Gefahr
Ein überaus heikler und dubioser Fall, der Win Garano da übertragen wird. Seine Chefin, die...
Ein überaus heikler und dubioser Fall, der Win Garano da übertragen wird. Seine Chefin, die Bezirksstaatsanwältin von Massachusetts, zitiert ihn dafür extra von einem Lehrgang nach Cambridge bei Boston. Der Ermittler soll den brutalen, ungeklärten Mord an einer alten Frau mit modernster DNA-Analyse neu aufrollen. Die Staatsanwältin erhofft sich von der spektakulären Aufklärung Rückenwind für ihren Wahlkampf um das Gouverneursamt. Seltsam nur, dass sie Garano nicht einmal die Polizeiakte des grausamen Mords zur Verfügung stellen kann.
Noch viel seltsamer ist die mysteriöse Drohung, die Garano am selben Abend erhält. Und als er seine Chefin zur Rede stellen will, kommt er gerade noch rechtzeitig, um ihr das Leben zu retten.
Gefahr von Patricia Cornwell
LESEPROBE
Den ganzen Tag hat ein Herbststurmauf Cambridge eingepeitscht, nun schickt er sich an, in der Nacht das großeFinale zu geben. Blitze durchzucken den Himmel, und es donnert, als Winston Garano (von den meisten »Win«oder »Geronimo« genannt) in der abendlichen Dämmerung am östlichen Rand desHarvard Yard entlangläuft.
Er hat keinen Regenschirm. KeineJacke. Sein Hugo-Boss-Anzug und sein dunkles Haar sind durchnässt und klebenan ihm, die Prada-Schuhe sind völlig durchweicht undschmutzig, weil er beim Aussteigen aus dem Taxi in eine Pfütze getreten ist.Der schwachsinnige Taxifahrer hat ihn natürlich an der falschen Adresseabgesetzt, nicht vor dem Harvard Faculty Club in derQuincy Street 20, sondern beim Fogg Art Museum, aber eigentlich war das Wins Schuld. Als er am Logan International Airport insTaxi stieg, sagte er zum Fahrer Harvard FacultyClub, das ist in der Nähe vom Fogg, weil er fand, diese Kombination klingenach einem Harvard-Absolventen oder Kunstsammler und nicht nach dem, was er inWirklichkeit ist, nämlich ein Beamter der Massachusetts State Police, der sich vorsiebzehn Jahren in Harvard beworben hatte und abgelehnt worden war.
Dicke Regentropfen trommeln ihm wienervöse Finger auf den Kopf. Als er auf den abgetretenen roten Ziegelsteinen inmittendes altehrwürdigen Harvard Yard steht und sieht, wie Menschen in Autos und aufRädern vorfahren, andere zu Fuß vorbeigehen, unter Schirme geduckt, bekommt erBeklemmungen: Diese Menschen sind privilegiert, sie gehören hierher und wissenes, sie haben ein Ziel.
»Entschuldigung«, sagt Win zu einem Studenten in schwarzer Windjacke undausgeblichenen Baggy-Pants. »Die MensaClub-Preisfragedes Tages?«
»Hä?« Der junge Mann blickt ihnmürrisch an, er hat gerade die Einbahnstraße überquert, einen durchweichtenRucksack auf dem Rücken.
»Wo ist der FacultyClub?«
»Dort drüben«, erwidert der Studentunnötig patzig, weil Win bestimmt wissen würde, woder Faculty Club ist, wenn er ein wichtiger Gast oderein Fakultätsmitglied wäre.
Win steuert auf ein schönes Gebäude im Georgian-RevivalStil mit grauem Schieferdach zu, imziegelroten Innenhof blühen weiße Regenschirme. Warm leuchten die Fenster in derzunehmenden Dunkelheit, und das leise Plätschern eines Springbrunnens vermischtsich mit dem Prasseln des Regens. Win geht über dierutschigen Pflastersteine zum Eingang, fährt sich mit den Fingern durchs nasseHaar. Im Haus sieht er sich um, als habe er gerade einen Tatort betreten,registriert die Umgebung, bildet sich eine Meinung über den Raum, der vor übereinem Jahrhundert der Salon eines wohlhabenden Aristokraten gewesen sein muss.Sein Blick wandert über die Mahagoni-Vertäfelung, persische Teppiche,Messingkandelaber, Ankündigungen von viktorianischen Theatervorstellungen,Ölporträts und eine alte, auf Hochglanz polierte Treppe, die zu Räumen führt,die Win wohl niemals betreten wird.
Er nimmt auf einem harten antikenSofa Platz; eine Großvateruhr verrät ihm, dass er auf die Minute pünktlichist. Staatsanwältin Monique Lamont (er nennt sie »Money LaMount«),die Frau, die sein Leben bestimmt, ist hingegen nicht zu sehen. In Massachusettssind die Staatsanwälte am District Court fürMordfälle zuständig und verfügen über ein eigenes Ermittlungsteam der StatePolice. Das bedeutet, dass Lamont jeden ihr genehmenBeamten in ihre persönliche Einheit beordern und jeden, der ihr nicht passt, hinauswerfenkann. Win gehört ihr, und sie hat ihre ganz eigeneArt, ihn daran zu erinnern.
Dies ist der jüngste und schlimmstein einer Reihe politischer Winkelzüge und manchmal kurzsichtiger Entscheidungen,die Win manchmal Lamonts Phantasie zuschreibt. Diese Frauwird getrieben von unersättlichem Ehrgeiz und Machtwillen. Da beschließt sieaus heiterem Himmel, ihn in den Süden nach Knoxville,Tennessee, zu schicken, wo er die National Forensic Academy besuchen soll, und wenn er wiederkommt, soll er seineKollegen über die neuesten Entwicklungen bei der Tatortermittlung aufklären,ihnen zeigen, wie man es richtig macht, fehlerfrei. Ihnen zeigen, wie mansicherstellt, dass keine Ermittlung, und damit meine ich niemals, nie und wirklichnie, durch falschen Umgang mit Beweismitteln, nicht befolgte Vorschriften undversäumte Analysen verpatzt wird, sagte sie. Er versteht das nicht. DieMassachusetts State Police verfügt schließlich über Tatortspezialisten. Warum werdendie nicht nach Knoxville geschickt? Aber Lamont würdenicht darauf eingehen. Sie will sich nicht erklären.
Win blickt auf seine durchnässtenSchuhe, die er für 22 Dollar in einem Secondhandladen für Designerbekleidunggekauft hat. Auf seinem grauen Anzug, für 120 Dollar im selben Geschäfterstanden, entdeckt er die ersten getrockneten Regenflecken. Er hat dort schonviele Designerstücke zum Schnäppchenpreis bekommen, denn sie sind gebraucht,stammen von reichen Menschen, die ihrer erst kürzlich für viel Geld gekauftenEdelklamotten schnell wieder überdrüssig sind, oder von Kranken und Toten. Win wartet und macht sich Gedanken, fragt sich, was wohlso wichtig sein mag, dass Lamont ihn den weiten Weg von Knoxvilleherbestellt hat. Ihr arroganter Pressesprecher Roy, dieses Weichei, hatte Win am Morgen angerufen, ihn aus dem Unterricht holenlassen und ihm ausgerichtet, er solle den nächsten Flieger nach Boston nehmen.
Jetzt sofort? Warum?, protestierte Win.
Weil sie es will, erwiderte Roy.
( )
© Hoffmannund Campe Verlag
Übersetzung:Andrea Fischer
- Autor: Patricia Cornwell
- 2006, 1, 158 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Fischer, Andrea
- Übersetzer: Andrea Fischer
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455011055
- ISBN-13: 9783455011050
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