Geh nicht fort
Erst als seine Tochter nach einem schweren...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Erst als seine Tochter nach einem schweren Unfall in Lebensgefahr schwebt, gesteht er sich zum ersten und vielleicht einzigen Mal seine wahren Gefühle ein.
Margaret Mazzantinis Roman wurde mit dem ''Premio Strega'' ausgezeichnet!
Geh nicht fort von Margaret Mazzantini
LESEPROBE
Du hast das Stoppschild nicht beachtet. In der Eile bist dueinfach weitergefahren, in deiner Jacke aus Webpelz, die Stöpsel des Walkman indie Ohren gepreßt. Bis vor kurzem hat es geregnet,und gleich wird es wieder losgehen. Über den letzten Platanenblättern, über denAntennen war der aschfahle Himmel voller Stare; mit ihrem Gefieder und mitihrem Krächzen erfüllten sie die Luft, flogen als wogende schwarze Fleckenaufeinander zu, ohne sich zu berühren, stoben wieder auseinander, bevor siesich erneut zu einer Formation zusammenfanden. Unten auf der Straße hieltensich die Passanten eine Zeitung oder nur die Hände über den Kopf, um sich vordem niederhagelnden Vogelmist zu schützen, der sichauf dem Asphalt mit dem aufgeweichten Laub vermengte und einen beklemmendsüßlichen Duft verströmte, dem jeder möglichst schnell zu entkommen suchte.
Wie im Flug kamst du die Allee herauf und fuhrst auf die Kreuzung zu. Fasthattest du es geschafft, fast hatte der Mann im Auto es geschafft, dirauszuweichen. Aber der Boden war glitschig vom Mist der sich sammelnden Vögel.Auf dem schmierigen Belag kam der Wagen ins Rutschen, wenig nur, aber dochgenug, um deinen Motorroller zu streifen. Du wurdest hochgeschleudertzu den Staren und fielst dann hinunter in ihren Kot, und mit dir dein Rucksackmit den Aufklebern. Zwei deiner Hefte landeten im Rinnstein in einer schwarzenPfütze. Der Sturzhelm ditschte über die Straße wieein ausgehöhlter Schädel, du hattest ihn nicht festgeschnallt. Augenblicklichnäherten sich die Schritte eines Passanten. Deine Augen waren offen, der Mundblutverschmiert, es fehlten die Schneidezähne. Auf den Wangen waren lauterschwarze Punkte wie bei einem schlecht rasierten Mann: Teerkörner waren in dieHaut gedrungen. Die Musik unterbrochen, die Stöpsel des Walkman waren in dieHaare gerutscht. Der Autofahrer riß die Wagentür aufund ging auf dich zu; als er die klaffende Stirnwunde sah, kramte er in seinenTaschen nach dem Handy, doch als er es endlich gefunden hatte, fiel es ihm ausder Hand. Ein junger Mann hob es auf, und er hat dann den Krankenwagen gerufen.Inzwischen war der Verkehr zum Erliegen gekommen. Das Auto stand quer auf denSchienen, und die Straßenbahn konnte nicht vorbei. Der Fahrer war ausgestiegen,viele stiegen aus und gingen auf dich zu. Leute, die du noch nie gesehenhattest, streiften dich mit ihren Blicken. Ein leises Stöhnen kam über deineLippen, zusammen mit einem rötlichen Schaumklümpchen, als du das Bewußtsein verlorst. Es war viel Verkehr, der Krankenwagenließ auf sich warten. Doch nun hattest du es nicht mehr eilig. Du lagst stillda in deiner Webpelzjacke, wie ein Vogel ohne Aufwind.
Dann haben sie es doch geschafft, sich mit heulenden Sirenen einen Weg durchden Verkehr zu bahnen. Die Autos fuhren zur Seite, dicht an die Leitplanken,oder sie wichen auf die Bürgersteige am Flußufer aus,während die Infusionsflasche über deinem Kopf hin und her tanzte und eine Handden blauen Ball drückte und wieder losließ, aus und ein, um dir Luft in dieLungen zu pumpen. In der Notaufnahme drückte die diensthabendeÄrztin mit dem Finger auf den Schmerzpunkt zwischen Kiefer und Zungenbein. DeinKörper reagierte nur schwach. Sie nahm Verbandsstoff und wischte das Blut ab,das von deiner Stirn lief. Sie schaute in die Pupillen, sie waren starr undunterschiedlich groß. Der Atem war verlangsamt. Mit einem Guedeltubusbrachte sie die Zunge, die nach hinten gerutscht war, in die richtige Position.Dann wurde die Absaugsonde eingeführt. Blut, Teer, Schleim wurden abgesaugt,dazu ein Zahn. Sie brachten den Fingerclip an, um die Sauerstoffanreicherung imBlut zu messen, der Sauerstoffgehalt des Hämoglobins war zu niedrig:fünfundachtzig Prozent. Also haben sie intubiert. DerStab des Laryngoskops mit seinem eisigen Licht glittin deinen Mund. Ein Pfleger kam mit dem Überwachungsmonitor für EKG undKreislauf herein, er steckte den Stecker in die Steckdose, doch das Gerätfunktionierte nicht. Er klopfte dagegen, ein leichter Schlag auf die Seite, undder Monitor leuchtete auf. Sie schoben dein T-Shirt hoch, befestigten dieSaugnäpfe der Elektroden auf der Brust. Du mußtestein wenig warten, denn der CT-Raum war nicht frei, dann haben sie dich in dieRöntgenröhre geschoben. Das Trauma saß im Schläfenlappen. Die Ärztin hinter derScheibe bat den Radiologen um mehr Schichten. Tiefe und Ausdehnung des Hämatomswaren zu sehen. Der Contrecoup, wenn es einen gab,war noch nicht sichtbar. Trotzdem verzichteten sie darauf, ein Kontrastmittelzu spritzen, weil sie Komplikationen in der Niere fürchteten. Sie riefen sofortim dritten Stock an, damit der Operationssaal vorbereitet wurde. Die Ärztinfragte: »Wer hat in der Neurochirurgie Dienst?«
Dann haben sie dich auf die Operation vorbereitet. Mit einer Schere schnitt dieSchwester deine Kleider auf und zog dich langsam aus. Sie wußtennicht, wie sie die Angehörigen verständigen sollten. Sie hofften, einen Ausweiszu finden, aber du hattest keinen bei dir. Im Rucksack fanden sie nur deinTagebuch. Die Ärztin las den Vornamen, dann den Familiennamen. Lange starrtesie auf den Familiennamen, kehrte erst dann zum Vornamen zurück. EineHitzewelle brachte ihr Gesicht zum Glühen, ihr stockte der Atem, und sie rangnach Luft, als hätte sie sich an einem großen Bissen verschluckt. Plötzlichhatte sie ihre blutige Aufgabe vergessen, nun sah sie dich an, wie man einejunge Frau ansieht. Forschend glitt ihr Blick über deine aufgedunsenenGesichtszüge, in der Hoffnung, den schrecklichen Gedanken verscheuchen zukönnen. Aber du siehst mir ähnlich, und Ada konnte nicht umhin, dieseÄhnlichkeit zu erkennen. Eine Schwester rasierte dir den Kopf, deine Haarefielen zu Boden. Besorgt griff Ada nach den herunterfallenden braunen Locken.»Vorsichtig, sei vorsichtig«, murmelte sie.
Dann lief sie zur Intensivstation, zum diensthabendenNeurochirurgen. »Die junge Frau, die gerade eingeliefert wurde «
»Du hast keinen Mundschutz, gehen wir raus.«
Sie verließen den aseptischen Ort, zu dem Verwandte keinen Zutritt haben, undgingen gemeinsam in den Raum, wo die Schwester dich für die Operationvorbereitete. Der Neurochirurg prüfte EKG-und Blutdruckkurven auf dem Monitor.»Sie ist hypoton«, sagte er, »könnt ihr Verletzungenim Brust- und Bauchraum ausschließen?« Dann hat er dich angesehen, flüchtig.Mit einer raschen Handbewegung schob er die Lider auseinander.
»Nun?« fragte Ada.
»Ist der Operationssaal fertig?«, fragte er die Schwester.
»Sie sind noch dabei.«
Ada ließ nicht locker. »Findest du nicht, daß sie ihmähnlich sieht?«
Der Neurochirurg drehte sich um und hielt die CT-Aufnahmen gegen dasTageslicht, das vom Fenster einfiel: »Das Hämatom erstreckt sich zwischen Hirnund Dura mater «
Beschwörend legte Ada die Hände zusammen und hob die Stimme: »Sie sieht ihmähnlich, nicht wahr?«
» es könnte auch subdural sein.«
Draußen regnete es. Fröstelnd verschränkte Ada die Arme, als sie in ihremkurzärmligen Kittel nach draußen mußte, lautlos gingsie in ihren grünen Gummiclogs den gepflastertenVerbindungsweg von der Notaufnahme zum Pavillon der Allgemeinmedizin entlang.Sie nahm nicht den Aufzug, um zur Chirurgie zu kommen, sie lief zu Fuß dieTreppe hinauf. Sie mußte sich bewegen, einfach irgendetwas tun. Ich kenne Ada seit fünfundzwanzig Jahren. Vor meiner Heirat hatteich ihr kurze Zeit den Hof gemacht, dabei aber stets zwischen Spiel und Ernstgeschwankt. Sie riß die Tür weit auf. ImAufenthaltsraum der Ärzte räumte ein Pfleger gerade die Kaffeetassen ab. Raschnahm Ada Haube und Mundschutz aus einem Behälter, streifte sie über und kamdann herein.
Wahrscheinlich stand sie schon eine ganze Weile neben mir, doch erst als ichmich umdrehte, um der Operationsschwester die Klemmen zu geben, bemerkte ichsie. Verwundert fragte ich mich, was sie hier wollte, schließlich arbeitete sieauf der Intensivstation, und wir trafen uns nur selten, höchstens mal in derCafeteria im Untergeschoß. Ich beachtete sie kaum, nicht einmal ein Kopfnickenzur Begrüßung, ich löste die nächste Klemme und gab sie an die Schwesterweiter. Ada wartete, bis ich meine Hände aus dem Operationsfeld zurückzog. »Professore, Sie müssen kommen«, flüsterte sie nur. DieSchwester schob eine Nadel aus der sterilen Verpackung; als ich mich zu Adaumdrehte, hörte ich, wie die Kunststoffhülle aufgerissen wurde. Bisher hatteich Ada überhaupt nicht beachtet, obwohl sie direkt neben mir stand. Zweiungeschminkte, unruhig glitzernde Frauenaugen sahen mich an. Bevor sie zurIntensivstation wechselte, war Ada eine der besten Anästhesistinnen der Klinik,unzählige Male hatte sie bei meinen Patienten die Narkose durchgeführt. Ichhabe oft erlebt, daß sie selbst in schwierigenAugenblicken die Ruhe bewahrte; ich schätzte sie ungemein, denn ich wußte, wie schwer es für sie war, alles Persönliche unterdem grünen Kittel zu verbergen.
»Wenn ich fertig bin«, sagte ich zu ihr.
»Nein, es ist dringend, Professore, bitte.«
Ihre Stimme klang entschieden, hatte eine merkwürdige Autorität. Ich glaube,ich dachte an nichts, aber plötzlich waren meine Hände schwer wie Blei. DieSchwester reichte mir den Nadelhalter. Noch nie hatte ich den OP verlassen,bevor eine Operation beendet war. Ich griff nach der Nadel und merkte, daß der Impuls verspätet kam. Meine Aufgabe war jetzt, dieHautlappen zusammenzunähen. Ich trat einen Schritt zurück und stieß mit jemandemzusammen, der hinter mir stand. »Mach du weiter«, sagte ich zu meinemAssistenten. Die Schwester reichte ihm den Nadelhalter. Ich hörte, wie dasMetall auf den Handschuh klatschte, ein dumpfes Geräusch, das sich in meinenOhren sehr laut anhörte, wie aus einem Verstärker. Alle Anwesenden warfen Adaaufmerksame Blicke zu.
Lautlos fiel die Tür zum Operationssaal zu, und wir standen uns im Vorraum derAnästhesie gegenüber.
»Nun?«
Adas Brust hob und senkte sich unter dem Kittel, über ihre nackten Unterarmelief eine Gänsehaut. »Bei uns unten ist ein Mädchen, Professore,mit einem Hirnschädeltrauma «
Ohne es zu merken, hatte ich die Handschuhe abgestreift. »Und weiter?«
»Ich habe ihr Tagebuch gefunden da steht Ihr Familienname drauf, Professore.«
Ich riß ihr den Mundschutz vom Gesicht.
In ihrer Stimme war kein Kampfgeist mehr, der Mut war verflogen. Nur eineruhige, atemlose Bitte um Hilfe: »Wie heißt Ihre Tochter?«
Ich glaube, ich beugte mich vor, um sie genauer anzusehen, um in den Tiefen ihrerAugen einen Namen zu finden, bloß nicht deinen.
»Angela«, flüsterte ich und sah, wie diese Augen sich weiteten.
Dann rannte ich die Treppe hinunter, draußen durch den Regen, rannte einfachweiter, als ein heranschießender Krankenwagen zweiSchritte vor meinen Beinen bremste, rannte durch die Schwingtür der Aufnahme,durch den Aufenthaltsraum der Schwestern, rannte durch einen Raum, wo irgendjemand mit einem Knochenbruch schrie, rannte in das leere, unaufgeräumte Zimmerdaneben. Dort blieb ich stehen. Auf dem Boden lagen deine Haare. Deine welligenbraunen Haare, auf einem Haufen mit blutigem Verbandsstoff.
Ein Augenblick nur, und ich zerfalle zu Staub. Ich schleppe mich zurIntensivstation, den Gang entlang, bis zur Glaswand. Da liegst du, rasiert, intubiert, helle Pflaster rund um das geschwolleneschwärzliche Gesicht. Du bist es. Ich gehe durch die Glastür und bin bei dir.Plötzlich bin ich ein Vater wie jeder andere, ein armer, schmerzzerrütteterVater, mit ausgetrocknetem Mund und von kaltem Schweiß verklebten Haaren. Daskann ich nicht verkraften, es ist zuviel, es bleibt in einem vagen Entsetzenhängen. Ich bin wie betäubt, wie in einer Schmerzembolie. Ich schließe dieAugen, ich will diesen Schmerz nicht. Du bist nicht hier, du bist in der Schule.Wenn ich die Augen aufmache, werde ich nicht dich vor mir haben, sondern eineandere, irgendeine, die es zufällig getroffen hat. Bloß dich nicht, Angela. Ichreiße die Augen auf, und du bist es tatsächlich, eine, die es zufälliggetroffen hat.
Auf dem Boden steht ein Behälter mit der Aufschrift: Gefährliche Abfälle, ichnehme den Menschen, der ich bin, und werfe ihn hinein. Das mußich tun, es ist meine Pflicht, das einzige, was mir noch bleibt. Ich darf dichnicht als Teil von mir betrachten. Eine Elektrode ist verrutscht, klebtungeschickt an deiner Brustwarze, ich nehme sie ab und bringe sie dezenter an.Ich schaue auf den Monitor: vierundfünfzig Schläge. Jetzt weniger:zweiundfünfzig. Ich hebe deine Lider, die Pupillen sind anisokor,die rechte ist stark geweitet, in dieser Hirnhälfte ist die Verletzung. Du mußt sofort operiert werden, damit das Gehirn atmen kann,diese Masse, die durch das Hämatom verschoben wurde, jetzt gegen die harteSchädeldecke drückt, die Zentren lahmlegt, die dengesamten Körper versorgen, und dir mit jedem Augenblick, der vergeht, etwas vondeiner Persönlichkeit raubt.
Ich drehe mich zu Ada um: »Hat sie Cortison bekommen?«
»Ja, Professore, und einen Magenschutz.«
»Hat sie noch andere Verletzungen?«
»Verdacht auf Milzriß.«
»Hämoglobin?«
»Zwölf.«
»Wer hat in der Neurochirurgie Dienst?«
»Ich, ich habe Dienst. Tag, Timoteo.«
Alfredo legt mir die Hand auf die Schulter, sein Kittel ist offen, Hände undGesicht sind naß. »Ada hat mich angerufen, ich hattedie Klinik gerade erst verlassen.«
Alfredo ist der Beste in seiner Abteilung, wird aber von keinem so rechtgeschätzt, er ist oft unsicher, verschlossen, seine Vorzüge fallen nicht auf;er steht im Schatten des Oberarztes, wenn der ihn beobachtet, sackt er in sichzusammen. Vor Jahren habe ich ihm einige Ratschläge gegeben, aber er hat nichtauf mich gehört, sein Charakter kann mit seiner Begabung nicht Schritt halten.Er lebt von seiner Frau getrennt, und ich weiß, daßer einen Sohn hat, ungefähr in deinem Alter. Er hatte keine Bereitschaft, erhätte sich entziehen können, kein Chirurg operiert gern die Angehörigen einesKollegen. Aber er, er hat sich in ein Taxi geworfen, ist mitten im dickstenVerkehr ausgestiegen und das letzte Stück im strömenden Regen zu Fuß gegangen, umschneller hier zu sein. Ich weiß nicht, ob ich das auch getan hätte.
»Ist oben alles fertig?« fragt Alfredo.
»Ja«, antwortet die Schwester.
»Dann gehen wir sofort nach oben.«
Ada koppelt dich vom Beatmungsgerät ab und schließt dich für den Transport anden Ambu-Beutel an. Als sie dich in den Aufzugschieben, sehe ich, daß ein Arm runterhängt, Adabeugt sich zu dir und legt ihn an deine Seite.
Ich bleibe mit Alfredo zurück, wir setzen uns in den Raum neben derIntensivstation. Alfredo schaltet den Leuchtkasten ein, schiebt deineCT-Aufnahmen ein und betrachtet sie von nahem. An einer Stelle hält er inne,runzelt die Stirn, sieht angestrengt hin. Ich weiß, wie es ist, wenn man aufeiner Röntgenaufnahme nach einer Spur sucht, nach einem Hinweis, der einemweiterhelfen könnte.
»Sieh mal«, sagt er, »das hier ist das Haupthämatom, direkt über der Dura mater, es ist gutzugänglich. Ich muß zuerst feststellen, wie stark dasGehirn in Mitleidenschaft gezogen wurde, das kann ich nicht abschätzen. Hierist noch eine Stelle, weiter innen, ich weiß nicht, vielleicht ist das ein Bluterguß durch Contrecoup.«
In dem fahlen Licht, gefiltert durch dein Gehirn, sehen wir uns an. Wir wissen,daß es keinen Sinn hat, uns etwas vorzumachen.
»Es könnten Komplikationen auftreten, vielleicht liegt schon Ischämie vor«,flüstere ich.
»Ich muß erst mal aufmachen, dann sehen wir weiter.«
»Sie ist fünfzehn.«
»Gut, dann ist das Herz stark.«
»Sie ist nicht stark sie ist klein.«
Ich ging in die Knie, ich weinte hemmungslos, vergrub das Gesicht in denHänden: »Sie wird sterben, nicht wahr? Wir wissen es beide, ihr Kopf istüberwässert.«
»Wir wissen gar nichts, Timoteo.«
Er beugte sich zu mir, packte mich an den Armen und schüttelte mich, als müsseer sich selbst aufrütteln: »Jetzt machen wir erst mal auf. Ich sauge dasHämatom ab, beatme das Gehirn, und wir sehen, was passiert.«
Er richtete sich auf. »Du kommst doch mit, nicht wahr?«
Bevor ich aufstand, wischte ich mir mit dem Arm über Nase und Augen. Einglänzender Schleimstreifen blieb auf dem Unterarm zurück. »Nein, ich hab allesvergessen, mit dem Gehirn kenne ich mich nicht aus, ich wärdir keine große Hilfe.«
Unbeeindruckt starrte Alfredo mich an, er wußte, daß ich log.
Im Aufzug schweigen wir, starren auf die Leuchtziffern, die uns anzeigen, daß die Stockwerke vorbeirauschen. Ohne ein Wort, ohne unszu berühren, trennen wir uns. Ich gehe ein paar Schritte und setze mich in denAufenthaltsraum der Ärzte. Alfredo bereitet sich vor. In Gedanken folge ichseinen Bewegungen, diesem Ritual, das ich so gut kenne. Bis zum Ellbogengleiten die Arme in das große Metallbecken, die Hände packen den desinfiziertenSchwamm aus, in der Nase habe ich den Geruch von Ammonium.Die Schwester reicht ihm Bauchtücher zum Abtrocknen, die Operationsschwesterbindet ihm den Kittel zu. Um mich herum herrscht Stille, plötzlich sind alleverstummt. An der offenen Tür geht ein Pfleger vorbei, den ich kenne, unsereBlicke kreuzen sich: rasch schaut er zu Boden, auf seine Gummischuhe. Jetztsteht Ada an der Tür. Ada, die nie geheiratet hat und in einerErdgeschoßwohnung mit Garten wohnt, wo oft Wäschestücke aus den oberen Etagenlanden.
»Wir fangen jetzt an, sind Sie sicher, daß Sie nichtmitkommen wollen?«
»Ja.«
»Brauchen Sie noch etwas?«
»Nein.«
Sie nickt, versucht zu lächeln.
»Hören Sie, Ada«, sage ich.
»Ja, Professore?«
»Wenn es dazu kommt, sorgen Sie dafür, daß allehinausgehen; und nehmen Sie ihr das Beatmungsgerät ab, bevor Sie mich rufen,schalten Sie alles ab, decken Sie sie zu. Sie wissenschon, sie soll ihre Würde behalten.«
Jetzt hat Alfredo die Schleuse passiert, mit erhobenen Armen betritt er denOperationssaal, der Assistent geht ihm entgegen, um ihm die Handschuheüberzustreifen. Du liegst unter der Operationsleuchte. Für mich kommt nun dasSchlimmste: Ich muß deiner Mutter Bescheid sagen. Duweißt ja, daß sie heute morgen nach London geflogenist, um ein Interview zu machen, mit einem Minister, glaube ich, jedenfalls warsie furchtbar aufgeregt. Kurz vor dir ist sie mit dem Taxi abgefahren. Ich habeeuch noch im Badezimmer diskutieren hören. Am Samstag bist du zu spät nachHause gekommen, um Viertel nach zwölf, ausgemacht war aber um zwölf; wegendieser Viertelstunde war sie sehr verärgert, bei bestimmten Dingen kennt siekein Pardon, solche Verstöße kann sie nicht ertragen, die bringen sie völligaus der Fassung. Eigentlich ist sie eine nette Mutter, trotz ihrer Strenge, fürsie ist diese Strenge ein Schutz, aber, das kannst du mir glauben, auch eineBürde. Ich weiß, daß du nichts Verbotenes tust, dutriffst dich mit deinen Freunden vor der Schule. Da steht ihr dann und redet,im Dunkeln, in der Kälte, vor dem großen Wandbild, vor den Graffiti, diePulloverärmel über die Hände gezogen. Ich habe dich immer gewähren lassen, ichvertraue dir, auch deinen Fehlern. Ich kenne dich so, wie du zu Hause bist, inden wenigen Augenblicken, die wir zusammen verbringen, aber ich weiß nicht, wiedu dich bei anderen verhältst. Ich weiß, daß du eingroßes Herz hast, dich in großartigen Freundschaften verausgabst. Ich finde dasgut, es ist der Funke, der das Leben lebenswert macht. Aber deine Mutter denktda anders, sie meint, daß du zu wenig lernst, daß du deine Energien verschwendest und deshalb in derSchule Probleme bekommen wirst.
Manchmal geht ihr einen Block zu Fuß, du und deine Freunde, und verschwindet imPub an der Ecke, einem verbrauchten Loch unter derErde. Einmal habe ich einen Blick hineingeworfen, durch die Fenster imSouterrain, ich hab gesehen, wie ihr lacht, euch umarmt, die Kippen imAschenbecher ausdrückt. Da stand ich, ein gutgekleideterMann von fünfundfünfzig, der nachts spazierenging,und ihr dort unten hinter vergitterten Fenstern, an denen sonst die Hundeschnüffeln, ihr wart so jung, so innig verbunden. Ihr seid wunderschön, Angela,das wollte ich dir sagen. Wunderschön.
© btb Verlag
Übersetzung: PetraKaiser
- Autor: Margaret Mazzantini
- 2004, 320 Seiten, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Petra Kaiser
- Verlag: BTB
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2000000095561
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Geh nicht fort".
Kommentar verfassen