Galgenmann
Kriminalroman. Deutsche Erstausgabe
Rätselhafte Symbole auf dem Friedhof von Varange, eine mysteriöse Statue und eine junge Frau, brutal ermordet und in einer Felsspalte verborgen. Ein schwerer erster Fall für Kommissar Simon Dreemer, der soeben aus Paris in die Provinz strafversetzt worden...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Galgenmann “
Rätselhafte Symbole auf dem Friedhof von Varange, eine mysteriöse Statue und eine junge Frau, brutal ermordet und in einer Felsspalte verborgen. Ein schwerer erster Fall für Kommissar Simon Dreemer, der soeben aus Paris in die Provinz strafversetzt worden ist. Die Ermittlungen führen ihn in einen Sumpf aus Verrat, Gewalt und Eifersucht. Denn die Bewohner des lothringischen Dorfes hüten ein dunkles Geheimnis, das weit in der Vergangenheit liegt und bis heute Opfer fordert.
Klappentext zu „Galgenmann “
Rätselhafte Symbole auf dem Friedhof von Varange, eine mysteriöse Statue und eine jungeFrau, brutal ermordet und in einer Felsspalte verborgen. Ein schwerer erster Fall für Kommissar Simon Dreemer, der soeben aus Paris in die Provinz strafversetzt worden ist. Die Ermittlungen führen ihn in einen Sumpf aus Verrat, Gewalt und Eifersucht. Denn die Bewohner des lothringischen Dorfes hüten ein dunkles Geheimnis, das weit in der Vergangenheit liegt und bis heute Opfer fordert.
Lese-Probe zu „Galgenmann “
Galgenmann von Aline KinerPROLOG
24. Dezember 1944
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Es war so kalt in dieser Nacht, dass die alten Buchen Risse bekamen. Die Leute, deren Fenster zum Waldrand hin gingen, hörten, wie die Bäume knarzten und ächzten und die Zweige knackten, wie Knallkörper bei einer nächtlichen Feier, bevor sie auf dem gefrorenen Boden zerbrachen.
Trotz der Ausgangssperre war das Portal der Kirche kurz vor Mitternacht weit geöffnet. Die Chorkinder, die unter ihren Chorhemden vor Kälte wankten, waren als Erste in das von Kerzen erleuchtete Kirchenschiff eingezogen, danach hatten die Männer die hölzernen Flügeltüren aufgestoßen und die schweren Wollvorhänge beiseitegeschoben. Seitentüren und Fenster waren ebenfalls hinter Vorhängen verborgen. Der raue Stoff dämpfte Lichter und Geräusche und vermittelte den Menschen ein trügerisches Gefühl von Geborgenheit.
Die Bänke waren voll besetzt, auf der einen Seite des Mittelgangs saßen die Männer, auf der anderen die Frauen. Sie waren immer weiter zusammengerückt, bis sie Schulter an Schulter saßen. Bereits am Morgen hatte der Küster Holzscheite in den Ofen geschichtet, aus dem nun leichter Rauch aufstieg, vermischt mit dem Duft von geschmolzenem Wachs. Doch an den eiskalten Mauern perlten noch immer Kondenstropfen.
Sie wärmten sich auf und zählten einander. Es geschah unbewusst, wie bei einer alten Frau, deren Finger beim Beten über den Rosenkranz gleiten.
Die Caspars waren zurückgekehrt. Die Steinleins ebenfalls. Vater, Mutter, die drei Söhne. Die Martins waren wieder da. Die Stosses ... Der Älteste fehlte.
Mathilde saß in der sechsten Reihe, direkt am Mittelgang. Um gegen ihre Benommenheit anzukämpfen, richtete sie sich leicht auf und presste den Rücken gegen die hölzerne Lehne. Als sie sich hingesetzt hatte, war ihre Nachbarin ostentativ zur Seite gewichen, doch Mathilde hatte sich damit begnügt, sie anzulächeln. Eines Tages, als sie noch klein war und wegen einer verlorenen Freundin weinte, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt: »Vergiss nicht, Mathilde: Wenn der Wind dreht, drehen sich auch die Wetterfähnchen.« Damals hatte sie vom Fenster des Bauernhauses, in dem sie aufgewachsen war, zugesehen, wie sich die Bäume bis zum Boden hinabbogen, und gedacht, dass es nicht einfach sei, dem Wind Widerstand zu leisten. Doch seitdem hatte sie es gelernt.
Alles war so schnell gegangen. Eines Morgens, Ende August, waren die Deutschen aus dem Dorf verschwunden. Als Mathilde die Hauptstraße zur Bar hinabging, hatte sie in den Fenstern die ersten blau-weiß-roten Fahnen wehen sehen. Dann waren die jungen Männer, die sich versteckt gehalten hatten, um der Rekrutierung durch die Wehrmacht zu entgehen, einer nach dem anderen wieder aufgetaucht. Mitte Dezember waren die Truppen von Marschall Model in den belgischen Ardennen und in Luxemburg in die Offensive gegangen. Tag und Nacht hörte man die Kanonen donnern. Doch etwa fünfzehn Familien, die man zu Beginn der Besatzungszeit vertrieben hatte, waren bereits zurückgekehrt.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs saß ein junger Mann, er trug die Armbinde der Résistance. Mathilde starrte einen Moment lang auf seinen schmalen Nacken, an dem eine blonde Haarsträhne klebte, doch sie konnte ihn nicht erkennen und wandte den Blick ab, um Johanns Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr Mann saß abseits, am äußersten Ende einer Bank. Er schien ganz vertieft in die Betrachtung eines großen Gemäldes, das hinten im Chorraum hing - eine Madonna, die mit ausgestreckten Händen vor einer in Dämmerlicht getauchten Landschaft stand. Mathilde fiel auf, dass Johann gekrümmt dasaß, mit eingezogenem Kopf. Er war sehr groß, ungelenk und bewegte sich, wie die Kinder es tun, nach vorn gebeugt, mit hastig schlenkernden Beinen. Er hatte auch, so dachte die junge Frau, den Geruch eines Kindes an sich. Lieblich und süß. Ein Geruch, der ihr sofort vertraut gewesen war, ebenso wie die Beschaffenheit seiner Haut und das Gewicht seines warmen Körpers auf ihrem.
Mathilde wusste, dass er nur widerwillig mitgekommen war, weil sie darauf bestanden hatte. Sie konnte es kaum erwarten, dass die Messe zu Ende war. Über dem Feuer wartete eine Suppe, die sie bei ihrer Rückkehr stärken würde. Danach würden sie in ihrem Schlafzimmer, das vom Duft nach Wachs und Stroh erfüllt war, unter das Daunenbett schlüpfen, er würde seine Hände auf sie legen, sie würde ihre Wärme durch das Baumwollhemd hindurch spüren und behutsam, ganz langsam, auf ihn gleiten. Dann mochte der Wind wehen, mochten die Wetterfähnchen sich drehen, so viel sie wollten!
Vor dem Altar stand der Priester und las einen Text von Jesaja vor. Darin wurde ein neuer Tag angekündigt, an dem sich die Liebe Gottes zeigen würde. Er war erst zehn Tage zuvor aus Lyon zurückgekommen, um das erste Weihnachtsfest seit der Befreiung zu feiern. Sein Gesicht war ausgemergelt, doch er lächelte. Die Frauen neben Mathilde hörten ihm mit gesenktem Kopf zu. Sie presste die Arme an ihren Bauch, da ihr die Nähe all dieser Körper in ihren dunklen Mänteln plötzlich die Luft nahm. Die zehn Bilder des Kreuzwegs an den weißgekalkten Wänden schienen sich im flackernden Kerzenlicht zu beleben, wie die Bilder eines alten Films. Eine emporgehobene Lanze, verzerrte Gesichter, der schmerzerfüllte Blick eines Christus mit Dornenkrone auf der Stirn. Schuld, Strafe, Leid. War dem Priester überhaupt bewusst, was während seiner Abwesenheit aus seiner Gemeinde geworden war?
Plötzlich schlüpfte eine Frau, die geräuschlos hereingekommen war, neben sie und drängte sie ein Stück beiseite. Ein eisiger Luftzug strich über Mathildes Wange. Jemand hatte die Seitentür der Kirche geöffnet. Während der Flügel sich mit einem gedämpften Geräusch wieder schloss, dachte sie, dass ein Gemeindemitglied es wohl eilig hatte, nach Hause ins Warme zu kommen. Oben auf der hölzernen Empore über dem Eingang erklang ein Weihnachtslied auf der Flöte. Die Messe würde bald zu Ende sein. Der Priester würde den Segen erteilen und sie endlich entlassen.
Als die letzten Töne der Orgel widerhallten, setzte Gedränge ein. Die Frau neben Mathilde verstaute in aller Ruhe ihr Messbuch, und als sie selbst endlich die Bank verlassen konnte, war Johann bereits fort.
Beim Hinausgehen senkte die junge Frau den Blick, um zu sehen, wo sie hintrat. Im Mondschein glänzten die mit Eis bedeckten Stufen der Kirche. Sie vergrub ihr Kinn unter dem Mantelkragen und blickte sich suchend um, doch sie konnte ihren Mann nirgendwo entdecken.
Vor dem Portal blieben einige Familien noch stehen, um sich zu unterhalten. In der eiskalten Luft vibrierten die Töne mit kristallener Klarheit. Murmeln und leises Lachen, Festtagsgeräusche inmitten der Nacht. Mathilde suchte die Gesichter ab, die sich unter den dunklen Hüten und Tüchern wie weiße Masken abhoben, doch sie sah Johann nicht. Allmählich lösten sich die Gruppen auf, es kehrte wieder Ruhe ein, und schließlich fand sie sich alleine wieder.
Verunsichert irrte Mathilde eine Weile vor dem Portal hin und her. Es musste etwas geschehen sein. Johann wäre niemals ohne sie losgegangen. Sie wagte nicht, zu rufen, so tief war die Stille.
Unentschlossen lief sie ein paar Schritte über den schmalen Weg, der an der Nordwand des Kirchenschiffes entlangführte, doch das Pfarrhaus war in Dunkelheit
getaucht, die Fensterläden waren geschlossen. Dann bemerkte sie, dass das Tor zum Friedhof einen Spalt offen stand. Vielleicht war Johann zum Grab seiner Eltern gegangen, während er auf sie wartete.
Mathilde trat durch das kleine Portal. Sie bewegte sich vorsichtig und lauschte dabei aufmerksam auf das Knirschen der Kieselsteine unter ihren Schuhsohlen. Im weißen Mondlicht glänzten die mit Raureif überzogenen Christrosen, die auf den Marmorplatten niedergelegt worden waren.
Das Grab der Zieglers befand sich im oberen Teil des Friedhofs. Plötzlich wurde die Luft kälter, war erfüllt vom modrigen Geruch welker Blätter. Über den Gräbern ragte der dunkle Umriss des Waldes in den Himmel. In diesem alten Teil des Friedhofs gab es keinen Kies mehr, nur Lehmboden. Die Gräber hier waren schlichte Rechtecke, von Kalksteinblöcken begrenzt.
Mathilde erblickte die Statue des Dieu Piteux - der Gott des Erbarmens -, daneben die alte Eiche. Sie suchte Johanns Gestalt, ohne die zuckenden Schatten aus dem Blick zu lassen, als plötzlich ein heller Fleck am Fuß des Baumes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war eine Art Schild. Sie ging näher heran. Auf einem Stück Pappe stand mit großen, schwarzen Buchstaben geschrieben: Der Strick für Kollaborateure.
Mit angehaltenem Atem trat sie noch einen Schritt näher. Als sie direkt vor dem Baumstamm stand, blickte sie auf und sah Johanns lehmverschmierte, weiße Socken, die langsam über ihrem Kopf hin- und herpendelten.
Sie erinnerte sich daran, was ihre Mutter abends vor dem Feuer erzählte: In der Weihnachtsnacht erblühen für eine Stunde die Blumen an den Bäumen.
Dann brach sie auf dem eiskalten Boden zusammen.
© List TB. Vertrag
Es war so kalt in dieser Nacht, dass die alten Buchen Risse bekamen. Die Leute, deren Fenster zum Waldrand hin gingen, hörten, wie die Bäume knarzten und ächzten und die Zweige knackten, wie Knallkörper bei einer nächtlichen Feier, bevor sie auf dem gefrorenen Boden zerbrachen.
Trotz der Ausgangssperre war das Portal der Kirche kurz vor Mitternacht weit geöffnet. Die Chorkinder, die unter ihren Chorhemden vor Kälte wankten, waren als Erste in das von Kerzen erleuchtete Kirchenschiff eingezogen, danach hatten die Männer die hölzernen Flügeltüren aufgestoßen und die schweren Wollvorhänge beiseitegeschoben. Seitentüren und Fenster waren ebenfalls hinter Vorhängen verborgen. Der raue Stoff dämpfte Lichter und Geräusche und vermittelte den Menschen ein trügerisches Gefühl von Geborgenheit.
Die Bänke waren voll besetzt, auf der einen Seite des Mittelgangs saßen die Männer, auf der anderen die Frauen. Sie waren immer weiter zusammengerückt, bis sie Schulter an Schulter saßen. Bereits am Morgen hatte der Küster Holzscheite in den Ofen geschichtet, aus dem nun leichter Rauch aufstieg, vermischt mit dem Duft von geschmolzenem Wachs. Doch an den eiskalten Mauern perlten noch immer Kondenstropfen.
Sie wärmten sich auf und zählten einander. Es geschah unbewusst, wie bei einer alten Frau, deren Finger beim Beten über den Rosenkranz gleiten.
Die Caspars waren zurückgekehrt. Die Steinleins ebenfalls. Vater, Mutter, die drei Söhne. Die Martins waren wieder da. Die Stosses ... Der Älteste fehlte.
Mathilde saß in der sechsten Reihe, direkt am Mittelgang. Um gegen ihre Benommenheit anzukämpfen, richtete sie sich leicht auf und presste den Rücken gegen die hölzerne Lehne. Als sie sich hingesetzt hatte, war ihre Nachbarin ostentativ zur Seite gewichen, doch Mathilde hatte sich damit begnügt, sie anzulächeln. Eines Tages, als sie noch klein war und wegen einer verlorenen Freundin weinte, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt: »Vergiss nicht, Mathilde: Wenn der Wind dreht, drehen sich auch die Wetterfähnchen.« Damals hatte sie vom Fenster des Bauernhauses, in dem sie aufgewachsen war, zugesehen, wie sich die Bäume bis zum Boden hinabbogen, und gedacht, dass es nicht einfach sei, dem Wind Widerstand zu leisten. Doch seitdem hatte sie es gelernt.
Alles war so schnell gegangen. Eines Morgens, Ende August, waren die Deutschen aus dem Dorf verschwunden. Als Mathilde die Hauptstraße zur Bar hinabging, hatte sie in den Fenstern die ersten blau-weiß-roten Fahnen wehen sehen. Dann waren die jungen Männer, die sich versteckt gehalten hatten, um der Rekrutierung durch die Wehrmacht zu entgehen, einer nach dem anderen wieder aufgetaucht. Mitte Dezember waren die Truppen von Marschall Model in den belgischen Ardennen und in Luxemburg in die Offensive gegangen. Tag und Nacht hörte man die Kanonen donnern. Doch etwa fünfzehn Familien, die man zu Beginn der Besatzungszeit vertrieben hatte, waren bereits zurückgekehrt.
Auf der anderen Seite des Mittelgangs saß ein junger Mann, er trug die Armbinde der Résistance. Mathilde starrte einen Moment lang auf seinen schmalen Nacken, an dem eine blonde Haarsträhne klebte, doch sie konnte ihn nicht erkennen und wandte den Blick ab, um Johanns Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr Mann saß abseits, am äußersten Ende einer Bank. Er schien ganz vertieft in die Betrachtung eines großen Gemäldes, das hinten im Chorraum hing - eine Madonna, die mit ausgestreckten Händen vor einer in Dämmerlicht getauchten Landschaft stand. Mathilde fiel auf, dass Johann gekrümmt dasaß, mit eingezogenem Kopf. Er war sehr groß, ungelenk und bewegte sich, wie die Kinder es tun, nach vorn gebeugt, mit hastig schlenkernden Beinen. Er hatte auch, so dachte die junge Frau, den Geruch eines Kindes an sich. Lieblich und süß. Ein Geruch, der ihr sofort vertraut gewesen war, ebenso wie die Beschaffenheit seiner Haut und das Gewicht seines warmen Körpers auf ihrem.
Mathilde wusste, dass er nur widerwillig mitgekommen war, weil sie darauf bestanden hatte. Sie konnte es kaum erwarten, dass die Messe zu Ende war. Über dem Feuer wartete eine Suppe, die sie bei ihrer Rückkehr stärken würde. Danach würden sie in ihrem Schlafzimmer, das vom Duft nach Wachs und Stroh erfüllt war, unter das Daunenbett schlüpfen, er würde seine Hände auf sie legen, sie würde ihre Wärme durch das Baumwollhemd hindurch spüren und behutsam, ganz langsam, auf ihn gleiten. Dann mochte der Wind wehen, mochten die Wetterfähnchen sich drehen, so viel sie wollten!
Vor dem Altar stand der Priester und las einen Text von Jesaja vor. Darin wurde ein neuer Tag angekündigt, an dem sich die Liebe Gottes zeigen würde. Er war erst zehn Tage zuvor aus Lyon zurückgekommen, um das erste Weihnachtsfest seit der Befreiung zu feiern. Sein Gesicht war ausgemergelt, doch er lächelte. Die Frauen neben Mathilde hörten ihm mit gesenktem Kopf zu. Sie presste die Arme an ihren Bauch, da ihr die Nähe all dieser Körper in ihren dunklen Mänteln plötzlich die Luft nahm. Die zehn Bilder des Kreuzwegs an den weißgekalkten Wänden schienen sich im flackernden Kerzenlicht zu beleben, wie die Bilder eines alten Films. Eine emporgehobene Lanze, verzerrte Gesichter, der schmerzerfüllte Blick eines Christus mit Dornenkrone auf der Stirn. Schuld, Strafe, Leid. War dem Priester überhaupt bewusst, was während seiner Abwesenheit aus seiner Gemeinde geworden war?
Plötzlich schlüpfte eine Frau, die geräuschlos hereingekommen war, neben sie und drängte sie ein Stück beiseite. Ein eisiger Luftzug strich über Mathildes Wange. Jemand hatte die Seitentür der Kirche geöffnet. Während der Flügel sich mit einem gedämpften Geräusch wieder schloss, dachte sie, dass ein Gemeindemitglied es wohl eilig hatte, nach Hause ins Warme zu kommen. Oben auf der hölzernen Empore über dem Eingang erklang ein Weihnachtslied auf der Flöte. Die Messe würde bald zu Ende sein. Der Priester würde den Segen erteilen und sie endlich entlassen.
Als die letzten Töne der Orgel widerhallten, setzte Gedränge ein. Die Frau neben Mathilde verstaute in aller Ruhe ihr Messbuch, und als sie selbst endlich die Bank verlassen konnte, war Johann bereits fort.
Beim Hinausgehen senkte die junge Frau den Blick, um zu sehen, wo sie hintrat. Im Mondschein glänzten die mit Eis bedeckten Stufen der Kirche. Sie vergrub ihr Kinn unter dem Mantelkragen und blickte sich suchend um, doch sie konnte ihren Mann nirgendwo entdecken.
Vor dem Portal blieben einige Familien noch stehen, um sich zu unterhalten. In der eiskalten Luft vibrierten die Töne mit kristallener Klarheit. Murmeln und leises Lachen, Festtagsgeräusche inmitten der Nacht. Mathilde suchte die Gesichter ab, die sich unter den dunklen Hüten und Tüchern wie weiße Masken abhoben, doch sie sah Johann nicht. Allmählich lösten sich die Gruppen auf, es kehrte wieder Ruhe ein, und schließlich fand sie sich alleine wieder.
Verunsichert irrte Mathilde eine Weile vor dem Portal hin und her. Es musste etwas geschehen sein. Johann wäre niemals ohne sie losgegangen. Sie wagte nicht, zu rufen, so tief war die Stille.
Unentschlossen lief sie ein paar Schritte über den schmalen Weg, der an der Nordwand des Kirchenschiffes entlangführte, doch das Pfarrhaus war in Dunkelheit
getaucht, die Fensterläden waren geschlossen. Dann bemerkte sie, dass das Tor zum Friedhof einen Spalt offen stand. Vielleicht war Johann zum Grab seiner Eltern gegangen, während er auf sie wartete.
Mathilde trat durch das kleine Portal. Sie bewegte sich vorsichtig und lauschte dabei aufmerksam auf das Knirschen der Kieselsteine unter ihren Schuhsohlen. Im weißen Mondlicht glänzten die mit Raureif überzogenen Christrosen, die auf den Marmorplatten niedergelegt worden waren.
Das Grab der Zieglers befand sich im oberen Teil des Friedhofs. Plötzlich wurde die Luft kälter, war erfüllt vom modrigen Geruch welker Blätter. Über den Gräbern ragte der dunkle Umriss des Waldes in den Himmel. In diesem alten Teil des Friedhofs gab es keinen Kies mehr, nur Lehmboden. Die Gräber hier waren schlichte Rechtecke, von Kalksteinblöcken begrenzt.
Mathilde erblickte die Statue des Dieu Piteux - der Gott des Erbarmens -, daneben die alte Eiche. Sie suchte Johanns Gestalt, ohne die zuckenden Schatten aus dem Blick zu lassen, als plötzlich ein heller Fleck am Fuß des Baumes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war eine Art Schild. Sie ging näher heran. Auf einem Stück Pappe stand mit großen, schwarzen Buchstaben geschrieben: Der Strick für Kollaborateure.
Mit angehaltenem Atem trat sie noch einen Schritt näher. Als sie direkt vor dem Baumstamm stand, blickte sie auf und sah Johanns lehmverschmierte, weiße Socken, die langsam über ihrem Kopf hin- und herpendelten.
Sie erinnerte sich daran, was ihre Mutter abends vor dem Feuer erzählte: In der Weihnachtsnacht erblühen für eine Stunde die Blumen an den Bäumen.
Dann brach sie auf dem eiskalten Boden zusammen.
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Autoren-Porträt von Aline Kiner
Aline Kiner ist als Tochter eines Minenarbeiters in einer Kleinstadt in Lothringen aufgewachsen. Sie hat Literaturwissenschaft studiert und arbeitet heute als Journalistin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Aline Kiner
- 2012, 256 Seiten, Maße: 11,5 x 12,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ingrid Kalbhen
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610889
- ISBN-13: 9783548610887
- Erscheinungsdatum: 08.08.2012
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