Friedhof der Unschuldigen
Roman. Ausgezeichnet mit dem Costa Novel Award 2011
Kurz vor der Französischen Revolution erhält ein junger Provinzingenieur den Auftrag, einen uralten Pariser Friedhof zu beseitigen, der die Anwohner zu vergiften droht. Doch der Pöbel ist abergläubisch, vor allem, als sich unheimliche Vorfälle...
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Produktinformationen zu „Friedhof der Unschuldigen “
Kurz vor der Französischen Revolution erhält ein junger Provinzingenieur den Auftrag, einen uralten Pariser Friedhof zu beseitigen, der die Anwohner zu vergiften droht. Doch der Pöbel ist abergläubisch, vor allem, als sich unheimliche Vorfälle häufen...
»Der Roman ist unerhört kenntnisreich und brillant geschrieben. Er versetzt den Leser mit Haut und Haaren in das Frankreich vom Vorabend der Revolution.« Hilary Mantel
»Der Roman ist unerhört kenntnisreich und brillant geschrieben. Er versetzt den Leser mit Haut und Haaren in das Frankreich vom Vorabend der Revolution.« Hilary Mantel
Klappentext zu „Friedhof der Unschuldigen “
Frankreich, Ende des 18. Jahrhunderts: Im Schloss von Versailles wird dem jungen Ingenieur Jean-Baptiste Baratte von höchster Stelle ein Auftrag erteilt. Er soll den Friedhof der Unschuldigen demolieren, der, mitten in Paris gelegen, Hunderttausende von Toten beherbergt und dessen Ausdünstungen die Stadt langsam vergiften, so dass der Wein in den Kellern zu Essig wird, Fleisch binnen Minuten verfault. Aber es soll möglichst unauffällig geschehen, der Pöbel ist abergläubisch und will die Totenruhe nicht gestört sehen. Miller erzählt diese Geschichte vom Vorabend der Revolution und den widerstreitenden Kräften des Alten und des Neuen in einer kühnen, eleganten Prosa.
Lese-Probe zu „Friedhof der Unschuldigen “
Friedhof der Unschuldigen von Andrew Miller 6
In der Kirche fällt das Licht eines Pariser Morgens in dünnen, grauen Strängen aus hohen Fenstern, ohne jedoch viel gegen die immerwährende Dämmerung im Gebäude auszurichten. Schwarze oder nahezu schwarze Pfeiler erheben sich wie die Überreste eines versteinerten Waldes, ihr oberes Ende verliert sich in Baldachinen aus Schatten. In den Seitenkapellen, wo seit fünf Jahren keine Kerze mehr entzündet worden ist, hat sich die Dunkelheit gleichsam zu Wächten angehäuft. Heilige, Madonnen, Christkinder, sämtliche großen, zweitrangigen Gemälde von Märtyrertod, von Tauben, die auf wohlfrisierten, italienisch anmutenden Köpfen landen, die verschlossenen Reliquiare mit ihren Knöchelchen oder Splittern vom heiligen Kreuz, das alles könnte genausogut nie existiert haben, so gründlich ist es jetzt verborgen.
Die Orgel (drei Manuale, vierzig Register), von einem Deutschen gebaut und sehr alt, befindet sich am Nordschiff, an der Seite der Kirche, die entlang der Rue aux Fers liegt, wo diese in die Rue Saint-Denis übergeht. Die Tür zur Empore - ungefähr ein Drittel so hoch wie eine normale Haustür - steht offen, und aus ihr kommt, von Husten und Räuspern angekündigt, der Kopf eines Mannes. Er hält dort inne, genau wie ein Hund zögern würde, bevor er ein unsicheres Stück offenen Raum durchquert, dann verschwindet er wieder in der Empore, um einen Moment später von zwei langen Beinen ohne Stiefel abgelöst zu werden, denen ein ausladendes, in eine Hose gezwängtes Hinterteil, dann der Oberkörper und schließlich abermals der zerzauste Kopf folgen.
... mehr
Es gibt keine Leiter - irgendwer hat sie als Feuerholz verwendet -, und der Mann rutscht herab, lässt sich von der Tür der Empore heruntergleiten, bis seine Zehen eine behelfsmäßige Stufe aus Gebetbüchern, Bibeln mit rissigen Einbänden und Heiligenleben berühren (er hat Freunden gegenüber schon viele abgeschmackte Witze darüber gemacht, dass er auf der Leiter der Religion in den Himmel der Musik klettere). Auf den Steinplatten des Bodens angelangt - seine Füße stehen auf dem Grab eines Barons Soundso, dessen Frau und mehrerer dahingeschiedener Kinder -, klopft er sich ab, spuckt Ruß in ein Taschentuch, zieht seinen Rock an und setzt sich an den Spieltisch. Er lässt die Knöchel knacken; unterm Dach wird ein fahler Vogel aufgeschreckt und flattert los. Selbst bei diesem Licht zeigt das Haar des Mannes einen leichten Kupferschimmer. Er zieht Register.Trompette, tierce, cromorne, voix humaine. Auf dem Notenpult hat er Gigaults Livre de Musique und daneben ein Heft mit Kantaten von Clérambault, aber um Noten lesen zu können, brauchte er Kerzen, und er macht sich nicht die Mühe, welche anzuzünden. Er hat eine Kerze im Kopf, mehr Licht braucht er nicht, und er beginnt aus dem Gedächtnis ein Trio von Couperin zu spielen, Rückgrat und Hals leicht nach hinten gebogen, als wäre die Orgel eine sechsspännige Kutsche und er preschte mitten durch Les Halles, dass Gänse, Kohlköpfe und alte Frauen auseinanderstieben.
Es ist kein Geräusch zu hören, nichts als das dumpfe Klakken der Tasten und das Trapsen der Pedale. Er hat keine Luft, obwohl es für Couperin mehr als Luft brauchte - die alte Orgel ist dem wirklich nicht mehr gewachsen. Für andere Stücke, die verzogenes Metall und altes Leder weniger beanspruchen, nimmt er sich ab und zu einen Träger vom Markt, damit er den Blasebalg betätigt, oder den großen, stummen Jungen, der sich in der Rue Saint-Denis herumtreibt. Dann wird Les Innocents fast in den Wahnsinn getrieben, die Messingadler, die zerschlissenen Fahnen, die Millionen von Gebeinen in den Krypten, das alles bekommt ein paar Minuten lang gewaltsam so etwas wie Leben eingehaucht. Das ist seine Aufgabe - es gibt keinen anderen Grund zu spielen: Es kommt keine Gemeinde zusammen, es werden keine Messen gelesen, keine Trauungen gefeiert und schon gar keine Beerdigungen abgehalten. Aber solange er spielt und solange der Priester, dieser abgezehrte alte Soldat Christi, hier herumgeistern darf, so lange behält Mutter Kirche ihren Anspruch auf Les Innocents, einen Anspruch, den sie, wie Ansprüche überall, gegen einen handfesten Vorteil eintauschen kann.
Er spielt Oktavsprünge, moduliert wie rasend, die kreideweißen Finger tanzen auf der Jagd nach Couperins Hirschkalb über die Tasten, als er hört - das kann doch nicht sein! -, wie die Tür in der Nordwand geöffnet wird. Der Priester, wenn er die Kirche überhaupt einmal verlässt, kommt und geht auf andere Weise, aber wenn es nicht Père Colbert ist, wer dann?
Er dreht sich auf der Bank herum, schaut mit zusammengekniffenen Augen bis zu der Stelle, wo in der offenen Tür zur Rue aux Fers ein Mann steht. Ein Mann, ja, ein junger Mann, aber der Organist, der die meisten Gesichter im Viertel kennt, kennt ihn nicht.
»Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?«
Der Eindringling verhält mitten in der Gehbewegung. Er dreht den Kopf, will sehen, woher die Stimme kommt.
»Sehen Sie die Pfeifen? Gehen Sie darauf zu. Gleich sehen Sie mich ... Ein Stückchen noch ... Noch ein Stückchen ... Da! Ein Wesen aus Fleisch und Blut, genau wie Sie. Ich bin Armand de Saint-Méard. Organist an der Kirche der Unschuldigen.«
»Ein Organist? Hier?«
»Da ist die Orgel. Da ist der Organist. Es gibt wirklich keinen Grund, sich zu wundern.«
»Ich wollte Sie nicht -«
»Und Sie, Monsieur? Mit wem habe ich die Ehre?«
»Baratte.«
»Baratte?«
»Ich bin der Ingenieur.«
»Ah! Sie sind gekommen, um die Orgel zu reparieren.«
»Zu reparieren?«
»Sie hinkt, musikalisch gesprochen. Ich tue, was ich kann, aber ...«
»Ich bedaure, Monsieur ... Ich verstehe nichts von Orgeln. «
»Nein? Dabei ist es die einzige Maschine, die wir haben. Ich würde meinen, Sie sind am falschen Ort, aber wie ich sehe, haben Sie einen Schlüssel in der Hand. Hat der Bischof Sie geschickt?«
»Der Bischof? Nein.«
»Wer dann?«
Nach kurzem Zögern nennt Jean-Baptiste mit leiser Stimme den Namen des Ministers.
»Man hat also endlich doch etwas mit uns vor«, sagt der Organist.
»Ich bin hier, um -«
»Pst!«
Hoch über ihnen, auf dem schmalen Laufgang des Triforiums, das Geräusch schlurfender Füße. Der Organist zieht Jean-Baptiste in den Schutz eines Pfeilers. Sie warten. Nach kurzer Zeit verklingt das Geräusch. »Père Colbert«, flüstert der Organist. »Unwahrscheinlich, dass er einem Ingenieur, den der Minister schickt, mit Wohlwollen begegnet. Eigentlich auch unwahrscheinlich, dass er überhaupt jemandem mit Wohlwollen begegnet.«
»Ein Priester?«
»Alt, aber kräftig wie ein Ochse. Er war schon Missionar in China, als Sie und ich noch gar nicht auf der Welt waren. Ich habe sogar gehört, er sei dort gefoltert worden. Man habe etwas mit seinen Augen gemacht. Das Licht bereitet ihm Schmerzen. Er trägt eine getönte Brille. Sieht durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort. Ein aufbrausendes Temperament ...«
Jean-Baptiste nickt und sagt nach einem kurzen Blick auf den rötlichen Schimmer im Haar seines Gegenübers: »Waren Sie das, der bei den Monnards gewohnt hat?«
»Bei den Monnards? Und woher, Monsieur, wollen Sie so etwas wissen?«
»Man spricht dort noch von Ihnen.«
»Sie sind jetzt dort? In dem kleinen Zimmer mit Blick auf den Friedhof?«
»Ja.«
»Sieh an, sieh an. Ha! Ich würde sagen, dort oben ist es jetzt kalt.«
»Ganz recht.«
»Ein kleiner Rat. Wenn Sie im Bett liegen, schauen Sie an die Decke. Sie werden dort ein kleines - Oh, oh. Obacht, mein Lieber. Ist Ihnen nicht wohl?«
Während Jean-Baptiste dem Trommeln seines Herzens lauscht, geht ihm auf, dass er seit Betreten der Kirche versucht hat, den Atem anzuhalten. Er lässt sich von dem Organisten zur Orgelbank führen, hört ihn wie von der anderen Seite der Wand aus sagen, auch ihm sei es anfangs so ergangen und er habe die Kirche nur mit einem in Eau de Cologne getränkten und vor das Gesicht gedrückten Tuch betreten können.
»Ich habe mich darüber verwundert, wie Menschen weniger als einen halben Tagesritt von diesem Ort entfernt leben können. Und dennoch tun sie es, wie Sie sehen. So zahlreich wie die Bienen. Man gewöhnt sich daran. Versuchen Sie, durch den Mund zu atmen. Der Geschmack ist leichter
zu ertragen als der Geruch.«
»Ich bin auf der Suche nach Manetti«, sagt Jean-Baptiste.
»Dem Totengräber? Sie haben ja wirklich etwas vor. Aber keine Sorge. Manetti ist der am einfachsten zu findende Mann von ganz Paris. Lassen Sie uns an die Luft gehen. Sie können uns beiden ein Glas von etwas Stärkendem kaufen.«
Auf den Arm des Organisten gestützt - es geht wirklich nicht anders -, kehrt Jean-Baptiste zu der Tür in der Nordwand zurück. Nicht, dass er der Kirche die ganze Schuld zuschieben kann. Es war eine wenig erquickliche Nacht, das ganze Haus war in Unruhe, als bliese ein stürmischer Wind, obwohl das nicht der Fall war. Er hat sich eingebildet, weiteres Kratzen an der Tür und zu irgendeiner unchristlichen Zeit sogar ein Kratzen am Fenster zu hören. Und dann, in aller Frühe, stand im Wohnzimmer der Monnards Lafosse mit den Schlüsseln zur Kirche in der Hand. Und jenes Gesicht bot auch keinen Trost ...
Als sie draußen auf der Straße stehen, die Tür geschlossen und versperrt ist und Jean-Baptiste seinen Füßen, seiner Kraft wieder trauen kann, wenden sie sich nach links in Richtung Rue de la Lingerie, dann nach rechts in Richtung Markt. Etwa alle zehn Schritte wird der Organist von irgendwem, meist einer Frau, gegrüßt. Bei jeder Begegnung streift das jeweilige Augenpaar kurz den jungen Mann neben ihm, den neuen Begleiter.
»Dort drüben«, sagt der Organist und deutet mit dem Arm darauf, »können Sie gut und billig essen. Da an der Ecke flickt man Ihnen die Kleider, ohne sie zu stehlen. Und das da ist Gaudets Laden. Rasiert einen gut, kennt jeden. Und hier ... hier ist die Rue de la Fromagerie, wo man hingeht, wenn man etwas anderes einatmen möchte als den Duft von Gräbern. Nur zu. Füllen Sie sich die Lunge.«
Sie haben das eine Ende einer merkwürdigen, verstopften Ader von einer Straße betreten, die eher Gasse als Straße, eher Gosse als Gasse ist. Die oberen Stockwerke der Gebäude neigen sich zueinander hin, so dass zwischen ihnen nur ein schmaler Streifen weißer Himmel bleibt. Auf beiden Seiten der Straße ist jedes zweite Haus ein Laden, und jeder Laden verkauft Käse. Manchmal auch Eier, manchmal auch Milch und Butter, immer jedoch Käse. Käse in den Fenstern, auf Tischen und Handkarren ausgelegter Käse, auf Stroh getürmter Käse, an Schnüren hängender oder in Bottichen mit Salzlake schwimmender Käse. Käse, der mit einem Messer geschnitten werden muss, das groß genug ist, um einen Stier zu schlachten, Käse, der mit geschnitzten Holzlöffeln geschöpft werden muss. Rot, grün, grau, rosa, reinstes Weiß. Jean-Baptiste weiß bei den meisten nicht, um was für Sorten es sich handelt oder woher sie kommen, doch einen erkennt er sofort, und ihm geht das Herz auf, als hätte er ein ihm teures Gesicht von zu Hause erblickt. Pont-l'Evêque! Normannisches Gras! Normannische Luft!
»Möchten Sie kosten?« fragt die junge Verkäuferin, aber sein Interesse hat sich schon dem Stand nebenan zugewandt, wo eine Frau im roten Umhang gerade ein rundes Stück Ziegenkäse mit in Asche gewälzter Rinde kauft.
»Das«, sagt der Organist und beugt sich über Jean-Baptistes Schulter, »ist die Österreicherin. So genannt wegen ihrer Ähnlichkeit mit unserer geliebten Königin. Und ich spreche nicht nur von ihren blonden Haaren. He, Héloïse! Darf ich Ihnen meinen Freund hier vorstellen, dessen Namen ich leider vergessen habe und der von Gott weiß wo gekommen ist, um unser aller Leben auf den Kopf zu stellen.«
Sie zählt gerade kleine Münzen für den Käse ab. Sie schaut zu ihnen herüber, zuerst auf Armand, dann auf Jean-Baptiste. Errötet er? Ihm ist, als hätte er sie stirnrunzelnd gemustert.
Dann wendet sie den Blick ab, nimmt ihren Einkauf und entfernt sich durch die Menge.
»Die Frauen hier hassen sie«, sagt Armand, »teils weil ihre Ehemänner sie für eine Stunde kaufen können, hauptsächlich aber, weil sie nicht hierherpasst, nicht hierhergehört. Wäre sie drüben im Palais Royal, würde niemand mit der Wimper zucken. Den Palast haben Sie wohl schon gesehen?«
»Ich habe davon gehört, war aber nie -«
»Sie sind mir vielleicht einer, mein Lieber! Sie sind wie einer von Montesquieus Persern. Ich werde in der Zeitung über Sie schreiben. Eine wöchentliche Kolumne.« Er schreitet voraus und setzt, während sie unter den Strebepfeilern von Saint-Eustache vorbeikommen, zu einem lauten, launigen, improvisierten Vortrag über die Geschichte des Palais an: dass es einmal der Garten von Kardinal Richelieu gewesen sei, dass der Duc d'Orléans es seinem Sohn geschenkt und dieser es mit Kaffeehäusern, Theatern und Läden gefüllt habe, dass es stets voller Menschen und überaus elegant und das größte Bordell von Europa sei ...
Er ist immer noch dabei, es zu beschreiben, als sie bei dem Gebäude selbst, bei einem seiner vielen Eingänge, ankommen, einem Durchgang, der nicht breiter ist als die Rue de la Fromagerie, und durch ihn werden sie in einen Hof mit Arkaden gedrängt, in dessen Mitte gerade unter johlendem Gelächter eine Marionettenvorstellung zu Ende geht. Jean- Baptiste scheint es so, als ließe man die Puppen miteinander Unzucht treiben. Als er genauer hinsieht, erkennt er, dass es tatsächlich so ist.
»Die Polizeistreifen kommen niemals hierher«, sagt der Organist. »Der Herzog macht ihnen kleine Geschenke, und sie suchen sich eine andere Beschäftigung. Unzüchtiges Puppenspiel ist noch das geringste.«
Wer sind diese Leute? Übt keiner von ihnen ein Gewerbe, einen Beruf aus? Ihre Bewegungen, ihre Kleidung, der Lärmpegel, das alles lässt an Karneval denken, dabei ist keinerlei Zentrum, keinerlei wahrnehmbare Struktur zu erkennen. Alles geschieht scheinbar spontan, ist die fortwährende Selbsterfindung des Augenblicks.
»Kommen Sie«, sagt der Organist, zupft Jean-Baptiste am Ärmel und nötigt ihn auf die Tür eines Kaffeehauses zu, das ein Stück weit in einer der Galerien liegt. »Wir versuchen da drin unser Glück.«
Drinnen herrscht ein ebenso dichtes Gedränge wie draußen, aber der Organist bekommt dank einem wohlkalkulierten, an einen Kellner gerichteten Gruß bald einen kleinen Tisch mit zwei ramponierten Rohrstühlen. Er bestellt Kaffee, eine Schale süßen Rahm, zwei Gläser Schnaps. Die Gäste sind ausschließlich männlichen Geschlechts und größtenteils jung. Alle sprechen mit voller Lautstärke. Ab und zu liest jemand aus einer Zeitung vor oder klopft ans Fenster, um einen vorbeikommenden Bekannten auf sich aufmerksam zu machen, vielleicht irgendeine Frau, die er anfeixen möchte. Die Kellner - kleine, hochkonzentrierte Männer - navigieren auf eng gewundenen Pfaden zwischen den Stuhllehnen. Eine Bestellung wird gerufen und mit kaum wahrnehmbaren Nicken bestätigt. Zwei Hunde gehen einander an die Gurgel, werden von ihren Besitzern geprügelt und wieder unter die Tische gescheucht. Jean-Baptiste zieht seinen Mantel aus (schwierig genug bei dieser Beengtheit). Das Kaffeehaus ist der wärmste Ort, an dem er seit Wochen gewesen ist. Heiß, verqualmt, leicht feucht. Als sein Schnaps kommt, trinkt er ihn aus reinem Durst.
»Besser?« fragt der Organist. Sein Glas ist ebenfalls leer. Er bestellt zwei weitere. »Sie dürfen mich Armand nennen«, sagt er. »Allerdings überlasse ich das Ihnen.«
Nun, da sie einander gegenübersitzen und er sich tatsächlich besser fühlt, kann Jean-Baptiste ihn genauer in Augenschein nehmen, diesen Armand, zumal der Organist die nervöse Angewohnheit hat, an ihm vorbei auf sämtliche anderen Gesichter im Kaffeehaus zu schauen. Weder trägt er eine Perücke, noch sind seine Haare gepudert: Bei solchem Haar hätte Puder wenig Sinn. Seine Kleidung - sie wirkt teuer, wenn auch eher aus der Entfernung als aus der Nähe - folgt keiner Mode, die Jean-Baptiste kennt. Hosen, gestreift und eng getragen wie eine zweite Haut. Eine Weste, halb so lang wie seine eigene, und ein Rock mit derart breiten Aufschlägen, dass die Spitzen beinahe über die Schultern hinausragen. Eine Krawatte aus meterweise grünem Musselin. Wenn er trinkt, muss er sie von seinem Mund, seinen ins Lilafarbene spielenden Lippen fernhalten.
»Sie haben nicht damit gerechnet, einen Organisten in der Kirche vorzufinden«, sagt Armand, während sein Blick zu Jean-Baptiste zurückkehrt. »Eigentlich bin ich der Musikdirektor. «
»Sind Sie schon lange da?«
»Seit achtzehn Monaten.«
»Dann sind Sie ernannt worden, als die Kirche schon geschlossen war.«
»Kann man denn eine Kirche schließen wie eine Bäckerei?«
»Wenn eine entsprechende Verfügung ergeht, wohl schon, nehme ich an.«
»So, Sie nehmen an? Tja, Sie haben zweifellos recht. Mein Vorgänger hat sich zu Tode getrunken. Ich würde meinen, er fand die Situation ... beunruhigend?«
»Sie nicht?«
»Ämter sind, wie Sie vielleicht selbst wissen, niemals leicht zu bekommen.«
»Aber es gibt niemanden, für den man spielen könnte.«
Armand zuckt die Schultern, greift nach seinem zweiten Schnaps. »Es gibt mich, Père Colbert, den lieben Gott. Und jetzt auch noch Sie. Eigentlich ein recht gutes Publikum.«
Jean-Baptiste grinst. Obwohl ihm zu schaffen macht, dass er in einem Kaffeehaus sitzt und Schnaps trinkt, anstatt den Friedhof zu vermessen, zu schaffen macht, dass er in der Kirche kaum atmen konnte, bedauert er es nicht, auf diesen Musiker mit den flammendroten Haaren gestoßen zu sein. Vielleicht erfährt er ja etwas Zweckdienliches. Die Arbeit, die man ihm anvertraut hat, wird nicht einfach nur auf das Ausgraben und Wegschaffen von Gebeinen hinauslaufen. Soviel ist ihm klar. Ebenso sehr wie mit den Toten wird er sich mit den Lebenden auseinandersetzen müssen.
»Wenn ich es mir nicht mit dem Bischof verderbe«, sagt Armand, »bekomme ich eines Tages etwas Besseres. Saint- Eustache vielleicht.«
»Auch dort«, sagt Jean-Baptiste, »werden Sie ihn noch riechen können.«
»Den Friedhof? Es ist, wie ich gesagt habe. Man gewöhnt sich daran. Genauer gesagt, man gewöhnt sich eigentlich nie daran, aber es wird erträglich. Man passt sich an. Sagen Sie, was ist Ihnen an den Monnards aufgefallen?«
»Dass sie ... achtbare Menschen sind?«
»O ja. Sehr achtbar. Und was noch?«
»Dass sie gern reden?«
»Die einzige Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen, bestünde darin, Worte mit einer Steuer zu belegen. Was unsere Herren ja vielleicht schon ins Auge fassen. Nun aber. Seien Sie ganz offen. Was noch?«
»Ihr Atem?«
»Genau. Und vielleicht ist Ihnen auch aufgefallen, dass meiner nicht sehr viel lieblicher ist. Nein, Sie brauchen nicht höflich zu sein. Jedem, der einige Zeit in dieser Umgebung verbringt, ergeht es genauso.«
»Ist es das, worauf ich mich gefasst machen muss?«
»Haben Sie denn vor, so lange zu bleiben?«
»Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben werde.«
»Sie möchten nicht von Ihrer Arbeit sprechen.«
»Es würde Sie bestimmt nicht interessieren.«
»So? Ich vermute, es würde mich sehr interessieren, obwohl ich Sie jetzt nicht drängen will. Wir werden von etwas anderem reden. Zum Beispiel von Ziguette Monnard.Haben Sie sie einmal genau angesehen?«
»Ich habe ihr bei Tisch gegenübergesessen.«
»Waren Sie nicht beeindruckt? Sie ist eines der hübschesten Mädchen des Viertels.«
»Ich gebe zu, sie ist hübsch.«
»Ach, Sie geben es zu? Wie großzügig! Haben Sie vielleicht jemanden zu Hause? Wo immer Ihr Zuhause liegt.«
»In Bellême. In der Normandie.«
»In Bellême also. Nein, wie ich sehe, haben Sie niemanden. Tja, nehmen Sie sich in acht, mein Lieber. Wenn Sie bleiben, wird man mit Sicherheit versuchen, Sie mit ihr zu verheiraten. «
»Mit Ziguette?«
»Warum nicht? Ein junger Ingenieur. Ein Vertrauter des Ministers.«
»Ich habe nie behauptet, sein Vertrauter zu sein.«
Am Nebentisch blickt ein Mann mit einem Gewirk silbriger Narben um den Hals vom Puffspiel-Brett auf, sieht die beiden jungen Männer an und senkt den Blick langsam wieder auf das Spiel.
»Und was ist mit Ihnen?« fragt Jean-Baptiste. »Haben sie es bei Ihnen auch probiert?«
»Musiker sind keine so gute Partie. In den Augen von Leuten wie den Monnards ist ein Musiker nur wenig besser als ein Schauspieler.«
»Ziguettes Vater ist Messerschmied. Können diese Leute es sich denn leisten, auf Musiker herabzusehen?«
»Auf Leute herabzusehen kostet sehr wenig. Und ja, sie haben mich ins Auge gefasst.«
»Hat sie Ihnen denn gefallen?«
»So wie einem die Gesellschaft jeder attraktiven Frau gefällt. Aber bei Ziguette muss man vorsichtig sein.«
»Wie das?«
Armand stippt einen Klacks Süßrahm aus der Schale, lutscht sich den Finger, wischt sich die Lippen ab. »Ziguette ist in diesem Haus aufgewachsen. Sie wohnt schon ihr ganzes Leben dort. In dieser Luft.«
»Und deswegen muss ich vor ihr auf der Hut sein?«
»Ziguette zu heiraten«, sagt Armand, »wäre so, als heiratete man den Friedhof. Das ist mehr als einfach nur eine Frage des Atems. Die kleine Marie dagegen ...«
»Das Dienstmädchen?«
»Da rede ich natürlich nicht von Heirat.«
»Sie? Und Marie?«
»Arme Mädchen aus dem Faubourg Saint-Antoine sind Freidenkerinnen. Maries Verstand mag so leer sein wie das Grab des Erlösers, aber sie ist moderner, als es die Monnards jemals sein werden. Vielleicht sogar moderner als Sie. Seien Sie nicht gekränkt. Wie auch immer, ich hätte nicht übel Lust, mich selbst um Ihre Modernisierung zu kümmern. Das Projekt ist mir gerade in den Sinn gekommen.«
»Und wenn ich der Ansicht bin, dass ich keine Belehrung brauche?«
»Von einem Kirchenorganisten? Genau so eine Haltung werden wir ausrotten müssen, wenn wir Sie für die Zukunft gewinnen wollen. Für die Partei der Zukunft.«
»So eine Partei gibt es?«
»Sie hat keinen Treffpunkt, kennt keine Mitgliedsbeiträge, und dennoch gibt es sie ebenso gewiss wie Sie oder mich. Die Partei der Zukunft. Die Partei der Vergangenheit.Vielleicht bleibt nicht mehr viel Zeit, um zu entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen. Ich finde, wir sollten damit anfangen, dass wir Ihre Kleidung ändern.Verspüren Sie eine besondere Neigung zu Braun?«
»Haben Sie an meinem Anzug etwas auszusetzen?«
»Gar nichts. Wenn Sie zur Partei der Vergangenheit gehören. Ich werde Sie mit Charvet bekannt machen. Er wird wissen, was bei Ihnen zu tun ist. Charvet ist modern.«
»Und was ist Charvet? Ein Schriftsteller?«
»Ein Schneider.«
Verärgert, verwirrt, beschwipst, setzt Jean-Baptiste ein Gesicht auf, von dem er hofft, dass es Verachtung ausdrückt, aber der Organist ist wieder dazu übergegangen, die anderen Gesichter im Kaffeehaus zu mustern. Als er damit fertig ist, sagt er: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, das hier zu bezahlen. Und dann müssen wir irgendwo hingehen, wo wir etwas essen können. Nichts ist beginnender Freundschaft abträglicher als Schnaps auf leeren Magen.«
In den Galerien, auf dem Hof, geht das Drängeln, das Rufen, das Hutlüften, das Heben von Augenbrauen, das endlose Verfolgen von irgend etwas weiter, ohne jedes Anzeichen dafür, dass es jemals an Intensität einbüßen wird. Ist das modern? Und diese Menschen, bilden sie die Partei der Zukunft oder die der Vergangenheit? Weiß man immer, zu welcher Partei man gehört? Kann man sicher sein? Oder ist es, denkt der Ingenieur, wie bei der Religion seiner Mutter - einigen ist Erlösung, anderen Verdammnis bestimmt, aber man hat keinerlei Gewissheit darüber?
Sie wühlen sich durch die Menge (müssen mal zur Seite ausweichen, mal stehenbleiben oder gar ein Stück zurücktreten), als Armand abermals Jean-Baptistes Ärmel packt und ihn durch das Portal von Salon Nr.7 lotst. In der Eingangshalle sitzt eine enggeschnürte Frau auf einem Hocker hinter einem Tisch, der bis auf eine kleine Blechbüchse und eine Glocke leer ist.
»Sie müssen ihr vier Sous geben«, sagt Armand. Jean-Baptiste gibt ihr vier Sous. Sie läutet die Glocke. Ein Mann mit rosarot gefärbter Perücke erscheint, hält einen rosaroten Vorhang zur Seite. Offensichtlich ist er mit Armand schon gut bekannt. Sie verbeugen sich voreinander wie Höflinge, obwohl das Ganze nur eine Farce ist.
»Heute nur Zulima«, sagt Armand.
»Wie Sie wünschen«, sagt der Mann.
»Dieser Herr«, sagt Armand und deutet mit dem Daumen auf Jean-Baptiste, »kommt von irgendwo in der Normandie. Eines Tages wird er der bedeutendste Ingenieur Frankreichs sein.«
»Gewiss«, säuselt der Mann. Er geht ihnen voran durch einen sanft erleuchteten Flur. Zu beiden Seiten verhüllen schwere Vorhänge vermutlich die Eingänge zu Zimmern, die letzten jedoch sind nachlässig zugezogen worden, und Jean Baptiste, der kurz stehenbleibt, erblickt flüchtig einen Mann, die Teilansicht eines Mannes, einen nackten Arm und ein nacktes Bein, die an ein Karrenrad gefesselt sind, ein Gesicht mit dichtem Bart und ein großes, in wildem Starren weit aufgerissenes Auge. Wen soll das darstellen? Damiens? Damiens, der den König mit einem Federmesser geritzt hat und dessen darauf erfolgte Hinrichtung auf der Place de Grève einen halben Tag dauerte? Den man aufs Rad flocht und mit Messern schnitt, dem man Blei in die Wunden goss und von Pferden die Gliedmaßen aus den Gelenken reißen ließ, obwohl sie es, sosehr man sie auch peitschte - die armen, unschuldigen Tiere -, erst schafften, als der Henker dem Sterbenden einige Muskeln durchtrennte. Tausende, hieß es, hätten an jenem Tag von den Gebäuden um den Platz aus dabei zugesehen ...
Am Ende des Flurs wartet der Führer auf ihn. Er hebt einen weiteren Vorhang. Jean-Baptiste bückt sich, schlüpft unter seinem Arm hindurch.
»Zulima«, beginnt der Mann, der seine Rede abspult, als wäre er eine Art Automat, »war eine persische Prinzessin, die wie Kleopatra am Biss einer Giftschlange starb. Sie war erst siebzehn Jahre alt und unglücklich verliebt. Ihre Reinheit« - ein weiterer, dünnerer Vorhang wird zurückgezogen - »und die Künste der persischen Priester haben sie über zweihundert Jahre lang vollkommen konserviert.«
Sie liegt auf einer Plattform, die halb Katafalk, halb Ruhebett ist. Zu ihren Füßen brennen zwei Kerzen, zwei weitere neben ihrem Kopf. Ihr Körper ist in ein Leichentuch gehüllt, ein Wickeltuch aus irgendeinem durchsichtigen Stoff - Tüll, Organza, wer weiß. Sie ist mannbar. Sie ist vollkommen. Die jungen Männer stehen zu beiden Seiten von ihr und betrachten sie. Der Ältere wartet am Fußende, den Kopf wie im Gebet geneigt.
»Erinnert sie Sie an jemanden?« flüstert Armand.
»Nein«, sagt Jean-Baptiste, aber er weiß, an wen der Organist denkt. In der Tat besteht in dem wächsernen Gesicht, der üppigen Figur eine ausgeprägte Ähnlichkeit mit Ziguette Monnard.
Vom Palais aus begeben sie sich zum Essen in ein Wirtshaus in der Nähe der Börse. Man gibt ihnen einen gewöhnlichen Tisch und setzt ihnen das aus Brotsuppe und gekochtem Rindfleisch bestehende Essen für zehn Sous vor. An der hinteren Wand des Zimmers brennt ein munteres Kaminfeuer. Sie trinken Wein, Rotwein, der weder gut noch schlecht ist. Sie trinken und unterhalten sich, und allmählich röten sich ihre Wangen. Armand bekennt ohne Schamgefühl oder Verlegenheit, dass man ihn in der Drehlade am Hôpital des Enfants-Trouvés abgelegt hat. Dank seines Talents wurde die Leitung auf ihn aufmerksam, die wiederum die Kommission auf ihn aufmerksam machte, jene wohltätigen Männer und Frauen, die unter den grindigen, kahlrasierten Kindern, die in jenen Sälen lebten und starben, gern nach dem einen suchen gingen, das zu retten sich lohnte.
»An einem solchen Ort gibt es keine jugendlichen Illusionen. Man verkennt nicht, wie es um die Welt bestellt ist. Mit Sieben waren wir alle so zynisch wie Äbte.«
Sie sind sich darin einig, dass der Verlust von Illusionen eine unverzichtbare Vorbereitung für jene darstellt, die es auf der Welt zu etwas bringen wollen. Bei der dritten Flasche vertrauen sie einander an, dass sie ehrgeizig sind, ungeheuer ehrgeizig, und dass sie dank Glück und harter Arbeit als berühmte Männer zu sterben gedenken.
»Und reich«, sagt Armand, während er sich eine Fleischfaser zwischen den Zähnen hervorpuhlt. »Ich habe nicht vor, als jemand zu sterben, der nur seiner Armut wegen berühmt ist.«
Jean-Baptiste spricht von seinem früheren Gönner, dem Comte de S-, von seinen zwei Jahren an der Ecole des Ponts, von Maître Perronet, von den Brücken, die zu bauen er träumt, gedankenleichten Konstruktionen, die die Seine, die Orne, die Loire überspannen ...
Wein und unvermutete Tiefen von Einsamkeit haben eine Überschwenglichkeit bei ihm erzeugt, die ihm, in nüchternem Zustand, bei einem anderen weder Vertrauen noch Zuneigung einflößen würde. Beinahe, um ein Haar, erzählt er Armand, was er hier in Paris tun soll, denn Armand wäre bestimmt beeindruckt und würde erkennen, was er selbst (im rubinroten Licht des Schenkenweins) erkannt hat - dass den Friedhof zu zerstören heißt, den giftigen Einfluss der Vergangenheit de facto, und nicht nur rhetorisch, hinwegzufegen! Und würde Armand dann nicht zugeben müssen, dass er, Jean-Baptiste Baratte, Ingenieur, ohne jedes Drumherumgerede der Partei der Zukunft, ja ihrer Vorhut angehört? Oder wäre er bestürzt? Entsetzt? Wütend? Wie genau sieht Armand Saint-Méards Beziehung zum Bischof aus? Was hat man Seiner Gnaden von den Plänen des Ministers erzählt?
Draußen pinkeln sie gegen eine Wand, knöpfen sich die Hosen zu und segeln weiter durch den Rest des Nachmittags. Sie unterhalten sich immer noch, quasseln immer noch über Politik, Paris, die unverlierbare Würde der Bauern (Aber über Bauern weiß ich Bescheid, will Jean-Baptiste sagen, ich bin mit Dutzenden von ihnen verwandt), doch keiner hört dem anderen mehr richtig zu, und er wird ohnehin schon wieder in ein Haus genötigt - wo er sich sofort betrunkener fühlt als im Freien - und einem Mann vorgestellt, einer Art exquisitem Äffchen, das, wie sich herausstellt, Charvet der Schneider ist.
Die Werkstatt, wenn man derartigen Räumlichkeiten überhaupt einen so bescheidenen Namen geben kann, ist mit zierlichen Möbeln und Ölgemälden ausgestattet und nicht im entferntesten vergleichbar mit dem streng riechenden Atelier, in dem Jean-Baptistes Vater seine Handschuhe genäht hat. Abgesehen von dem Tisch am Fenster, wo zwei junge Männer verträumt Bahnen von irgendeinem Stoff abschneiden, der wie Quellwasser glitzert und sich kräuselt, deutet hier überhaupt nichts auf Arbeit hin.
Charvet vergeudet keine Zeit. Ein paar Worte von Armand, ein Schulterzucken von Jean-Baptiste, mehr braucht er nicht, um anzufangen. Er umkreist den Ingenieur, berührt, zupft, tritt zurück, um die Länge eines Beins, die leichte Rundung der Schultern, die schlanke Taille besser abschätzen zu können. Es ist nicht unangenehm, im Zentrum derart intensiver, professioneller Inaugenscheinnahme zu stehen. Jean- Baptiste bemerkt es nicht einmal, als Armand sich davonmacht. Der ganze Tag hat von Anfang an eine ganz eigene, seltsame Triebkraft entwickelt. Er kommt längst nicht mehr dagegen an. Er wird später darüber nachdenken.
»Ich glaube, Monsieur«, sagt Charvet, »ich glaube, wir werden etwas sehr Interessantes aus Ihnen machen können. Sie haben, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, die für die neuen Moden notwendige Figur. Sie sind keiner dieser korpulenten Herren, die ich eher verkleiden als bekleiden muss. Sie, Monsieur, können wir bekleiden. Ja. Etwas, was mit den natürlichen Körperbewegungen fließt. Etwas, was ein wenig informeller ist, aber auf seine Weise natürlich vollkommen korrekt ... Wir müssen eine Geschichte erzählen, Monsieur. Wir müssen sie klar und schön erzählen. Ich werde Sie nicht für 1785, sondern für 1795 bekleiden. Cédric! Bring dem Herrn ein Glas Lafitte. Bring die Flasche. Und wenn Sie mir nun bitte die Ehre erweisen wollen, mir zu folgen, Monsieur ...«
Zwei Stunden später betrachtet Jean-Baptiste sich - jemanden - in einem großen, blankpolierten ovalen Spiegel. Er trägt einen Anzug aus pistazienfarbener Seide mit einem Seidenfutter aus grünen und safrangelben Streifen. Die auf Oberschenkelhöhe endende Weste ist ebenfalls pistazienfarben, mit einer bescheidenen Goldfadenstickerei. Die Aufschläge am Rock sind klein, der Kragen ist hoch. Die Krawatte - ebenfalls safrangelb - ist fast so breit wie die von Armand. Lange Zeit haben Charvet und Cédric Nadeln zwischen den Lippen hervorgezogen, haben geschnitten und genäht und ihn mit jener Ungezwungenheit behandelt, die ihrem Gewerbe oder dem von Leibdienern, Chirurgen und Scharfrichtern vorbehalten ist. Sie sind fast fertig. Sie treten zurück, achten darauf, sich aus dem Bereich des Spiegels zu entfernen. Sie betrachten ihn, wie er sich selbst betrachtet. Es ist, wie Jean-Baptiste sehr wohl weiß, viel zu spät, um den Anzug zurückzuweisen oder auch nur zu kritisieren. Das hieße, nicht nur Charvet, sondern die Zukunft schlechthin zu denunzieren. Unmöglich! Er wird den Anzug nehmen, und er wird bezahlen, was immer Charvet verlangt. Wie sich herausstellt, ist das viel. Er errötet. Einen solchen Betrag hat er nicht bei sich. Der Schneider spreizt die Hände. Aber natürlich, natürlich. Morgen ist früh genug. Aber da wäre noch etwas anderes. Ob der junge Herr vielleicht ein Freigeist sei? Aha! Er habe sich schon so etwas gedacht, aber man wolle ja nicht impertinent erscheinen.
Er schwebt zum schimmernden Walnussholz des Sekretärs, entnimmt einer der Schubladen ein kleines, gerahmtes Bild und bringt es Jean-Baptiste. »Voltaire«, sagt er und lächelt das Bild an, als würde er, wenn er allein ist, liebevolle Worte an es richten. »Sehen Sie, was er trägt? Das Gewand? Man nennt das einen Hausrock. Freigeister kommen praktisch nicht ohne ihn aus. Ich habe einen in rotem Damast hier. Den meisten meiner Kunden würde ich nichts davon sagen; man würde es nicht verstehen. Aber in Ihrem Fall ...«
»Ja«, sagt Jean-Baptiste.
»Ja?«
»Ich nehme ihn.«
»Und, Monsieur, Sie müssen Ihre eigenen Haare tragen. In fünf Jahren wird die Perücke vollkommen passé sein. Bis dahin habe ich eine ausgezeichnete Perücke mit Haarbeutel, komplett aus Menschenhaar und wochenweise zu mieten ...«
»Die auch«, sagt Jean-Baptiste.
»Und überlassen Sie mir Ihren alten Anzug als Anzahlung, Monsieur? Ich habe noch ein kleineres Geschäft in der Rue du Bac, das auf die Bedürfnisse meiner ... hmm, konservativeren Kundschaft ausgerichtet ist. Vielleicht könnte ich ihn dort für Sie verkaufen?«
»Wie Sie wünschen.«
»Nein, wie Sie wünschen, Monsieur.«
»Dann ja.« Er zuckt die Achseln. »Ja.«
Von Charvet und seiner Werkstatt erlöst, überquert der Ingenieur die Place des Victoires und biegt in die Rue de la Feuillade ein, die in Richtung Markt und zum Haus der Monnards führt. Der Wind hat aufgefrischt. Er weht ihm den Staub ins Gesicht, so dass er niesen muss. Der neue Anzug ist nicht so warm wie der alte. Und er ist auch kein Geschenk seines toten Vaters. Jean-Baptiste drückt sich den eingepackten Hausrock an die Brust. Mit jedem Schritt wird der Gestank des Friedhofs stärker, aber er ist trotzdem mehrmals gezwungen, stehenzubleiben, nach vorn zu spähen, über die Schulter zu blicken, sich anhand eines Tors, eines Pfeilers, eines kahlen Baums, eines Steintrogs zu orientieren. Hat er sie schon einmal gesehen? Dann findet er sich plötzlich am Ende der Rue de la Fromagerie wieder. Die kleinen Läden sind zugesperrt, die Karrendeichseln zeigen zu Boden, die Pflastersteine sind feucht von Schmutzwasser. An der Ecke kniet ein Bettler, doch von ihm abgesehen ist die Straße verlassen. Der Bettler blickt auf, streift die Kapuze zurück, um seine Schwären zu zeigen, doch in seinen kühlen neuen Taschen hat Jean- Baptiste kein Kleingeld für ihn. Sie murmeln einander etwas zu (eine Entschuldigung, einen Fluch).
Er isst mit den Monnards zu Abend. Ob sie erkennen, dass er getrunken hat, dass er den ganzen Tag getrunken hat? Vielleicht sind sie zu verblüfft von seinem Aufzug, um es zu bemerken. Pistazienfarbene Seide, scheint es, kann so etwas wie Erstaunen hervorrufen. Die Frauen wollen sie anfassen, trauen sich aber nicht recht. Monsieur Monnard macht ein verwirrtes Gesicht. Er zupft nachdenklich an den Ohrläppchen, als melkte er zwei winzige Euter.
Man sitzt am Tisch. Jean-Baptiste hat keinen Appetit. Er trinkt ein paar Gläser von Monsieur Monnards Wein, der jedoch nach dem Lafitte bei Charvet nach dem schmeckt, was er ist: größtenteils Wasser.
Nach dem Essen lädt Madame ihn ein, noch sitzen zu bleiben und Ziguette beim Pianofortespielen zuzuhören. »Als es ins Haus geschafft wurde, Monsieur, bekam ich wahrhaftig vom bloßen Zusehen Nasenbluten! Und was für ein Menschenauflauf draußen. Sie jubelten alle, als es durchs Fenster hineinbugsiert wurde. Ich habe zu meinem Mann gesagt: ›Man könnte meinen‹, habe ich gesagt, ›es würde jemand aufgehängt!‹ «
Er bleibt, in sein eigenes blassgrünes Licht getaucht, während Ziguette sich ihren Weg durch eine Melodie sucht, die er nicht kennt. Ist das Instrument überhaupt gestimmt? Kann ein solcher Klang tatsächlich beabsichtigt sein? Sie trägt ein tief ausgeschnittenes Kleid aus zitronengelber Wolle und mustert die Bewegung ihrer Hände mit konzentriert gespitztem Mund, während ein blondes Löckchen ihr in die Stirn baumelt und jedesmal wie eine Feder hüpft, wenn sie den Kopf hebt, um auf die Noten zu schauen. Er denkt an Zulima, seit zweihundert Jahren tot, Brustwarzen wie Pfirsichkerne. Die Musik verstummt. Er applaudiert mit den anderen, wird aufgefordert, sich ein zweites, ein drittes Stück anzuhören. Madame Monnard strahlt ihn an und nickt.Vor dem Beginn eines vierten Stücks steht er unbeholfen auf, behauptet, er fühle sich unpässlich, bittet, ihn zu entschuldigen.
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Es gibt keine Leiter - irgendwer hat sie als Feuerholz verwendet -, und der Mann rutscht herab, lässt sich von der Tür der Empore heruntergleiten, bis seine Zehen eine behelfsmäßige Stufe aus Gebetbüchern, Bibeln mit rissigen Einbänden und Heiligenleben berühren (er hat Freunden gegenüber schon viele abgeschmackte Witze darüber gemacht, dass er auf der Leiter der Religion in den Himmel der Musik klettere). Auf den Steinplatten des Bodens angelangt - seine Füße stehen auf dem Grab eines Barons Soundso, dessen Frau und mehrerer dahingeschiedener Kinder -, klopft er sich ab, spuckt Ruß in ein Taschentuch, zieht seinen Rock an und setzt sich an den Spieltisch. Er lässt die Knöchel knacken; unterm Dach wird ein fahler Vogel aufgeschreckt und flattert los. Selbst bei diesem Licht zeigt das Haar des Mannes einen leichten Kupferschimmer. Er zieht Register.Trompette, tierce, cromorne, voix humaine. Auf dem Notenpult hat er Gigaults Livre de Musique und daneben ein Heft mit Kantaten von Clérambault, aber um Noten lesen zu können, brauchte er Kerzen, und er macht sich nicht die Mühe, welche anzuzünden. Er hat eine Kerze im Kopf, mehr Licht braucht er nicht, und er beginnt aus dem Gedächtnis ein Trio von Couperin zu spielen, Rückgrat und Hals leicht nach hinten gebogen, als wäre die Orgel eine sechsspännige Kutsche und er preschte mitten durch Les Halles, dass Gänse, Kohlköpfe und alte Frauen auseinanderstieben.
Es ist kein Geräusch zu hören, nichts als das dumpfe Klakken der Tasten und das Trapsen der Pedale. Er hat keine Luft, obwohl es für Couperin mehr als Luft brauchte - die alte Orgel ist dem wirklich nicht mehr gewachsen. Für andere Stücke, die verzogenes Metall und altes Leder weniger beanspruchen, nimmt er sich ab und zu einen Träger vom Markt, damit er den Blasebalg betätigt, oder den großen, stummen Jungen, der sich in der Rue Saint-Denis herumtreibt. Dann wird Les Innocents fast in den Wahnsinn getrieben, die Messingadler, die zerschlissenen Fahnen, die Millionen von Gebeinen in den Krypten, das alles bekommt ein paar Minuten lang gewaltsam so etwas wie Leben eingehaucht. Das ist seine Aufgabe - es gibt keinen anderen Grund zu spielen: Es kommt keine Gemeinde zusammen, es werden keine Messen gelesen, keine Trauungen gefeiert und schon gar keine Beerdigungen abgehalten. Aber solange er spielt und solange der Priester, dieser abgezehrte alte Soldat Christi, hier herumgeistern darf, so lange behält Mutter Kirche ihren Anspruch auf Les Innocents, einen Anspruch, den sie, wie Ansprüche überall, gegen einen handfesten Vorteil eintauschen kann.
Er spielt Oktavsprünge, moduliert wie rasend, die kreideweißen Finger tanzen auf der Jagd nach Couperins Hirschkalb über die Tasten, als er hört - das kann doch nicht sein! -, wie die Tür in der Nordwand geöffnet wird. Der Priester, wenn er die Kirche überhaupt einmal verlässt, kommt und geht auf andere Weise, aber wenn es nicht Père Colbert ist, wer dann?
Er dreht sich auf der Bank herum, schaut mit zusammengekniffenen Augen bis zu der Stelle, wo in der offenen Tür zur Rue aux Fers ein Mann steht. Ein Mann, ja, ein junger Mann, aber der Organist, der die meisten Gesichter im Viertel kennt, kennt ihn nicht.
»Kann ich Ihnen helfen, Monsieur?«
Der Eindringling verhält mitten in der Gehbewegung. Er dreht den Kopf, will sehen, woher die Stimme kommt.
»Sehen Sie die Pfeifen? Gehen Sie darauf zu. Gleich sehen Sie mich ... Ein Stückchen noch ... Noch ein Stückchen ... Da! Ein Wesen aus Fleisch und Blut, genau wie Sie. Ich bin Armand de Saint-Méard. Organist an der Kirche der Unschuldigen.«
»Ein Organist? Hier?«
»Da ist die Orgel. Da ist der Organist. Es gibt wirklich keinen Grund, sich zu wundern.«
»Ich wollte Sie nicht -«
»Und Sie, Monsieur? Mit wem habe ich die Ehre?«
»Baratte.«
»Baratte?«
»Ich bin der Ingenieur.«
»Ah! Sie sind gekommen, um die Orgel zu reparieren.«
»Zu reparieren?«
»Sie hinkt, musikalisch gesprochen. Ich tue, was ich kann, aber ...«
»Ich bedaure, Monsieur ... Ich verstehe nichts von Orgeln. «
»Nein? Dabei ist es die einzige Maschine, die wir haben. Ich würde meinen, Sie sind am falschen Ort, aber wie ich sehe, haben Sie einen Schlüssel in der Hand. Hat der Bischof Sie geschickt?«
»Der Bischof? Nein.«
»Wer dann?«
Nach kurzem Zögern nennt Jean-Baptiste mit leiser Stimme den Namen des Ministers.
»Man hat also endlich doch etwas mit uns vor«, sagt der Organist.
»Ich bin hier, um -«
»Pst!«
Hoch über ihnen, auf dem schmalen Laufgang des Triforiums, das Geräusch schlurfender Füße. Der Organist zieht Jean-Baptiste in den Schutz eines Pfeilers. Sie warten. Nach kurzer Zeit verklingt das Geräusch. »Père Colbert«, flüstert der Organist. »Unwahrscheinlich, dass er einem Ingenieur, den der Minister schickt, mit Wohlwollen begegnet. Eigentlich auch unwahrscheinlich, dass er überhaupt jemandem mit Wohlwollen begegnet.«
»Ein Priester?«
»Alt, aber kräftig wie ein Ochse. Er war schon Missionar in China, als Sie und ich noch gar nicht auf der Welt waren. Ich habe sogar gehört, er sei dort gefoltert worden. Man habe etwas mit seinen Augen gemacht. Das Licht bereitet ihm Schmerzen. Er trägt eine getönte Brille. Sieht durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort. Ein aufbrausendes Temperament ...«
Jean-Baptiste nickt und sagt nach einem kurzen Blick auf den rötlichen Schimmer im Haar seines Gegenübers: »Waren Sie das, der bei den Monnards gewohnt hat?«
»Bei den Monnards? Und woher, Monsieur, wollen Sie so etwas wissen?«
»Man spricht dort noch von Ihnen.«
»Sie sind jetzt dort? In dem kleinen Zimmer mit Blick auf den Friedhof?«
»Ja.«
»Sieh an, sieh an. Ha! Ich würde sagen, dort oben ist es jetzt kalt.«
»Ganz recht.«
»Ein kleiner Rat. Wenn Sie im Bett liegen, schauen Sie an die Decke. Sie werden dort ein kleines - Oh, oh. Obacht, mein Lieber. Ist Ihnen nicht wohl?«
Während Jean-Baptiste dem Trommeln seines Herzens lauscht, geht ihm auf, dass er seit Betreten der Kirche versucht hat, den Atem anzuhalten. Er lässt sich von dem Organisten zur Orgelbank führen, hört ihn wie von der anderen Seite der Wand aus sagen, auch ihm sei es anfangs so ergangen und er habe die Kirche nur mit einem in Eau de Cologne getränkten und vor das Gesicht gedrückten Tuch betreten können.
»Ich habe mich darüber verwundert, wie Menschen weniger als einen halben Tagesritt von diesem Ort entfernt leben können. Und dennoch tun sie es, wie Sie sehen. So zahlreich wie die Bienen. Man gewöhnt sich daran. Versuchen Sie, durch den Mund zu atmen. Der Geschmack ist leichter
zu ertragen als der Geruch.«
»Ich bin auf der Suche nach Manetti«, sagt Jean-Baptiste.
»Dem Totengräber? Sie haben ja wirklich etwas vor. Aber keine Sorge. Manetti ist der am einfachsten zu findende Mann von ganz Paris. Lassen Sie uns an die Luft gehen. Sie können uns beiden ein Glas von etwas Stärkendem kaufen.«
Auf den Arm des Organisten gestützt - es geht wirklich nicht anders -, kehrt Jean-Baptiste zu der Tür in der Nordwand zurück. Nicht, dass er der Kirche die ganze Schuld zuschieben kann. Es war eine wenig erquickliche Nacht, das ganze Haus war in Unruhe, als bliese ein stürmischer Wind, obwohl das nicht der Fall war. Er hat sich eingebildet, weiteres Kratzen an der Tür und zu irgendeiner unchristlichen Zeit sogar ein Kratzen am Fenster zu hören. Und dann, in aller Frühe, stand im Wohnzimmer der Monnards Lafosse mit den Schlüsseln zur Kirche in der Hand. Und jenes Gesicht bot auch keinen Trost ...
Als sie draußen auf der Straße stehen, die Tür geschlossen und versperrt ist und Jean-Baptiste seinen Füßen, seiner Kraft wieder trauen kann, wenden sie sich nach links in Richtung Rue de la Lingerie, dann nach rechts in Richtung Markt. Etwa alle zehn Schritte wird der Organist von irgendwem, meist einer Frau, gegrüßt. Bei jeder Begegnung streift das jeweilige Augenpaar kurz den jungen Mann neben ihm, den neuen Begleiter.
»Dort drüben«, sagt der Organist und deutet mit dem Arm darauf, »können Sie gut und billig essen. Da an der Ecke flickt man Ihnen die Kleider, ohne sie zu stehlen. Und das da ist Gaudets Laden. Rasiert einen gut, kennt jeden. Und hier ... hier ist die Rue de la Fromagerie, wo man hingeht, wenn man etwas anderes einatmen möchte als den Duft von Gräbern. Nur zu. Füllen Sie sich die Lunge.«
Sie haben das eine Ende einer merkwürdigen, verstopften Ader von einer Straße betreten, die eher Gasse als Straße, eher Gosse als Gasse ist. Die oberen Stockwerke der Gebäude neigen sich zueinander hin, so dass zwischen ihnen nur ein schmaler Streifen weißer Himmel bleibt. Auf beiden Seiten der Straße ist jedes zweite Haus ein Laden, und jeder Laden verkauft Käse. Manchmal auch Eier, manchmal auch Milch und Butter, immer jedoch Käse. Käse in den Fenstern, auf Tischen und Handkarren ausgelegter Käse, auf Stroh getürmter Käse, an Schnüren hängender oder in Bottichen mit Salzlake schwimmender Käse. Käse, der mit einem Messer geschnitten werden muss, das groß genug ist, um einen Stier zu schlachten, Käse, der mit geschnitzten Holzlöffeln geschöpft werden muss. Rot, grün, grau, rosa, reinstes Weiß. Jean-Baptiste weiß bei den meisten nicht, um was für Sorten es sich handelt oder woher sie kommen, doch einen erkennt er sofort, und ihm geht das Herz auf, als hätte er ein ihm teures Gesicht von zu Hause erblickt. Pont-l'Evêque! Normannisches Gras! Normannische Luft!
»Möchten Sie kosten?« fragt die junge Verkäuferin, aber sein Interesse hat sich schon dem Stand nebenan zugewandt, wo eine Frau im roten Umhang gerade ein rundes Stück Ziegenkäse mit in Asche gewälzter Rinde kauft.
»Das«, sagt der Organist und beugt sich über Jean-Baptistes Schulter, »ist die Österreicherin. So genannt wegen ihrer Ähnlichkeit mit unserer geliebten Königin. Und ich spreche nicht nur von ihren blonden Haaren. He, Héloïse! Darf ich Ihnen meinen Freund hier vorstellen, dessen Namen ich leider vergessen habe und der von Gott weiß wo gekommen ist, um unser aller Leben auf den Kopf zu stellen.«
Sie zählt gerade kleine Münzen für den Käse ab. Sie schaut zu ihnen herüber, zuerst auf Armand, dann auf Jean-Baptiste. Errötet er? Ihm ist, als hätte er sie stirnrunzelnd gemustert.
Dann wendet sie den Blick ab, nimmt ihren Einkauf und entfernt sich durch die Menge.
»Die Frauen hier hassen sie«, sagt Armand, »teils weil ihre Ehemänner sie für eine Stunde kaufen können, hauptsächlich aber, weil sie nicht hierherpasst, nicht hierhergehört. Wäre sie drüben im Palais Royal, würde niemand mit der Wimper zucken. Den Palast haben Sie wohl schon gesehen?«
»Ich habe davon gehört, war aber nie -«
»Sie sind mir vielleicht einer, mein Lieber! Sie sind wie einer von Montesquieus Persern. Ich werde in der Zeitung über Sie schreiben. Eine wöchentliche Kolumne.« Er schreitet voraus und setzt, während sie unter den Strebepfeilern von Saint-Eustache vorbeikommen, zu einem lauten, launigen, improvisierten Vortrag über die Geschichte des Palais an: dass es einmal der Garten von Kardinal Richelieu gewesen sei, dass der Duc d'Orléans es seinem Sohn geschenkt und dieser es mit Kaffeehäusern, Theatern und Läden gefüllt habe, dass es stets voller Menschen und überaus elegant und das größte Bordell von Europa sei ...
Er ist immer noch dabei, es zu beschreiben, als sie bei dem Gebäude selbst, bei einem seiner vielen Eingänge, ankommen, einem Durchgang, der nicht breiter ist als die Rue de la Fromagerie, und durch ihn werden sie in einen Hof mit Arkaden gedrängt, in dessen Mitte gerade unter johlendem Gelächter eine Marionettenvorstellung zu Ende geht. Jean- Baptiste scheint es so, als ließe man die Puppen miteinander Unzucht treiben. Als er genauer hinsieht, erkennt er, dass es tatsächlich so ist.
»Die Polizeistreifen kommen niemals hierher«, sagt der Organist. »Der Herzog macht ihnen kleine Geschenke, und sie suchen sich eine andere Beschäftigung. Unzüchtiges Puppenspiel ist noch das geringste.«
Wer sind diese Leute? Übt keiner von ihnen ein Gewerbe, einen Beruf aus? Ihre Bewegungen, ihre Kleidung, der Lärmpegel, das alles lässt an Karneval denken, dabei ist keinerlei Zentrum, keinerlei wahrnehmbare Struktur zu erkennen. Alles geschieht scheinbar spontan, ist die fortwährende Selbsterfindung des Augenblicks.
»Kommen Sie«, sagt der Organist, zupft Jean-Baptiste am Ärmel und nötigt ihn auf die Tür eines Kaffeehauses zu, das ein Stück weit in einer der Galerien liegt. »Wir versuchen da drin unser Glück.«
Drinnen herrscht ein ebenso dichtes Gedränge wie draußen, aber der Organist bekommt dank einem wohlkalkulierten, an einen Kellner gerichteten Gruß bald einen kleinen Tisch mit zwei ramponierten Rohrstühlen. Er bestellt Kaffee, eine Schale süßen Rahm, zwei Gläser Schnaps. Die Gäste sind ausschließlich männlichen Geschlechts und größtenteils jung. Alle sprechen mit voller Lautstärke. Ab und zu liest jemand aus einer Zeitung vor oder klopft ans Fenster, um einen vorbeikommenden Bekannten auf sich aufmerksam zu machen, vielleicht irgendeine Frau, die er anfeixen möchte. Die Kellner - kleine, hochkonzentrierte Männer - navigieren auf eng gewundenen Pfaden zwischen den Stuhllehnen. Eine Bestellung wird gerufen und mit kaum wahrnehmbaren Nicken bestätigt. Zwei Hunde gehen einander an die Gurgel, werden von ihren Besitzern geprügelt und wieder unter die Tische gescheucht. Jean-Baptiste zieht seinen Mantel aus (schwierig genug bei dieser Beengtheit). Das Kaffeehaus ist der wärmste Ort, an dem er seit Wochen gewesen ist. Heiß, verqualmt, leicht feucht. Als sein Schnaps kommt, trinkt er ihn aus reinem Durst.
»Besser?« fragt der Organist. Sein Glas ist ebenfalls leer. Er bestellt zwei weitere. »Sie dürfen mich Armand nennen«, sagt er. »Allerdings überlasse ich das Ihnen.«
Nun, da sie einander gegenübersitzen und er sich tatsächlich besser fühlt, kann Jean-Baptiste ihn genauer in Augenschein nehmen, diesen Armand, zumal der Organist die nervöse Angewohnheit hat, an ihm vorbei auf sämtliche anderen Gesichter im Kaffeehaus zu schauen. Weder trägt er eine Perücke, noch sind seine Haare gepudert: Bei solchem Haar hätte Puder wenig Sinn. Seine Kleidung - sie wirkt teuer, wenn auch eher aus der Entfernung als aus der Nähe - folgt keiner Mode, die Jean-Baptiste kennt. Hosen, gestreift und eng getragen wie eine zweite Haut. Eine Weste, halb so lang wie seine eigene, und ein Rock mit derart breiten Aufschlägen, dass die Spitzen beinahe über die Schultern hinausragen. Eine Krawatte aus meterweise grünem Musselin. Wenn er trinkt, muss er sie von seinem Mund, seinen ins Lilafarbene spielenden Lippen fernhalten.
»Sie haben nicht damit gerechnet, einen Organisten in der Kirche vorzufinden«, sagt Armand, während sein Blick zu Jean-Baptiste zurückkehrt. »Eigentlich bin ich der Musikdirektor. «
»Sind Sie schon lange da?«
»Seit achtzehn Monaten.«
»Dann sind Sie ernannt worden, als die Kirche schon geschlossen war.«
»Kann man denn eine Kirche schließen wie eine Bäckerei?«
»Wenn eine entsprechende Verfügung ergeht, wohl schon, nehme ich an.«
»So, Sie nehmen an? Tja, Sie haben zweifellos recht. Mein Vorgänger hat sich zu Tode getrunken. Ich würde meinen, er fand die Situation ... beunruhigend?«
»Sie nicht?«
»Ämter sind, wie Sie vielleicht selbst wissen, niemals leicht zu bekommen.«
»Aber es gibt niemanden, für den man spielen könnte.«
Armand zuckt die Schultern, greift nach seinem zweiten Schnaps. »Es gibt mich, Père Colbert, den lieben Gott. Und jetzt auch noch Sie. Eigentlich ein recht gutes Publikum.«
Jean-Baptiste grinst. Obwohl ihm zu schaffen macht, dass er in einem Kaffeehaus sitzt und Schnaps trinkt, anstatt den Friedhof zu vermessen, zu schaffen macht, dass er in der Kirche kaum atmen konnte, bedauert er es nicht, auf diesen Musiker mit den flammendroten Haaren gestoßen zu sein. Vielleicht erfährt er ja etwas Zweckdienliches. Die Arbeit, die man ihm anvertraut hat, wird nicht einfach nur auf das Ausgraben und Wegschaffen von Gebeinen hinauslaufen. Soviel ist ihm klar. Ebenso sehr wie mit den Toten wird er sich mit den Lebenden auseinandersetzen müssen.
»Wenn ich es mir nicht mit dem Bischof verderbe«, sagt Armand, »bekomme ich eines Tages etwas Besseres. Saint- Eustache vielleicht.«
»Auch dort«, sagt Jean-Baptiste, »werden Sie ihn noch riechen können.«
»Den Friedhof? Es ist, wie ich gesagt habe. Man gewöhnt sich daran. Genauer gesagt, man gewöhnt sich eigentlich nie daran, aber es wird erträglich. Man passt sich an. Sagen Sie, was ist Ihnen an den Monnards aufgefallen?«
»Dass sie ... achtbare Menschen sind?«
»O ja. Sehr achtbar. Und was noch?«
»Dass sie gern reden?«
»Die einzige Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen, bestünde darin, Worte mit einer Steuer zu belegen. Was unsere Herren ja vielleicht schon ins Auge fassen. Nun aber. Seien Sie ganz offen. Was noch?«
»Ihr Atem?«
»Genau. Und vielleicht ist Ihnen auch aufgefallen, dass meiner nicht sehr viel lieblicher ist. Nein, Sie brauchen nicht höflich zu sein. Jedem, der einige Zeit in dieser Umgebung verbringt, ergeht es genauso.«
»Ist es das, worauf ich mich gefasst machen muss?«
»Haben Sie denn vor, so lange zu bleiben?«
»Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben werde.«
»Sie möchten nicht von Ihrer Arbeit sprechen.«
»Es würde Sie bestimmt nicht interessieren.«
»So? Ich vermute, es würde mich sehr interessieren, obwohl ich Sie jetzt nicht drängen will. Wir werden von etwas anderem reden. Zum Beispiel von Ziguette Monnard.Haben Sie sie einmal genau angesehen?«
»Ich habe ihr bei Tisch gegenübergesessen.«
»Waren Sie nicht beeindruckt? Sie ist eines der hübschesten Mädchen des Viertels.«
»Ich gebe zu, sie ist hübsch.«
»Ach, Sie geben es zu? Wie großzügig! Haben Sie vielleicht jemanden zu Hause? Wo immer Ihr Zuhause liegt.«
»In Bellême. In der Normandie.«
»In Bellême also. Nein, wie ich sehe, haben Sie niemanden. Tja, nehmen Sie sich in acht, mein Lieber. Wenn Sie bleiben, wird man mit Sicherheit versuchen, Sie mit ihr zu verheiraten. «
»Mit Ziguette?«
»Warum nicht? Ein junger Ingenieur. Ein Vertrauter des Ministers.«
»Ich habe nie behauptet, sein Vertrauter zu sein.«
Am Nebentisch blickt ein Mann mit einem Gewirk silbriger Narben um den Hals vom Puffspiel-Brett auf, sieht die beiden jungen Männer an und senkt den Blick langsam wieder auf das Spiel.
»Und was ist mit Ihnen?« fragt Jean-Baptiste. »Haben sie es bei Ihnen auch probiert?«
»Musiker sind keine so gute Partie. In den Augen von Leuten wie den Monnards ist ein Musiker nur wenig besser als ein Schauspieler.«
»Ziguettes Vater ist Messerschmied. Können diese Leute es sich denn leisten, auf Musiker herabzusehen?«
»Auf Leute herabzusehen kostet sehr wenig. Und ja, sie haben mich ins Auge gefasst.«
»Hat sie Ihnen denn gefallen?«
»So wie einem die Gesellschaft jeder attraktiven Frau gefällt. Aber bei Ziguette muss man vorsichtig sein.«
»Wie das?«
Armand stippt einen Klacks Süßrahm aus der Schale, lutscht sich den Finger, wischt sich die Lippen ab. »Ziguette ist in diesem Haus aufgewachsen. Sie wohnt schon ihr ganzes Leben dort. In dieser Luft.«
»Und deswegen muss ich vor ihr auf der Hut sein?«
»Ziguette zu heiraten«, sagt Armand, »wäre so, als heiratete man den Friedhof. Das ist mehr als einfach nur eine Frage des Atems. Die kleine Marie dagegen ...«
»Das Dienstmädchen?«
»Da rede ich natürlich nicht von Heirat.«
»Sie? Und Marie?«
»Arme Mädchen aus dem Faubourg Saint-Antoine sind Freidenkerinnen. Maries Verstand mag so leer sein wie das Grab des Erlösers, aber sie ist moderner, als es die Monnards jemals sein werden. Vielleicht sogar moderner als Sie. Seien Sie nicht gekränkt. Wie auch immer, ich hätte nicht übel Lust, mich selbst um Ihre Modernisierung zu kümmern. Das Projekt ist mir gerade in den Sinn gekommen.«
»Und wenn ich der Ansicht bin, dass ich keine Belehrung brauche?«
»Von einem Kirchenorganisten? Genau so eine Haltung werden wir ausrotten müssen, wenn wir Sie für die Zukunft gewinnen wollen. Für die Partei der Zukunft.«
»So eine Partei gibt es?«
»Sie hat keinen Treffpunkt, kennt keine Mitgliedsbeiträge, und dennoch gibt es sie ebenso gewiss wie Sie oder mich. Die Partei der Zukunft. Die Partei der Vergangenheit.Vielleicht bleibt nicht mehr viel Zeit, um zu entscheiden, auf welcher Seite Sie stehen. Ich finde, wir sollten damit anfangen, dass wir Ihre Kleidung ändern.Verspüren Sie eine besondere Neigung zu Braun?«
»Haben Sie an meinem Anzug etwas auszusetzen?«
»Gar nichts. Wenn Sie zur Partei der Vergangenheit gehören. Ich werde Sie mit Charvet bekannt machen. Er wird wissen, was bei Ihnen zu tun ist. Charvet ist modern.«
»Und was ist Charvet? Ein Schriftsteller?«
»Ein Schneider.«
Verärgert, verwirrt, beschwipst, setzt Jean-Baptiste ein Gesicht auf, von dem er hofft, dass es Verachtung ausdrückt, aber der Organist ist wieder dazu übergegangen, die anderen Gesichter im Kaffeehaus zu mustern. Als er damit fertig ist, sagt er: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden, das hier zu bezahlen. Und dann müssen wir irgendwo hingehen, wo wir etwas essen können. Nichts ist beginnender Freundschaft abträglicher als Schnaps auf leeren Magen.«
In den Galerien, auf dem Hof, geht das Drängeln, das Rufen, das Hutlüften, das Heben von Augenbrauen, das endlose Verfolgen von irgend etwas weiter, ohne jedes Anzeichen dafür, dass es jemals an Intensität einbüßen wird. Ist das modern? Und diese Menschen, bilden sie die Partei der Zukunft oder die der Vergangenheit? Weiß man immer, zu welcher Partei man gehört? Kann man sicher sein? Oder ist es, denkt der Ingenieur, wie bei der Religion seiner Mutter - einigen ist Erlösung, anderen Verdammnis bestimmt, aber man hat keinerlei Gewissheit darüber?
Sie wühlen sich durch die Menge (müssen mal zur Seite ausweichen, mal stehenbleiben oder gar ein Stück zurücktreten), als Armand abermals Jean-Baptistes Ärmel packt und ihn durch das Portal von Salon Nr.7 lotst. In der Eingangshalle sitzt eine enggeschnürte Frau auf einem Hocker hinter einem Tisch, der bis auf eine kleine Blechbüchse und eine Glocke leer ist.
»Sie müssen ihr vier Sous geben«, sagt Armand. Jean-Baptiste gibt ihr vier Sous. Sie läutet die Glocke. Ein Mann mit rosarot gefärbter Perücke erscheint, hält einen rosaroten Vorhang zur Seite. Offensichtlich ist er mit Armand schon gut bekannt. Sie verbeugen sich voreinander wie Höflinge, obwohl das Ganze nur eine Farce ist.
»Heute nur Zulima«, sagt Armand.
»Wie Sie wünschen«, sagt der Mann.
»Dieser Herr«, sagt Armand und deutet mit dem Daumen auf Jean-Baptiste, »kommt von irgendwo in der Normandie. Eines Tages wird er der bedeutendste Ingenieur Frankreichs sein.«
»Gewiss«, säuselt der Mann. Er geht ihnen voran durch einen sanft erleuchteten Flur. Zu beiden Seiten verhüllen schwere Vorhänge vermutlich die Eingänge zu Zimmern, die letzten jedoch sind nachlässig zugezogen worden, und Jean Baptiste, der kurz stehenbleibt, erblickt flüchtig einen Mann, die Teilansicht eines Mannes, einen nackten Arm und ein nacktes Bein, die an ein Karrenrad gefesselt sind, ein Gesicht mit dichtem Bart und ein großes, in wildem Starren weit aufgerissenes Auge. Wen soll das darstellen? Damiens? Damiens, der den König mit einem Federmesser geritzt hat und dessen darauf erfolgte Hinrichtung auf der Place de Grève einen halben Tag dauerte? Den man aufs Rad flocht und mit Messern schnitt, dem man Blei in die Wunden goss und von Pferden die Gliedmaßen aus den Gelenken reißen ließ, obwohl sie es, sosehr man sie auch peitschte - die armen, unschuldigen Tiere -, erst schafften, als der Henker dem Sterbenden einige Muskeln durchtrennte. Tausende, hieß es, hätten an jenem Tag von den Gebäuden um den Platz aus dabei zugesehen ...
Am Ende des Flurs wartet der Führer auf ihn. Er hebt einen weiteren Vorhang. Jean-Baptiste bückt sich, schlüpft unter seinem Arm hindurch.
»Zulima«, beginnt der Mann, der seine Rede abspult, als wäre er eine Art Automat, »war eine persische Prinzessin, die wie Kleopatra am Biss einer Giftschlange starb. Sie war erst siebzehn Jahre alt und unglücklich verliebt. Ihre Reinheit« - ein weiterer, dünnerer Vorhang wird zurückgezogen - »und die Künste der persischen Priester haben sie über zweihundert Jahre lang vollkommen konserviert.«
Sie liegt auf einer Plattform, die halb Katafalk, halb Ruhebett ist. Zu ihren Füßen brennen zwei Kerzen, zwei weitere neben ihrem Kopf. Ihr Körper ist in ein Leichentuch gehüllt, ein Wickeltuch aus irgendeinem durchsichtigen Stoff - Tüll, Organza, wer weiß. Sie ist mannbar. Sie ist vollkommen. Die jungen Männer stehen zu beiden Seiten von ihr und betrachten sie. Der Ältere wartet am Fußende, den Kopf wie im Gebet geneigt.
»Erinnert sie Sie an jemanden?« flüstert Armand.
»Nein«, sagt Jean-Baptiste, aber er weiß, an wen der Organist denkt. In der Tat besteht in dem wächsernen Gesicht, der üppigen Figur eine ausgeprägte Ähnlichkeit mit Ziguette Monnard.
Vom Palais aus begeben sie sich zum Essen in ein Wirtshaus in der Nähe der Börse. Man gibt ihnen einen gewöhnlichen Tisch und setzt ihnen das aus Brotsuppe und gekochtem Rindfleisch bestehende Essen für zehn Sous vor. An der hinteren Wand des Zimmers brennt ein munteres Kaminfeuer. Sie trinken Wein, Rotwein, der weder gut noch schlecht ist. Sie trinken und unterhalten sich, und allmählich röten sich ihre Wangen. Armand bekennt ohne Schamgefühl oder Verlegenheit, dass man ihn in der Drehlade am Hôpital des Enfants-Trouvés abgelegt hat. Dank seines Talents wurde die Leitung auf ihn aufmerksam, die wiederum die Kommission auf ihn aufmerksam machte, jene wohltätigen Männer und Frauen, die unter den grindigen, kahlrasierten Kindern, die in jenen Sälen lebten und starben, gern nach dem einen suchen gingen, das zu retten sich lohnte.
»An einem solchen Ort gibt es keine jugendlichen Illusionen. Man verkennt nicht, wie es um die Welt bestellt ist. Mit Sieben waren wir alle so zynisch wie Äbte.«
Sie sind sich darin einig, dass der Verlust von Illusionen eine unverzichtbare Vorbereitung für jene darstellt, die es auf der Welt zu etwas bringen wollen. Bei der dritten Flasche vertrauen sie einander an, dass sie ehrgeizig sind, ungeheuer ehrgeizig, und dass sie dank Glück und harter Arbeit als berühmte Männer zu sterben gedenken.
»Und reich«, sagt Armand, während er sich eine Fleischfaser zwischen den Zähnen hervorpuhlt. »Ich habe nicht vor, als jemand zu sterben, der nur seiner Armut wegen berühmt ist.«
Jean-Baptiste spricht von seinem früheren Gönner, dem Comte de S-, von seinen zwei Jahren an der Ecole des Ponts, von Maître Perronet, von den Brücken, die zu bauen er träumt, gedankenleichten Konstruktionen, die die Seine, die Orne, die Loire überspannen ...
Wein und unvermutete Tiefen von Einsamkeit haben eine Überschwenglichkeit bei ihm erzeugt, die ihm, in nüchternem Zustand, bei einem anderen weder Vertrauen noch Zuneigung einflößen würde. Beinahe, um ein Haar, erzählt er Armand, was er hier in Paris tun soll, denn Armand wäre bestimmt beeindruckt und würde erkennen, was er selbst (im rubinroten Licht des Schenkenweins) erkannt hat - dass den Friedhof zu zerstören heißt, den giftigen Einfluss der Vergangenheit de facto, und nicht nur rhetorisch, hinwegzufegen! Und würde Armand dann nicht zugeben müssen, dass er, Jean-Baptiste Baratte, Ingenieur, ohne jedes Drumherumgerede der Partei der Zukunft, ja ihrer Vorhut angehört? Oder wäre er bestürzt? Entsetzt? Wütend? Wie genau sieht Armand Saint-Méards Beziehung zum Bischof aus? Was hat man Seiner Gnaden von den Plänen des Ministers erzählt?
Draußen pinkeln sie gegen eine Wand, knöpfen sich die Hosen zu und segeln weiter durch den Rest des Nachmittags. Sie unterhalten sich immer noch, quasseln immer noch über Politik, Paris, die unverlierbare Würde der Bauern (Aber über Bauern weiß ich Bescheid, will Jean-Baptiste sagen, ich bin mit Dutzenden von ihnen verwandt), doch keiner hört dem anderen mehr richtig zu, und er wird ohnehin schon wieder in ein Haus genötigt - wo er sich sofort betrunkener fühlt als im Freien - und einem Mann vorgestellt, einer Art exquisitem Äffchen, das, wie sich herausstellt, Charvet der Schneider ist.
Die Werkstatt, wenn man derartigen Räumlichkeiten überhaupt einen so bescheidenen Namen geben kann, ist mit zierlichen Möbeln und Ölgemälden ausgestattet und nicht im entferntesten vergleichbar mit dem streng riechenden Atelier, in dem Jean-Baptistes Vater seine Handschuhe genäht hat. Abgesehen von dem Tisch am Fenster, wo zwei junge Männer verträumt Bahnen von irgendeinem Stoff abschneiden, der wie Quellwasser glitzert und sich kräuselt, deutet hier überhaupt nichts auf Arbeit hin.
Charvet vergeudet keine Zeit. Ein paar Worte von Armand, ein Schulterzucken von Jean-Baptiste, mehr braucht er nicht, um anzufangen. Er umkreist den Ingenieur, berührt, zupft, tritt zurück, um die Länge eines Beins, die leichte Rundung der Schultern, die schlanke Taille besser abschätzen zu können. Es ist nicht unangenehm, im Zentrum derart intensiver, professioneller Inaugenscheinnahme zu stehen. Jean- Baptiste bemerkt es nicht einmal, als Armand sich davonmacht. Der ganze Tag hat von Anfang an eine ganz eigene, seltsame Triebkraft entwickelt. Er kommt längst nicht mehr dagegen an. Er wird später darüber nachdenken.
»Ich glaube, Monsieur«, sagt Charvet, »ich glaube, wir werden etwas sehr Interessantes aus Ihnen machen können. Sie haben, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, die für die neuen Moden notwendige Figur. Sie sind keiner dieser korpulenten Herren, die ich eher verkleiden als bekleiden muss. Sie, Monsieur, können wir bekleiden. Ja. Etwas, was mit den natürlichen Körperbewegungen fließt. Etwas, was ein wenig informeller ist, aber auf seine Weise natürlich vollkommen korrekt ... Wir müssen eine Geschichte erzählen, Monsieur. Wir müssen sie klar und schön erzählen. Ich werde Sie nicht für 1785, sondern für 1795 bekleiden. Cédric! Bring dem Herrn ein Glas Lafitte. Bring die Flasche. Und wenn Sie mir nun bitte die Ehre erweisen wollen, mir zu folgen, Monsieur ...«
Zwei Stunden später betrachtet Jean-Baptiste sich - jemanden - in einem großen, blankpolierten ovalen Spiegel. Er trägt einen Anzug aus pistazienfarbener Seide mit einem Seidenfutter aus grünen und safrangelben Streifen. Die auf Oberschenkelhöhe endende Weste ist ebenfalls pistazienfarben, mit einer bescheidenen Goldfadenstickerei. Die Aufschläge am Rock sind klein, der Kragen ist hoch. Die Krawatte - ebenfalls safrangelb - ist fast so breit wie die von Armand. Lange Zeit haben Charvet und Cédric Nadeln zwischen den Lippen hervorgezogen, haben geschnitten und genäht und ihn mit jener Ungezwungenheit behandelt, die ihrem Gewerbe oder dem von Leibdienern, Chirurgen und Scharfrichtern vorbehalten ist. Sie sind fast fertig. Sie treten zurück, achten darauf, sich aus dem Bereich des Spiegels zu entfernen. Sie betrachten ihn, wie er sich selbst betrachtet. Es ist, wie Jean-Baptiste sehr wohl weiß, viel zu spät, um den Anzug zurückzuweisen oder auch nur zu kritisieren. Das hieße, nicht nur Charvet, sondern die Zukunft schlechthin zu denunzieren. Unmöglich! Er wird den Anzug nehmen, und er wird bezahlen, was immer Charvet verlangt. Wie sich herausstellt, ist das viel. Er errötet. Einen solchen Betrag hat er nicht bei sich. Der Schneider spreizt die Hände. Aber natürlich, natürlich. Morgen ist früh genug. Aber da wäre noch etwas anderes. Ob der junge Herr vielleicht ein Freigeist sei? Aha! Er habe sich schon so etwas gedacht, aber man wolle ja nicht impertinent erscheinen.
Er schwebt zum schimmernden Walnussholz des Sekretärs, entnimmt einer der Schubladen ein kleines, gerahmtes Bild und bringt es Jean-Baptiste. »Voltaire«, sagt er und lächelt das Bild an, als würde er, wenn er allein ist, liebevolle Worte an es richten. »Sehen Sie, was er trägt? Das Gewand? Man nennt das einen Hausrock. Freigeister kommen praktisch nicht ohne ihn aus. Ich habe einen in rotem Damast hier. Den meisten meiner Kunden würde ich nichts davon sagen; man würde es nicht verstehen. Aber in Ihrem Fall ...«
»Ja«, sagt Jean-Baptiste.
»Ja?«
»Ich nehme ihn.«
»Und, Monsieur, Sie müssen Ihre eigenen Haare tragen. In fünf Jahren wird die Perücke vollkommen passé sein. Bis dahin habe ich eine ausgezeichnete Perücke mit Haarbeutel, komplett aus Menschenhaar und wochenweise zu mieten ...«
»Die auch«, sagt Jean-Baptiste.
»Und überlassen Sie mir Ihren alten Anzug als Anzahlung, Monsieur? Ich habe noch ein kleineres Geschäft in der Rue du Bac, das auf die Bedürfnisse meiner ... hmm, konservativeren Kundschaft ausgerichtet ist. Vielleicht könnte ich ihn dort für Sie verkaufen?«
»Wie Sie wünschen.«
»Nein, wie Sie wünschen, Monsieur.«
»Dann ja.« Er zuckt die Achseln. »Ja.«
Von Charvet und seiner Werkstatt erlöst, überquert der Ingenieur die Place des Victoires und biegt in die Rue de la Feuillade ein, die in Richtung Markt und zum Haus der Monnards führt. Der Wind hat aufgefrischt. Er weht ihm den Staub ins Gesicht, so dass er niesen muss. Der neue Anzug ist nicht so warm wie der alte. Und er ist auch kein Geschenk seines toten Vaters. Jean-Baptiste drückt sich den eingepackten Hausrock an die Brust. Mit jedem Schritt wird der Gestank des Friedhofs stärker, aber er ist trotzdem mehrmals gezwungen, stehenzubleiben, nach vorn zu spähen, über die Schulter zu blicken, sich anhand eines Tors, eines Pfeilers, eines kahlen Baums, eines Steintrogs zu orientieren. Hat er sie schon einmal gesehen? Dann findet er sich plötzlich am Ende der Rue de la Fromagerie wieder. Die kleinen Läden sind zugesperrt, die Karrendeichseln zeigen zu Boden, die Pflastersteine sind feucht von Schmutzwasser. An der Ecke kniet ein Bettler, doch von ihm abgesehen ist die Straße verlassen. Der Bettler blickt auf, streift die Kapuze zurück, um seine Schwären zu zeigen, doch in seinen kühlen neuen Taschen hat Jean- Baptiste kein Kleingeld für ihn. Sie murmeln einander etwas zu (eine Entschuldigung, einen Fluch).
Er isst mit den Monnards zu Abend. Ob sie erkennen, dass er getrunken hat, dass er den ganzen Tag getrunken hat? Vielleicht sind sie zu verblüfft von seinem Aufzug, um es zu bemerken. Pistazienfarbene Seide, scheint es, kann so etwas wie Erstaunen hervorrufen. Die Frauen wollen sie anfassen, trauen sich aber nicht recht. Monsieur Monnard macht ein verwirrtes Gesicht. Er zupft nachdenklich an den Ohrläppchen, als melkte er zwei winzige Euter.
Man sitzt am Tisch. Jean-Baptiste hat keinen Appetit. Er trinkt ein paar Gläser von Monsieur Monnards Wein, der jedoch nach dem Lafitte bei Charvet nach dem schmeckt, was er ist: größtenteils Wasser.
Nach dem Essen lädt Madame ihn ein, noch sitzen zu bleiben und Ziguette beim Pianofortespielen zuzuhören. »Als es ins Haus geschafft wurde, Monsieur, bekam ich wahrhaftig vom bloßen Zusehen Nasenbluten! Und was für ein Menschenauflauf draußen. Sie jubelten alle, als es durchs Fenster hineinbugsiert wurde. Ich habe zu meinem Mann gesagt: ›Man könnte meinen‹, habe ich gesagt, ›es würde jemand aufgehängt!‹ «
Er bleibt, in sein eigenes blassgrünes Licht getaucht, während Ziguette sich ihren Weg durch eine Melodie sucht, die er nicht kennt. Ist das Instrument überhaupt gestimmt? Kann ein solcher Klang tatsächlich beabsichtigt sein? Sie trägt ein tief ausgeschnittenes Kleid aus zitronengelber Wolle und mustert die Bewegung ihrer Hände mit konzentriert gespitztem Mund, während ein blondes Löckchen ihr in die Stirn baumelt und jedesmal wie eine Feder hüpft, wenn sie den Kopf hebt, um auf die Noten zu schauen. Er denkt an Zulima, seit zweihundert Jahren tot, Brustwarzen wie Pfirsichkerne. Die Musik verstummt. Er applaudiert mit den anderen, wird aufgefordert, sich ein zweites, ein drittes Stück anzuhören. Madame Monnard strahlt ihn an und nickt.Vor dem Beginn eines vierten Stücks steht er unbeholfen auf, behauptet, er fühle sich unpässlich, bittet, ihn zu entschuldigen.
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Autoren-Porträt von Andrew Miller
Andrew Miller wurde 1960 in Bristol (Großbritannien) geboren und lebt heute in Somerset. Bei Zsolnay sind u.a. erschienen: Die Gabe des Schmerzes (1998), wofür er den Impac Dublin Literary Award bekam, Friedhof der Unschuldigen (2013), ausgezeichnet mit dem Costa Book of the Year Award und Die Korrektur der Vergangenheit (2023). Nikolaus Stingl, 1952 geboren, übersetzte u. a. William H. Gass, Ben Lerner, Thomas Pynchon, Colson Whitehead und Emma Cline und wurde mit mehreren wichtigen Übersetzerpreisen ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrew Miller
- 2013, 2. Aufl., 380 Seiten, Maße: 13,4 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Nikolaus Stingl
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552056440
- ISBN-13: 9783552056442
- Erscheinungsdatum: 29.07.2013
Pressezitat
"Miller, Spezialist für schlaue historische Romane, schreibt sinnlich präzise, lässt Bilder entstehen, die uns entführen in die Anfänge unserer modernen Zeit. (...) Und so wird aus einem Buch über einen dunklen Ort ein helles Wunder." Florian Gless, stern, 01.08.2013"Ein ernsthaftes, atmosphärisch dicht aufgeladenes Epochenpanorama, in dem viele Grundfragen der menschlichen Existenz anklingen." Christoph Winder, Der Standard, 30.07.13
"Ein historischer Roman ganz ohne Kulissenschieberei - hochspannend, motivisch dicht, schnörkellos und elegant." Christian Möller, WDR5, 17.08.13
"Millers historischer Roman wirft einen kühlen Blick auf den Totentanz eines sterbenden Regimes und auf eine Gesellschaft, die längst in einem Zustand von falscher Friedhofsruhe die Zeichen der Zeit verpasst. "Der Friedhof der Unschuldigen" ist aber auch ein sattes Sittengemälde mit vielen skurrilen und schrägen Figuren, mit einer Liebesgeschichte, die nicht sein darf, und spannenden Ausblicken auf kommende Ereignisse, bei denen der Arzt Guillotine eine ganz spezielle Rolle übernehmen wird." Margarete von Schwarzkopf, NDR Bücherwelt, 10.09.13
"Andrew Millers historischer Roman hält einen Vergleich mit Patrick Süskind und Hilary Mantel aus". Martin Halter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.13
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