigen Frau, die angeschlagen, aber dennoch gefasst aussah und die auf einer blauen Plastikkiste mit Streusand saß, um die Mutter des verschwundenen Kindes handelte. Er spürte intuitiv, dass die Frau nicht zu den Eltern gehörte, die ihr Kind verloren. Er schluckte. Wenn das Kind nicht verloren worden war, dann war es entführt worden. Und wenn es entführt worden war, dann stand ihnen ein schwieriger Fall bevor.
Alex mahnte sich zur Ruhe. Er wusste noch zu wenig von den Vorkommnissen.
Ein junger Mann in Polizeiuniform kam auf ihn und Fredrika zu. Sein Handschlag war fest, aber ein wenig feucht, der Blick leicht glasig und unstet. Er stellte sich knapp als Jens vor. Wahrscheinlich kam er frisch von der Polizeihochschule, und dies hier war einer seiner ersten Fälle. Wenn diese jungen Polizisten ihre erste Anstellung antraten, brachten sie erschreckend wenig praktische Erfahrung mit. Man sah ihnen an, wie sehr sie im ersten halben Jahr von Verwirrung und manchmal sogar Panik geschlagen waren. Alex fragte sich, ob der junge Mann, dem er soeben die Hand geschüttelt hatte, wohl an der Grenze zur Panik war. Bestimmt fragte er sich auch, was um Himmels willen Alex überhaupt hierhergeführt hatte. Es geschah nur selten, eigentlich fast nie, dass die Kommissare selbst hinausfuhren, um Zeugen zu befragen. Zumindest nicht in dieser frühen Phase einer Ermittlung.
Alex wollte gerade erklären, warum er hier war, als Jens schnell und abgehackt zu reden begann. »Der Notruf kam erst dreißig Minuten, nachdem der Zug angekommen war«, berichtete er mit schriller Stimme. »Und da waren schon fast alle Passagiere vom Bahnsteig verschwunden. Also, alle außer denen da.«
Er winkte etwas zu heftig in Richtung einer kleinen Ansammlung von Menschen ein Stück weit hinter der Frau, die Alex für die Mutter des Kindes hielt. Alex schielte auf seine Armbanduhr. Zwanzig vor vier. Das Kind war bald anderthalb Stunden verschwunden.
»Der Zug ist bereits komplett durchsucht. Sie ist nirgends. Das Mädchen, meine ich. Sechs Jahre alt. Und es scheint sie auch niemand gesehen zu haben. Zumindest niemand von denen, die wir schon befragt haben. Das Gepäck ist noch da. Das Mädchen hat nichts mitgenommen. Nicht einmal die Schuhe. Die lagen immer noch vor dem Sitz auf dem Fußboden.«
Die ersten Regentropfen prasselten auf das Dach über ihnen. Das Grollen kam jetzt näher. Einen so miesen Sommer hatte er wohl noch nie erlebt, dachte Alex.
»Ist das dort die Mutter des Kindes?«, fragte Fredrika und nickte diskret zu der rothaarigen Frau hinüber.
»Ja, genau«, erwiderte der junge Polizist. »Sie heißt Sara Sebastiansson. Sie geht nicht eher nach Hause, bis wir das Mädchen gefunden haben, sagt sie.«
Alex seufzte innerlich. Natürlich war die rothaarige Frau die Mutter des Kindes. Er selbst musste danach gar nicht erst fragen, er wusste es einfach, er spürte es. Diese Intuition fehlte Fredrika vollkommen. Sie fragte nach allem und stellte noch mehr infrage. Alex fühlte, wie er wütend wurde. So konnte man Polizeiarbeit nicht betreiben. Hoffentlich merkte sie bald selbst, wie wenig sie für den Beruf geeignet war, von dem sie aller Wahrscheinlichkeit nach glaubte, dass er gut für sie wäre.
»Warum hat man erst nach dreißig Minuten die Polizei gerufen?«, fragte Fredrika weiter.
Alex merkte auf. Hatte sie tatsächlich eine relevante Frage gestellt?
Jens wand sich sichtlich.
»Also, die Geschichte ist ein wenig seltsam«, begann er. Alex merkte, wie der Junge versuchte, Fredrika nicht anzustarren. »Sie hatten einen längeren außerplanmäßigen Halt in Flemingsberg, und da ist die Mutter ausgestiegen, um zu telefonieren. Das Kind hat geschlafen, deshalb hat sie es im Zug gelassen.«
Alex nickte gedankenverloren. Kinder verschwinden nicht, sie werden verloren. Womöglich hatte er die Mutter falsch eingeschätzt.
»Dann ist eine junge Frau auf sie zugekommen, also auf Sara, und zwar auf dem Bahnsteig, und diese Frau hat sie um Hilfe bei ihrem kranken Hund gebeten. Und da hat sie den Zug verpasst, als der wieder losfuhr. Dann hat sie mithilfe von irgendjemandem vom Bahnhof in Flemingsberg bei der Bahn angerufen und gesagt, dass ihr Kind noch in dem Zug sei und dass sie selbst sofort ein Taxi nach Stockholm nehmen werde.«
Stirnrunzelnd hörte Alex zu.
»Aber als der Zug hier ankam, war das Kind weg. Der Schaffner und die anderen Bediensteten haben sofort nach der Kleinen gesucht. Kaum einer von den Passagieren hat geholfen, die wollten alle nur raus aus dem Zug. Ein Securitas-Wachmann, der sonst eine Etage tiefer vor dem Burger King steht, hat bei der Suche geholfen. Und dann ist die Mutter mit dem Taxi angekommen, also Sara Sebastiansson da drüben, und hat erfahren, dass ihre Tochter verschwunden ist. Sie haben weitergesucht und gedacht, vielleicht ist das Mädchen aufgewacht und dann als Erstes ausgestiegen oder so. Aber sie konnten es nirgends finden. Dann haben sie die Polizei gerufen. Aber wir konnten es auch nicht finden.«
»Ist das Mädchen über Lautsprecher ausgerufen worden?«, fragte Fredrika. »Ich meine, für den Fall, dass es den Bahnsteig hinunter- und ins Bahnhofsgebäude gegangen ist.«
Jens nickte erst und schüttelte dann abrupt den Kopf. Natürlich hatten sie sie ausgerufen. Derzeit durchsuchten noch immer mehrere Polizisten und Freiwillige den Hauptbahnhof. Ein Lokalsender würde überdies eine Suchmeldung bringen und die Stockholmer bitten, die Polizei zu rufen, wenn ihnen das Mädchen in der Innenstadt auffiele. Die Taxiunternehmen würden auch noch informiert. Auf eigene Faust würde das Kind nicht weit kommen.
Aber noch war es nicht wieder aufgetaucht.
Fredrika nickte langsam. Alex sah zu der Mutter auf der blauen Kiste hinüber. Sie wirkte mit den Nerven fertig. Am Boden zerstört.
»Lassen Sie sie auch noch in anderen Sprachen ausrufen«, sagte Fredrika.
Die zwei Männer sahen sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Hier sind jede Menge Leute unterwegs, deren Muttersprache nicht Schwedisch ist, die aber trotzdem etwas gesehen haben könnten. Lassen Sie sie auf Englisch ausrufen. Vielleicht auch auf Deutsch und Französisch, wenn das geht. Und vielleicht Arabisch.«
Alex nickte zustimmend und ermahnte Jens mit einem raschen Blick zu tun, was Fredrika vorgeschlagen hatte. Jens eilte davon, sichtlich nervös bei der Vorstellung, auf die Schnelle eine Person finden zu müssen, die Arabisch sprach.
Der Regen prasselte inzwischen heftig auf das Bahnhofsdach, und das Gewittergrollen war zu einem lauten Krachen geworden. Es war ein widerwärtiger Tag in einem widerwärtigen Sommer.
...
Übersetzung: Susanne Dahmann
copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Kristina Ohlsson
Kristina Ohlsson, Jahrgang 1979, arbeitete im schwedischen Außen- und Verteidigungsministerium als Expertin für EU-Außenpolitik und Nahostfragen, bei der nationalen schwedischen Polizeibehörde in Stockholm und als Terrorismus-Expertin bei der OSZE in Wien. Mit ihrem Debütroman "Aschenputtel" gelang ihr sofort der internationale Durchbruch als Thrillerautorin. "Tausendschön" ist ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristina Ohlsson
- 2012, Erstmals im TB, 494 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanne Dahmann
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442375800
- ISBN-13: 9783442375806
- Erscheinungsdatum: 12.09.2012
Rezension zu „Aschenputtel / Fredrika Bergman Bd.1 “
»Die Neuentdeckung des Jahres für Freunde des Schweden-Krimis.«
Pressezitat
»Kristina Ohlsson legt spannungsreich viele Fährten und geht bei den Charakteren in die Tiefe [...]. Wer auf klassische skandinavische Krimis steht, macht mit diesem Buch alles richtig.« Julia Jakob / NDR Info
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