Geheimbünde von der Antike bis heute
Welchen politischen Einfluss besaßen die Hetärien von Athen?
Wer waren die "ekstatischen Opferbünde" des Iran?
Und was wissen wir über Freimaurer und Camorra?
In ihrem Grundlagenwerk geben Hermann und Georg...
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Produktinformationen zu „Geheimbünde von der Antike bis heute “
Welchen politischen Einfluss besaßen die Hetärien von Athen?
Wer waren die "ekstatischen Opferbünde" des Iran?
Und was wissen wir über Freimaurer und Camorra?
In ihrem Grundlagenwerk geben Hermann und Georg Schreiber einen exzellenten Überblick über die bedeutendsten Geheimbünde in Geschichte und Gegenwart. Wir erfahren Spannendes über Verrat und Menschenopfer, begegnen Tyrannen, Helden und Hirten – und tauchen ein in die Welt der Mafia.
Lese-Probe zu „Geheimbünde von der Antike bis heute “
Geheimbünde - Von der Antike bis heute von Hermann Schreiber und Georg SchreiberVORWORT
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Geschichte und Gesellschaft haben ein Geheimnis gemeinsam: das Wirken jener seltsamen, bald kleineren, bald größeren Organismen, wie sie die geheimen Gesellschaften innerhalb der einen und allgemeinen menschlichen Gesellschaft bilden. Während das Geschick der Gesellschaft vor der Geschichte offen daliegt, nisten sich die geheimen Gesellschaften im Dunkel ihrer Zeit ein und vergessen auch oft, ihr Geheimnis wenigstens für die Nachwelt zu lüften. Dieses Geheimnis ist auch nicht ein zufälliges Rätsel, wie es sich immer wieder an gewissen Knotenpunkten des geschichtlichen Ablaufs ergibt, sondern gewollte Verheimlichung und Geheimhaltung zum Schutze bestimmter Ziele und Zwecke. Die Forschung hat daher einen doppelten Widerstand zu überwinden: den der geschichtlichen Distanz und den der willkürlichen Verschleierung, Irreführung und Verdunkelung.
Dieses Dunkel aber ist nur zu oft jener fruchtbaren Zeitspanne vergleichbar, von der Goethe spricht: einer fruchtenden Spanne unter der Oberfläche des geschichtlich-manifesten Daseins, in der sich Entwicklungen und Wirkungen vorbereiteten. Das Aufbrechen des Erdreichs ging bald zart und heimlich und vielerorten vor sich, bald eruptiv und nur an einer Stelle, an der dann die Schollen wildbrüchig umherlagen. Der Bereich aber, in dem dies geschah und immer wieder geschieht, ist ungeheuer: Er ist weit wie die Erde und reicht hinab zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte.
Einem so umfassenden Thema gegenüber kann dieses Buch nur Hinweise geben, mit einem Finger hierhin, dorthin weisen und gelegentlich verweilen, wo ein anschauliches Beispiel, ein besonders geschlossener Vorgang, ein für heute lehrreicher Ablauf zu näherem Eingehen auffordern.
Wir beschäftigen uns mit seltsamen, bisweilen heilsamen, bisweilen bösartigen Missbildungen, Wucherungen in der Ritze zwischen Gesellschaft und Geschichte, und haben daher ebenso oft das Bild des Menschen gesucht wie den Ablauf der Ereignisse. Und da es weder den Versuch noch den Zwang zur Vollständigkeit für uns geben konnte, haben wir uns nicht gescheut, ein Menschenschicksal aufzunehmen, wenn sein Zusammenhang mit unserem Thema innig genug war, wenn Kräfte und Strebungen an Leben und Tod sichtbarer wurden als an Jahreszahlen und Zeitläuften.
Die Geschichte der geheimen Gesellschaften ist noch nicht geschrieben worden und es mag Menschenkraft übersteigen, sie zu scheiben. Dem suchenden Umblick und der Rückschau zeigen sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neue Zusammenhänge, neue Umrisslinien, und unversehens bricht auch ein Strom wieder auf, den man schon versiegt geglaubt. In dieser Vielheit der Länder, Völker und Zeiten kann es für die Darstellung keine andere Parteinahme geben als die des humanen Empfindens. Das Urteil hat in den meisten Fällen die Geschichte selbst gesprochen: Unsere Überschau konnte sich demgegenüber mit vorsichtigen Kommentaren begnügen, die sittliches Empfinden mit historischem Verständnis zu vereinen trachteten.
Das Bild ist so bunt und so reich an Geschehen, dass die Darstellung nirgendwo Farben auftragen musste. Was dennoch grell ist, war es seit je und musste es bleiben, denn auch Dämpfungen können verfälschen; dies halte man uns zugute. Niemand kann annehmen, dass es im Schattendunkel der Geschichte weniger Unwesen und Übles gebe als am hellen geschichtlichen Tag. Dafür keimt in jenem Zwischenreich aber auch manche edle Tat, viel Selbstlosigkeit, so mancher große Gedanke. Wir gingen nicht den Religionen und den nur-religiösen Bünden nach, auch nicht den kurzlebigen, engstirnigen Verschwörungen, an denen die Geschichte fast aller Völker so überreich ist, sondern suchten die geheimen Bünde und Gesellschaften auf, die für Wesen, Wirken und Entwicklung solcher Vereinigungen charakteristisch genannt werden können und somit geeignet sind, die Erkenntnis heute wirksamer hintergründiger Kräfte zu fördern und zu vertiefen. Denn die Geheimbünde gehören zwar der Geschichte an, nicht aber der Vergangenheit, und es hat nicht den Anschein, als werde das zwanzigste Jahrhundert an seinem Ausgang die Frage, die unser erster Abschnitt stellt, negativ beantworten können.
Dr. Hermann Schreiber
Dr. Georg Schreiber
IN DER ALTEN WELT
Acht Jugendliche und drei Morde / Vom Pantherbund zur Pantherbande / Der Orden der heiligen Frau Latte / Die Gesetzlosen von Sardinien / Der edle Räuber im Zwielicht / Amram Blau und die »Wächter der Stadtmauer« / Urwaldkrieg in Kenia / Der Enkel des Medizinmannes und die weiße Medizin / Mau-Mau, das ist der arme schwarze Mann / Lehrjahre in London und Moskau / Der Hauptmann und der Priester / Father Divine oder: Der Heilige im Cadillac / Ritualmord im Macumba-Bund / Die schwarze Schlinge
Als im Frühjahr 1953 acht Jugendliche auf einer langen Angeklagtenbank im Münchener Justizpalast saßen, ergab sich die überraschende Tatsache, dass die jungen Leute sich nicht etwa als Verbrecherbande deklarierten oder nach ihrem Chef Werner-Bande nannten, sondern einen richtigen Geheimbund repräsentierten, der nach seiner Mitgliederanzahl zwar klein, nach seinen Aktionen aber unheilvoll-bedeutsam genannt werden musste.
Obwohl die kleine Gruppe junger Menschen nicht weniger als drei Morde, zwei Mordversuche, mehrere Erpressungen und zwei schwere Raubüberfälle verübt hatte, gelangte der Gerichtspsychologe Doktor Heldwein zu dem Urteil, dass es sich bei ihnen nicht um Verbrechertypen handle, sondern um einen Klub mit bestimmten übersteigerten Zielen. Der »Pantherbund«, wie ihn Hugo Werner schon als Fünfzehnjähriger gegründet hatte, besaß ausgearbeitete Statuten, deren erster Paragraf bezeichnend und bündig lautete:
»Ziel des Bundes ist die Erreichung eines sicheren, alle Mitglieder zufriedenstellenden Lebensstandards unter Zuhilfenahme aller gesetzlichen und ungesetzlichen Mittel.«
Hugo Werner wollte insgesamt ca. 750 000 Euro erbeuten und damit allen Bandenmitgliedern eine Existenzgrundlage schaffen. Er achtete stets darauf, dass seine Untergebenen eine ordentliche Berufsausbildung erhielten und dispensierte eines Abends einen Panthermann von einem Überfall, damit er seine Elektrikerprüfung nicht versäume, denn das Ziel war ja das Untertauchen im bürgerlichen Leben.
Wir erwähnen den Pantherbund, der letztlich doch wohl eine Pantherbande ist, an dieser Stelle nicht etwa, weil wir ihn als Geheimbund in den Rahmen dieses Werkes einbeziehen wollen, aber er vermag uns die Frage: »Gibt es noch Geheimbünde!« eindeutig zu beantworten. Es gibt noch Geheimbünde, weil es allem Anschein nach immer welche geben wird; es gibt noch Geheimbünde, weil es einem Grundtrieb des Menschen entspricht, sich mit Gleichgesinnten, Gleichaltrigen oder Gleichstrebenden zu vereinen und weil diese Organisationen zwangsläufig oder zufällig der größeren Organisation der Gesellschaft feindlich gesinnt sein können.
Das Geheimnis ist nicht notwendig, aber wesenhaft für das Zustandekommen vieler Bünde und Verbindungen. Es kann dem Zweck entsprechen und ihn schützen, oder es kann Selbstzweck sein wie bei manchen romantisch gestimmten Bünden, die sich trotz völliger Harmlosigkeit in ihrer Geheimnistuerei gefielen. Es gibt, wie ein englischer Forscher sagt, einen secret society mind, eine spezifische Gefühlslage, die manche Menschen von vornherein zu Mitgliedern geheimer Gesellschaften und Bünde wie geschaffen erscheinen lässt, und es gibt eine so weit verbreitete Neigung zu geheimer Organisation, dass man den Geheimbund fast eine Art Pubertätsstadium der Gesellschaft nennen könnte, das sie auf ihrem Wege zur Vollkommenheit beziehungsweise zur konsequenten Demokratie durchläuft. Im Idealfall der demokratischen Gesellschaft dürfte es dann freilich nur noch kriminelle Geheimbünde geben: weil nur noch das Verbrechen verboten ist.
Alle Arten, fast möchten wir sagen: Archetypen der Geheimbünde münden in die Gegenwart herauf und haben auch heute noch die Kraft, aus alten Vorbildern neue Formen zu entwickeln. Um in Deutschland zu bleiben und mit dem Harmlosesten zu beginnen, nennen wir als heimisches Beispiel den »Orden der Frau Latte«, auch »Orden der heiligen Frau Latte« genannt, der im Jahr 1878 in einer Berliner Schiffbauerfrühstücksstube in der Königstraße gegründet wurde und heute noch (oder wieder) die Macht hat, einen missliebigen Professor auch dann von der Technischen Universität Berlin zu vertreiben, wenn er Ordinarius ist.
Der Orden organisiert den Boykott von Vorlesungen, hat ein sogenanntes Kupferarchiv, in dem über Prüfungsfragen Buch geführt wird, und eine für Studierende schlechthin unentbehrliche Sammlung teurer technischer Behelfe, die so gut wie alle Schiffbaustudenten nötigt, dem Orden beizutreten. Der Orden von der heiligen Frau Latte war übrigens als einzige der älteren studentischen Organisationen von der Hitlerregierung nicht verboten worden, da er schon vor Hitler durch seine Herrschaft an den meisten Schiffbaufakultäten den Juden diesen Studienzweig praktisch versperrt hatte. Die in Danzig entstandene Hymne des Ordens (der weder im Vereinsregister eingetragen ist noch aufgeschriebene Statuten besitzt) lehnt sich bemerkenswert eng an das Kampflied vom »Gott, der Eisen wachsen ließ« an und beginnt:
»Ein neuer Orden, kampfbereit Trotzt an der Weichsel wieder.
Da klingt der Stahl, da dröhnt der Eid
Der deutschen Lattenbrüder.«
Die Lattenbrüder sind im geistigen Leben unserer Tage ziemlich unbemerkt geblieben, da ihre Disziplin, der Schiffbau, doch zu speziell ist, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen; aber es verdient als Tatsache festgehalten zu werden, dass zumindest einer der studentischen Orden die Burschenschaftenzeit überdauert hat. Gegen die uralten, mit den Universitäten entstandenen Landsmannschaften (»Nationen«) hatten sich im achtzehnten Jahrhundert geheime und ungern geduldete studentische Orden durchzusetzen versucht: die Mosellaner, die Konstantisten, die Konkordisten, die Amicisten und andere, die in ihren Ritualen mehr oder minder eng von den Freimaurern abhängig waren. 1784 wurden sie erstmals, und zwar in Göttingen, verboten und verschwanden im neunzehnten Jahrhundert fast völlig, da die Burschenschaften immer größeren Zulauf hatten. Im »Orden der heiligen Frau Latte«
haben wir eine Organisation vor uns, die zum Unterschied von den Burschenschaften eine bestimmte Studienrichtung voraussetzt, das Studium selbst und die Erreichung des Studienziels (wenn auch nicht immer mit erlaubten Mitteln) unterstützt und bestimmte Gruppen von Studierenden von der gemeinsamen Arbeit ausschließt. Die Annahme liegt nicht fern, dass zwischen den Lattenbrüdern gewisse Bindungen auch dann noch aufrechtbleiben, wenn sie als absolvierte Schiffbauer in das Leben hinaustreten und in ihrem Beruf tätig sind.
Alte Geheimbundtradition scheint auch für jene Erscheinung verantwortlich zu sein, die das italienische Justizministerium die malattia ciclica nennt: das zumindest auf Sardinien noch ungebrochene Bandenunwesen, das nicht mit dem gewöhnlichen Banditentum gleichzusetzen ist. Die in der sogenannten Barbagia operierenden Männer sind, wie die Untersuchungen ergeben haben, oft durchaus wohlhabend und keineswegs zu dieser Form des Erwerbs genötigt. Sie haben sich zu gleichgesinnten Gruppen vereinigt, die nach strengen Gesetzen, ungeschriebenen Statuten vorgehen, wie einst die Camorra, und die sich gegen Eingriffe oder Einbrüche in ihr Gebiet geschlossen und als Bund zur Wehr setzen.
Sardinien ist noch immer eine der geheimnisvollsten Inseln des Mittelmeeres; niemand weiß mit Sicherheit, wozu die zwei- bis dreitausend kleinen und ungefügen Türme gedient haben, die über das ganze Land verstreut sind und von den Sarden muraggi genannt werden; kein anderer Teil der italienischen Republik hat einen gleich hohen Prozentsatz an Analphabeten, und weite Gebiete im Landesinneren, eben die um die fast zweitausend Meter hohe Brunca Spina liegende Barbagia, sind auch heute noch praktisch unzugänglich.
Dieses Gebiet, das die Römer Barbaria, die Barbarei, tauften, ist einige hundert Quadratkilometer groß und mit wilder Vegetation, dichtem Busch und Korkeichen, bedeckt. Durch dieses Gebiet wollte die italienische Regierung eine Straße bis zum Golf von Dorgali bauen. Davide Capra, ein Straßenbauingenieur aus Cagliari, übernahm den Auftrag. Er glaubte, vor den fuorilegge, den Gesetzlosen, sicher zu sein, da sie ihn schon einmal gefangen genommen, gegen Lösegeld und Schweigeversprechen aber wieder freigelassen hatten.
Capra hatte wohlweislich gegen jedermann geschwiegen; als er es aber unternahm, die Straße zu bauen, fielen die Gesetzlosen über die ganze Arbeitsgruppe her: über Capra, seinen Vermesser, die Straßenwärter, die Aufseher und die Arbeiter. Alle ließ man nach gründlicher Einschüchterung und heiligem Schweigeeid wieder frei, nur Capra behielt man im Gewahrsam und verlangte zwanzig Millionen Lire Lösegeld (damals 65 000 Euro). Während seine Frau sich noch bemühte, das Geld aufzutreiben, um den elf Kindern ihren Vater zurückzugeben, lief die Polizeiaktion an; die Gesetzlosen wurden in die Wälder verjagt und Capra in einer kleinen Hütte gefesselt aufgefunden - aber er war tot.
Wie schon die Camorra und die Mafia, gehen auch die Gesetzlosen gegen Verräter aus den eigenen Reihen unnachsichtig vor. Der junge Hugo Werner erschoss seinen Freund Alois Lechhart, um die Geheimnisse des Pantherbundes zu wahren; die Gesetzlosen schnitten dem zweiunddreißigjährigen Nicola Moro die Ohren ab und schlitzten ihm den Bauch auf, weil er sie verraten hatte ...
Diese drei sehr verschiedenen Beispiele zeigen, dass vieles von dem, was heute noch geheim ist, das Gesetz zu scheuen hat. Die italienische Demokratie gestattet extremsten Gruppen die öffentliche Betätigung, der MSI, der über lange Jahre im Parlament vertreten war, Mussolinis Werke, die in einer vielbändigen Prachtausgabe auch im Nachkriegsitalien lange Zeit problemlos erhältlich waren. In Frankreich konnte sogar eine Steuerverweigerungsbewegung offen agitieren und mit ihren Abgeordneten in beachtlicher Stärke in die Nationalversammlung einziehen, während ihre Vorfahren, die Steuerverweigerer aus den Cevennen, sich bei ihren zahlreichen Aufständen nur blutige Köpfe holten. Ein Geheimbund auf französischem Boden müsste ausgesprochen kriminelle Ziele haben, um das Geheimnis, die Geheimhaltung zu rechtfertigen. Anders in der Diktatur, wo man auch Ziele rein weltanschaulicher oder politischer Natur (ja sie vor allem) tarnen muss und dadurch mitunter in eine merkwürdige Gemeinschaft mit der geheimen Arbeit des modernen, organisierten Verbrechertums gerät. So wurden am Morgen des 16. Dezember 195 5 die Brüder José und Pedro Campillo-Campo in einem Hotel in Clermont-Ferrant verhaftet, weil sie ein halbes Jahr zuvor auf spanischem Boden einen räuberischen Überfall verübt hatten. Sie bekannten sich auch zu dieser Tat, konnten aber nachweisen, dass sie Mitglieder einer geheimen, gegen das Franco-Regime gerichteten Widerstandsarmee seien, der sie durch diese und andere Aktionen Geldmittel verschafft hatten. Und das war nicht erfunden: Die aus Spanien geflüchteten Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten hatten sich organisiert und zahlreiche Banküberfälle und andere Raubzüge unternommen, deren Erträge zum weitaus größten Teil in die gemeinsame Widerstandskasse flossen. Auch die Brüder Campillo-Campo hatten trotz eines geglückten Menschenraubes, der ihnen 1500 000 französische Francs (ca. 630 000 Euro) eingebracht hatte, bei ihrer Verhaftung nur 60 000 Francs (etwa 25 000 Euro) bei sich, den Rest hatten sie bereits abgeliefert. Sie hatten die französische Fremdenpolizei stets über ihren Aufenthaltsort informiert und fühlten sich keineswegs als Verbrecher, sondern als Mitglieder einer geheimen Organisation gegen ein unrechtmäßiges Regime ...
Dort, wo die Obrigkeit als ungesetzmäßig empfunden wird, weil sie ältere Rechte gebrochen hat, werden moderne geheime Organisationen bewusst oder unbewusst zu Hütern der Tradition. Durch sie lebt im Geheimen weiter, was im Licht des modernen Tages, des modernen wirtschaftlichen und politischen Lebens lächerlich oder doch absurd wirken würde.
In Jerusalem gibt es zweihundert oder dreihundert Familien, die sich den Neturei Karta zuzählen. Das aramäische Wort bedeutet »Wächter der Stadtmauer« und ist ein Ehrentitel für diese besonders strenggläubigen Israeliten, die gegen den Unverstand der modernen Welt zu einem Häuflein eng aneinandergebundener Familien geworden sind. Sie erkennen die Regierung des Staates Israel nicht an, weigern sich, irgendwelche Dokumente entgegenzunehmen oder gar zu unterzeichnen und schicken ihre Kinder nur in die Talmudschule. Das Hebräische sprechen sie nicht: Es ist die heilige, dem Gottesdienst und dem Religionsunterricht vorbehaltene Sprache. Die Knaben dürfen nichts lernen als Bibel und Talmud, die Mädchen dürfen vor ihrer Verheiratung das Elternhaus nicht verlassen.
Ein Leben dieser Art ist naturgemäß sozial und wirtschaftlich schon nicht mehr möglich; die Neturei Karta können es fristen, weil reiche Verwandte aus Amerika, Kanada und England ihnen das Wenige schicken, was sie zu ihrem Lebensunterhalt brauchen. Sie arbeiten nicht, denn sie sind fest davon überzeugt, dass das Reich des Messias kommen wird: Bis dahin dürfe man nichts anderes tun als in den Heiligen Schriften lesen und auch die nachfolgenden Generationen zur Vertiefung in sie anhalten.
Sie bewohnen das Viertel Mea Shearim (»zu den hundert Toren«), das darum von den Taxifahrern zumindest am Sabbat ängstlich gemieden wird: Denn Amram Blau, der Führer der Neturei Karta, lässt unbarmherzig jedes Fahrzeug steinigen, das am Sabbat durch die feiertäglichen Straßen rollt ...
Man hat oft angeregt, diese Menschen auszusiedeln, die dem Glauben, der den ganzen Staat trägt, mit so unbedingter Strenge anhängen, dass es den Staat gefährden würde - wenn sie zahlreicher wären. Aber bis heute leben die »Wächter der Stadtmauer« in der uralten Stadt und warten, sicher in ihrem geheimen Wissen, auf das Reich des Messias, von dem sie in ihren alten Schriften immer wieder lesen.
Es ist eine lehrreiche Konfrontation, eine Gegenüberstellung, die sich bald da, bald dort begibt und zu der es wohl in allen Ländern schon einmal gekommen ist. Die gegnerischen Lager können Neu und Alt heißen, sehr oft aber bedeutet Neu den Europäer oder doch den weißen Mann und Alt das eigene Volkstum, auf das man sich erst besinnt, wenn man in den Schulen der Weißen und auf ihren Universitäten Besinnung gelernt hat. Es sind Entdeckungen und Überraschungen, die diese gewaltigen Übergänge mit sich bringen; so wie der Übergang vom Absolutismus zu den aufgeklärten Monarchien (noch) nicht etwa durch Massenparteien erfolgte, sondern unter der Einwirkung kleiner, geheimer Zirkel und geheimer Gesellschaften, so enthüllt das Ende des Kolonialismus in unserem Jahrhundert die Existenz unzähliger kleinerer und größerer Geheimorganisationen, geheimer Gesellschaften und geheimer Bünde bald politischen Charakters, bald religiöser, sektenähnlicher Prägung.
Als das englische Palästina-Mandat ablief, machten nicht neue Parteien das Land einander streitig, sondern militante Geheimorganisationen mit allen Charakteristika geheimer Bünde: mit Decknamen, eigenem Ritual, Terror gegen Verräter, undurchsichtiger Taktik. Und als der siebenjährige Krieg zwischen der französischen Kolonialarmee und den Truppen des Viet-Minh in Indochina zu Ende ging und das heiß umkämpfte Land geteilt wurde, waren die beiden Teile nun nicht etwa befriedet: Im ehemals französischen Saigon brachen heftige Kämpfe gewaltiger »Sekten« aus, die in Wahrheit aber geheime Bünde und nun plötzlich in der Lage waren, Zehntausende von Bewaffneten aufzustellen.
Der Geheimbund ist die uralte und überall dort auch heute noch die einzig mögliche Organisationsform, wo die Verkehrsmittel, die Beschaffenheit des Landes, die Unbildung der Bevölkerung den Einsatz moderner Mittel der Massenpropaganda erschweren. In Indochina organisierten sich die großen Bünde, die dem Ministerpräsidenten Diem so zu schaffen machten und eines Tages das Hotel Majestic plünderten, ganz genau so, wie ein halbes Jahrhundert vorher die Banden, die den chinesischen Boxeraufstand anzettelten und ganz ähnlich wie die Sikh-Verschwörungen und die WahabiErhebungen in Indien. Der im Frühjahr 1956 hingerichtete General Wakut hatte dem Hoa-Hoa-Bund ein Jahr lang internationale Berühmtheit verschafft, wenngleich niemand recht wusste, worum es dem Bund, den viele eine Sekte nennen, eigentlich ging. Er nötigte den Staatspräsidenten zu großen militärischen Anstrengungen, brachte zeitweise bis zu 30 000 Bewaffnete auf die Beine und ließ sich erst nach harten Kämpfen in die Berge nördlich und nordöstlich von Saigon zurückdrängen.
Die lang anhaltenden Kriege erst zwischen den Franzosen und der nordvietnamesischen Befreiungsfront, dann zwischen den Amerikanern und ihren national-kommunistischen Gegnern haben die Welt jahrzehntelang in Atem gehalten, gefährliche Konfrontationen zwischen den Großmächten zur Folge gehabt und der Neuen wie der Alten Welt vor Augen geführt, dass uns zwar der Kolonialismus ein höchst brisantes Erbe hinterlassen hat, dass aber die Verhältnisse, die auf ihn folgten, keineswegs menschlicher genannt werden können. Nicht immer ist eine an sich fortschrittliche Verfassung auch ein Garant für das persönliche Wohlergehen des Einzelnen, und nicht wenige junge Staaten gediehen auf Kosten der Freiheit und der individuellen Situation der Staatsbürger.
Für eine Stadt wie Saigon jedenfalls steht 2012 fest, dass sie ihre beste Zeit in den Jahren eines französischen Indochina hatte, unter dem Schutz einer Verwaltung, die zwar zweifellos den Europäern und ihren Geschäften Vorzugsrechte einräumte, aber auch Vietnamesen besser leben ließ, als diese heute leben. Das Gleiche gilt auch für Laos, das vor dem Ausbruch des ersten Indochinakrieges eine beinahe idyllische Existenz führte. Dass wir jene Verhältnisse heute im Rückblick aus den großen Romanen ortskundiger Autoren wie Graham Greene oder Marguerite, Princesse de Duras kennenlernen müssen, weil die Geschichtsschreibung das Versagen, ja den schließlichen Bankrott einer blutigen Freiheitsbewegung nicht wahrhaben will, macht die Entwicklung nicht weniger lehrreich: So wie in der Französischen Revolution binnen eines einzigen Monats mehr Menschen hingerichtet wurden als in tausend Jahren der angeblich so tyrannischen Königsherrschaft, so sind Scheusale wie Pol Pott und Millionenmassaker, wie sie Hinterindien nach den französischen und amerikanischen Niederlagen erlebten, der Beweis dafür, dass selbst die raffiniertesten Geheimorganisationen nicht sagen können, wo jener Unfrieden hinführen wird, den sie selbstsicher und von hohen Idealen beseelt in die Welt bringen.
Vor rund fünfzig Jahren endete ein anderer Kolonialkrieg, der durch den Zusammenschluss meist marxistischer Untergrundbewegungen gegen die portugiesischen Kolonialherren begann, der Krieg in Angola, einem am Nordrand Südafrikas gelegenen Staat von 1,3 Millionen Quadratkilometern, in dem trotz jahrzehntelangen Kämpfen Ende 2009 wieder rund 18,5 Millionen Menschen lebten. Das Ende des Kalten Krieges hat die zaudernden Bemühungen ermutigt, die dieses große Land aus einem Tummelplatz fremder Interessen und Truppen zu einer friedlichen und menschenwürdigen Existenz zurückführen wollen.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Geschichte und Gesellschaft haben ein Geheimnis gemeinsam: das Wirken jener seltsamen, bald kleineren, bald größeren Organismen, wie sie die geheimen Gesellschaften innerhalb der einen und allgemeinen menschlichen Gesellschaft bilden. Während das Geschick der Gesellschaft vor der Geschichte offen daliegt, nisten sich die geheimen Gesellschaften im Dunkel ihrer Zeit ein und vergessen auch oft, ihr Geheimnis wenigstens für die Nachwelt zu lüften. Dieses Geheimnis ist auch nicht ein zufälliges Rätsel, wie es sich immer wieder an gewissen Knotenpunkten des geschichtlichen Ablaufs ergibt, sondern gewollte Verheimlichung und Geheimhaltung zum Schutze bestimmter Ziele und Zwecke. Die Forschung hat daher einen doppelten Widerstand zu überwinden: den der geschichtlichen Distanz und den der willkürlichen Verschleierung, Irreführung und Verdunkelung.
Dieses Dunkel aber ist nur zu oft jener fruchtbaren Zeitspanne vergleichbar, von der Goethe spricht: einer fruchtenden Spanne unter der Oberfläche des geschichtlich-manifesten Daseins, in der sich Entwicklungen und Wirkungen vorbereiteten. Das Aufbrechen des Erdreichs ging bald zart und heimlich und vielerorten vor sich, bald eruptiv und nur an einer Stelle, an der dann die Schollen wildbrüchig umherlagen. Der Bereich aber, in dem dies geschah und immer wieder geschieht, ist ungeheuer: Er ist weit wie die Erde und reicht hinab zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte.
Einem so umfassenden Thema gegenüber kann dieses Buch nur Hinweise geben, mit einem Finger hierhin, dorthin weisen und gelegentlich verweilen, wo ein anschauliches Beispiel, ein besonders geschlossener Vorgang, ein für heute lehrreicher Ablauf zu näherem Eingehen auffordern.
Wir beschäftigen uns mit seltsamen, bisweilen heilsamen, bisweilen bösartigen Missbildungen, Wucherungen in der Ritze zwischen Gesellschaft und Geschichte, und haben daher ebenso oft das Bild des Menschen gesucht wie den Ablauf der Ereignisse. Und da es weder den Versuch noch den Zwang zur Vollständigkeit für uns geben konnte, haben wir uns nicht gescheut, ein Menschenschicksal aufzunehmen, wenn sein Zusammenhang mit unserem Thema innig genug war, wenn Kräfte und Strebungen an Leben und Tod sichtbarer wurden als an Jahreszahlen und Zeitläuften.
Die Geschichte der geheimen Gesellschaften ist noch nicht geschrieben worden und es mag Menschenkraft übersteigen, sie zu scheiben. Dem suchenden Umblick und der Rückschau zeigen sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neue Zusammenhänge, neue Umrisslinien, und unversehens bricht auch ein Strom wieder auf, den man schon versiegt geglaubt. In dieser Vielheit der Länder, Völker und Zeiten kann es für die Darstellung keine andere Parteinahme geben als die des humanen Empfindens. Das Urteil hat in den meisten Fällen die Geschichte selbst gesprochen: Unsere Überschau konnte sich demgegenüber mit vorsichtigen Kommentaren begnügen, die sittliches Empfinden mit historischem Verständnis zu vereinen trachteten.
Das Bild ist so bunt und so reich an Geschehen, dass die Darstellung nirgendwo Farben auftragen musste. Was dennoch grell ist, war es seit je und musste es bleiben, denn auch Dämpfungen können verfälschen; dies halte man uns zugute. Niemand kann annehmen, dass es im Schattendunkel der Geschichte weniger Unwesen und Übles gebe als am hellen geschichtlichen Tag. Dafür keimt in jenem Zwischenreich aber auch manche edle Tat, viel Selbstlosigkeit, so mancher große Gedanke. Wir gingen nicht den Religionen und den nur-religiösen Bünden nach, auch nicht den kurzlebigen, engstirnigen Verschwörungen, an denen die Geschichte fast aller Völker so überreich ist, sondern suchten die geheimen Bünde und Gesellschaften auf, die für Wesen, Wirken und Entwicklung solcher Vereinigungen charakteristisch genannt werden können und somit geeignet sind, die Erkenntnis heute wirksamer hintergründiger Kräfte zu fördern und zu vertiefen. Denn die Geheimbünde gehören zwar der Geschichte an, nicht aber der Vergangenheit, und es hat nicht den Anschein, als werde das zwanzigste Jahrhundert an seinem Ausgang die Frage, die unser erster Abschnitt stellt, negativ beantworten können.
Dr. Hermann Schreiber
Dr. Georg Schreiber
IN DER ALTEN WELT
Acht Jugendliche und drei Morde / Vom Pantherbund zur Pantherbande / Der Orden der heiligen Frau Latte / Die Gesetzlosen von Sardinien / Der edle Räuber im Zwielicht / Amram Blau und die »Wächter der Stadtmauer« / Urwaldkrieg in Kenia / Der Enkel des Medizinmannes und die weiße Medizin / Mau-Mau, das ist der arme schwarze Mann / Lehrjahre in London und Moskau / Der Hauptmann und der Priester / Father Divine oder: Der Heilige im Cadillac / Ritualmord im Macumba-Bund / Die schwarze Schlinge
Als im Frühjahr 1953 acht Jugendliche auf einer langen Angeklagtenbank im Münchener Justizpalast saßen, ergab sich die überraschende Tatsache, dass die jungen Leute sich nicht etwa als Verbrecherbande deklarierten oder nach ihrem Chef Werner-Bande nannten, sondern einen richtigen Geheimbund repräsentierten, der nach seiner Mitgliederanzahl zwar klein, nach seinen Aktionen aber unheilvoll-bedeutsam genannt werden musste.
Obwohl die kleine Gruppe junger Menschen nicht weniger als drei Morde, zwei Mordversuche, mehrere Erpressungen und zwei schwere Raubüberfälle verübt hatte, gelangte der Gerichtspsychologe Doktor Heldwein zu dem Urteil, dass es sich bei ihnen nicht um Verbrechertypen handle, sondern um einen Klub mit bestimmten übersteigerten Zielen. Der »Pantherbund«, wie ihn Hugo Werner schon als Fünfzehnjähriger gegründet hatte, besaß ausgearbeitete Statuten, deren erster Paragraf bezeichnend und bündig lautete:
»Ziel des Bundes ist die Erreichung eines sicheren, alle Mitglieder zufriedenstellenden Lebensstandards unter Zuhilfenahme aller gesetzlichen und ungesetzlichen Mittel.«
Hugo Werner wollte insgesamt ca. 750 000 Euro erbeuten und damit allen Bandenmitgliedern eine Existenzgrundlage schaffen. Er achtete stets darauf, dass seine Untergebenen eine ordentliche Berufsausbildung erhielten und dispensierte eines Abends einen Panthermann von einem Überfall, damit er seine Elektrikerprüfung nicht versäume, denn das Ziel war ja das Untertauchen im bürgerlichen Leben.
Wir erwähnen den Pantherbund, der letztlich doch wohl eine Pantherbande ist, an dieser Stelle nicht etwa, weil wir ihn als Geheimbund in den Rahmen dieses Werkes einbeziehen wollen, aber er vermag uns die Frage: »Gibt es noch Geheimbünde!« eindeutig zu beantworten. Es gibt noch Geheimbünde, weil es allem Anschein nach immer welche geben wird; es gibt noch Geheimbünde, weil es einem Grundtrieb des Menschen entspricht, sich mit Gleichgesinnten, Gleichaltrigen oder Gleichstrebenden zu vereinen und weil diese Organisationen zwangsläufig oder zufällig der größeren Organisation der Gesellschaft feindlich gesinnt sein können.
Das Geheimnis ist nicht notwendig, aber wesenhaft für das Zustandekommen vieler Bünde und Verbindungen. Es kann dem Zweck entsprechen und ihn schützen, oder es kann Selbstzweck sein wie bei manchen romantisch gestimmten Bünden, die sich trotz völliger Harmlosigkeit in ihrer Geheimnistuerei gefielen. Es gibt, wie ein englischer Forscher sagt, einen secret society mind, eine spezifische Gefühlslage, die manche Menschen von vornherein zu Mitgliedern geheimer Gesellschaften und Bünde wie geschaffen erscheinen lässt, und es gibt eine so weit verbreitete Neigung zu geheimer Organisation, dass man den Geheimbund fast eine Art Pubertätsstadium der Gesellschaft nennen könnte, das sie auf ihrem Wege zur Vollkommenheit beziehungsweise zur konsequenten Demokratie durchläuft. Im Idealfall der demokratischen Gesellschaft dürfte es dann freilich nur noch kriminelle Geheimbünde geben: weil nur noch das Verbrechen verboten ist.
Alle Arten, fast möchten wir sagen: Archetypen der Geheimbünde münden in die Gegenwart herauf und haben auch heute noch die Kraft, aus alten Vorbildern neue Formen zu entwickeln. Um in Deutschland zu bleiben und mit dem Harmlosesten zu beginnen, nennen wir als heimisches Beispiel den »Orden der Frau Latte«, auch »Orden der heiligen Frau Latte« genannt, der im Jahr 1878 in einer Berliner Schiffbauerfrühstücksstube in der Königstraße gegründet wurde und heute noch (oder wieder) die Macht hat, einen missliebigen Professor auch dann von der Technischen Universität Berlin zu vertreiben, wenn er Ordinarius ist.
Der Orden organisiert den Boykott von Vorlesungen, hat ein sogenanntes Kupferarchiv, in dem über Prüfungsfragen Buch geführt wird, und eine für Studierende schlechthin unentbehrliche Sammlung teurer technischer Behelfe, die so gut wie alle Schiffbaustudenten nötigt, dem Orden beizutreten. Der Orden von der heiligen Frau Latte war übrigens als einzige der älteren studentischen Organisationen von der Hitlerregierung nicht verboten worden, da er schon vor Hitler durch seine Herrschaft an den meisten Schiffbaufakultäten den Juden diesen Studienzweig praktisch versperrt hatte. Die in Danzig entstandene Hymne des Ordens (der weder im Vereinsregister eingetragen ist noch aufgeschriebene Statuten besitzt) lehnt sich bemerkenswert eng an das Kampflied vom »Gott, der Eisen wachsen ließ« an und beginnt:
»Ein neuer Orden, kampfbereit Trotzt an der Weichsel wieder.
Da klingt der Stahl, da dröhnt der Eid
Der deutschen Lattenbrüder.«
Die Lattenbrüder sind im geistigen Leben unserer Tage ziemlich unbemerkt geblieben, da ihre Disziplin, der Schiffbau, doch zu speziell ist, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen; aber es verdient als Tatsache festgehalten zu werden, dass zumindest einer der studentischen Orden die Burschenschaftenzeit überdauert hat. Gegen die uralten, mit den Universitäten entstandenen Landsmannschaften (»Nationen«) hatten sich im achtzehnten Jahrhundert geheime und ungern geduldete studentische Orden durchzusetzen versucht: die Mosellaner, die Konstantisten, die Konkordisten, die Amicisten und andere, die in ihren Ritualen mehr oder minder eng von den Freimaurern abhängig waren. 1784 wurden sie erstmals, und zwar in Göttingen, verboten und verschwanden im neunzehnten Jahrhundert fast völlig, da die Burschenschaften immer größeren Zulauf hatten. Im »Orden der heiligen Frau Latte«
haben wir eine Organisation vor uns, die zum Unterschied von den Burschenschaften eine bestimmte Studienrichtung voraussetzt, das Studium selbst und die Erreichung des Studienziels (wenn auch nicht immer mit erlaubten Mitteln) unterstützt und bestimmte Gruppen von Studierenden von der gemeinsamen Arbeit ausschließt. Die Annahme liegt nicht fern, dass zwischen den Lattenbrüdern gewisse Bindungen auch dann noch aufrechtbleiben, wenn sie als absolvierte Schiffbauer in das Leben hinaustreten und in ihrem Beruf tätig sind.
Alte Geheimbundtradition scheint auch für jene Erscheinung verantwortlich zu sein, die das italienische Justizministerium die malattia ciclica nennt: das zumindest auf Sardinien noch ungebrochene Bandenunwesen, das nicht mit dem gewöhnlichen Banditentum gleichzusetzen ist. Die in der sogenannten Barbagia operierenden Männer sind, wie die Untersuchungen ergeben haben, oft durchaus wohlhabend und keineswegs zu dieser Form des Erwerbs genötigt. Sie haben sich zu gleichgesinnten Gruppen vereinigt, die nach strengen Gesetzen, ungeschriebenen Statuten vorgehen, wie einst die Camorra, und die sich gegen Eingriffe oder Einbrüche in ihr Gebiet geschlossen und als Bund zur Wehr setzen.
Sardinien ist noch immer eine der geheimnisvollsten Inseln des Mittelmeeres; niemand weiß mit Sicherheit, wozu die zwei- bis dreitausend kleinen und ungefügen Türme gedient haben, die über das ganze Land verstreut sind und von den Sarden muraggi genannt werden; kein anderer Teil der italienischen Republik hat einen gleich hohen Prozentsatz an Analphabeten, und weite Gebiete im Landesinneren, eben die um die fast zweitausend Meter hohe Brunca Spina liegende Barbagia, sind auch heute noch praktisch unzugänglich.
Dieses Gebiet, das die Römer Barbaria, die Barbarei, tauften, ist einige hundert Quadratkilometer groß und mit wilder Vegetation, dichtem Busch und Korkeichen, bedeckt. Durch dieses Gebiet wollte die italienische Regierung eine Straße bis zum Golf von Dorgali bauen. Davide Capra, ein Straßenbauingenieur aus Cagliari, übernahm den Auftrag. Er glaubte, vor den fuorilegge, den Gesetzlosen, sicher zu sein, da sie ihn schon einmal gefangen genommen, gegen Lösegeld und Schweigeversprechen aber wieder freigelassen hatten.
Capra hatte wohlweislich gegen jedermann geschwiegen; als er es aber unternahm, die Straße zu bauen, fielen die Gesetzlosen über die ganze Arbeitsgruppe her: über Capra, seinen Vermesser, die Straßenwärter, die Aufseher und die Arbeiter. Alle ließ man nach gründlicher Einschüchterung und heiligem Schweigeeid wieder frei, nur Capra behielt man im Gewahrsam und verlangte zwanzig Millionen Lire Lösegeld (damals 65 000 Euro). Während seine Frau sich noch bemühte, das Geld aufzutreiben, um den elf Kindern ihren Vater zurückzugeben, lief die Polizeiaktion an; die Gesetzlosen wurden in die Wälder verjagt und Capra in einer kleinen Hütte gefesselt aufgefunden - aber er war tot.
Wie schon die Camorra und die Mafia, gehen auch die Gesetzlosen gegen Verräter aus den eigenen Reihen unnachsichtig vor. Der junge Hugo Werner erschoss seinen Freund Alois Lechhart, um die Geheimnisse des Pantherbundes zu wahren; die Gesetzlosen schnitten dem zweiunddreißigjährigen Nicola Moro die Ohren ab und schlitzten ihm den Bauch auf, weil er sie verraten hatte ...
Diese drei sehr verschiedenen Beispiele zeigen, dass vieles von dem, was heute noch geheim ist, das Gesetz zu scheuen hat. Die italienische Demokratie gestattet extremsten Gruppen die öffentliche Betätigung, der MSI, der über lange Jahre im Parlament vertreten war, Mussolinis Werke, die in einer vielbändigen Prachtausgabe auch im Nachkriegsitalien lange Zeit problemlos erhältlich waren. In Frankreich konnte sogar eine Steuerverweigerungsbewegung offen agitieren und mit ihren Abgeordneten in beachtlicher Stärke in die Nationalversammlung einziehen, während ihre Vorfahren, die Steuerverweigerer aus den Cevennen, sich bei ihren zahlreichen Aufständen nur blutige Köpfe holten. Ein Geheimbund auf französischem Boden müsste ausgesprochen kriminelle Ziele haben, um das Geheimnis, die Geheimhaltung zu rechtfertigen. Anders in der Diktatur, wo man auch Ziele rein weltanschaulicher oder politischer Natur (ja sie vor allem) tarnen muss und dadurch mitunter in eine merkwürdige Gemeinschaft mit der geheimen Arbeit des modernen, organisierten Verbrechertums gerät. So wurden am Morgen des 16. Dezember 195 5 die Brüder José und Pedro Campillo-Campo in einem Hotel in Clermont-Ferrant verhaftet, weil sie ein halbes Jahr zuvor auf spanischem Boden einen räuberischen Überfall verübt hatten. Sie bekannten sich auch zu dieser Tat, konnten aber nachweisen, dass sie Mitglieder einer geheimen, gegen das Franco-Regime gerichteten Widerstandsarmee seien, der sie durch diese und andere Aktionen Geldmittel verschafft hatten. Und das war nicht erfunden: Die aus Spanien geflüchteten Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten hatten sich organisiert und zahlreiche Banküberfälle und andere Raubzüge unternommen, deren Erträge zum weitaus größten Teil in die gemeinsame Widerstandskasse flossen. Auch die Brüder Campillo-Campo hatten trotz eines geglückten Menschenraubes, der ihnen 1500 000 französische Francs (ca. 630 000 Euro) eingebracht hatte, bei ihrer Verhaftung nur 60 000 Francs (etwa 25 000 Euro) bei sich, den Rest hatten sie bereits abgeliefert. Sie hatten die französische Fremdenpolizei stets über ihren Aufenthaltsort informiert und fühlten sich keineswegs als Verbrecher, sondern als Mitglieder einer geheimen Organisation gegen ein unrechtmäßiges Regime ...
Dort, wo die Obrigkeit als ungesetzmäßig empfunden wird, weil sie ältere Rechte gebrochen hat, werden moderne geheime Organisationen bewusst oder unbewusst zu Hütern der Tradition. Durch sie lebt im Geheimen weiter, was im Licht des modernen Tages, des modernen wirtschaftlichen und politischen Lebens lächerlich oder doch absurd wirken würde.
In Jerusalem gibt es zweihundert oder dreihundert Familien, die sich den Neturei Karta zuzählen. Das aramäische Wort bedeutet »Wächter der Stadtmauer« und ist ein Ehrentitel für diese besonders strenggläubigen Israeliten, die gegen den Unverstand der modernen Welt zu einem Häuflein eng aneinandergebundener Familien geworden sind. Sie erkennen die Regierung des Staates Israel nicht an, weigern sich, irgendwelche Dokumente entgegenzunehmen oder gar zu unterzeichnen und schicken ihre Kinder nur in die Talmudschule. Das Hebräische sprechen sie nicht: Es ist die heilige, dem Gottesdienst und dem Religionsunterricht vorbehaltene Sprache. Die Knaben dürfen nichts lernen als Bibel und Talmud, die Mädchen dürfen vor ihrer Verheiratung das Elternhaus nicht verlassen.
Ein Leben dieser Art ist naturgemäß sozial und wirtschaftlich schon nicht mehr möglich; die Neturei Karta können es fristen, weil reiche Verwandte aus Amerika, Kanada und England ihnen das Wenige schicken, was sie zu ihrem Lebensunterhalt brauchen. Sie arbeiten nicht, denn sie sind fest davon überzeugt, dass das Reich des Messias kommen wird: Bis dahin dürfe man nichts anderes tun als in den Heiligen Schriften lesen und auch die nachfolgenden Generationen zur Vertiefung in sie anhalten.
Sie bewohnen das Viertel Mea Shearim (»zu den hundert Toren«), das darum von den Taxifahrern zumindest am Sabbat ängstlich gemieden wird: Denn Amram Blau, der Führer der Neturei Karta, lässt unbarmherzig jedes Fahrzeug steinigen, das am Sabbat durch die feiertäglichen Straßen rollt ...
Man hat oft angeregt, diese Menschen auszusiedeln, die dem Glauben, der den ganzen Staat trägt, mit so unbedingter Strenge anhängen, dass es den Staat gefährden würde - wenn sie zahlreicher wären. Aber bis heute leben die »Wächter der Stadtmauer« in der uralten Stadt und warten, sicher in ihrem geheimen Wissen, auf das Reich des Messias, von dem sie in ihren alten Schriften immer wieder lesen.
Es ist eine lehrreiche Konfrontation, eine Gegenüberstellung, die sich bald da, bald dort begibt und zu der es wohl in allen Ländern schon einmal gekommen ist. Die gegnerischen Lager können Neu und Alt heißen, sehr oft aber bedeutet Neu den Europäer oder doch den weißen Mann und Alt das eigene Volkstum, auf das man sich erst besinnt, wenn man in den Schulen der Weißen und auf ihren Universitäten Besinnung gelernt hat. Es sind Entdeckungen und Überraschungen, die diese gewaltigen Übergänge mit sich bringen; so wie der Übergang vom Absolutismus zu den aufgeklärten Monarchien (noch) nicht etwa durch Massenparteien erfolgte, sondern unter der Einwirkung kleiner, geheimer Zirkel und geheimer Gesellschaften, so enthüllt das Ende des Kolonialismus in unserem Jahrhundert die Existenz unzähliger kleinerer und größerer Geheimorganisationen, geheimer Gesellschaften und geheimer Bünde bald politischen Charakters, bald religiöser, sektenähnlicher Prägung.
Als das englische Palästina-Mandat ablief, machten nicht neue Parteien das Land einander streitig, sondern militante Geheimorganisationen mit allen Charakteristika geheimer Bünde: mit Decknamen, eigenem Ritual, Terror gegen Verräter, undurchsichtiger Taktik. Und als der siebenjährige Krieg zwischen der französischen Kolonialarmee und den Truppen des Viet-Minh in Indochina zu Ende ging und das heiß umkämpfte Land geteilt wurde, waren die beiden Teile nun nicht etwa befriedet: Im ehemals französischen Saigon brachen heftige Kämpfe gewaltiger »Sekten« aus, die in Wahrheit aber geheime Bünde und nun plötzlich in der Lage waren, Zehntausende von Bewaffneten aufzustellen.
Der Geheimbund ist die uralte und überall dort auch heute noch die einzig mögliche Organisationsform, wo die Verkehrsmittel, die Beschaffenheit des Landes, die Unbildung der Bevölkerung den Einsatz moderner Mittel der Massenpropaganda erschweren. In Indochina organisierten sich die großen Bünde, die dem Ministerpräsidenten Diem so zu schaffen machten und eines Tages das Hotel Majestic plünderten, ganz genau so, wie ein halbes Jahrhundert vorher die Banden, die den chinesischen Boxeraufstand anzettelten und ganz ähnlich wie die Sikh-Verschwörungen und die WahabiErhebungen in Indien. Der im Frühjahr 1956 hingerichtete General Wakut hatte dem Hoa-Hoa-Bund ein Jahr lang internationale Berühmtheit verschafft, wenngleich niemand recht wusste, worum es dem Bund, den viele eine Sekte nennen, eigentlich ging. Er nötigte den Staatspräsidenten zu großen militärischen Anstrengungen, brachte zeitweise bis zu 30 000 Bewaffnete auf die Beine und ließ sich erst nach harten Kämpfen in die Berge nördlich und nordöstlich von Saigon zurückdrängen.
Die lang anhaltenden Kriege erst zwischen den Franzosen und der nordvietnamesischen Befreiungsfront, dann zwischen den Amerikanern und ihren national-kommunistischen Gegnern haben die Welt jahrzehntelang in Atem gehalten, gefährliche Konfrontationen zwischen den Großmächten zur Folge gehabt und der Neuen wie der Alten Welt vor Augen geführt, dass uns zwar der Kolonialismus ein höchst brisantes Erbe hinterlassen hat, dass aber die Verhältnisse, die auf ihn folgten, keineswegs menschlicher genannt werden können. Nicht immer ist eine an sich fortschrittliche Verfassung auch ein Garant für das persönliche Wohlergehen des Einzelnen, und nicht wenige junge Staaten gediehen auf Kosten der Freiheit und der individuellen Situation der Staatsbürger.
Für eine Stadt wie Saigon jedenfalls steht 2012 fest, dass sie ihre beste Zeit in den Jahren eines französischen Indochina hatte, unter dem Schutz einer Verwaltung, die zwar zweifellos den Europäern und ihren Geschäften Vorzugsrechte einräumte, aber auch Vietnamesen besser leben ließ, als diese heute leben. Das Gleiche gilt auch für Laos, das vor dem Ausbruch des ersten Indochinakrieges eine beinahe idyllische Existenz führte. Dass wir jene Verhältnisse heute im Rückblick aus den großen Romanen ortskundiger Autoren wie Graham Greene oder Marguerite, Princesse de Duras kennenlernen müssen, weil die Geschichtsschreibung das Versagen, ja den schließlichen Bankrott einer blutigen Freiheitsbewegung nicht wahrhaben will, macht die Entwicklung nicht weniger lehrreich: So wie in der Französischen Revolution binnen eines einzigen Monats mehr Menschen hingerichtet wurden als in tausend Jahren der angeblich so tyrannischen Königsherrschaft, so sind Scheusale wie Pol Pott und Millionenmassaker, wie sie Hinterindien nach den französischen und amerikanischen Niederlagen erlebten, der Beweis dafür, dass selbst die raffiniertesten Geheimorganisationen nicht sagen können, wo jener Unfrieden hinführen wird, den sie selbstsicher und von hohen Idealen beseelt in die Welt bringen.
Vor rund fünfzig Jahren endete ein anderer Kolonialkrieg, der durch den Zusammenschluss meist marxistischer Untergrundbewegungen gegen die portugiesischen Kolonialherren begann, der Krieg in Angola, einem am Nordrand Südafrikas gelegenen Staat von 1,3 Millionen Quadratkilometern, in dem trotz jahrzehntelangen Kämpfen Ende 2009 wieder rund 18,5 Millionen Menschen lebten. Das Ende des Kalten Krieges hat die zaudernden Bemühungen ermutigt, die dieses große Land aus einem Tummelplatz fremder Interessen und Truppen zu einer friedlichen und menschenwürdigen Existenz zurückführen wollen.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Georg Schreiber , Hermann Schreiber
- 320 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828945333
- ISBN-13: 9783828945333
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