Gerechtigkeit
Wie wir das Richtige tun
Darf ein Staat Söldner verpflichten, um Kriege zu führen? Ist es moralisch vertretbar, Leute dafür zu bezahlen, dass sie Organe spenden? Dürfen Unternehmen gegen Geld das Recht erwerben, die Luft zu verpesten? Fast alles scheint heute käuflich zu sein....
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Produktinformationen zu „Gerechtigkeit “
Klappentext zu „Gerechtigkeit “
Darf ein Staat Söldner verpflichten, um Kriege zu führen? Ist es moralisch vertretbar, Leute dafür zu bezahlen, dass sie Organe spenden? Dürfen Unternehmen gegen Geld das Recht erwerben, die Luft zu verpesten? Fast alles scheint heute käuflich zu sein. Wollten wir das so? Und was können wir dagegen tun? Mit Verve und anhand prägnanter Beispiele widmet sich Michael J. Sandel dieser wichtigen ethischen Frage.Ist es in Ordnung, wenn Dachdecker nach einem Sturm den Preis für Reparaturen drastisch erhöhen? Warum gilt es als unmoralisch, Leihmütter für das Austragen eines Kindes zu bezahlen? Darf ein Soldat einen Schäfer erschießen, der seinen Spähtrupp an die Taliban verraten könnte, und damit das Leben vieler Kameraden retten? Anhand solcher Beispiele aus dem realen Leben, aber auch aus Literatur und Weltgeschichte diskutiert Michael J. Sandel die für jede Gesellschaft entscheidende Frage: Gibt es ein allgemeines Kriterium für gerechtes Handeln? Er prüft die Tauglichkeit moralischer Normen und stellt bedeutende Philosophen wie Aristoteles, Kant und Rawls einander gegenüber. Zudem erläutert er sein eigenes Konzept, in dem das Gemeinwohl und der konkrete Nutzen für den Menschen im Zentrum allen Tuns stehen.
Lese-Probe zu „Gerechtigkeit “
Gerechtigkeit von Michael J. SandelDrei mögliche Annäherungen an die Gerechtigkeit
Fragt man, ob eine Gesellschaft gerecht ist, so läuft dies darauf hinaus, wie sie all das verteilt, was wir schätzen - Einkommen und Wohlstand, Pflichten und Rechte, Befugnisse und Chancen, Ämter und Ehren. Eine gerechte Gesellschaft verteilt diese Güter auf angemessene Weise; sie gibt jeder oder jedem, was ihr oder ihm zusteht. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn wir fragen, was denn nun wem zusteht - und warum.
Wir haben schon damit begonnen, uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Als wir darüber nachgedacht haben, was an Preiswucher, der Vergabe des Purple Heart oder der Bankenrettung richtig oder falsch sein könnte, haben wir drei Ideale kennengelernt, die jeweils einen eigenen Zugang zum Phänomen der Gerechtigkeit bieten: das allgemeine Wohl, die Freiheit und die Tugend.
Manche unserer Debatten reflektieren die Uneinigkeit darüber, was es bedeutet, das allgemeine Wohl zu mehren, die Freiheit zu achten oder Tugenden zu pflegen. In anderen wiederum besteht Uneinigkeit darüber, was zu tun ist, wenn diese Ideale miteinander in Konflikt geraten. Die politische Philosophie kann diese Unstimmigkeiten nicht ein für alle Mal auflösen. Doch sie kann unseren Debatten Form geben und die Alternativen verständlich machen, vor denen wir als demokratische Bürger stehen.
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In diesem Buch erkunden wir die Stärken und Schwächen aller drei Ansatzpunkte. Beginnen wollen wir mit der Vorstellung von der Mehrung des allgemeinen Wohls oder, damit verbunden, des Wohlstands. Für Marktgesellschaften wie die unsere bietet sie einen natürlichen Ausgangspunkt. Ein großer Teil der zeitgenössischen politischen Debatten dreht sich um die Fragen, wie man den Wohlstand mehren, den Lebensstandard verbessern oder das Wirtschaftswachstum beschleunigen könne.
Warum kümmern wir uns um dergleichen? Die offensichtlichste Antwort lautet, dass wir glauben, unser materieller Wohlstand würde unser Leben entscheidend verbessern - ob auf der individuellen oder der gesellschaftlichen Ebene. Anders gesagt, Wohlstand spielt eine wichtige Rolle, weil er zum Gemeinwohl beiträgt.
Um diese Vorstellung eingehender zu untersuchen, wenden wir uns dem Utilitarismus zu - er ist die einflussreichste Erklärung, wie und warum wir das Gemeinwohl mehren oder (in den Worten der Utilitaristen) das größte Glück der größten Zahl von Menschen anstreben sollten.
Anschließend greifen wir ein Spektrum von Theorien auf, die Gerechtigkeit mit Freiheit verknüpfen. Die meisten dieser Theorien betonen die Rechte des Einzelnen, auch wenn sie untereinander uneins sind, welche Rechte am wichtigsten sind. In der heutigen Politik ist die Meinung, Gerechtigkeit bedeute die Achtung der Freiheit und der Persönlichkeitsrechte, zumindest ebenso verbreitet wie die utilitaristische Idee von der Mehrung des Gemeinwohls. So legen etwa die Zusatzartikel der Verfassung der USA bestimmte Freiheiten fest - einschließlich des Rechts der freien Rede und der Religionsfreiheit -, die selbst von Mehrheiten nicht verletzt werden dürfen. Und in der ganzen Welt wird die Ansicht, Gerechtigkeit bedeute, bestimmte universelle Menschenrechte zu achten, zunehmend akzeptiert (jedenfalls theoretisch - wenn auch nicht immer in der Praxis).
Die Ansätze, die von der Idee der Freiheit ausgehen, können dabei sehr verschieden sein. Tatsächlich finden einige der am härtesten geführten Debatten unserer Zeit zwischen zwei rivalisierenden Lagern statt, die beide die Freiheit in den Vordergrund stellen - die einen haben sich den Laissezfaire- Gedanken auf die Fahnen geschrieben, die anderen die Fairness.
Anführer des Laissez-faire-Lagers sind die Marktliberalen, die glauben, der Kern der Gerechtigkeit bestehe darin, die von erwachsenen Menschen in gegenseitigem Einvernehmen getroffenen Entscheidungen zu respektieren. Im anderen Lager finden sich die Theoretiker mit einer eher egalitären Neigung. Sie betonen, dass unkontrollierte Märkte weder gerecht noch frei seien. Ihrer Ansicht nach erfordert Gerechtigkeit eine Politik, die soziale und ökonomische Benachteiligungen ausgleicht und jedem eine faire Erfolgschance bietet.
Schließlich wenden wir uns Theorien zu, für die Gerechtigkeit mit der Tugend und dem guten Leben verknüpft ist. In der heutigen Politik werden Tugendtheorien oft mit Kulturkonservativen und der religiösen Rechten assoziiert. Für viele Bürger freiheitlicher Gesellschaften ist die Vorstellung, Fragen der Moral gesetzlich regeln zu wollen, ein Gräuel, weil damit die Gefahr verbunden ist, in Intoleranz und Zwang zurückzufallen. Doch der Gedanke, dass eine gerechte Gesellschaft gewisse Tugenden und Vorstellungen vom guten Leben bestärkt, hat politische Bewegungen und Diskussionen quer durch das ideologische Spektrum inspiriert. Nicht nur die Taliban, sondern auch die Abolitionisten und Martin Luther King haben ihre Visionen von der Gerechtigkeit aus moralischen und religiösen Idealen bezogen.
Bevor wir versuchen, all diese Theorien zur Gerechtigkeit zu bewerten, lohnt sich ein Blick auf die schwierige Frage, wie philosophische Argumentationen entwickelt werden - besonders auf so umstrittenen Gebieten wie Moralphilosophie und politischer Philosophie. Am Anfang steht häufig eine konkrete Situation. Wie wir in unserer Erörterung von Preiswucher, Verwundetenabzeichen und Bankenrettung gesehen haben, ist eine öffentlich geführte Debatte ein guter Ausgangspunkt für moralische und politische Überlegungen. Oft herrscht diese Uneinigkeit zwischen verschiedenen Fraktionen im öffentlichen Raum, manchmal aber auch nur in uns selber - etwa wenn wir uns angesichts einer schwierigen moralischen Frage nicht für eine Seite entscheiden können.
Wie aber können wir von den Urteilen, die wir anhand konkreter Situationen fällen, argumentativ zu den Grundsätzen der Gerechtigkeit vorstoßen, die unserer Ansicht nach universell anwendbar sein sollten? Kurz, wie funktioniert unsere moralische Vernunft?
Dafür wollen wir uns im Folgenden zuerst zwei Geschichten zuwenden: einer phantasievollen hypothetischen Geschichte, die unter Philosophen häufig erörtert wird, und einer aktuellen Geschichte über ein quälendes moralisches Dilemma.
Sehen wir uns zunächst die hypothetische Philosophengeschichte an.36 Wie alle Erzählungen dieser Art ist sie vieler realistischer Komplikationen entkleidet worden, damit wir uns auf eine begrenzte Zahl philosophischer Fragen konzentrieren können.
Die Rangierlok ohne Bremsen
Stellen Sie sich vor, Sie sind der Fahrer einer Lokomotive, die mit 90 Stundenkilometern über die Schienen rattert. In einiger Entfernung stehen fünf Arbeiter auf dem Gleis, die Werkzeuge in der Hand. Sie versuchen, die Lok anzuhalten, doch das geht nicht. Die Bremsen greifen nicht. Sie sind verzweifelt, weil Ihnen klar ist, dass die Arbeiter alle sterben werden, wenn Sie sie überfahren (gehen wir davon aus, dass das gewiss geschehen wird).
Plötzlich entdecken Sie ein nach rechts abzweigendes Nebengleis. Auch auf diesem Gleis befindet sich ein Arbeiter - aber eben nur einer. Sie merken, dass Sie die Lok auf dieses Nebengleis dirigieren können, was den einen Arbeiter das Leben kosten, die anderen aber retten würde.
Was werden Sie tun? Die meisten Menschen würden sagen: »Abbiegen! Auch wenn es eine Tragödie ist, einen Unschuldigen zu töten, ist es doch noch schlimmer, gleich fünf umzubringen.« Es erscheint ihnen richtig, ein Leben zu opfern, um fünf Leben zu retten.
Nehmen wir nun eine andere Version der Lokgeschichte. Diesmal sind Sie nicht der Fahrer, sondern ein Zuschauer, der auf einer über die Gleise führenden Brücke steht (und es ist kein Nebengleis vorhanden). Auf den Schienen nähert sich eine Rangierlok, in einiger Entfernung stehen fünf Arbeiter auf dem Gleis. Auch jetzt versagen die Bremsen. Gleich wird die Lokomotive die Arbeiter erfassen. Hilflos erkennen Sie, dass Sie die Katastrophe nicht verhindern können. Doch dann sehen Sie einen ungeheuer dicken Mann neben sich auf der Brücke stehen. Sie könnten ihn so auf die Gleise stoßen, dass er den Weg der Lok blockiert. Er würde sterben, doch die fünf Arbeiter wären gerettet. (Sie denken kurz daran, selbst auf die Schienen zu springen, merken aber, dass Sie zu leicht sind und die Lok nicht stoppen können.)
Wäre es richtig, den dicken Mann auf die Schienen zu stoßen? Die meisten Menschen würden sagen: »Natürlich nicht. Es wäre fürchterlich falsch, den Mann aufs Gleis zu stoßen.«
Es scheint eine schreckliche Tat zu sein, jemanden von einer Brücke in den sicheren Tod zu stürzen, selbst wenn damit fünf unschuldige Leben gerettet werden. Das allerdings führt zu einem moralischen Rätsel: Warum scheint das Prinzip - ein Leben zu opfern, um fünf zu retten - im ersten Fall richtig zu sein, im zweiten dagegen falsch?
Wenn es, wie unsere Reaktion auf den ersten Fall nahelegt, auf die Zahl ankommt - wenn es also besser ist, fünf Leben zu retten als eines: Warum sollten wir diesen Grundsatz nicht auch im zweiten Fall anwenden und den Mann hinabstürzen? Sicher, es wäre grausam, einen Mann zu Tode zu bringen, selbst wenn es um einer guten Sache willen geschieht. Aber ist es weniger grausam, einen Menschen durch den Zusammenstoß mit einer Rangierlok zu töten?
Vielleicht ist es deswegen falsch, den Mann von der Brücke zu stürzen, weil er gegen seinen Willen für einen fremden Zweck benutzt wird. Er stand dort einfach nur herum.
Doch dasselbe ließe sich auch für den Mann auf dem Nebengleis sagen. Auch er machte schließlich nur seine Arbeit und hat nicht freiwillig beschlossen, sein Leben wegen einer Lok mit versagenden Bremsen zu opfern. Man könnte zwar vorbringen, dass Bahnarbeiter immer ein gewisses Risiko eingehen, was für unbeteiligte Brückensteher nicht gilt. Doch wir wollen davon ausgehen, dass es nicht zur Stellenbeschreibung gehört, in einem Notfall sein Leben zu opfern, um andere zu retten, und dass der Arbeiter ebenso wenig damit einverstanden ist, sein Leben hinzugeben, wie der unbeteiligte Zuschauer auf der Brücke.
Vielleicht liegt der moralische Unterschied nicht in der Wirkung - am Ende sind beide tot -, sondern in der Absicht des Menschen, der die Entscheidung trifft. Als Fahrer der Lok könnten Sie Ihre Entscheidung, das Fahrzeug auf das Nebengleis zu steuern, vielleicht damit begründen, dass Sie den Tod des Arbeiters nicht beabsichtigt hatten, auch wenn er vorhersehbar war. Ihr Ziel hätten Sie auch erreicht, wenn durch einen sehr glücklichen Zufall nicht nur die fünf Arbeiter verschont blieben, sondern auch der sechste.
Doch genau das gilt auch im Fall des Brückensturzes. Der Tod des Mannes, den ich von der Brücke stoße, ist nicht beabsichtigt. Er soll lediglich die Lok aufhalten; wenn er dabei irgendwie am Leben bleibt, wären Sie höchst erfreut.
Doch vielleicht sollten die beiden Fälle nach demselben Prinzip behandelt werden. Beide schließen eine willentliche Entscheidung ein, einem unschuldigen Menschen das Leben zu nehmen, um noch größere Verluste an Menschenleben zu verhindern. Vielleicht ist Ihr Widerstreben, den Mann von der Brücke zu stürzen, nur zimperlich - eine bloße Überempfindlichkeit, die Sie überwinden sollten. Einen Mann mit bloßen Händen zu Tode zu bringen scheint grausamer zu sein, als nur eine Weiche per Fernsteuerung umzulegen. Doch es ist nicht immer einfach, das Richtige zu tun.
Diese Idee können wir überprüfen, wenn wir die Geschichte leicht abändern. Nehmen wir an, Sie könnten den dicken Mann auf die Schienen fallen lassen, ohne ihn zu stoßen; stellen wir uns vor, er steht auf einer Falltür, die Sie mit einem Hebel auslösen könnten. Kein Stoßen, gleiches Ergebnis. Wäre das besser? Oder ist es immer noch moralisch fragwürdiger, als wenn Sie als Lokführer auf das Nebengleis ausweichen würden?
Es ist nicht einfach, die moralischen Unterschiede zwischen diesen Fällen zu erklären - warum es uns richtig vorkommt, die Lok umzulenken, während es falsch erscheint, den Mann von der Brücke zu stürzen. Trotzdem lastet ein starker Druck auf uns, eine überzeugende Unterscheidung zu finden - und wenn uns das nicht gelingt, unser Urteil darüber, was in jedem Fall das Richtige wäre, noch einmal zu überdenken. Das Nachdenken über moralische Fragen dient eben nicht nur dazu, andere zu überzeugen, sondern es ist auch eine Möglichkeit, die eigenen moralischen Überzeugungen auf die Reihe zu bekommen und herauszufinden, was wir glauben und warum.
Einige moralische Zwickmühlen ergeben sich aus widerstreitenden moralischen Grundsätzen. Ein Grundsatz besagt beispielsweise, wir sollten möglichst viele Leben retten, ein anderer jedoch, es sei falsch, einen Unschuldigen zu töten, selbst um einer guten Sache willen. Angesichts einer Situation, in der die Rettung einiger Leben davon abhängt, einen Unschuldigen zu töten, stehen wir vor einem moralischen Dilemma, das uns zwingt, darüber nachzudenken, welcher Grundsatz gewichtiger oder den gegebenen Umständen angemessener ist.
Andere moralische Zwickmühlen ergeben sich aus unserer Unfähigkeit, zukünftige Ereignisse mit Sicherheit voraussagen zu können. Hypothetische Beispiele wie die Lokgeschichte sparen die Ungewissheit aus, die über den Entscheidungen schwebt, denen wir im richtigen Leben begegnen. Solche Geschichten unterstellen, wir wüssten sicher, wie viele Leute sterben werden, wenn wir nicht auf das Nebengleis fahren bzw. niemanden hinabstoßen. Als Handlungsanleitungen taugen solche Storys nur bedingt. Aber genau deswegen sind sie nützliche Werkzeuge für eine moralische Analyse. Weil zufällig eintretende Umstände ausgeklammert sind - »Was wäre, wenn die Arbeiter die Lok sehen und beiseite springen?« -, helfen uns diese hypothetischen Beispiele, die auf dem Spiel stehenden moralischen Grundsätze herauszuarbeiten und zu untersuchen, wie stark sie sind.
Copyright © Ullstein Verlag.
In diesem Buch erkunden wir die Stärken und Schwächen aller drei Ansatzpunkte. Beginnen wollen wir mit der Vorstellung von der Mehrung des allgemeinen Wohls oder, damit verbunden, des Wohlstands. Für Marktgesellschaften wie die unsere bietet sie einen natürlichen Ausgangspunkt. Ein großer Teil der zeitgenössischen politischen Debatten dreht sich um die Fragen, wie man den Wohlstand mehren, den Lebensstandard verbessern oder das Wirtschaftswachstum beschleunigen könne.
Warum kümmern wir uns um dergleichen? Die offensichtlichste Antwort lautet, dass wir glauben, unser materieller Wohlstand würde unser Leben entscheidend verbessern - ob auf der individuellen oder der gesellschaftlichen Ebene. Anders gesagt, Wohlstand spielt eine wichtige Rolle, weil er zum Gemeinwohl beiträgt.
Um diese Vorstellung eingehender zu untersuchen, wenden wir uns dem Utilitarismus zu - er ist die einflussreichste Erklärung, wie und warum wir das Gemeinwohl mehren oder (in den Worten der Utilitaristen) das größte Glück der größten Zahl von Menschen anstreben sollten.
Anschließend greifen wir ein Spektrum von Theorien auf, die Gerechtigkeit mit Freiheit verknüpfen. Die meisten dieser Theorien betonen die Rechte des Einzelnen, auch wenn sie untereinander uneins sind, welche Rechte am wichtigsten sind. In der heutigen Politik ist die Meinung, Gerechtigkeit bedeute die Achtung der Freiheit und der Persönlichkeitsrechte, zumindest ebenso verbreitet wie die utilitaristische Idee von der Mehrung des Gemeinwohls. So legen etwa die Zusatzartikel der Verfassung der USA bestimmte Freiheiten fest - einschließlich des Rechts der freien Rede und der Religionsfreiheit -, die selbst von Mehrheiten nicht verletzt werden dürfen. Und in der ganzen Welt wird die Ansicht, Gerechtigkeit bedeute, bestimmte universelle Menschenrechte zu achten, zunehmend akzeptiert (jedenfalls theoretisch - wenn auch nicht immer in der Praxis).
Die Ansätze, die von der Idee der Freiheit ausgehen, können dabei sehr verschieden sein. Tatsächlich finden einige der am härtesten geführten Debatten unserer Zeit zwischen zwei rivalisierenden Lagern statt, die beide die Freiheit in den Vordergrund stellen - die einen haben sich den Laissezfaire- Gedanken auf die Fahnen geschrieben, die anderen die Fairness.
Anführer des Laissez-faire-Lagers sind die Marktliberalen, die glauben, der Kern der Gerechtigkeit bestehe darin, die von erwachsenen Menschen in gegenseitigem Einvernehmen getroffenen Entscheidungen zu respektieren. Im anderen Lager finden sich die Theoretiker mit einer eher egalitären Neigung. Sie betonen, dass unkontrollierte Märkte weder gerecht noch frei seien. Ihrer Ansicht nach erfordert Gerechtigkeit eine Politik, die soziale und ökonomische Benachteiligungen ausgleicht und jedem eine faire Erfolgschance bietet.
Schließlich wenden wir uns Theorien zu, für die Gerechtigkeit mit der Tugend und dem guten Leben verknüpft ist. In der heutigen Politik werden Tugendtheorien oft mit Kulturkonservativen und der religiösen Rechten assoziiert. Für viele Bürger freiheitlicher Gesellschaften ist die Vorstellung, Fragen der Moral gesetzlich regeln zu wollen, ein Gräuel, weil damit die Gefahr verbunden ist, in Intoleranz und Zwang zurückzufallen. Doch der Gedanke, dass eine gerechte Gesellschaft gewisse Tugenden und Vorstellungen vom guten Leben bestärkt, hat politische Bewegungen und Diskussionen quer durch das ideologische Spektrum inspiriert. Nicht nur die Taliban, sondern auch die Abolitionisten und Martin Luther King haben ihre Visionen von der Gerechtigkeit aus moralischen und religiösen Idealen bezogen.
Bevor wir versuchen, all diese Theorien zur Gerechtigkeit zu bewerten, lohnt sich ein Blick auf die schwierige Frage, wie philosophische Argumentationen entwickelt werden - besonders auf so umstrittenen Gebieten wie Moralphilosophie und politischer Philosophie. Am Anfang steht häufig eine konkrete Situation. Wie wir in unserer Erörterung von Preiswucher, Verwundetenabzeichen und Bankenrettung gesehen haben, ist eine öffentlich geführte Debatte ein guter Ausgangspunkt für moralische und politische Überlegungen. Oft herrscht diese Uneinigkeit zwischen verschiedenen Fraktionen im öffentlichen Raum, manchmal aber auch nur in uns selber - etwa wenn wir uns angesichts einer schwierigen moralischen Frage nicht für eine Seite entscheiden können.
Wie aber können wir von den Urteilen, die wir anhand konkreter Situationen fällen, argumentativ zu den Grundsätzen der Gerechtigkeit vorstoßen, die unserer Ansicht nach universell anwendbar sein sollten? Kurz, wie funktioniert unsere moralische Vernunft?
Dafür wollen wir uns im Folgenden zuerst zwei Geschichten zuwenden: einer phantasievollen hypothetischen Geschichte, die unter Philosophen häufig erörtert wird, und einer aktuellen Geschichte über ein quälendes moralisches Dilemma.
Sehen wir uns zunächst die hypothetische Philosophengeschichte an.36 Wie alle Erzählungen dieser Art ist sie vieler realistischer Komplikationen entkleidet worden, damit wir uns auf eine begrenzte Zahl philosophischer Fragen konzentrieren können.
Die Rangierlok ohne Bremsen
Stellen Sie sich vor, Sie sind der Fahrer einer Lokomotive, die mit 90 Stundenkilometern über die Schienen rattert. In einiger Entfernung stehen fünf Arbeiter auf dem Gleis, die Werkzeuge in der Hand. Sie versuchen, die Lok anzuhalten, doch das geht nicht. Die Bremsen greifen nicht. Sie sind verzweifelt, weil Ihnen klar ist, dass die Arbeiter alle sterben werden, wenn Sie sie überfahren (gehen wir davon aus, dass das gewiss geschehen wird).
Plötzlich entdecken Sie ein nach rechts abzweigendes Nebengleis. Auch auf diesem Gleis befindet sich ein Arbeiter - aber eben nur einer. Sie merken, dass Sie die Lok auf dieses Nebengleis dirigieren können, was den einen Arbeiter das Leben kosten, die anderen aber retten würde.
Was werden Sie tun? Die meisten Menschen würden sagen: »Abbiegen! Auch wenn es eine Tragödie ist, einen Unschuldigen zu töten, ist es doch noch schlimmer, gleich fünf umzubringen.« Es erscheint ihnen richtig, ein Leben zu opfern, um fünf Leben zu retten.
Nehmen wir nun eine andere Version der Lokgeschichte. Diesmal sind Sie nicht der Fahrer, sondern ein Zuschauer, der auf einer über die Gleise führenden Brücke steht (und es ist kein Nebengleis vorhanden). Auf den Schienen nähert sich eine Rangierlok, in einiger Entfernung stehen fünf Arbeiter auf dem Gleis. Auch jetzt versagen die Bremsen. Gleich wird die Lokomotive die Arbeiter erfassen. Hilflos erkennen Sie, dass Sie die Katastrophe nicht verhindern können. Doch dann sehen Sie einen ungeheuer dicken Mann neben sich auf der Brücke stehen. Sie könnten ihn so auf die Gleise stoßen, dass er den Weg der Lok blockiert. Er würde sterben, doch die fünf Arbeiter wären gerettet. (Sie denken kurz daran, selbst auf die Schienen zu springen, merken aber, dass Sie zu leicht sind und die Lok nicht stoppen können.)
Wäre es richtig, den dicken Mann auf die Schienen zu stoßen? Die meisten Menschen würden sagen: »Natürlich nicht. Es wäre fürchterlich falsch, den Mann aufs Gleis zu stoßen.«
Es scheint eine schreckliche Tat zu sein, jemanden von einer Brücke in den sicheren Tod zu stürzen, selbst wenn damit fünf unschuldige Leben gerettet werden. Das allerdings führt zu einem moralischen Rätsel: Warum scheint das Prinzip - ein Leben zu opfern, um fünf zu retten - im ersten Fall richtig zu sein, im zweiten dagegen falsch?
Wenn es, wie unsere Reaktion auf den ersten Fall nahelegt, auf die Zahl ankommt - wenn es also besser ist, fünf Leben zu retten als eines: Warum sollten wir diesen Grundsatz nicht auch im zweiten Fall anwenden und den Mann hinabstürzen? Sicher, es wäre grausam, einen Mann zu Tode zu bringen, selbst wenn es um einer guten Sache willen geschieht. Aber ist es weniger grausam, einen Menschen durch den Zusammenstoß mit einer Rangierlok zu töten?
Vielleicht ist es deswegen falsch, den Mann von der Brücke zu stürzen, weil er gegen seinen Willen für einen fremden Zweck benutzt wird. Er stand dort einfach nur herum.
Doch dasselbe ließe sich auch für den Mann auf dem Nebengleis sagen. Auch er machte schließlich nur seine Arbeit und hat nicht freiwillig beschlossen, sein Leben wegen einer Lok mit versagenden Bremsen zu opfern. Man könnte zwar vorbringen, dass Bahnarbeiter immer ein gewisses Risiko eingehen, was für unbeteiligte Brückensteher nicht gilt. Doch wir wollen davon ausgehen, dass es nicht zur Stellenbeschreibung gehört, in einem Notfall sein Leben zu opfern, um andere zu retten, und dass der Arbeiter ebenso wenig damit einverstanden ist, sein Leben hinzugeben, wie der unbeteiligte Zuschauer auf der Brücke.
Vielleicht liegt der moralische Unterschied nicht in der Wirkung - am Ende sind beide tot -, sondern in der Absicht des Menschen, der die Entscheidung trifft. Als Fahrer der Lok könnten Sie Ihre Entscheidung, das Fahrzeug auf das Nebengleis zu steuern, vielleicht damit begründen, dass Sie den Tod des Arbeiters nicht beabsichtigt hatten, auch wenn er vorhersehbar war. Ihr Ziel hätten Sie auch erreicht, wenn durch einen sehr glücklichen Zufall nicht nur die fünf Arbeiter verschont blieben, sondern auch der sechste.
Doch genau das gilt auch im Fall des Brückensturzes. Der Tod des Mannes, den ich von der Brücke stoße, ist nicht beabsichtigt. Er soll lediglich die Lok aufhalten; wenn er dabei irgendwie am Leben bleibt, wären Sie höchst erfreut.
Doch vielleicht sollten die beiden Fälle nach demselben Prinzip behandelt werden. Beide schließen eine willentliche Entscheidung ein, einem unschuldigen Menschen das Leben zu nehmen, um noch größere Verluste an Menschenleben zu verhindern. Vielleicht ist Ihr Widerstreben, den Mann von der Brücke zu stürzen, nur zimperlich - eine bloße Überempfindlichkeit, die Sie überwinden sollten. Einen Mann mit bloßen Händen zu Tode zu bringen scheint grausamer zu sein, als nur eine Weiche per Fernsteuerung umzulegen. Doch es ist nicht immer einfach, das Richtige zu tun.
Diese Idee können wir überprüfen, wenn wir die Geschichte leicht abändern. Nehmen wir an, Sie könnten den dicken Mann auf die Schienen fallen lassen, ohne ihn zu stoßen; stellen wir uns vor, er steht auf einer Falltür, die Sie mit einem Hebel auslösen könnten. Kein Stoßen, gleiches Ergebnis. Wäre das besser? Oder ist es immer noch moralisch fragwürdiger, als wenn Sie als Lokführer auf das Nebengleis ausweichen würden?
Es ist nicht einfach, die moralischen Unterschiede zwischen diesen Fällen zu erklären - warum es uns richtig vorkommt, die Lok umzulenken, während es falsch erscheint, den Mann von der Brücke zu stürzen. Trotzdem lastet ein starker Druck auf uns, eine überzeugende Unterscheidung zu finden - und wenn uns das nicht gelingt, unser Urteil darüber, was in jedem Fall das Richtige wäre, noch einmal zu überdenken. Das Nachdenken über moralische Fragen dient eben nicht nur dazu, andere zu überzeugen, sondern es ist auch eine Möglichkeit, die eigenen moralischen Überzeugungen auf die Reihe zu bekommen und herauszufinden, was wir glauben und warum.
Einige moralische Zwickmühlen ergeben sich aus widerstreitenden moralischen Grundsätzen. Ein Grundsatz besagt beispielsweise, wir sollten möglichst viele Leben retten, ein anderer jedoch, es sei falsch, einen Unschuldigen zu töten, selbst um einer guten Sache willen. Angesichts einer Situation, in der die Rettung einiger Leben davon abhängt, einen Unschuldigen zu töten, stehen wir vor einem moralischen Dilemma, das uns zwingt, darüber nachzudenken, welcher Grundsatz gewichtiger oder den gegebenen Umständen angemessener ist.
Andere moralische Zwickmühlen ergeben sich aus unserer Unfähigkeit, zukünftige Ereignisse mit Sicherheit voraussagen zu können. Hypothetische Beispiele wie die Lokgeschichte sparen die Ungewissheit aus, die über den Entscheidungen schwebt, denen wir im richtigen Leben begegnen. Solche Geschichten unterstellen, wir wüssten sicher, wie viele Leute sterben werden, wenn wir nicht auf das Nebengleis fahren bzw. niemanden hinabstoßen. Als Handlungsanleitungen taugen solche Storys nur bedingt. Aber genau deswegen sind sie nützliche Werkzeuge für eine moralische Analyse. Weil zufällig eintretende Umstände ausgeklammert sind - »Was wäre, wenn die Arbeiter die Lok sehen und beiseite springen?« -, helfen uns diese hypothetischen Beispiele, die auf dem Spiel stehenden moralischen Grundsätze herauszuarbeiten und zu untersuchen, wie stark sie sind.
Copyright © Ullstein Verlag.
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Autoren-Porträt von Michael J. Sandel
Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. Was man für Geld nicht kaufen kann ist ein internationaler Bestseller, ebenso wie sein Buch Gerechtigkeit.Helmut Reuter, geboren 1946 in Pappenheim/Bayern, studierte ab 1967 Lebensmittelchemie und ab 1970 Politwissenschaften/Sozialwissenschaften. Von 1977 bis 1989 war er Chef des französischen Restaurants "Alter Ego" in München. Seit 1995 übersetzt er Nonfiction vieler Wissensgebiete (aus dem Englischen und Französischen), u.a. für Piper, Ullstein, Knaus, Beust, Malik, S. Fischer und Riva. Er lebt auf dem Land in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael J. Sandel
- 2013, 7. Aufl., 416 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Reuter, Helmut
- Übersetzer: Helmut Reuter
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548375375
- ISBN-13: 9783548375373
- Erscheinungsdatum: 09.10.2013
Rezension zu „Gerechtigkeit “
"Pflichtlektüre nicht nur für Politiker." (Neue Presse Hannover, 29.06.2013)
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