Gesang der Insekten
Roman. Dtsch. v. Pociao
Dieses Werk seziert die Abgründe hinter der Fassade einer Ehe. Geplant war nur eine kleine, harmlose Urlaubsreise nach Südamerika. Doch Dr. Slade und seine junge, erlebnishungrige Frau Day werden nun alles andere erleben als Erholung und Exotik. Day lernt...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
7.95 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Gesang der Insekten “
Dieses Werk seziert die Abgründe hinter der Fassade einer Ehe. Geplant war nur eine kleine, harmlose Urlaubsreise nach Südamerika. Doch Dr. Slade und seine junge, erlebnishungrige Frau Day werden nun alles andere erleben als Erholung und Exotik. Day lernt einen jungen, zwielichtigen Mann kennen, eine seltsame Kanadierin kommt auf mysteriöse Weise zu Tode. Und eine Einladung zum Dinner entpuppt sich als ein tödlicher Alptraum. »Einer der beklemmendsten Psychothriller der modernen amerikanischen Literatur...« (Münsterländische Tageszeitung)
Klappentext zu „Gesang der Insekten “
Geplant war eine harmlose Urlaubsfahrt nach Südamerika. Doch den gesetzten, älteren Arzt Dr. Taylor Slade und seine junge erlebnishungrige Frau Day erwartet alles andere als ein wenig Erholung und bunte Exotik. Denn da ist Mrs. Rainmantle, eine seltsame Kanadierin, die sich in das wohlgeordnete Leben der beiden drängt und die kurz darauf eines gewaltsamen Todes stirbt. Und da ist ein ebenso charmanter wie undurchsichtiger junger Mann, der auf Day eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübt und der das Ehepaar zu sich nach Hause einlädt. Während in dieser Nacht das romantische Zirpen der Insekten zum ohrenbetäubenden Crescendo anschwillt und ihnen die schwüle Hitze zusehends die Luft zum Atmen raubt, müssen Taylor und seine Frau erkennen, dass sie in einen tödlichen Alptraum geraten sind, aus dem es für sie kein Entkommen mehr gibt.
Lese-Probe zu „Gesang der Insekten “
1Das Schiff war da; sie hatten sein dumpfes Tuten gehört, als es irgendwann in dunkler Nacht im Hafen eingelaufen war. Blieb nur die Frage, wie sie mit dem vielen Gepäck an Bord kommen sollten. Gestern abend, als sie von einem nächtlichen Spaziergang durch den verlassenen Ort zurückgekehrt waren, hatte der Besitzer sie beschwichtigt: Um halb sechs würde der Nachtportier sie wecken, und um sechs würde man ihnen im Speisesaal das Frühstück servieren. Jetzt war es zwanzig vor sieben. In der Mitte des Raumes kniete eine schwarze Frau und schrubbte den makellosen Holzboden. Ansonsten war niemand zu sehen, wenngleich schwache Geräusche aus der Küche drangen. Irgend jemand mußte dort den Kaffee kochen, der sie schließlich davon überzeugen würde, daß sie noch lebten. Der Tisch war seit dem gestrigen Abendessen nicht abgeräumt worden; auf jedem Platz stand ein halb gegessener Pudding.
"Ich bringe mich um, wenn wir es verpassen", erklärte sie.
"O Gott", stöhnte er und dann, wie um sich zu korrigieren: "Wir werden es schon nicht verpassen."
Draußen vor dem Fenster fielen die Tautropfen von einem Bananenblatt zum nächsten. Die Uhr über der Anrichte tickte schnell und laut. Eine Zeitbombe, dachte Dr. Slade, während sein Blick über das dunstige Grün des Hotelgartens schweifte.
"Reg dich nicht auf", sagte er und gähnte. "Wir haben noch jede Menge Zeit." Es gab einen Unterschied zwischen dem gewöhnlichen, müden Gähnen und diesem angespannt zittrigen, das jetzt krampfhaft vom Grund seines Magens aufstieg. Er zählte bis zehn und sprang dann auf.
"Wo zum Teufel bleibt der Kaffee?" schrie er plötzlich wutentbrannt und drehte sich auf der Suche nach der Tür zur Küche um die eigenen Achse. Eine massige, rotgesichtige Frau betrat den Speisesaal; als er näher kam, bemerkte er ihre erhitzten Wangen und fragte sich flüchtig, ob sie die Frau des Besitzers sei. Sein "Buenos días" bestand aus nicht viel mehr als einem Murmeln, aber sie begrüßte ihn bereits in Englisch
... mehr
und mit einem breiten Lächeln. Er eilte an ihr vorbei in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, und fand sich plötzlich in der Küche wieder, einer finsteren Höhle. Ein schläfriger Neger fachte das qualmende Holzfeuer im Herd an. "Café! Café!" rief Dr. Slade.
Der Mann machte eine Bewegung zum Garten hin, und Dr. Slade trat durch die Tür auf den knirschenden Sand. Unter den jungen Papayabäumen blühten Weihnachtssterne; die Blüten wirkten wie rotes Seidenpapier. Fluchend kehrte er durch einen Nebeneingang in den Speisesaal zurück und sah, wie aus den beiden Kaffeetassen auf ihrem Tisch Dampf aufstieg. Mrs. Slade war verschwunden.
Die Aussicht, den Kaffee zu trinken, solange er noch heiß war, selbst mit dem üblichen Zusatz von Kondensmilch, war zu verlockend. Er nahm Platz. "Hoffentlich war es erfolgreich", würde er sagen, wenn sie zurückkam. Oder: "Eine gute Verdauung ist auch wichtig." Auf der Straße, gleich unter dem Fenster, bellte wütend ein Hund. Aufgeregte Stimmen schrien durcheinander. "Wenn man in Zeitdruck ist, gibt es eine Kunst, mit der man jede Sekunde ausnutzen kann. Man muß nur alles, was man zu erledigen hat, präzise organisieren." Ein Mädchen erschien und stellte einen Teller mit Brot vor ihn hin.
"Hay mantequilla?" fragte er. Sie starrte ihn an, zuckte die Achseln und antwortete, sie werde nachschauen. Er rief ihr nach, eine zweite Tasse Kaffee zu bringen, und warf einen Blick auf die Uhr: zwölf vor sieben.
Jetzt erkannte er im Hintergrund das Klappern von Absätzen, die aus der Halle eilig auf ihn zukamen. Mrs. Slade stand am Tisch, noch ehe er die Tasse absetzen und sich umdrehen konnte. Als sie sich hinsetzte, lag ein Ausdruck belustigter Zerstreutheit auf ihrem Gesicht.
"Schrecklich komisch", bemerkte sie, mehr zu sich selbst als an ihn gewandt, und nippte an ihrem Kaffee, während er auf eine Erklärung wartete. Das Mädchen kam ohne Butter wieder, brachte jedoch zwei Teller Eier mit Schinken. Ehe er zu essen begann, fragte er: "Was?"
Doch Mrs. Slade schien ihn nicht gehört zu haben und stürzte sich genüßlich auf ihr Frühstück.
2
Das Dock war am Ende der Straße; von dort konnten sie das Schiff sehen, das riesig und unbeweglich im Zentrum der kreisrunden Bucht lag. Ein Motorboot mit grünem Sonnendach schoß über das helle Wasser zwischen Dock und Schiff hin und her, während sie da standen und auf Einlaß in die Zollbaracke warteten.
"Es wird doch noch ein schöner Tag", verkündete Dr. Slade zufrieden. "Der Nebel war nur Kulisse." Er stellte den Koffer so hin, daß er an seinem Bein lehnte.
"Es sähe ihnen ähnlich, einfach den Anker zu lichten und loszufahren, während wir hier stehen und warten", sagte Mrs. Slade grimmig.
Dr. Slade lachte. Wäre dieser Fall tatsächlich eingetreten, hätte er sich mit Sicherheit mehr geärgert als sie, aber nach seiner Erfahrung gehorchte die Welt rationalen Gesetzen. "Ich kann nur hoffen, daß sie wissen, wie man eiskalte Daiquiris serviert", sagte er. Eine solche Bemerkung würde sie vielleicht vorübergehend besänftigen.
Das kleine Motorboot legte am Dock an, und die massige Frau mit den rosigen Wangen kletterte heraus. Auf ihrer hohen Stirn glitzerten Schweißperlen. In der Hand hielt sie einige Papiere, mit denen sie zwei uniformierten Beamten vor der Nase herumfuchtelte. Sie deuteten auf die Zollbaracke.
"Schau dir die Verrückte an", sagte Dr. Slade fasziniert. "Ist sie nicht grandios? Sie war schon bis zum Schiff und wieder zurück."
"Sie hat ihren Kreditbrief vergessen", sagte Mrs. Slade.
Dr. Slade warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Woher weißt du das?"
"Sie hat es mir erzählt. Sie ist Passagier auf dem Schiff, aber man will dort ihren Kreditbrief nicht honorieren. Jetzt glaubt sie, wenn sie eine Bank findet, kann sie vielleicht etwas Geld abheben. Es ist eine lange Geschichte. Ich habe ihr zehn Dollar geliehen."
"Du hast ihr Geld geliehen?" rief Dr. Slade entsetzt. Als er seine eigene Stimme hörte, versuchte er, deren Tonfall zu ändern, und setzte mit unverkennbar geheuchelter Sanftmut hinzu: "Wozu?"
"Sie wird es zurückzahlen, Schatz", sagte Mrs. Slade. Ihre Stimme klang, als hätte sie ein kleines Kind vor sich.
Keuchend kam die Frau auf sie zu. Dr. Slade blieb gerade noch Zeit zu flüstern: "Darum geht es nicht!"
"Lassen Sie das Schiff ja nicht ohne mich abfahren!" rief die Frau und schwenkte munter eine schwarze Lederhandtasche in ihre Richtung.
Mrs. Slade lächelte ihr zu. "Oh, ich glaube, Sie haben noch Zeit."
"Hoffentlich", sagte Dr. Slade mit gedämpfter Stimme. Es klang mehr wie: "Hoffentlich nicht."
"Sagen Sie ihnen, sie müssen unbedingt auf mich warten", rief die Frau über die Schalter.
"Lächerlich!" bemerkte Dr. Slade.
"Ich finde sie eher rührend", murmelte Mrs. Slade nachdenklich, während sie der davonhastenden Gestalt nachschaute.
Dr. Slade gab keine Antwort. Er starrte hinaus auf das stille Hafenbecken und hatte plötzlich das Gefühl, daß zwei Menschen, die sich sehr nahestehen, einander sehr fremd sein können. Sein Blick folgte der verschwommenen Linie der bewaldeten Hügel über dem von Land umschlossenen Hafen, und noch während er seinen Gedanken nachhing, nahm das Wort "rührend" eine ungewohnte, verstörende Dimension an.
3
Die Fahrt entlang der Küste von La Resaca nach Puerto Farol dauerte nur anderthalb Tage, aber trotzdem hatte es Mrs. Slade, die sich nicht erinnern konnte, was sie in welchem Koffer verstaut hatte, für nötig befunden, alles auszupacken. Da ihm klar war, daß er diese Aktion ohnehin nicht verhindern konnte, hatte Dr. Slade sich in die Bibliothek zurückgezogen, um das Ganze nicht auch noch mit ansehen zu müssen. Am späten Nachmittag machte er sich auf die Suche nach ihr und fand sie, die Haut glänzend von Sonnenöl, auf einer Luftmatratze am Pool. Stolz kniete er sich neben sie, des Interesses der übrigen Sonnenanbeter gewahr.
"Wie steht das Stimmungsbarometer für Teil zwei?"
"Wie?" Sie blinzelte zu ihm auf.
"Teil zwei der Sladeschen Jubiläumsexpedition, meine Liebe."
"Oh!" sie streckte sich wohlig und wartete einen Augenblick, bevor sie sagte: "Ehe ich es vergesse: Wir sind um sechs Uhr mit Mrs. Rainmantle verabredet, unten in der Bar."
Er war verwirrt. "Wozu?" Aber sie sah ihn nur an.
"Du brauchst nicht mitzukommen", meinte sie.
Er stand auf. "So, brauche ich nicht?"
Langsam schlenderte er zum Heck des Schiffes und schaute über die Reling in das schäumende Kielwasser. Am fernen Horizont lehnten sich ein paar Kumuluswolken aneinander wie eine Reihe schiefer Säulen. Er fühlte sich plötzlich sehr allein. Lange Zeit starrte er auf die mißgestalteten Wolkentürme in der Ferne. Bei der medizinischen Untersuchung kurz vor der Reise hatte er sich gezwungen, das Thema anzuschneiden. "Sie könnte meine Tochter sein. Vielleicht sogar meine Enkelin." Der andere Arzt hatte gelacht. "Kann nichts schaden, sich immer mal wieder daran zu erinnern", hatte er gesagt.
Schließlich ging er weiter, stieg über die nächste Treppe, an der er vorbeikam, nach oben und spazierte achtmal um das Bootsdeck.
Mrs. Rainmantle war schon da, als sie hereinkamen. Sie saß auf einem Barhocker und trug noch immer das weite graue Seidenkostüm vom Vormittag. Ihr Haar war verfilzt und steif. Furchtbar, dachte Dr. Slade. Am liebsten hätte er sein Taschentuch genommen und ihr Schweiß und Staub von der Stirn gewischt. Sie verlangte nach Aufmerksamkeit, wie ein Kind, dem die Nase läuft.
Als sie ihre Planter's Punches zu einem Tisch in der Ecke balanciert hatten, rieb er sich einen Tropfen Wasser vom Revers und fragte, an Mrs. Rainmantle gewandt: "Hat Ihnen die Bank helfen können?", was ihm einen wütenden Blick von seiner Frau einbrachte.
"O nein! Es war ein völlig sinnloser Versuch", antwortete sie fröhlich.
"Sie meinen, die Bank war geschlossen?" fragte Dr. Slade. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und beobachtete sie. Es entging ihm nicht, daß seine Frau eine Reihe von nervösen kleinen Manövern in Gang setzte, um seinen Blick zu erhaschen, aber er ignorierte sie.
Vage lächelnd nahm Mrs. Rainmantle einen großen Schluck aus ihrem Glas. "Doch, doch, sie war geöffnet. Aber sie wollten mir nicht helfen."
"Was?" rief er aus. "Man sollte doch wohl annehmen, daß Ihr Konsul etwas hätte unternehmen können, wenn Sie sich an ihn gewandt hätten." (Aber hätte er wirklich? dachte er bei sich. Wahrscheinlich nicht, wenn er dich genau angesehen hätte.)
"Ich habe ihn aufgesucht", erklärte sie. "Er war ganz reizend. Aber er sagte, er könne die Verantwortung nicht übernehmen. Ich hatte meinen Personalausweis nicht dabei. Ich habe ihm meinen Paß gezeigt und Briefe..." Ihre Stimme erstarb, während sie sich an die Einzelheiten dieser peinlichen Szene erinnerte.
Zu seiner großen Erleichterung lachte Mrs. Slade. Braves Mädchen, dachte er und wagte zu hoffen, daß ihre Wut auf ihn verflogen war. Doch noch während sie lachte, streifte ihn ihr Blick, und er wußte, daß er sich getäuscht hatte.
Sie bestellten die nächste Runde. Im Verlauf des Gespräches nahm Mrs. Rainmantle den Steward beiseite und hatte die Rechnung unterschrieben, ehe einer von ihnen etwas davon mitbekam. "Selbstverständlich habe ich Sie eingeladen", verkündete sie majestätisch und erstickte damit ihren Protest.
Dann erhob sie sich. "Ich werde eins von diesen wundervollen heißen Salzbädern nehmen. Wir sehen uns später."
"Ah", sagte Dr. Slade. Als sie gegangen war, setzte er sich wieder hin. "Das waren noch keine zehn Dollar."
Nach dem Dinner machten sie einen Spaziergang über das Promenadendeck. Der Wind war warm und das Licht des Mondes besonders hell. "Wie kannst du sagen, ich sei unhöflich gewesen?" rief er. "Gibt es den geringsten Grund, warum ich mir die Mühe machen sollte, diese Frau mit Samthandschuhen anzufassen?"
Auf die Reling gestützt, schaute sie über die glitzernde Weite des mondbeschienenen Wassers. "Ja! Ja!" stieß sie leise, aber mit leidenschaftlicher Stimme hervor. "Ja, es gibt einen Grund. Ich gebe mir immer Mühe mit deinen Freunden."
"Freunden! Ja, aber ist sie deine Freundin?"
"Du hast gesehen, daß ich freundlich zu ihr war."
Er schwieg einen Augenblick und dachte: Ich messe der Sache zu viel Bedeutung bei. Dann sagte er: "Wie sind wir da bloß hineingeraten?" Er nahm ihre Hand und zog sie von der Reling weg. Sie gingen weiter.
"Es soll nicht wieder vorkommen", versprach er. Er hielt ihre Hand fest und drückte sie beim Sprechen. Später, als sie tanzten, war er stets auf der Hut, um Mrs. Rainmantle notfalls schnell aus dem Weg gehen zu können, aber sie befand sich nicht unter den Gästen der Bahia Bar.
Ein feiner Regen fiel, als das Schiff im Hafen von Puerto Farol einlief. Er verschleierte die schroffen Konturen der Berge, die sich auftürmten, um in einem unendlichen, schweren Himmel zu verschwinden. Noch ehe sie Anker warfen, hörte Dr. Slade vom Land das Quaken zahlloser Frösche. Für diejenigen unter den Passagieren, die Interesse hatten, die Statue von San Ignacio zu besichtigen, war ein Landausflug arrangiert worden.
"Gibt es etwas Deprimierenderes als den Anblick einer zusammengepferchten Menschenmasse?" sagte Mrs. Slade. "Gott sei Dank, daß wir diese Arche verlassen." Sie standen an der Reling und beobachteten den Küstenstreifen; eine kaum merkliche Bewegung ihres Kopfes wies auf die Passagiere hinter ihnen.
"Gibt es hier Haie, Daddy?" fragte ein kleines Mädchen mit Rattenschwänzen, das neben Dr. Slade stand und auf das Wasser zeigte. "Sag schon, gibt es hier welche, Daddy?" Da niemand sich um das Kind zu kümmern schien, antwortete Dr. Slade mit sachlicher Stimme: "Natürlich gibt es hier Haie, meine Liebe."
"Glaub ihm kein Wort, Kleines", sagte Mrs. Slade. "Er macht nur Spaß."
Dr. Slade lachte. "Fall rein und probier es aus!" schlug er vor. Das Kind schaute von einem zum anderen und trat einen Schritt von der Reling zurück.
"Warum bist du so gemein?" sagte Mrs. Slade. "Warum mußt du dem armen Ding unbedingt einen Schrecken einjagen?"
Dr. Slade war gereizt. "Sie wollte eine Auskunft, und die hat sie bekommen", sagte er mit Nachdruck. Mit Hilfe seines Fernglases suchte er den Wald von Kokospalmen am Ufer ab. Gerade hatte er Mrs. Rainmantle über das Deck kommen sehen und hoffte, auf diese Weise eine Begrüssung vermeiden zu können. Vor allem wollte er nicht im selben Boot übersetzen wie sie. Während er so tat, als schaute er durch den Feldstecher, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie sie sich weiter hinten einen Weg durch die Menge bahnte, und war erleichtert.
4
Sie standen an der Rezeption in der Halle des Hotels und lauschten dem allgegenwärtigen Rauschen des Regens; es goß jetzt in Strömen. Der Mann hinter dem Pult aß eine Mango. Kleine Fasern des Fruchtfleisches hatten sich in seinem üppigen Schnurrbart verfangen und hingen wie winzige gelbe Würmer von den Härchen seiner Oberlippe. "Pues, sí, señores", nahm er den Faden wieder auf, ohne sich das Gesicht abzuwischen, "der Zug in die Hauptstadt fährt jeden Morgen um halb sieben. Aber es gibt auch hier in Puerto Farol eine Menge zu sehen."
Dr. Slade schaute zum Eingang hinaus auf die Veranda mit ihrem morschen Mobiliar und dahinter, durch den Wasserfall, als der Regen von der Tür herunterstürzte, in den leeren Garten. Plötzlich tauchte ein großer Bussard auf und ließ sich unbeholfen auf der rohen Holzplanke nieder, die der Veranda als Geländer diente. Einen Moment dachte Dr. Slade, er würde herunterfallen. Wie eine Masse verkohlten Zeitungspapiers schwankte der Vogel, fing sich dann wieder, legte die Schwingen an und ließ den nackten roten Kopf auf eine Seite der Brust fallen.
Der Mann bohrte beim Sprechen mit dem Zeigefinger in der Nase. "Da ist ein Ort namens Paraiso, nur zweiunddreißig Kilometer von hier, mit den Ruinen von San gnacio. Sehr interessant. Große Felsblöcke mitten im Dschungel, mit Gesichtern drauf. Man kriegt Alpträume davon." Sein Lachen ging in einen Hustenanfall über. Er spuckte aus und sah zu, wie der Speichel auf den Fußboden lief. Als er ihn mit der Schuhsohle verrieb, hätte man meinen können, er tanze einen einsamen kleinen Tanz hinter seinem Pult. "Sabe lo que son, las pesadillas?"
"Ja, ja, natürlich", antwortete Dr. Slade. "Wir nehmen den Zug morgen früh, und wir brauchen mindestens drei Männer für das Gepäck. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen."
"Es ist nicht zu fassen!" sagte Mrs. Slade und schaute zu ihrem Mann auf. "So eine große Stadt und nicht ein einziges Taxi."
"So eine große Stadt und bloß ein einziges Hotel!" gab er zurück. "Der Weg ist nicht schlimm, man braucht nur eine Viertelstunde. Aber wir müssen hier übernachten, verdammt. Und essen. Das Taxi macht mir die wenigsten Sorgen."
Der Mann hinter dem Pult war dabei, eine zweite Mango zu schälen; ihr strenger, durchdringender Geruch erfüllte die Halle. Mrs. Slade sprach nur sehr wenig Spanisch. "Mango bueno?" fragte sie, an den Mann gewandt.
"Regular", antwortete dieser, ohne aufzusehen.
Der Mann machte eine Bewegung zum Garten hin, und Dr. Slade trat durch die Tür auf den knirschenden Sand. Unter den jungen Papayabäumen blühten Weihnachtssterne; die Blüten wirkten wie rotes Seidenpapier. Fluchend kehrte er durch einen Nebeneingang in den Speisesaal zurück und sah, wie aus den beiden Kaffeetassen auf ihrem Tisch Dampf aufstieg. Mrs. Slade war verschwunden.
Die Aussicht, den Kaffee zu trinken, solange er noch heiß war, selbst mit dem üblichen Zusatz von Kondensmilch, war zu verlockend. Er nahm Platz. "Hoffentlich war es erfolgreich", würde er sagen, wenn sie zurückkam. Oder: "Eine gute Verdauung ist auch wichtig." Auf der Straße, gleich unter dem Fenster, bellte wütend ein Hund. Aufgeregte Stimmen schrien durcheinander. "Wenn man in Zeitdruck ist, gibt es eine Kunst, mit der man jede Sekunde ausnutzen kann. Man muß nur alles, was man zu erledigen hat, präzise organisieren." Ein Mädchen erschien und stellte einen Teller mit Brot vor ihn hin.
"Hay mantequilla?" fragte er. Sie starrte ihn an, zuckte die Achseln und antwortete, sie werde nachschauen. Er rief ihr nach, eine zweite Tasse Kaffee zu bringen, und warf einen Blick auf die Uhr: zwölf vor sieben.
Jetzt erkannte er im Hintergrund das Klappern von Absätzen, die aus der Halle eilig auf ihn zukamen. Mrs. Slade stand am Tisch, noch ehe er die Tasse absetzen und sich umdrehen konnte. Als sie sich hinsetzte, lag ein Ausdruck belustigter Zerstreutheit auf ihrem Gesicht.
"Schrecklich komisch", bemerkte sie, mehr zu sich selbst als an ihn gewandt, und nippte an ihrem Kaffee, während er auf eine Erklärung wartete. Das Mädchen kam ohne Butter wieder, brachte jedoch zwei Teller Eier mit Schinken. Ehe er zu essen begann, fragte er: "Was?"
Doch Mrs. Slade schien ihn nicht gehört zu haben und stürzte sich genüßlich auf ihr Frühstück.
2
Das Dock war am Ende der Straße; von dort konnten sie das Schiff sehen, das riesig und unbeweglich im Zentrum der kreisrunden Bucht lag. Ein Motorboot mit grünem Sonnendach schoß über das helle Wasser zwischen Dock und Schiff hin und her, während sie da standen und auf Einlaß in die Zollbaracke warteten.
"Es wird doch noch ein schöner Tag", verkündete Dr. Slade zufrieden. "Der Nebel war nur Kulisse." Er stellte den Koffer so hin, daß er an seinem Bein lehnte.
"Es sähe ihnen ähnlich, einfach den Anker zu lichten und loszufahren, während wir hier stehen und warten", sagte Mrs. Slade grimmig.
Dr. Slade lachte. Wäre dieser Fall tatsächlich eingetreten, hätte er sich mit Sicherheit mehr geärgert als sie, aber nach seiner Erfahrung gehorchte die Welt rationalen Gesetzen. "Ich kann nur hoffen, daß sie wissen, wie man eiskalte Daiquiris serviert", sagte er. Eine solche Bemerkung würde sie vielleicht vorübergehend besänftigen.
Das kleine Motorboot legte am Dock an, und die massige Frau mit den rosigen Wangen kletterte heraus. Auf ihrer hohen Stirn glitzerten Schweißperlen. In der Hand hielt sie einige Papiere, mit denen sie zwei uniformierten Beamten vor der Nase herumfuchtelte. Sie deuteten auf die Zollbaracke.
"Schau dir die Verrückte an", sagte Dr. Slade fasziniert. "Ist sie nicht grandios? Sie war schon bis zum Schiff und wieder zurück."
"Sie hat ihren Kreditbrief vergessen", sagte Mrs. Slade.
Dr. Slade warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Woher weißt du das?"
"Sie hat es mir erzählt. Sie ist Passagier auf dem Schiff, aber man will dort ihren Kreditbrief nicht honorieren. Jetzt glaubt sie, wenn sie eine Bank findet, kann sie vielleicht etwas Geld abheben. Es ist eine lange Geschichte. Ich habe ihr zehn Dollar geliehen."
"Du hast ihr Geld geliehen?" rief Dr. Slade entsetzt. Als er seine eigene Stimme hörte, versuchte er, deren Tonfall zu ändern, und setzte mit unverkennbar geheuchelter Sanftmut hinzu: "Wozu?"
"Sie wird es zurückzahlen, Schatz", sagte Mrs. Slade. Ihre Stimme klang, als hätte sie ein kleines Kind vor sich.
Keuchend kam die Frau auf sie zu. Dr. Slade blieb gerade noch Zeit zu flüstern: "Darum geht es nicht!"
"Lassen Sie das Schiff ja nicht ohne mich abfahren!" rief die Frau und schwenkte munter eine schwarze Lederhandtasche in ihre Richtung.
Mrs. Slade lächelte ihr zu. "Oh, ich glaube, Sie haben noch Zeit."
"Hoffentlich", sagte Dr. Slade mit gedämpfter Stimme. Es klang mehr wie: "Hoffentlich nicht."
"Sagen Sie ihnen, sie müssen unbedingt auf mich warten", rief die Frau über die Schalter.
"Lächerlich!" bemerkte Dr. Slade.
"Ich finde sie eher rührend", murmelte Mrs. Slade nachdenklich, während sie der davonhastenden Gestalt nachschaute.
Dr. Slade gab keine Antwort. Er starrte hinaus auf das stille Hafenbecken und hatte plötzlich das Gefühl, daß zwei Menschen, die sich sehr nahestehen, einander sehr fremd sein können. Sein Blick folgte der verschwommenen Linie der bewaldeten Hügel über dem von Land umschlossenen Hafen, und noch während er seinen Gedanken nachhing, nahm das Wort "rührend" eine ungewohnte, verstörende Dimension an.
3
Die Fahrt entlang der Küste von La Resaca nach Puerto Farol dauerte nur anderthalb Tage, aber trotzdem hatte es Mrs. Slade, die sich nicht erinnern konnte, was sie in welchem Koffer verstaut hatte, für nötig befunden, alles auszupacken. Da ihm klar war, daß er diese Aktion ohnehin nicht verhindern konnte, hatte Dr. Slade sich in die Bibliothek zurückgezogen, um das Ganze nicht auch noch mit ansehen zu müssen. Am späten Nachmittag machte er sich auf die Suche nach ihr und fand sie, die Haut glänzend von Sonnenöl, auf einer Luftmatratze am Pool. Stolz kniete er sich neben sie, des Interesses der übrigen Sonnenanbeter gewahr.
"Wie steht das Stimmungsbarometer für Teil zwei?"
"Wie?" Sie blinzelte zu ihm auf.
"Teil zwei der Sladeschen Jubiläumsexpedition, meine Liebe."
"Oh!" sie streckte sich wohlig und wartete einen Augenblick, bevor sie sagte: "Ehe ich es vergesse: Wir sind um sechs Uhr mit Mrs. Rainmantle verabredet, unten in der Bar."
Er war verwirrt. "Wozu?" Aber sie sah ihn nur an.
"Du brauchst nicht mitzukommen", meinte sie.
Er stand auf. "So, brauche ich nicht?"
Langsam schlenderte er zum Heck des Schiffes und schaute über die Reling in das schäumende Kielwasser. Am fernen Horizont lehnten sich ein paar Kumuluswolken aneinander wie eine Reihe schiefer Säulen. Er fühlte sich plötzlich sehr allein. Lange Zeit starrte er auf die mißgestalteten Wolkentürme in der Ferne. Bei der medizinischen Untersuchung kurz vor der Reise hatte er sich gezwungen, das Thema anzuschneiden. "Sie könnte meine Tochter sein. Vielleicht sogar meine Enkelin." Der andere Arzt hatte gelacht. "Kann nichts schaden, sich immer mal wieder daran zu erinnern", hatte er gesagt.
Schließlich ging er weiter, stieg über die nächste Treppe, an der er vorbeikam, nach oben und spazierte achtmal um das Bootsdeck.
Mrs. Rainmantle war schon da, als sie hereinkamen. Sie saß auf einem Barhocker und trug noch immer das weite graue Seidenkostüm vom Vormittag. Ihr Haar war verfilzt und steif. Furchtbar, dachte Dr. Slade. Am liebsten hätte er sein Taschentuch genommen und ihr Schweiß und Staub von der Stirn gewischt. Sie verlangte nach Aufmerksamkeit, wie ein Kind, dem die Nase läuft.
Als sie ihre Planter's Punches zu einem Tisch in der Ecke balanciert hatten, rieb er sich einen Tropfen Wasser vom Revers und fragte, an Mrs. Rainmantle gewandt: "Hat Ihnen die Bank helfen können?", was ihm einen wütenden Blick von seiner Frau einbrachte.
"O nein! Es war ein völlig sinnloser Versuch", antwortete sie fröhlich.
"Sie meinen, die Bank war geschlossen?" fragte Dr. Slade. Er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen und beobachtete sie. Es entging ihm nicht, daß seine Frau eine Reihe von nervösen kleinen Manövern in Gang setzte, um seinen Blick zu erhaschen, aber er ignorierte sie.
Vage lächelnd nahm Mrs. Rainmantle einen großen Schluck aus ihrem Glas. "Doch, doch, sie war geöffnet. Aber sie wollten mir nicht helfen."
"Was?" rief er aus. "Man sollte doch wohl annehmen, daß Ihr Konsul etwas hätte unternehmen können, wenn Sie sich an ihn gewandt hätten." (Aber hätte er wirklich? dachte er bei sich. Wahrscheinlich nicht, wenn er dich genau angesehen hätte.)
"Ich habe ihn aufgesucht", erklärte sie. "Er war ganz reizend. Aber er sagte, er könne die Verantwortung nicht übernehmen. Ich hatte meinen Personalausweis nicht dabei. Ich habe ihm meinen Paß gezeigt und Briefe..." Ihre Stimme erstarb, während sie sich an die Einzelheiten dieser peinlichen Szene erinnerte.
Zu seiner großen Erleichterung lachte Mrs. Slade. Braves Mädchen, dachte er und wagte zu hoffen, daß ihre Wut auf ihn verflogen war. Doch noch während sie lachte, streifte ihn ihr Blick, und er wußte, daß er sich getäuscht hatte.
Sie bestellten die nächste Runde. Im Verlauf des Gespräches nahm Mrs. Rainmantle den Steward beiseite und hatte die Rechnung unterschrieben, ehe einer von ihnen etwas davon mitbekam. "Selbstverständlich habe ich Sie eingeladen", verkündete sie majestätisch und erstickte damit ihren Protest.
Dann erhob sie sich. "Ich werde eins von diesen wundervollen heißen Salzbädern nehmen. Wir sehen uns später."
"Ah", sagte Dr. Slade. Als sie gegangen war, setzte er sich wieder hin. "Das waren noch keine zehn Dollar."
Nach dem Dinner machten sie einen Spaziergang über das Promenadendeck. Der Wind war warm und das Licht des Mondes besonders hell. "Wie kannst du sagen, ich sei unhöflich gewesen?" rief er. "Gibt es den geringsten Grund, warum ich mir die Mühe machen sollte, diese Frau mit Samthandschuhen anzufassen?"
Auf die Reling gestützt, schaute sie über die glitzernde Weite des mondbeschienenen Wassers. "Ja! Ja!" stieß sie leise, aber mit leidenschaftlicher Stimme hervor. "Ja, es gibt einen Grund. Ich gebe mir immer Mühe mit deinen Freunden."
"Freunden! Ja, aber ist sie deine Freundin?"
"Du hast gesehen, daß ich freundlich zu ihr war."
Er schwieg einen Augenblick und dachte: Ich messe der Sache zu viel Bedeutung bei. Dann sagte er: "Wie sind wir da bloß hineingeraten?" Er nahm ihre Hand und zog sie von der Reling weg. Sie gingen weiter.
"Es soll nicht wieder vorkommen", versprach er. Er hielt ihre Hand fest und drückte sie beim Sprechen. Später, als sie tanzten, war er stets auf der Hut, um Mrs. Rainmantle notfalls schnell aus dem Weg gehen zu können, aber sie befand sich nicht unter den Gästen der Bahia Bar.
Ein feiner Regen fiel, als das Schiff im Hafen von Puerto Farol einlief. Er verschleierte die schroffen Konturen der Berge, die sich auftürmten, um in einem unendlichen, schweren Himmel zu verschwinden. Noch ehe sie Anker warfen, hörte Dr. Slade vom Land das Quaken zahlloser Frösche. Für diejenigen unter den Passagieren, die Interesse hatten, die Statue von San Ignacio zu besichtigen, war ein Landausflug arrangiert worden.
"Gibt es etwas Deprimierenderes als den Anblick einer zusammengepferchten Menschenmasse?" sagte Mrs. Slade. "Gott sei Dank, daß wir diese Arche verlassen." Sie standen an der Reling und beobachteten den Küstenstreifen; eine kaum merkliche Bewegung ihres Kopfes wies auf die Passagiere hinter ihnen.
"Gibt es hier Haie, Daddy?" fragte ein kleines Mädchen mit Rattenschwänzen, das neben Dr. Slade stand und auf das Wasser zeigte. "Sag schon, gibt es hier welche, Daddy?" Da niemand sich um das Kind zu kümmern schien, antwortete Dr. Slade mit sachlicher Stimme: "Natürlich gibt es hier Haie, meine Liebe."
"Glaub ihm kein Wort, Kleines", sagte Mrs. Slade. "Er macht nur Spaß."
Dr. Slade lachte. "Fall rein und probier es aus!" schlug er vor. Das Kind schaute von einem zum anderen und trat einen Schritt von der Reling zurück.
"Warum bist du so gemein?" sagte Mrs. Slade. "Warum mußt du dem armen Ding unbedingt einen Schrecken einjagen?"
Dr. Slade war gereizt. "Sie wollte eine Auskunft, und die hat sie bekommen", sagte er mit Nachdruck. Mit Hilfe seines Fernglases suchte er den Wald von Kokospalmen am Ufer ab. Gerade hatte er Mrs. Rainmantle über das Deck kommen sehen und hoffte, auf diese Weise eine Begrüssung vermeiden zu können. Vor allem wollte er nicht im selben Boot übersetzen wie sie. Während er so tat, als schaute er durch den Feldstecher, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie sie sich weiter hinten einen Weg durch die Menge bahnte, und war erleichtert.
4
Sie standen an der Rezeption in der Halle des Hotels und lauschten dem allgegenwärtigen Rauschen des Regens; es goß jetzt in Strömen. Der Mann hinter dem Pult aß eine Mango. Kleine Fasern des Fruchtfleisches hatten sich in seinem üppigen Schnurrbart verfangen und hingen wie winzige gelbe Würmer von den Härchen seiner Oberlippe. "Pues, sí, señores", nahm er den Faden wieder auf, ohne sich das Gesicht abzuwischen, "der Zug in die Hauptstadt fährt jeden Morgen um halb sieben. Aber es gibt auch hier in Puerto Farol eine Menge zu sehen."
Dr. Slade schaute zum Eingang hinaus auf die Veranda mit ihrem morschen Mobiliar und dahinter, durch den Wasserfall, als der Regen von der Tür herunterstürzte, in den leeren Garten. Plötzlich tauchte ein großer Bussard auf und ließ sich unbeholfen auf der rohen Holzplanke nieder, die der Veranda als Geländer diente. Einen Moment dachte Dr. Slade, er würde herunterfallen. Wie eine Masse verkohlten Zeitungspapiers schwankte der Vogel, fing sich dann wieder, legte die Schwingen an und ließ den nackten roten Kopf auf eine Seite der Brust fallen.
Der Mann bohrte beim Sprechen mit dem Zeigefinger in der Nase. "Da ist ein Ort namens Paraiso, nur zweiunddreißig Kilometer von hier, mit den Ruinen von San gnacio. Sehr interessant. Große Felsblöcke mitten im Dschungel, mit Gesichtern drauf. Man kriegt Alpträume davon." Sein Lachen ging in einen Hustenanfall über. Er spuckte aus und sah zu, wie der Speichel auf den Fußboden lief. Als er ihn mit der Schuhsohle verrieb, hätte man meinen können, er tanze einen einsamen kleinen Tanz hinter seinem Pult. "Sabe lo que son, las pesadillas?"
"Ja, ja, natürlich", antwortete Dr. Slade. "Wir nehmen den Zug morgen früh, und wir brauchen mindestens drei Männer für das Gepäck. Ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen."
"Es ist nicht zu fassen!" sagte Mrs. Slade und schaute zu ihrem Mann auf. "So eine große Stadt und nicht ein einziges Taxi."
"So eine große Stadt und bloß ein einziges Hotel!" gab er zurück. "Der Weg ist nicht schlimm, man braucht nur eine Viertelstunde. Aber wir müssen hier übernachten, verdammt. Und essen. Das Taxi macht mir die wenigsten Sorgen."
Der Mann hinter dem Pult war dabei, eine zweite Mango zu schälen; ihr strenger, durchdringender Geruch erfüllte die Halle. Mrs. Slade sprach nur sehr wenig Spanisch. "Mango bueno?" fragte sie, an den Mann gewandt.
"Regular", antwortete dieser, ohne aufzusehen.
... weniger
Autoren-Porträt von Paul Bowles
Paul Bowles, der rastlose 'Aussteiger' und eine Ikone der 'Lost Generation', wurde am 30. 12. 1910 als Sohn eines Zahnarztes in Jamaica im New Yorker Stadtteil Queens geboren. Er, der schon in jungen Jahren bei einem Parisaufenthalt Gertrude Stein, Jean Cocteau und Andre Gide begegnet war, studierte in Berlin und New York Musik (u.a. bei Aaron Copeland) und schrieb Bühnenmusiken für Orson Welles, William Saroyan und Tennessee Williams, bevor er in den vierziger Jahren als Autor und Übersetzer weltberühmt wurde. 1947 ließ sich Bowles, den zahlreiche Reisen immer wieder nach Lateinamerika, Asien und vor allem Nordafrika geführt hatten, mit seiner Frau Jane in Tanger nieder, wo er bis zu seinem Tod im November 1999 lebte.
Bibliographische Angaben
- Autor: Paul Bowles
- 2002, Neuausg., 251 Seiten, Maße: 12,3 x 19,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 344230959X
- ISBN-13: 9783442309597
Kommentar zu "Gesang der Insekten"
0 Gebrauchte Artikel zu „Gesang der Insekten“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Gesang der Insekten".
Kommentar verfassen