Gefährliches Schweigen / Svea Andersson Bd.2
Ein Svea Andersson Krimi
Endlich: Schwedenkrimsi für junge Leser!
Der zweite Fall für Svea Andersson: An Sveas Schule scheinen viele Schüler vor etwas Angst zu haben. Als die schüchterne Natalie dann auch noch droht, vom Schuldach zu springen, fängt Svea an, Fragen zu stellen....
Der zweite Fall für Svea Andersson: An Sveas Schule scheinen viele Schüler vor etwas Angst zu haben. Als die schüchterne Natalie dann auch noch droht, vom Schuldach zu springen, fängt Svea an, Fragen zu stellen....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gefährliches Schweigen / Svea Andersson Bd.2 “
Klappentext zu „Gefährliches Schweigen / Svea Andersson Bd.2 “
Endlich: Schwedenkrimsi für junge Leser!Der zweite Fall für Svea Andersson: An Sveas Schule scheinen viele Schüler vor etwas Angst zu haben. Als die schüchterne Natalie dann auch noch droht, vom Schuldach zu springen, fängt Svea an, Fragen zu stellen. Sie trifft aber nur auf eine Mauer des Schweigens. Doch Fragen stellt man an Sveas Schule nicht ungestraft: Die Täter lassen ihre Wut an Sveas Hund aus. Sie begreift allmählich, womit sie es zu tun hat. Und dann ist es schon fast zu spät ...
Packend und atemlos spannend erzählt!
Lese-Probe zu „Gefährliches Schweigen / Svea Andersson Bd.2 “
Gefährliches Schweigen von Ritta JacobssonProlog
Missa war verschwunden.
Das ist meine Schuld!, dachte Natalie. MEINE SCHULD!
Sie konnte weder essen noch lesen noch an etwas anderes denken. Mit jeder Stunde, die verstrich, wuchs ihre Verzweiflung. Ihr ganzer Körper befand sich in Aufruhr. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen und ihr Magen gurgelte unruhig, während sie auf und ab tigerte.
Zum sicher hundertsten Mal stand sie fröstelnd vor der Haustür und rief und lockte die Katze mit panikerfüllter Stimme.
„Mach die Tür zu!", schrie ihre Mutter. „Es zieht. Sie kommt zurück, keine Sorge. Katzen gehen gern ihre eigenen Wege."
Missa nicht, protestierte Natalie in Gedanken. Molly war diejenige, die sofort rauswitschte, kaum dass die Tür einen Spaltbreit aufging. Doch jetzt gerade lag die schwarze Katze in der Diele auf umgekippten Winterstiefeln und schnurrte, ohne die Unruhe ihres Frauchens zur Kenntnis zu nehmen.
Natalie blickte flehend auf den Schnee hinaus, in der Hoffnung, eine weiße Katze auftauchen zu sehen, die auf das Haus zulief.
Missa hielt sich immer im Garten auf und kletterte besonders gern in die Spitze der niederen Hängebirke vor dem Küchenfenster hinauf, von wo aus sie abwartend die Vögel betrachtete, die hoch über ihrem Kopf vorbeischwebten.
Dort hatte sie auf den winterlich kahlen Ästen gesessen, als Natalie zuletzt nach ihr geschaut hatte. Weit hinten auf der Straße hatte Natalie kurz eine dunkle Gestalt gesehen, die auf ihr Haus zuging, aber sie hatte möglichst schnell zum Fernseher zurückkehren wollen, wo gerade ihre Lieblingsserie über die braun gebrannten Teenies unter den exotischen Palmen Kaliforniens lief.
Eine echt bescheuerte Idiotensendung!
... mehr
Das war vor vier Stunden gewesen. Die Zeit verging unendlich zäh.
Natalie wanderte von Fenster zu Fenster.
Auf der blank geputzten Arbeitsplatte lag eine Tüte mit Krabben. Molly, die inzwischen wieder munter war, umkreiste sie neugierig und leckte an der beschlagenen Plastikhülle. Im Kühlschrank standen Wein und eine große Flasche Cola. Natalies Vater war von einer Sitzung in Brüssel nach Hause unterwegs und konnte jeden Moment zur Tür hereinkommen. Dann würde ihre Mutter ihre Arbeit unterbrechen und der beste Abend der Woche seinen Anfang nehmen.
Aber nicht an diesem Freitag.
Etwas Böses hatte die Idylle zerstört, etwas, das Natalie jetzt von innen her zerriss.
Sie hatte ihre Strafe bekommen.
Weil sie Nein gesagt hatte.
Die Lehrer der Pausenaufsicht waren auf dem Schulhof umhergewandert und hatten selbstzufrieden nickend festgestellt, wie schön friedlich alles war. Sie hatten nichts Ungewöhnliches daran gesehen, dass ein dünnes Mädchen aus der Achten zitternd, dem Weinen nahe, inmitten einer Gruppe von Jungs aus der Neunten stand.
Obwohl Natalie Angst gehabt hatte, hatte sie immer noch geglaubt, eine Wahl zu haben.
Aber am kommenden Montagmorgen würde sie sich zu allem bereit erklären.
Bis dahin war es allerdings noch eine Ewigkeit.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
„Ich geh raus und such noch mal nach ihr."
Sie hatte gehofft, ihre Mutter würde vorschlagen, sie zu begleiten, doch die saß vor dem Computer, neben dem Bildschirm häuften sich die Papiere. Vermutlich hatte sie wieder irgendein großes Wohnungsprojekt am Laufen.
„Mhm."
Natalie zog die Steppjacke übers TShirt an, schlüpfte mit bloßen Füßen in die Winterstiefel und lief nach draußen. Es war einfacher, irgendwas zu unternehmen, anstatt nur zu warten.
Bei den Nachbarn war Licht. Die meisten hockten drinnen in der Wärme und sperrten die winterliche Kälte und Dunkelheit aus.
Die Nachbargärten hatte sie schon durchsucht, sie hatte unter schneebedeckte Gartenmöbel geschaut, hatte gerufen und gelockt. Jetzt spähte sie auf dem Weg zur Hauptstraße in die Straßengräben.
Die Nebenstraße war zwar nicht stark befahren, aber ein einziges Auto genügte, um eine kleine Katze zu töten.
Sie stellte sich den Aufprall vor.
Das harte Auto.
Den weichen Katzenkörper.
Schnell kniff sie die Augen zu, um das Bild des fliegenden Katzenkörpers zu verdrängen.
Sie glaubte nämlich nicht, dass Missa überfahren worden war.
Ihr war etwas viel Schlimmeres zugestoßen.
Und jetzt lag Missa irgendwo allein im Dunkeln.
Das Monster schlug seine Krallen immer tiefer in Natalie, bis der Schmerz unerträglich wurde.
„Ich bereue es. Bitte!"
Niemand hörte ihr leises Wimmern.
Suchend lief sie von Straßenseite zu Straßenseite. Von der großen Straße drang das Rauschen vereinzelter vorbeifahrender Autos herüber. Der Hauptverkehr war vorbei, die meisten Leute waren schon von der Arbeit nach Hause gekommen.
Im Schnee wäre eine weiße Katze kaum zu erkennen. Allerdings war die Straße hier geräumt und nur von Matsch bedeckt. Das weiche Fell, das Missa jeden Abend sorgfältig sauber leckte, würde sich deutlich von der bräunlichen Schmiere abheben. Natalie näherte sich dem Wald, der sich schwarz und feindselig vor ihr erhob. Sie wurde langsamer, während sie nach Spuren Ausschau hielt. Verletzte Tiere suchen gerne Schutz unter Büschen.
Es war kälter, als sie gedacht hatte. Die Kälte drang durch die Steppjacke an ihre bloßen Arme, und ohne wärmende Wollsocken begannen ihre Zehen zu schmerzen. Sie hatte es zu eilig gehabt, hinauszukommen.
Doch das war nicht wichtig. Wichtig war nur, Missa zu finden.
Plötzlich bewegte sich etwas. Natalie zuckte zusammen.
Sie sah genauer hin. Eine weiße Plastiktüte war unter einem Schneebatzen festgeklemmt und flatterte im Wind.
Die Landschaft verschwamm vor ihren Augen, doch dann wischte Natalie rasch die Tränen der Enttäuschung weg und starrte noch angestrengter in den dunklen Wald.
Da! Sie entdeckte etwas.
Es war wie ein Stich ins Herz. Ihr Körper erstarrte zu Eis. Lautes Dröhnen erfüllte ihren Kopf.
„Neeein!"
Sie begann zu rennen, sprang über den Graben und folgte den Fußspuren im Schnee.
„Neein! Neein!"
Ihr Schrei ging in Weinen über. Sie hielt sich die Hände vor die Augen, um das Grauen nicht sehen zu müssen.
Schon ein einziger kurzer Blick war zu viel gewesen.
Ein solcher Anblick sollte niemandem je zugemutet werden.
Ein dünner Katzenkörper, der von einer Schlinge herabhing, die Beine in einem unnatürlichem Winkel abgespreizt ...
Was haben sie getan?!
WAS ... HABEN ...
Montag
Es war ein ungemütlicher Abend für einen Hundespaziergang. Wir befanden uns zwar schon mitten im ersten Frühlingsmonat, aber von Frühling war weit und breit nichts zu sehen. Das Thermometer parkte seit mehreren Tag kurz unter zehn Grad minus und der Wind rüttelte an den bedrohlich ächzenden Bäumen. Aber ich hatte meine Thermojacke an und die Mütze, die Oma gestrickt hatte, auf dem Kopf, und Wuff wurde ja von ihrem schwarz gefleckten Fell gewärmt.
Hier, wo ich wohne, klettern die Reihenhäuser und Einfamilienhäuser an einem Hang entlang. Unsere Häuser sind der letzte Außenposten, danach gibt es nur noch Natur. Stockholm lässt sich manchmal als Lichtschein am schwarzen nördlichen Nachthimmel erahnen. Die Leute, die dort wohnen, glauben, unser Vorort sei der soziale Brennpunkt Nummer eins im ganzen Großraum Stockholm, wo Diebe und Mörder hinter jedem Busch lauern. Völliger Quatsch! Wir schließen hier nicht mal unsere Fahrräder ab. Aber zugegeben, auch bei uns passieren schlimme Sachen. So wie neulich, vor ein paar Monaten erst.
Eine tote Mitschülerin.
In der Nähe des verwunschenen kleinen Waldsees, an dem ich oft mit Wuff spazieren gehe, wenn nicht gerade so viel Schnee liegt wie jetzt, ist Mikaela, meine Nachbarin und Klassenkameradin, tot aufgefunden worden. Ihr Leben endete gleich neben einer Lichtung, wo ich oft mir ihr gepicknickt hatte.
Mein Alltag hat sich wieder normalisiert, aber in meinen Gedanken ist Mikaela noch da. Bis vor Kurzem kamen mir jedes Mal die Tränen, wenn ich an sie dachte, doch inzwischen ertappe ich mich manchmal dabei, bei der Erinnerung an die vielen verrückten Sachen, die sie angestellt hat, zu lächeln.
Die Gärten wirkten wie erstarrt mit ihren steif gefrorenen Bäumen und zugeschneiten Beeten, aus denen vereinzelte Zweige ragten. Die Gartenmöbel kauerten in Gruppen unter den Abdeckungen. Im Sommer ziehen meistens Grillschwaden tief über das Grün und die Gärten kochen förmlich über vor Aktivitäten, aber jetzt schienen sich alle Bewohner zum Winterschlaf zurückgezogen zu haben. Nur Wuff und ich waren unterwegs.
Ich hätte mit verbundenen Augen herumwandern können. Im Laufe meines vierzehnjährigen Lebens hatte ich jede einzelne Kurve hier in der Gegend umrundet, war sämtliche steilen Straßen hinaufgestapft und hinabgeschlittert. Vielleicht war das der Grund, warum ich von meiner gewohnten Strecke abwich. Möglicherweise war ich ein klein wenig gelangweilt.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich zur großen Straße spazierte. Da Wuff unterwegs an jedem Fleck schnupperte, war unser Tempo nicht unbedingt schweißtreibend. Aber ich hatte keine Eile.
Nach der Kiesgrube verließ ich die Hauptstraße, um in ein schmales Sträßchen einzubiegen, das bergan führte. Das tat ich aus purer Neugier, weil ich dort noch nie gewesen war.
Die meisten Einfamilienhäuser hier oben waren zwanzig, dreißig Jahre alt und von großen Grundstücken umgeben. Rechts der Straße stand dicht und dunkel der Wald.
Ich ging weiter, bis ich den Kamm der Anhöhe erreichte. Dort, dicht am Wald, stand ein altes dreistöckiges Haus. Wuff schlug sofort neben dem Briefkasten Wurzeln, um eine Nachricht an ihre Hundefreunde zu hinterlassen. Ich hatte reichlich Zeit, um das Haus zu betrachten.
Es war das größte in der Gegend, mit Kellerund Dachgeschoss und einem turmgeschmückten Giebel. Das Haus erinnerte stark an ein Spukschloss in einem Gruselfilm, den ich mal gesehen hatte. In dem Film hatte eine hexenähnliche Alte junge Leute ins Haus gelockt, die danach spurlos verschwunden waren. Das Grundstück wurde von einer hohen Tannenhecke umschlossen, der Garten selbst sah verwildert aus. In einem Glockenspiel, das am Vordach der Haustür hing, spielte der Wind eine wehmütige Melodie. Aus dem Schornstein ringelte sich Rauch empor, in einigen Fenstern war Licht. Also war jemand zu Hause.
Vielleicht die menschenfressende Hexe, haha, dachte ich, zerrte dabei aber an Wuffs Leine, um weiterzukommen. Mir war ein wenig mulmig geworden.
Ich hatte nur ein paar Meter zurückgelegt, als die Stille unterbrochen wurde.
„Ich hab genau gesehen, was der Köter gemacht hat!"
Ich wirbelte herum und wäre dabei fast ausgerutscht.
Aus dem Spukhaus kam eine alte, spindeldürre Frau mit drohend geschwungener Faust angaloppiert. Sie trug eine graue Baumwollhose und dazu einen dicken Wollpullover und sah nicht unbedingt wie eine Hexe aus.
„Heb das sofort auf!"
„Aber sie ..."
„Heb es auf!"
Allmählich begann sie mich zu nerven, aber ich wollte ihr trotzdem die Sache erklären.
„Mein Hund ist eine Hündin", sagte ich. „Und Hündinnen hocken sich beim ..."
Die Alte war kein bisschen daran interessiert, etwas darüber zu erfahren, wie sich die Pinkelhaltungen von Hündinnen und Rüden unterschieden.
„Ich rufe die Polizei!"
Jetzt wurde ich sauer. Am liebsten hätte ich sie einfach ignoriert, aber wohlerzogen, wie ich war, startete ich dennoch einen letzten Versuch.
„Dagibt'sdochgarnichts zum ..."
„Die lassen deinen Hund einschläfern!", keifte sie.
Dampfend vor Zorn stampfte ich auf. Ich stehe zu den Fehlern, die ich mache - obwohl es viele sind -, aber ich hasse es, ungerecht beschuldigt zu werden.
„Blöde alte Hexe!", brüllte ich hinter ihr her. „Passen Sie lieber auf, dass niemand so was mit Ihnen macht!"
Schon im nächsten Moment bereute ich meine Worte. Das war dann doch ein bisschen heftig. Die Drohung gab ihr außerdem einen Anlass, die Polizei zu verständigen. Und die würden nicht lange brauchen, um den Teenie mit dem einzigen Dalmatiner in der Gegend ausfindig zu machen. Der Hund mit dem lustigen Namen ... Wuff.
Ich überlegte, ob ich hinter der Alten herlaufen sollte, um mich zu entschuldigen, als ich plötzlich andere Sorgen bekam. Weiter hinten entdeckte ich eine lärmende Schar Jungs. Johlend und krakeelend kamen sie direkt auf mich zu.
Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren, aber mein Selbsterhaltungstrieb riet mir, einer grölenden Jungsclique auf einer verlassenen Straße aus dem Weg zu gehen. Ich hatte auch keine Ahnung, was Wuff tun würde, falls die Typen mich anmachten. Hoffentlich würde sie mich beschützen, doch es bestand durchaus das Risiko, dass sie mit eingezogenem Schwanz nach Hause rannte.
Also ging ich lieber auf Nummer sicher und schlüpfte in den Garten, der dem Spukhaus gegenüberlag. In dem roten Backsteingebäude brannte Licht, aber niemand war zu sehen. Ich suchte hinter ein paar Büschen Schutz und zog Wuff hinter mir her.
„Still!", flüsterte ich.
Sicherheitshalber hielt ich ihr mit der Hand die Schnauze zu.
Aber Wuff zeigte keinerlei Interesse an dem lärmenden Haufen. Umso mehr schätzte sie es, dass mein Gesicht sich plötzlich auf der selben Höhe befand wie ihre Schnauze, als wir so hinter den Büschen kauerten. Eifrig versuchte sie, meine Wangen abzulecken, aber ich zischte sie an, sie solle still sitzen.
Die lauten Stimmen waren inzwischen nur ein paar Meter von uns entfernt.
„Ey, dann hab ich gesagt, ey, geil, Mann, und der dann so, wow, echt?", berichtete jemand mit großem Nachdruck.
Geniale Unterhaltung, dachte ich.
Ich beschloss zu warten, bis sie vorbeigegangen waren, doch aus irgendeinem Grund blieben sie ganz in der Nähe stehen. Das röhrende Gelächter verstummte jäh. Es wurde totenstill.
Ich drückte mich tiefer ins Gebüsch. Mein Herz klopfte laut.
Hatten sie mich gesehen?
Ich presste Wuff eng an mich und streichelte sie beruhigend.
Es war so still, dass ich mich fragte, ob die Clique nicht doch weitergezogen war. Vorsichtig spähte ich hervor. Sie waren noch da. Zuerst sah ich nur die Rücken von fünf großen, dunkel gekleideten Typen, doch plötzlich wandte sich einer von ihnen halb um. Er war wesentlich kleiner und dünner als die anderen.
Genau wie die übrigen vier hatte er eine schwarze Mütze tief über die Ohren gezogen, aber als ich sein Profil sah, zuckte ich überrascht zusammen.
War das etwa ... Simon?
Es war zu dunkel, um mit Sicherheit etwas erkennen zu können. Außerdem kam es mir ziemlich unwahrscheinlich vor. Simon ist der Oberstreber unserer Klasse. Er würde sich nie mit einer Clique älterer Jungs herumtreiben. Vor allem würden die sich für jemanden wie ihn gar nicht erst interessieren.
Ich duckte mich wieder in meinem Versteck und konzentrierte mich darauf, Wuff festzuhalten. Ihr wurde es allmählich langweilig, in dem kalten Schnee stillzusitzen, darum versuchte sie sich meinem Griff zu entwinden.
„Los jetzt!", zischte plötzlich jemand.
Etwas krachte. Dann folgte ein Klirren.
Eine Fensterscheibe ging zu Bruch.
Danach wieder Stille.
Die Sekunden tickten dahin.
Wuff zog und zerrte, um sich zu befreien.
„Pssst!", flüsterte ich flehend.
Ich hatte Angst.
Zwei, drei Minuten verstrichen, die mir so lang vorkamen wie eine Stunde.
Plötzlich geschah wieder etwas. Ein eigenartiges Knistern war zu hören und der vertraute Geruch von offenem Feuer drang mir in die Nase.
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, musste einfach wieder rausspähen.
Im selben Moment spurtete die Bande im vollen Galopp davon. Der Boden dröhnte unter ihren Füßen. Sie klangen wie eine Herde Elefanten.
Ich schlich hervor. Inzwischen waren sie schon verschwunden.
Der Rauchgeruch war jetzt deutlich wahrnehmbar. Aus der Tannenhecke der alten Hexe qualmte Rauch empor. Die Jungs mussten sie angezündet haben!
Mein erster Gedanke war, ihrem Beispiel zu folgen und abzuhauen. Aber irgendetwas zog mich zu der qualmenden Hecke hin, obwohl Wuff sich dagegen sträubte.
Flammen sah ich keine. Die Zweige waren zu feucht, um schnell Feuer zu fangen. Wäre das im Sommer passiert, hätte wahrscheinlich die ganze Hecke schon lichterloh gebrannt, bevor ich auch nur „Es brennt!" hätte rufen können.
Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal die Hexe. Ich hatte keine Lust, bei ihr zu klingeln, und begann stattdessen Schnee auf die rauchenden Zweige zu schaufeln. Bei jedem Treffer zischte es laut auf, und der Rauch wurde dichter und dunkler.
Anfangs hatte Wuff wild an ihrer Leine gezerrt, um dem Rauch zu entkommen. Aber als ich jetzt darauf bestand zu bleiben, machte sie es wie ich, oder zumindest das, was sie dafür hielt, und begann im Schnee zu scharren.
Ich hatte das Gefühl, mich schon ewig lang abgerackert zu haben, aber in Wirklichkeit war das Ganze wahrscheinlich innerhalb von ein, zwei Minuten vorbei. Ich war außer Atem und verschwitzt. Immer noch hatte sich niemand blicken lassen. Wie war es möglich, dass kein Mensch sah, was hier los war?
Unschlüssig blieb ich stehen, bis mir das Klirren einfiel, das ich gehört hatte. Ich lief ums Haus und kontrollierte jedes Fenster, bis ich eins entdeckte, das kaputt war - ein schmales Kellerfenster an der Rückseite. Dort klaffte ein großes Loch wie von irgendeinem schweren Gegenstand, der dort reingeworfen worden war.
Bestimmt war das auch ein Werk dieser Bande.
Ich tastete in meiner Tasche nach meinem Handy, um die Polizei anzurufen, überlegte es mir dann aber anders. Das musste die alte Tante selber machen.
Ich befand mich zwei Meter vor dem Haus, als die Haustür aufging. Die magere Silhouette der alten Frau wurde von der Dielenlampe von hinten beleuchtet. Wiegend wie eine Eule spähte sie in die Dunkelheit hinaus.
„Ich ...", begann ich und deutete auf die Hecke.
„Um Himmels willen! Was hast du angestellt?!"
„Ich ..."
Sie ließ mir keine Chance.
„Hiiilfe!", schrie sie.
All mein Mut verließ mich. Es sah gar nicht gut aus. Jemand hatte das Kellerfenster der Alten eingeworfen und versucht, ihre Tannenhecke abzufackeln, und das, nur Minuten, nachdem ich ihr gedroht hatte. Und hier stand ich jetzt, verrußt und zerzaust, wie auf frischer Tat ertappt.
Das durchdringende Geschrei der Alten brachte endlich die Nachbarn auf die Beine.
„Frau Asp, was ist passiert?", rief eine Männerstimme.
Von plötzlicher Panik befallen rannte ich davon und kroch durch ein Loch in der Hecke in den Wald, Wuff zerrte ich hinter mir her. Bis zur großen Straße mussten wir durch hohen Schnee stapfen, danach liefen wir im vollen Galopp heimwärts, als würden wir verfolgt.
Erst als ich die Lichter unserer Nachbarhäuser sah, traute ich mich, mein Tempo zu verlangsamen. Wir keuchten alle beide. Wuff hatte immerhin noch Kraft genug, um mit dem Schwanz zu wedeln. Mir dagegen war um einiges düsterer zumute.
Warum bin ich abgehauen?, dachte ich. Ich hätte bleiben und erklären sollen, was passiert war. Schließlich hatte ich ja nichts getan. Schuldig waren die fremden Jungs. Jetzt sah es natürlich so aus, als hätte ich die Tannenhecke angezündet.
Aber für Reue war es inzwischen zu spät.
Während das Feuer in der Tannenhecke knisterte, streckte Simon seine Hand vorsichtig durch das Loch in dem schmalen Kellerfenster und schob den Haken hoch. Ein paar Glassplitter lösten sich und schlugen klirrend auf dem Boden auf.
Er wartete angespannt, aber niemand kam angestürzt. Also öffnete er das Fenster, spähte hinein und stellte fest, dass es sich auf Höhe der Kellerdecke befand. Er schob die Füße hindurch, wand sich noch weiter hinein und hüpfte runter.
Dann zog er seine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete damit. Er befand sich in einem Vorratsraum mit Regalen an den Wänden und aufeinandergestapelten Kartons. Der Luftzug hatte den Keller bereits ausgekühlt. Die Tür oberhalb der Holztreppe war geschlossen.
Womöglich war sie abgesperrt!
Insgeheim hoffte er das. Dann hätte er eine Ausrede.
Er schlich die Treppe nach oben und drückte langsam den Türgriff runter. Die Tür öffnete sich. Er schob sie einen Spalt weit auf und horchte.
Irgendwo im Haus bewegte sich jemand mit schlurfenden, unsicheren Schritten.
Der Rauchgeruch drang durchs offene Fenster. Den müsste sie doch auch riechen. Warum rannte sie nicht nach draußen? Es brannte doch!
Nichts lief so wie geplant.
Unschlüssig wartete er eine Zeit lang, schlüpfte dann aber in einen dunklen Flur. Zwei Zimmer gingen vom Flur ab, in denen schwere, altertümliche Möbel standen. Seit er mit seiner Mutter hier gewesen war, hatte sich nichts verändert.
Sein Körper stand unter Hochspannung, sein Gehirn protestierte laut. Er müsste umkehren.
Und dennoch ging er weiter. Er hatte keine Wahl.
Auf der Hut vor den schlurfenden Schritten schlich er weiter.
In unserem Haus war fast überall Licht, auch in Mamas Atelier. Als Künstlerin richtet sie sich bei der Arbeit nicht nach der Uhr. Beim Malen lässt sie sich von ihrer Inspiration lenken. Die hohen Atelierfenster im einen Giebel unterscheiden unser Haus von allen anderen. Ansonsten würde es wie jedes andere zweistöckige gelbe Holzhaus mit weißen Schnitzereien und einem Balkon überm Eingang aussehen.
Papas Volvo glänzte silbern auf der Garageneinfahrt. Es ist immer noch ein ungewohntes Gefühl, den Wagen an einem normalen Werktagabend zu sehen. Früher pendelte er nach Jönköping und war nur an den Wochenenden zu Hause. Aber seit dem Jahreswechsel arbeitet er in Stockholm.
Atemlos trat ich ins Haus, zitternd und voller Angst, weil ich vor der wutentbrannten Frau Asp geflohen war. Gleichzeitig lief mein Gehirn auf Hochtouren. Was mach ich jetzt bloß?
Als Erstes rief ich „Hallo", während ich meine Stiefel auszog.
Mein Gruß stieß auf jubelnde Erwiderung.
„Jaaa!"
Ich nahm aber nicht an, dass dieser Freudenschrei meiner Ankunft galt. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Der Berichterstatter brüllte mit dem Publikum um die Wette. Und mit Papa. Papa federte auf dem Sofa auf und ab und wich keinen Millimeter mit dem Blick von der Glotze, als ich meinen Kopf mit einem erneuten „Hallo" ins Zimmer streckte.
Er hatte es eilig gehabt, aufs Sofa zu kommen. Sein Jackett lag überm Sessel, der Schlips obenauf. Die Ärmel seines weißen Hemds waren aufgekrempelt und die obersten Knöpfe aufgeknöpft.
Wuff schoss rein und nahm neben Papa auf dem Sofa Platz. Von dort aus fixierte sie die Schale auf dem Tisch und versuchte die Chips dazu zu hypnotisieren, ihr in den Mund zu fliegen.
„Äh ...", begann ich.
„Los, ran mit euch, ihr behämmerten Idioten! Nix wie raus mit diesem elenden Schiedsrichter!"
Da verließ mich mein Mut. Das war nicht der geeignete Moment für ein Geständnis. Besser einfach den Mund halten und versuchen, die Ereignisse des Abends zu vergessen.
„Ein bisschen flott, Nisse, dann schaffst du es noch, die zweite Halbzeit zu sehen", rief Papa. „Richtig gutes Spiel heute."
Wenn wir joggen, schwimmen oder am Auto herumlaborieren, nennt er mich Nisse. Ansonsten nennt er mich Svea, wie alle anderen. Oma ist die Einzige, die Afrodite sagt.
Als ich meine Jacke auszog, merkte ich, dass meine Kleider genauso rochen wie die geräucherten Schweinsohren, die Wuff immer als Belohnung bekommt, wenn sie besonders brav gewesen ist. Mit ein paar Schritten durchquerte ich die Küche und die Waschküche und kam in die Garage. Dort hängte ich meine Jacke und Hose an einen Haken, in der Hoffnung, dass der Rauchgeruch bis morgen verdunstet wäre.
Als ich in die Küche zurückkam, hetzte Papa zwischen Kühlschrank und Tisch hin und her. Er war viel zu gestresst, um sich zu fragen, warum ich aus der Garage kam. Hastig warf er Brot und Aufstrich auf den Tisch und begann in raschem Takt Brote zu schmieren.
„Was für ein Spiel, Nisse! Die erste Halbzeit war ein echter Hammer!"
Er schubste die Butter zu mir rüber.
„Beeil dich mit deinen Broten, damit du nichts verpasst!"
„Äh, ich muss lernen."
Erst jetzt sah er mich an.
Wenn ich Papa in die Augen schauen will, muss ich den Kopf in den Nacken legen. Es heißt, ich würde ihm ähnlich sehen. Ich selbst finde, dass ich eher Mama ähnele. Wir sind beide blond, während Papa dunkelbraune Haare hat. Aber blaue Augen haben wir alle drei. Die von Papa guckten jetzt gerade erstaunt.
„Na, hör mal, seit wann haben dich Hausaufgaben davon abgehalten, ein gutes Spiel anzuschauen?"
Ich zuckte die Schultern und schmierte mir einen Berg Brote. Damit setzte ich mich zwischen Papa und Wuff aufs Sofa und vergaß die Wirklichkeit.
Bis das Spiel zu Ende war.
Da fielen die Ereignisse des Abends wieder über mich her.
Papa drehte sich mit hoch erhobener Hand zu mir um. Ich schlug mit meiner Hand dagegen.
„Na, war das ein Spiel, Nisse?!"
Ich nickte zerstreut.
„Du warst aber sehr lange unterwegs. Wo ...?"
Schnell stand ich auf.
„Jetzt muss ich aber Hausaufgaben machen!"
„Jajaja", sagte er und streckte die Hand nach der Fernbedienung aus.
Ich machte ein paar Schritte, blieb dann aber stehen. Sollte ich es nicht doch erzählen?
„Papa ..."
Er wandte sich um und lächelte, als gefiele ihm das, was er sah.
Mir ging es genauso. Mein toller Papa. Ich hab ihn wirklich sehr gern.
Und wieder war ich zu feige. Aber irgendwas musste ich ja sagen.
„Schön, dass du diesen Job in Stockholm gekriegt hast!"
Er nickte und sein Lächeln wurde noch breiter.
„Das finde ich auch, Spatz."
Ich ging nach oben in mein Zimmer und holte die Schulbücher raus. Da saß ich dann am Schreibtisch und drehte den Stuhl hin und her, den Kopf von tausend Fragen erfüllt, nur nicht davon, ob man bei der Aussprache von though, thigh und thought lispeln soll oder nicht.
Wer waren diese Jungs? Warum hatten sie es auf die alte Hexe Frau Asp abgesehen? Was wäre passiert, wenn ich das Feuer nicht gelöscht hätte? Hätte sie mir zugehört, wenn ich geblieben wäre? Hätte sie mir geglaubt?
Und die schlimmste Frage: Hatte sie schon die Polizei verständigt?
Mein Kopf fühlte sich an wie ein summender Bienenkorb. Eine Menge Fragen. Und keine Antworten.
Ich bereute meinen Spaziergang bitterlich und beschloss, nie mehr auch nur in die Nähe des Hauses zu gehen, wo die saure alte Hexe wohnte.
Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Ein schlechtes Gewissen nagt wie ein Wurm im Innern. Mitten in der Nacht wachte ich auf und öffnete die Augen in der Dunkelheit. Was hatte mich geweckt?
Ich lag still und horchte. Alles, was ich hörte, war Wuffs friedliches Schnaufen. Ihr Körper zuckte im Schlaf. Ihre Pfoten zappelten, während sie kurze Wimmertöne ausstieß. Sie jagte im Schlaf, wahrscheinlich die Nachbarkatze. Das waren die aufregendsten Momente in ihrem Leben ...
Im selben Moment stiegen die Erinnerungen an den Abend in mir hoch.
Der Brand!
Plötzlich war ich hellwach.
Wie konnte ich nur so bescheuert sein und abhauen!
Die digitalen Ziffern des Weckers leuchteten mir entgegen.
02:37. Die Nacht war noch lang. Ich hatte endlos Zeit zum Grübeln. Was sollte ich tun, wenn die Alte die Polizei angerufen hatte? Die würden mir niemals glauben. Dass kurz nach meiner Drohung eine Gruppe Jungs sehr gelegen aufgetaucht war und versucht hatte, diese Drohung in die Tat umzusetzen, das klang ja wie die hinterletzte Notlüge. Niemand außer mir hatte die Jungs gesehen. Und ich hatte keinen blassen Schimmer, wer sie waren, wusste bloß, dass sie groß waren und dunkel gekleidet und dass einer, der an Simon erinnerte, dabei gewesen war.
Nicht unbedingt der Traum eines Strafverteidigers. Wenn ich überhaupt einen bekommen würde.
Meine einzige Chance war, rechtzeitig, bevor die Polizei mich ausfindig machte, dahinterzukommen, wer die Jungs waren, und dafür zu sorgen, dass sie gestanden.
Ich schnaubte verbittert vor mich hin. Warum sollten sie das tun? Wer wollte schon geschnappt werden? Und wie sollte ich es schaffen, sie zu finden? Das Einzige, was ich wusste, war, dass sie dunkel gekleidete, groß gewachsene Schlägertypen waren, die sich lärmend unterhielten. Auf welchen Jungen aus der Oberstufe trifft das nicht zu?
Meine Zukunft sah finster aus. Sehr finster. Ich lag in der Dunkelheit in meinem Bett - ein Himmelbett mit weißen Tüllvorhängen und Volants. Reichlich kindisch für eine Vierzehnjährige, aber gleichzeitig eine kostbare Erinnerung an die Zeit, als Papa noch gern schreinerte.
Die Minuten bewegten sich quälend langsam auf den Zeitpunkt zu, da der Wecker mich von meinen Grübeleien erlösen würde.
Los, mach schon! Läute endlich!
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Das war vor vier Stunden gewesen. Die Zeit verging unendlich zäh.
Natalie wanderte von Fenster zu Fenster.
Auf der blank geputzten Arbeitsplatte lag eine Tüte mit Krabben. Molly, die inzwischen wieder munter war, umkreiste sie neugierig und leckte an der beschlagenen Plastikhülle. Im Kühlschrank standen Wein und eine große Flasche Cola. Natalies Vater war von einer Sitzung in Brüssel nach Hause unterwegs und konnte jeden Moment zur Tür hereinkommen. Dann würde ihre Mutter ihre Arbeit unterbrechen und der beste Abend der Woche seinen Anfang nehmen.
Aber nicht an diesem Freitag.
Etwas Böses hatte die Idylle zerstört, etwas, das Natalie jetzt von innen her zerriss.
Sie hatte ihre Strafe bekommen.
Weil sie Nein gesagt hatte.
Die Lehrer der Pausenaufsicht waren auf dem Schulhof umhergewandert und hatten selbstzufrieden nickend festgestellt, wie schön friedlich alles war. Sie hatten nichts Ungewöhnliches daran gesehen, dass ein dünnes Mädchen aus der Achten zitternd, dem Weinen nahe, inmitten einer Gruppe von Jungs aus der Neunten stand.
Obwohl Natalie Angst gehabt hatte, hatte sie immer noch geglaubt, eine Wahl zu haben.
Aber am kommenden Montagmorgen würde sie sich zu allem bereit erklären.
Bis dahin war es allerdings noch eine Ewigkeit.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus.
„Ich geh raus und such noch mal nach ihr."
Sie hatte gehofft, ihre Mutter würde vorschlagen, sie zu begleiten, doch die saß vor dem Computer, neben dem Bildschirm häuften sich die Papiere. Vermutlich hatte sie wieder irgendein großes Wohnungsprojekt am Laufen.
„Mhm."
Natalie zog die Steppjacke übers TShirt an, schlüpfte mit bloßen Füßen in die Winterstiefel und lief nach draußen. Es war einfacher, irgendwas zu unternehmen, anstatt nur zu warten.
Bei den Nachbarn war Licht. Die meisten hockten drinnen in der Wärme und sperrten die winterliche Kälte und Dunkelheit aus.
Die Nachbargärten hatte sie schon durchsucht, sie hatte unter schneebedeckte Gartenmöbel geschaut, hatte gerufen und gelockt. Jetzt spähte sie auf dem Weg zur Hauptstraße in die Straßengräben.
Die Nebenstraße war zwar nicht stark befahren, aber ein einziges Auto genügte, um eine kleine Katze zu töten.
Sie stellte sich den Aufprall vor.
Das harte Auto.
Den weichen Katzenkörper.
Schnell kniff sie die Augen zu, um das Bild des fliegenden Katzenkörpers zu verdrängen.
Sie glaubte nämlich nicht, dass Missa überfahren worden war.
Ihr war etwas viel Schlimmeres zugestoßen.
Und jetzt lag Missa irgendwo allein im Dunkeln.
Das Monster schlug seine Krallen immer tiefer in Natalie, bis der Schmerz unerträglich wurde.
„Ich bereue es. Bitte!"
Niemand hörte ihr leises Wimmern.
Suchend lief sie von Straßenseite zu Straßenseite. Von der großen Straße drang das Rauschen vereinzelter vorbeifahrender Autos herüber. Der Hauptverkehr war vorbei, die meisten Leute waren schon von der Arbeit nach Hause gekommen.
Im Schnee wäre eine weiße Katze kaum zu erkennen. Allerdings war die Straße hier geräumt und nur von Matsch bedeckt. Das weiche Fell, das Missa jeden Abend sorgfältig sauber leckte, würde sich deutlich von der bräunlichen Schmiere abheben. Natalie näherte sich dem Wald, der sich schwarz und feindselig vor ihr erhob. Sie wurde langsamer, während sie nach Spuren Ausschau hielt. Verletzte Tiere suchen gerne Schutz unter Büschen.
Es war kälter, als sie gedacht hatte. Die Kälte drang durch die Steppjacke an ihre bloßen Arme, und ohne wärmende Wollsocken begannen ihre Zehen zu schmerzen. Sie hatte es zu eilig gehabt, hinauszukommen.
Doch das war nicht wichtig. Wichtig war nur, Missa zu finden.
Plötzlich bewegte sich etwas. Natalie zuckte zusammen.
Sie sah genauer hin. Eine weiße Plastiktüte war unter einem Schneebatzen festgeklemmt und flatterte im Wind.
Die Landschaft verschwamm vor ihren Augen, doch dann wischte Natalie rasch die Tränen der Enttäuschung weg und starrte noch angestrengter in den dunklen Wald.
Da! Sie entdeckte etwas.
Es war wie ein Stich ins Herz. Ihr Körper erstarrte zu Eis. Lautes Dröhnen erfüllte ihren Kopf.
„Neeein!"
Sie begann zu rennen, sprang über den Graben und folgte den Fußspuren im Schnee.
„Neein! Neein!"
Ihr Schrei ging in Weinen über. Sie hielt sich die Hände vor die Augen, um das Grauen nicht sehen zu müssen.
Schon ein einziger kurzer Blick war zu viel gewesen.
Ein solcher Anblick sollte niemandem je zugemutet werden.
Ein dünner Katzenkörper, der von einer Schlinge herabhing, die Beine in einem unnatürlichem Winkel abgespreizt ...
Was haben sie getan?!
WAS ... HABEN ...
Montag
Es war ein ungemütlicher Abend für einen Hundespaziergang. Wir befanden uns zwar schon mitten im ersten Frühlingsmonat, aber von Frühling war weit und breit nichts zu sehen. Das Thermometer parkte seit mehreren Tag kurz unter zehn Grad minus und der Wind rüttelte an den bedrohlich ächzenden Bäumen. Aber ich hatte meine Thermojacke an und die Mütze, die Oma gestrickt hatte, auf dem Kopf, und Wuff wurde ja von ihrem schwarz gefleckten Fell gewärmt.
Hier, wo ich wohne, klettern die Reihenhäuser und Einfamilienhäuser an einem Hang entlang. Unsere Häuser sind der letzte Außenposten, danach gibt es nur noch Natur. Stockholm lässt sich manchmal als Lichtschein am schwarzen nördlichen Nachthimmel erahnen. Die Leute, die dort wohnen, glauben, unser Vorort sei der soziale Brennpunkt Nummer eins im ganzen Großraum Stockholm, wo Diebe und Mörder hinter jedem Busch lauern. Völliger Quatsch! Wir schließen hier nicht mal unsere Fahrräder ab. Aber zugegeben, auch bei uns passieren schlimme Sachen. So wie neulich, vor ein paar Monaten erst.
Eine tote Mitschülerin.
In der Nähe des verwunschenen kleinen Waldsees, an dem ich oft mit Wuff spazieren gehe, wenn nicht gerade so viel Schnee liegt wie jetzt, ist Mikaela, meine Nachbarin und Klassenkameradin, tot aufgefunden worden. Ihr Leben endete gleich neben einer Lichtung, wo ich oft mir ihr gepicknickt hatte.
Mein Alltag hat sich wieder normalisiert, aber in meinen Gedanken ist Mikaela noch da. Bis vor Kurzem kamen mir jedes Mal die Tränen, wenn ich an sie dachte, doch inzwischen ertappe ich mich manchmal dabei, bei der Erinnerung an die vielen verrückten Sachen, die sie angestellt hat, zu lächeln.
Die Gärten wirkten wie erstarrt mit ihren steif gefrorenen Bäumen und zugeschneiten Beeten, aus denen vereinzelte Zweige ragten. Die Gartenmöbel kauerten in Gruppen unter den Abdeckungen. Im Sommer ziehen meistens Grillschwaden tief über das Grün und die Gärten kochen förmlich über vor Aktivitäten, aber jetzt schienen sich alle Bewohner zum Winterschlaf zurückgezogen zu haben. Nur Wuff und ich waren unterwegs.
Ich hätte mit verbundenen Augen herumwandern können. Im Laufe meines vierzehnjährigen Lebens hatte ich jede einzelne Kurve hier in der Gegend umrundet, war sämtliche steilen Straßen hinaufgestapft und hinabgeschlittert. Vielleicht war das der Grund, warum ich von meiner gewohnten Strecke abwich. Möglicherweise war ich ein klein wenig gelangweilt.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich zur großen Straße spazierte. Da Wuff unterwegs an jedem Fleck schnupperte, war unser Tempo nicht unbedingt schweißtreibend. Aber ich hatte keine Eile.
Nach der Kiesgrube verließ ich die Hauptstraße, um in ein schmales Sträßchen einzubiegen, das bergan führte. Das tat ich aus purer Neugier, weil ich dort noch nie gewesen war.
Die meisten Einfamilienhäuser hier oben waren zwanzig, dreißig Jahre alt und von großen Grundstücken umgeben. Rechts der Straße stand dicht und dunkel der Wald.
Ich ging weiter, bis ich den Kamm der Anhöhe erreichte. Dort, dicht am Wald, stand ein altes dreistöckiges Haus. Wuff schlug sofort neben dem Briefkasten Wurzeln, um eine Nachricht an ihre Hundefreunde zu hinterlassen. Ich hatte reichlich Zeit, um das Haus zu betrachten.
Es war das größte in der Gegend, mit Kellerund Dachgeschoss und einem turmgeschmückten Giebel. Das Haus erinnerte stark an ein Spukschloss in einem Gruselfilm, den ich mal gesehen hatte. In dem Film hatte eine hexenähnliche Alte junge Leute ins Haus gelockt, die danach spurlos verschwunden waren. Das Grundstück wurde von einer hohen Tannenhecke umschlossen, der Garten selbst sah verwildert aus. In einem Glockenspiel, das am Vordach der Haustür hing, spielte der Wind eine wehmütige Melodie. Aus dem Schornstein ringelte sich Rauch empor, in einigen Fenstern war Licht. Also war jemand zu Hause.
Vielleicht die menschenfressende Hexe, haha, dachte ich, zerrte dabei aber an Wuffs Leine, um weiterzukommen. Mir war ein wenig mulmig geworden.
Ich hatte nur ein paar Meter zurückgelegt, als die Stille unterbrochen wurde.
„Ich hab genau gesehen, was der Köter gemacht hat!"
Ich wirbelte herum und wäre dabei fast ausgerutscht.
Aus dem Spukhaus kam eine alte, spindeldürre Frau mit drohend geschwungener Faust angaloppiert. Sie trug eine graue Baumwollhose und dazu einen dicken Wollpullover und sah nicht unbedingt wie eine Hexe aus.
„Heb das sofort auf!"
„Aber sie ..."
„Heb es auf!"
Allmählich begann sie mich zu nerven, aber ich wollte ihr trotzdem die Sache erklären.
„Mein Hund ist eine Hündin", sagte ich. „Und Hündinnen hocken sich beim ..."
Die Alte war kein bisschen daran interessiert, etwas darüber zu erfahren, wie sich die Pinkelhaltungen von Hündinnen und Rüden unterschieden.
„Ich rufe die Polizei!"
Jetzt wurde ich sauer. Am liebsten hätte ich sie einfach ignoriert, aber wohlerzogen, wie ich war, startete ich dennoch einen letzten Versuch.
„Dagibt'sdochgarnichts zum ..."
„Die lassen deinen Hund einschläfern!", keifte sie.
Dampfend vor Zorn stampfte ich auf. Ich stehe zu den Fehlern, die ich mache - obwohl es viele sind -, aber ich hasse es, ungerecht beschuldigt zu werden.
„Blöde alte Hexe!", brüllte ich hinter ihr her. „Passen Sie lieber auf, dass niemand so was mit Ihnen macht!"
Schon im nächsten Moment bereute ich meine Worte. Das war dann doch ein bisschen heftig. Die Drohung gab ihr außerdem einen Anlass, die Polizei zu verständigen. Und die würden nicht lange brauchen, um den Teenie mit dem einzigen Dalmatiner in der Gegend ausfindig zu machen. Der Hund mit dem lustigen Namen ... Wuff.
Ich überlegte, ob ich hinter der Alten herlaufen sollte, um mich zu entschuldigen, als ich plötzlich andere Sorgen bekam. Weiter hinten entdeckte ich eine lärmende Schar Jungs. Johlend und krakeelend kamen sie direkt auf mich zu.
Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren, aber mein Selbsterhaltungstrieb riet mir, einer grölenden Jungsclique auf einer verlassenen Straße aus dem Weg zu gehen. Ich hatte auch keine Ahnung, was Wuff tun würde, falls die Typen mich anmachten. Hoffentlich würde sie mich beschützen, doch es bestand durchaus das Risiko, dass sie mit eingezogenem Schwanz nach Hause rannte.
Also ging ich lieber auf Nummer sicher und schlüpfte in den Garten, der dem Spukhaus gegenüberlag. In dem roten Backsteingebäude brannte Licht, aber niemand war zu sehen. Ich suchte hinter ein paar Büschen Schutz und zog Wuff hinter mir her.
„Still!", flüsterte ich.
Sicherheitshalber hielt ich ihr mit der Hand die Schnauze zu.
Aber Wuff zeigte keinerlei Interesse an dem lärmenden Haufen. Umso mehr schätzte sie es, dass mein Gesicht sich plötzlich auf der selben Höhe befand wie ihre Schnauze, als wir so hinter den Büschen kauerten. Eifrig versuchte sie, meine Wangen abzulecken, aber ich zischte sie an, sie solle still sitzen.
Die lauten Stimmen waren inzwischen nur ein paar Meter von uns entfernt.
„Ey, dann hab ich gesagt, ey, geil, Mann, und der dann so, wow, echt?", berichtete jemand mit großem Nachdruck.
Geniale Unterhaltung, dachte ich.
Ich beschloss zu warten, bis sie vorbeigegangen waren, doch aus irgendeinem Grund blieben sie ganz in der Nähe stehen. Das röhrende Gelächter verstummte jäh. Es wurde totenstill.
Ich drückte mich tiefer ins Gebüsch. Mein Herz klopfte laut.
Hatten sie mich gesehen?
Ich presste Wuff eng an mich und streichelte sie beruhigend.
Es war so still, dass ich mich fragte, ob die Clique nicht doch weitergezogen war. Vorsichtig spähte ich hervor. Sie waren noch da. Zuerst sah ich nur die Rücken von fünf großen, dunkel gekleideten Typen, doch plötzlich wandte sich einer von ihnen halb um. Er war wesentlich kleiner und dünner als die anderen.
Genau wie die übrigen vier hatte er eine schwarze Mütze tief über die Ohren gezogen, aber als ich sein Profil sah, zuckte ich überrascht zusammen.
War das etwa ... Simon?
Es war zu dunkel, um mit Sicherheit etwas erkennen zu können. Außerdem kam es mir ziemlich unwahrscheinlich vor. Simon ist der Oberstreber unserer Klasse. Er würde sich nie mit einer Clique älterer Jungs herumtreiben. Vor allem würden die sich für jemanden wie ihn gar nicht erst interessieren.
Ich duckte mich wieder in meinem Versteck und konzentrierte mich darauf, Wuff festzuhalten. Ihr wurde es allmählich langweilig, in dem kalten Schnee stillzusitzen, darum versuchte sie sich meinem Griff zu entwinden.
„Los jetzt!", zischte plötzlich jemand.
Etwas krachte. Dann folgte ein Klirren.
Eine Fensterscheibe ging zu Bruch.
Danach wieder Stille.
Die Sekunden tickten dahin.
Wuff zog und zerrte, um sich zu befreien.
„Pssst!", flüsterte ich flehend.
Ich hatte Angst.
Zwei, drei Minuten verstrichen, die mir so lang vorkamen wie eine Stunde.
Plötzlich geschah wieder etwas. Ein eigenartiges Knistern war zu hören und der vertraute Geruch von offenem Feuer drang mir in die Nase.
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, musste einfach wieder rausspähen.
Im selben Moment spurtete die Bande im vollen Galopp davon. Der Boden dröhnte unter ihren Füßen. Sie klangen wie eine Herde Elefanten.
Ich schlich hervor. Inzwischen waren sie schon verschwunden.
Der Rauchgeruch war jetzt deutlich wahrnehmbar. Aus der Tannenhecke der alten Hexe qualmte Rauch empor. Die Jungs mussten sie angezündet haben!
Mein erster Gedanke war, ihrem Beispiel zu folgen und abzuhauen. Aber irgendetwas zog mich zu der qualmenden Hecke hin, obwohl Wuff sich dagegen sträubte.
Flammen sah ich keine. Die Zweige waren zu feucht, um schnell Feuer zu fangen. Wäre das im Sommer passiert, hätte wahrscheinlich die ganze Hecke schon lichterloh gebrannt, bevor ich auch nur „Es brennt!" hätte rufen können.
Kein Mensch war zu sehen, nicht einmal die Hexe. Ich hatte keine Lust, bei ihr zu klingeln, und begann stattdessen Schnee auf die rauchenden Zweige zu schaufeln. Bei jedem Treffer zischte es laut auf, und der Rauch wurde dichter und dunkler.
Anfangs hatte Wuff wild an ihrer Leine gezerrt, um dem Rauch zu entkommen. Aber als ich jetzt darauf bestand zu bleiben, machte sie es wie ich, oder zumindest das, was sie dafür hielt, und begann im Schnee zu scharren.
Ich hatte das Gefühl, mich schon ewig lang abgerackert zu haben, aber in Wirklichkeit war das Ganze wahrscheinlich innerhalb von ein, zwei Minuten vorbei. Ich war außer Atem und verschwitzt. Immer noch hatte sich niemand blicken lassen. Wie war es möglich, dass kein Mensch sah, was hier los war?
Unschlüssig blieb ich stehen, bis mir das Klirren einfiel, das ich gehört hatte. Ich lief ums Haus und kontrollierte jedes Fenster, bis ich eins entdeckte, das kaputt war - ein schmales Kellerfenster an der Rückseite. Dort klaffte ein großes Loch wie von irgendeinem schweren Gegenstand, der dort reingeworfen worden war.
Bestimmt war das auch ein Werk dieser Bande.
Ich tastete in meiner Tasche nach meinem Handy, um die Polizei anzurufen, überlegte es mir dann aber anders. Das musste die alte Tante selber machen.
Ich befand mich zwei Meter vor dem Haus, als die Haustür aufging. Die magere Silhouette der alten Frau wurde von der Dielenlampe von hinten beleuchtet. Wiegend wie eine Eule spähte sie in die Dunkelheit hinaus.
„Ich ...", begann ich und deutete auf die Hecke.
„Um Himmels willen! Was hast du angestellt?!"
„Ich ..."
Sie ließ mir keine Chance.
„Hiiilfe!", schrie sie.
All mein Mut verließ mich. Es sah gar nicht gut aus. Jemand hatte das Kellerfenster der Alten eingeworfen und versucht, ihre Tannenhecke abzufackeln, und das, nur Minuten, nachdem ich ihr gedroht hatte. Und hier stand ich jetzt, verrußt und zerzaust, wie auf frischer Tat ertappt.
Das durchdringende Geschrei der Alten brachte endlich die Nachbarn auf die Beine.
„Frau Asp, was ist passiert?", rief eine Männerstimme.
Von plötzlicher Panik befallen rannte ich davon und kroch durch ein Loch in der Hecke in den Wald, Wuff zerrte ich hinter mir her. Bis zur großen Straße mussten wir durch hohen Schnee stapfen, danach liefen wir im vollen Galopp heimwärts, als würden wir verfolgt.
Erst als ich die Lichter unserer Nachbarhäuser sah, traute ich mich, mein Tempo zu verlangsamen. Wir keuchten alle beide. Wuff hatte immerhin noch Kraft genug, um mit dem Schwanz zu wedeln. Mir dagegen war um einiges düsterer zumute.
Warum bin ich abgehauen?, dachte ich. Ich hätte bleiben und erklären sollen, was passiert war. Schließlich hatte ich ja nichts getan. Schuldig waren die fremden Jungs. Jetzt sah es natürlich so aus, als hätte ich die Tannenhecke angezündet.
Aber für Reue war es inzwischen zu spät.
Während das Feuer in der Tannenhecke knisterte, streckte Simon seine Hand vorsichtig durch das Loch in dem schmalen Kellerfenster und schob den Haken hoch. Ein paar Glassplitter lösten sich und schlugen klirrend auf dem Boden auf.
Er wartete angespannt, aber niemand kam angestürzt. Also öffnete er das Fenster, spähte hinein und stellte fest, dass es sich auf Höhe der Kellerdecke befand. Er schob die Füße hindurch, wand sich noch weiter hinein und hüpfte runter.
Dann zog er seine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete damit. Er befand sich in einem Vorratsraum mit Regalen an den Wänden und aufeinandergestapelten Kartons. Der Luftzug hatte den Keller bereits ausgekühlt. Die Tür oberhalb der Holztreppe war geschlossen.
Womöglich war sie abgesperrt!
Insgeheim hoffte er das. Dann hätte er eine Ausrede.
Er schlich die Treppe nach oben und drückte langsam den Türgriff runter. Die Tür öffnete sich. Er schob sie einen Spalt weit auf und horchte.
Irgendwo im Haus bewegte sich jemand mit schlurfenden, unsicheren Schritten.
Der Rauchgeruch drang durchs offene Fenster. Den müsste sie doch auch riechen. Warum rannte sie nicht nach draußen? Es brannte doch!
Nichts lief so wie geplant.
Unschlüssig wartete er eine Zeit lang, schlüpfte dann aber in einen dunklen Flur. Zwei Zimmer gingen vom Flur ab, in denen schwere, altertümliche Möbel standen. Seit er mit seiner Mutter hier gewesen war, hatte sich nichts verändert.
Sein Körper stand unter Hochspannung, sein Gehirn protestierte laut. Er müsste umkehren.
Und dennoch ging er weiter. Er hatte keine Wahl.
Auf der Hut vor den schlurfenden Schritten schlich er weiter.
In unserem Haus war fast überall Licht, auch in Mamas Atelier. Als Künstlerin richtet sie sich bei der Arbeit nicht nach der Uhr. Beim Malen lässt sie sich von ihrer Inspiration lenken. Die hohen Atelierfenster im einen Giebel unterscheiden unser Haus von allen anderen. Ansonsten würde es wie jedes andere zweistöckige gelbe Holzhaus mit weißen Schnitzereien und einem Balkon überm Eingang aussehen.
Papas Volvo glänzte silbern auf der Garageneinfahrt. Es ist immer noch ein ungewohntes Gefühl, den Wagen an einem normalen Werktagabend zu sehen. Früher pendelte er nach Jönköping und war nur an den Wochenenden zu Hause. Aber seit dem Jahreswechsel arbeitet er in Stockholm.
Atemlos trat ich ins Haus, zitternd und voller Angst, weil ich vor der wutentbrannten Frau Asp geflohen war. Gleichzeitig lief mein Gehirn auf Hochtouren. Was mach ich jetzt bloß?
Als Erstes rief ich „Hallo", während ich meine Stiefel auszog.
Mein Gruß stieß auf jubelnde Erwiderung.
„Jaaa!"
Ich nahm aber nicht an, dass dieser Freudenschrei meiner Ankunft galt. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Der Berichterstatter brüllte mit dem Publikum um die Wette. Und mit Papa. Papa federte auf dem Sofa auf und ab und wich keinen Millimeter mit dem Blick von der Glotze, als ich meinen Kopf mit einem erneuten „Hallo" ins Zimmer streckte.
Er hatte es eilig gehabt, aufs Sofa zu kommen. Sein Jackett lag überm Sessel, der Schlips obenauf. Die Ärmel seines weißen Hemds waren aufgekrempelt und die obersten Knöpfe aufgeknöpft.
Wuff schoss rein und nahm neben Papa auf dem Sofa Platz. Von dort aus fixierte sie die Schale auf dem Tisch und versuchte die Chips dazu zu hypnotisieren, ihr in den Mund zu fliegen.
„Äh ...", begann ich.
„Los, ran mit euch, ihr behämmerten Idioten! Nix wie raus mit diesem elenden Schiedsrichter!"
Da verließ mich mein Mut. Das war nicht der geeignete Moment für ein Geständnis. Besser einfach den Mund halten und versuchen, die Ereignisse des Abends zu vergessen.
„Ein bisschen flott, Nisse, dann schaffst du es noch, die zweite Halbzeit zu sehen", rief Papa. „Richtig gutes Spiel heute."
Wenn wir joggen, schwimmen oder am Auto herumlaborieren, nennt er mich Nisse. Ansonsten nennt er mich Svea, wie alle anderen. Oma ist die Einzige, die Afrodite sagt.
Als ich meine Jacke auszog, merkte ich, dass meine Kleider genauso rochen wie die geräucherten Schweinsohren, die Wuff immer als Belohnung bekommt, wenn sie besonders brav gewesen ist. Mit ein paar Schritten durchquerte ich die Küche und die Waschküche und kam in die Garage. Dort hängte ich meine Jacke und Hose an einen Haken, in der Hoffnung, dass der Rauchgeruch bis morgen verdunstet wäre.
Als ich in die Küche zurückkam, hetzte Papa zwischen Kühlschrank und Tisch hin und her. Er war viel zu gestresst, um sich zu fragen, warum ich aus der Garage kam. Hastig warf er Brot und Aufstrich auf den Tisch und begann in raschem Takt Brote zu schmieren.
„Was für ein Spiel, Nisse! Die erste Halbzeit war ein echter Hammer!"
Er schubste die Butter zu mir rüber.
„Beeil dich mit deinen Broten, damit du nichts verpasst!"
„Äh, ich muss lernen."
Erst jetzt sah er mich an.
Wenn ich Papa in die Augen schauen will, muss ich den Kopf in den Nacken legen. Es heißt, ich würde ihm ähnlich sehen. Ich selbst finde, dass ich eher Mama ähnele. Wir sind beide blond, während Papa dunkelbraune Haare hat. Aber blaue Augen haben wir alle drei. Die von Papa guckten jetzt gerade erstaunt.
„Na, hör mal, seit wann haben dich Hausaufgaben davon abgehalten, ein gutes Spiel anzuschauen?"
Ich zuckte die Schultern und schmierte mir einen Berg Brote. Damit setzte ich mich zwischen Papa und Wuff aufs Sofa und vergaß die Wirklichkeit.
Bis das Spiel zu Ende war.
Da fielen die Ereignisse des Abends wieder über mich her.
Papa drehte sich mit hoch erhobener Hand zu mir um. Ich schlug mit meiner Hand dagegen.
„Na, war das ein Spiel, Nisse?!"
Ich nickte zerstreut.
„Du warst aber sehr lange unterwegs. Wo ...?"
Schnell stand ich auf.
„Jetzt muss ich aber Hausaufgaben machen!"
„Jajaja", sagte er und streckte die Hand nach der Fernbedienung aus.
Ich machte ein paar Schritte, blieb dann aber stehen. Sollte ich es nicht doch erzählen?
„Papa ..."
Er wandte sich um und lächelte, als gefiele ihm das, was er sah.
Mir ging es genauso. Mein toller Papa. Ich hab ihn wirklich sehr gern.
Und wieder war ich zu feige. Aber irgendwas musste ich ja sagen.
„Schön, dass du diesen Job in Stockholm gekriegt hast!"
Er nickte und sein Lächeln wurde noch breiter.
„Das finde ich auch, Spatz."
Ich ging nach oben in mein Zimmer und holte die Schulbücher raus. Da saß ich dann am Schreibtisch und drehte den Stuhl hin und her, den Kopf von tausend Fragen erfüllt, nur nicht davon, ob man bei der Aussprache von though, thigh und thought lispeln soll oder nicht.
Wer waren diese Jungs? Warum hatten sie es auf die alte Hexe Frau Asp abgesehen? Was wäre passiert, wenn ich das Feuer nicht gelöscht hätte? Hätte sie mir zugehört, wenn ich geblieben wäre? Hätte sie mir geglaubt?
Und die schlimmste Frage: Hatte sie schon die Polizei verständigt?
Mein Kopf fühlte sich an wie ein summender Bienenkorb. Eine Menge Fragen. Und keine Antworten.
Ich bereute meinen Spaziergang bitterlich und beschloss, nie mehr auch nur in die Nähe des Hauses zu gehen, wo die saure alte Hexe wohnte.
Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Ein schlechtes Gewissen nagt wie ein Wurm im Innern. Mitten in der Nacht wachte ich auf und öffnete die Augen in der Dunkelheit. Was hatte mich geweckt?
Ich lag still und horchte. Alles, was ich hörte, war Wuffs friedliches Schnaufen. Ihr Körper zuckte im Schlaf. Ihre Pfoten zappelten, während sie kurze Wimmertöne ausstieß. Sie jagte im Schlaf, wahrscheinlich die Nachbarkatze. Das waren die aufregendsten Momente in ihrem Leben ...
Im selben Moment stiegen die Erinnerungen an den Abend in mir hoch.
Der Brand!
Plötzlich war ich hellwach.
Wie konnte ich nur so bescheuert sein und abhauen!
Die digitalen Ziffern des Weckers leuchteten mir entgegen.
02:37. Die Nacht war noch lang. Ich hatte endlos Zeit zum Grübeln. Was sollte ich tun, wenn die Alte die Polizei angerufen hatte? Die würden mir niemals glauben. Dass kurz nach meiner Drohung eine Gruppe Jungs sehr gelegen aufgetaucht war und versucht hatte, diese Drohung in die Tat umzusetzen, das klang ja wie die hinterletzte Notlüge. Niemand außer mir hatte die Jungs gesehen. Und ich hatte keinen blassen Schimmer, wer sie waren, wusste bloß, dass sie groß waren und dunkel gekleidet und dass einer, der an Simon erinnerte, dabei gewesen war.
Nicht unbedingt der Traum eines Strafverteidigers. Wenn ich überhaupt einen bekommen würde.
Meine einzige Chance war, rechtzeitig, bevor die Polizei mich ausfindig machte, dahinterzukommen, wer die Jungs waren, und dafür zu sorgen, dass sie gestanden.
Ich schnaubte verbittert vor mich hin. Warum sollten sie das tun? Wer wollte schon geschnappt werden? Und wie sollte ich es schaffen, sie zu finden? Das Einzige, was ich wusste, war, dass sie dunkel gekleidete, groß gewachsene Schlägertypen waren, die sich lärmend unterhielten. Auf welchen Jungen aus der Oberstufe trifft das nicht zu?
Meine Zukunft sah finster aus. Sehr finster. Ich lag in der Dunkelheit in meinem Bett - ein Himmelbett mit weißen Tüllvorhängen und Volants. Reichlich kindisch für eine Vierzehnjährige, aber gleichzeitig eine kostbare Erinnerung an die Zeit, als Papa noch gern schreinerte.
Die Minuten bewegten sich quälend langsam auf den Zeitpunkt zu, da der Wecker mich von meinen Grübeleien erlösen würde.
Los, mach schon! Läute endlich!
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Ritta Jacobsson
Ritta Jacobsson lebt als freie Schriftstellerin in Stockholm. Für die Krimireihe um Svea Afrodite Andersson erhielt sie den schwedischen Sparhund-Preis für den besten Jugendkrimi.Birgitta Kicherer, geboren in Stockholm, aufgewachsen in Schweden und Deutschland. Nach der Tätigkeit als Buchgrafikerin widmete sie sich ganz dem Übersetzen schwedischer Jugend- und Erwachsenenliteratur. Für ihre Arbeit erhielt sie u.a. den Wieland-Übersetzerpreis und den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. Birgitta Kicherer lebt mit ihrer Familie in Neresheim am Rande der Schwäbischen Alb.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ritta Jacobsson
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2013, 240 Seiten, Maße: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Kicherer, Birgitta
- Übersetzer: Birgitta Kicherer
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596811708
- ISBN-13: 9783596811700
- Erscheinungsdatum: 22.08.2013
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