Gnade deiner Seele
Anstatt die Freuden des Ruhestands zu genießen, spürt der ehemalige Polizist Jones Cooper eine ständige Unruhe in sich. Eine Nachbarin erzählt ihm, sie habe im Traum gesehen, wie er bei dem Versuch, jemanden das Leben zu retten,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gnade deiner Seele “
Anstatt die Freuden des Ruhestands zu genießen, spürt der ehemalige Polizist Jones Cooper eine ständige Unruhe in sich. Eine Nachbarin erzählt ihm, sie habe im Traum gesehen, wie er bei dem Versuch, jemanden das Leben zu retten, ertrinke. Doch froh um jede Ablenkung, schlägt Cooper alle Warnungen in den Wind und beginnt, einer jungen Frau bei der Suche nach der verschwundenen Exfrau ihres Mannes zu helfen. Dabei stößt er auf neue Spuren in einem Fall, der ihn bereits als junger Polizist beschäftigte. In "The Hollows" liegen viele Dinge tief vergraben, und nichts ist je vergessen.
Lese-Probe zu „Gnade deiner Seele “
Gnade deiner Seele von Lisa UngerDeutsch von Eva Bonné
Erster Teil
Verschwunden
Prolog
Versagt zu haben war kein Gefühl, sondern ein Geschmack auf der Zunge, ein bohrender Schmerz im Nacken. Ein panisches Summen in seinem Kopf. Er sah, wie sich sein Versagen im verkniffenen, künstlichen Lächeln seiner Frau widerspiegelte, wenn er abends nach Hause kam. Er spürte es wie eine eisige Klammer, wenn sie ihn lieblos umarmte. Dabei wusste sie nicht einmal, wie schlimm es um ihn stand. Niemand wusste etwas, aber bestimmt konnten sie es riechen. Er dünstete das Versagen aus wie eine Alkoholfahne.
Der Verkehr auf dem Highway geriet ins Stocken. Er versuchte, die klaustrophobische Beklemmung wegzuatmen, den ganzen Frust, der ihm auf die Brust drückte. Er beobachtete die anderen Autofahrer und fragte sich, warum niemand ausrastete oder den Kopf gegen das Lenkrad schlug.
Wie schafften die Leute das, tagaus, tagein? Sie richteten sich zugrunde mit sinnloser Arbeit, an der sich letztendlich ein Dritter bereicherte. Und dann setzten sie sich ins Auto und reihten sich in die endlose Schlange ein, obwohl sie zu Hause nichts erwartete als eine endlose Litanei der Bedürfnisse. Warum? Warum lebten so viele Menschen so?
An diesem Wochenende zum allerletzten Mal absolute Tiefpreise bei Eds Autohaus. Arbeitslos? Nicht kreditwürdig? Keine Sicherheiten? Kein Problem - wir helfen Ihnen!
... mehr
Kevin Carr schaltete das Radio aus, um den schizophrenen, fordernden Wortschwall nicht länger ertragen zu müssen. Iss dies. Kauf das. Sie wollen abnehmen? Weißere Zähne? Einen doppelten Cheeseburger mit Bacon? Einen Personal Trainer? Zwangsversteigerung am Sonntag. Aber die nun einsetzende Stille war fast noch schlimmer, denn jetzt konnte Kevin nichts anderes mehr hören als seine eigenen Gedanken, die dem Radio verdächtig ähnlich waren, sich aber nicht auf Knopfdruck abstellen ließen.
Die Pendler ringsum - ein paar Fahrgemeinschaften, aber die meisten Leute waren wie er allein unterwegs - hielten das Lenkrad fest umklammert und starrten geradeaus. Keiner von ihnen sah glücklich aus, oder? Niemand sang zur Musik aus dem Autoradio, niemand lächelte vor sich hin. Viele Leute telefonierten über ihre Freisprechanlage und gestikulierten, als säße jemand auf dem Beifahrersitz. Dabei waren sie allein. Sahen die Leute bleich und frustriert aus? Ungesund, unzufrieden? Oder projizierte er lediglich seine eigenen Gefühle auf die anderen? Betrachtete er seine Umwelt als Abbild seines Innenlebens?
Ohne zu blinken zog er den Wagen auf die rechte Spur und schnitt irgendein Arschloch in einem neuen BMW. Der Mann trat auf die Bremse und drückte wütend auf die Hupe. Beim Blick in den Rückspiegel sah Kevin, wie er ihm den Mittelfinger zeigte. Der BMW-Fahrer brüllte, obwohl er doch wissen musste, dass ihn keiner hörte. Kevin war wie berauscht vor Schadenfreude. Zum ersten Mal an diesem Tag musste er lächeln.
Sein Handy klingelte. Obwohl er nur ungern ans Telefon ging, wenn er den Anrufer nicht anhand des Displays erkennen konnte, nahm Kevin das Gespräch an, indem er auf die Taste am Lenkrad drückte. Momentan jonglierte er mit so vielen Bällen, dass er fast den Überblick verloren hatte.
»Hier Kevin Carr«, sagte er.
»Hey«, sagte Paula. »Bist du auf dem Heimweg?«
»Ich bin schon fast an der Ausfahrt«, antwortete er.
»Die Kleine braucht Windeln. Und Cameron hat leichtes Fieber. Könntest du Ibuprofensaft mitbringen?«
»Klar«, sagte er. »Sonst noch was?«
»Ich glaube, das ist alles. Heute war ich doch tatsächlich mit beiden Kindern im Supermarkt.« Im Hintergrund hörte Kevin Wasser rauschen und Töpfe scheppern. »Und wir haben es wieder nach draußen geschafft, ohne dass ich einen Nervenzusammenbruch bekommen habe, kaum zu glauben, was? Cammy war heute wirklich brav. Aber die Windeln habe ich vergessen.«
Er sah die Szene geradezu vor sich. Claire angeschnallt in der Babyschale, oben auf dem Einkaufswagen, und Cameron an Paulas Rockzipfel, während er Faxen machte und Lebensmittel aus den Regalen zog. Paula ließ sich nicht gehen und verließ das Haus stets gekämmt und geschminkt, ganz anders als die anderen Mütter, die er manchmal vor Camerons Kindergarten sah - Augenringe, fleckige Kleidung, wirres Haar. Das duldete er nicht.
»Das nächste Mal solltest du vorher einen Einkaufszettel schreiben«, sagte er.
Paula schwieg, und er hörte das Baby wimmern. Dieser weinerliche Dauerton, der in Geschrei umschlagen würde, falls nicht bald jemand herausfand, was es wollte, ließ ihn zusammenzucken. Das Weinen war Vorwurf, Anklage und Urteil in einem.
»Ja, Kevin«, sagte Paula. Ihre anfängliche Fröhlichkeit war verschwunden. »Danke für den Tipp.«
»Ich wollte dich nicht ...«
Aber sie hatte schon aufgelegt.
Im Supermarkt war Elton John der Meinung, draußen im Weltall fühle man sich einsam. Elton sang, er entspreche nicht dem Bild von Mann, dass man sich zu Hause von ihm gemacht habe. Kevin verstand nur zu gut, wie das gemeint war. Er schlenderte durch die endlosen, mit grellbunt verpackten Kunstprodukten aufgefüllten Gänge - fettreduziert, zuckerfrei, kohlehydratarm, ohne gesättigte Fettsäuren, cholesterinfrei, schlank machend, zwei zum Preis von einem, alles bio. In der Säuglingsabteilung dominierten Rosa, Hellblau und Pastellgelb. Er suchte nach der grün-braunen Verpackung jener Windelsorte, die Paula für die Kleine bevorzugte - aus recyceltem Material und biologisch abbaubar. Diese Bio-Bewegung konnte ihn wirklich auf die Palme bringen. Seit der industriellen Revolution hatten die großen Konzerne die Natur geplündert und geschändet, sie hatten Luft und Wasser verpestet, den Regenwald abgeholzt und den Boden vergiftet. Und nun sollte auf einmal das Individuum den Planeten durch persönlichen Einsatz retten, indem es für Bioprodukte den doppelten Preis bezahlte, was letztendlich nur den Gewinn jener Konzerne vergrößerte, die für die Erderwärmung und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verantwortlich waren, ganz zu schweigen von Fettleibigkeit und den dadurch bedingten Erkrankungen. Das war einfach zu viel für ihn.
An einer der vielen Kassen saß ein junges, hübsches Mädchen und blätterte gelangweilt in einem Promi-Magazin. Wie hieß sie gleich? Weil er seine Brille nicht trug, konnte er ihr Namensschild nicht entziffern. Tracie? Trixie? Trudie?
»Hallo, Mr. Carr. Heute habe ich Ihre Frau und Ihre Kinder gesehen«, sagte sie und zog seine Einkäufe über den Scanner. Windeln: zwölf Dollar neunundneunzig, Fiebersaft: acht Dollar neunundvierzig. Ein Blick auf die Titten einer Zwanzigjährigen: unbezahlbar. Dafür brauchte er keine Brille.
Paula hatte Cameron bis zu seinem zweiten Geburtstag gestillt und einen Monat später festgestellt, dass sie erneut schwanger war. Bei Claire betrug die Stillzeit inzwischen achtzehn Monate, dabei hatte Paula ihm versprochen, diesmal nach einem Jahr aufzuhören. Sie waren dazu übergegangen, ihre Brüste als Gebrauchsgegenstände zu betrachten, die ohne Hintergedanken ausgepackt wurden, sobald Claire zu jammern anfing. Die Zeit der spitzenbesetzten Push-up-BHs und seidenen Negligés war vorbei. Wenn Paula überhaupt einen BH trug, war er mit diesem Schnappmechanismus ausgestattet, damit das Baby trinken konnte. Tracie-Trixie-Trudie trug wahrscheinlich nur hübsche, knappe Wäsche, und an ihren pfirsichweichen Brüsten hing kein Baby, das allen Sexappeal aus ihr heraussaugte.
»Was für ein Glückspilz Sie sind«, sagte das Mädchen, »bei so einer netten Familie!«
»Stimmt«, sagte Kevin und warf einen Blick in seine Brieftasche. Wie immer war sie leer. Er starrte auf sieben Kreditkarten, die bunt und höhnisch in den Lederschlitzen steckten. Er konnte sich nicht erinnern, welche noch nicht gesperrt war. »Ich habe wirklich Glück.«
Lächelnd reichte er ihr seine Visa-Platinkarte und hielt die Luft an, bis das Pad seine Unterschrift forderte.
Kevin wusste, was das Mädchen sah, wenn sie ihn betrachtete, und er kannte den Grund für ihr bezauberndes Lächeln. Sie sah eine Breitling-Uhr, einen Anzug von Armani, einen mit Diamanten besetzten Ehering. Die Gegenstände, die er am Körper trug, waren mehr wert, als sie in einem ganzen Jahr verdiente. Wenn sie ihn betrachtete, sah sie sein Geld, nicht den haushohen Schuldenberg, den die Anschaffungen ihm beschert hatten. Die Leute nahmen immer nur die schillernde Oberfläche wahr. Was darunter lag, was wirklich zählte, interessierte niemanden.
»Haben Sie einen Einkaufsbeutel dabei?«, fragte sie mit einem strahlenden Lächeln und drohte ihm scherzhaft tadelnd mit dem Zeigefinger.
»Nein«, sagte Kevin. Er spielte den Zerknirschten. »Aber es geht auch so, ich brauche keine Tüte.« Er griff nach der Windelpackung und dem Hustensaft und lief zum Ausgang.
»Sie haben einen Baum gerettet, Mr. Carr!«, rief sie ihm nach. »Gut gemacht!«
Ihr jugendlicher Elan gab ihm das Gefühl, hundert Jahre alt zu sein. Und gerade als er den überdachten Eingangsbereich verließ, fing es heftig zu regnen an. Als er wieder im Auto saß, war er klatschnass. Er legte die Einkäufe auf den Rücksitz. Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel und strich sich das dunkelbraune Haar aus der Stirn. Er zog ein Handtuch aus der Sporttasche, die auf dem Rücksitz lag, tupfte seine Anzugjacke ab und wischte die Regentropfen von den Ledersitzen.
Zitternd ließ er den Motor an. Es war nicht einmal besonders kalt, trotzdem fröstelte er am ganzen Leib. Für einen Moment blieb er wie gelähmt sitzen. Er brauchte eine Minute, nur eine einzige Minute der Stille, bevor er sich seine Maske wieder aufsetzte. Er legte den Rückwärtsgang ein, um aus der Parklücke zu setzen, aber dann griff er spontan unter den Beifahrersitz und holte den kleinen, schwarzen Beutel aus seinem Versteck. Kevin wollte sich bloß vergewissern, dass alles noch an seinem Platz war.
Er bewahrte den Beutel dort auf, seit sie im Sommer nach Florida gefahren waren und mit den Kindern Disneyworld besucht hatten. Allein für Eintrittskarten, Hotel und Essen hatte er über dreitausend Dollar hingeblättert. Das ganze Unterfangen war eine Pantomime der Normalität gewesen und die endlose Fahrt nach Süden ein einziges Chaos aus Salzstangen und Saftkartons, begleitet von Camerons nervigen CDs und Claires ewigem Gezeter und Geheul. Tagsüber waren sie durch den Vergnügungspark gelaufen, was Cameron viel Spaß gemacht hatte. Aber die Kleine war einfach noch zu jung dafür, und in Kombination mit der gnadenlosen Hitze und den endlosen Warteschlangen trieb ihr Geweine ihn fast in den Wahnsinn. Er zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er fürchtete, sein Kopf könnte jeden Augenblick explodieren. Er hatte Paula als attraktive, clevere und spritzige junge Frau kennengelernt. Nun lief sie als zweifache (und zwei Kleidergrößen breitere) Mom durch Disneyworld. Seit wann waren ihre Beine so stämmig? Während des Ausflugs war Kevin klar geworden, dass er einen Ausweg brauchte. So konnte er nicht weiterleben. Eine Scheidung käme natürlich nicht in Frage. Was für eine Vorstellung!
Eines Abends war er losgefahren, um Pizza zu holen. Er hatte eines der vielen Waffengeschäfte in der Gegend aufgesucht, die ihm zuvor aufgefallen waren.
»Das hier ist die beliebteste Schusswaffe in Amerika«, hatte der Verkäufer erklärt. »Die Glock 17 hat eine Munitionskapazität von siebzehn Neunmillimeterpatronen. Sie ist federleicht und ideal für den Hausgebrauch. Hoffentlich kommen Sie nie in so eine Lage, aber im Notfall können Sie damit auch ohne große Waffenkenntnisse Ihre Familie verteidigen. «
Der Verkäufer war etwa Mitte zwanzig, und seine Begeisterung für den Job war geradezu krankhaft. Er verkaufte Kevin auch eine Schachtel Patronen.
Wenige Tage später, am Abend vor der Heimreise, fuhr Kevin noch einmal hin und holte die Glock ab. Er konnte kaum fassen, dass er das Geschäft ganz legal mit einem Stoffbeutel verlassen konnte, in dem eine Pistole und Munition steckten. Auf dem Parkplatz hatte er alles unter dem Beifahrersitz verstaut. Seit sechs Monaten lag der Beutel nun dort. Paula benutzte seinen Wagen nie, und am Wochenende fuhren sie den Mercedes-Geländewagen, in dem sich die Kindersitze und die Wickeltasche und der Rest der Babyausrüstung - Buggy, Trinkflaschen, Feuchttücher - befanden. Paulas Wagen war immer so vollgeladen, als wollte sie monatelang verreisen.
Kevin griff in den Beutel, nahm die Plastikschatulle heraus und öffnete sie. Die flache, schwarze Pistole lag im Futteral und schimmerte im bernsteinfarbenen Licht der Parkplatzlampen. Er bewunderte die harten Kanten und den geriffelten, ergonomisch geformten Griff. Er hörte den Regen aufs Autodach trommeln und die gedämpfte Stimme einer Frau, die auf dem Weg zum Auto in ihr Handy sprach. Ich kann nicht glauben, dass er das gesagt hat, schimpfte sie. Was für ein Idiot!
Der Anblick der Pistole tröstete ihn. Seine Schultern entspannten sich, sein Atem ging ruhiger. Die entsetzliche Spannung, die ihn den ganzen Tag gequält hatte, schien ein Stück weit nachzulassen. Kevin wusste nicht, warum. Hätte man ihn gefragt, warum ihn der Anblick einer Pistole mit solch unglaublicher Erleichterung erfüllte, hätte er keine Antwort gewusst.
Eins
Jones Cooper fürchtete den Tod. Seine Todesangst weckte ihn in der Nacht und ließ ihn im Bett hochfahren, drückte ihm die Luft ab, schnürte ihm die Speiseröhre zu, ließ ihn röchelnd nach Luft schnappen. Die harmlosen Schatten im ehelichen Schlafzimmer verwandelten sich in eine Horde gieriger Zombies, die ihn stumm belauerten. Wann? Wie? Herzinfarkt. Krebs. Ein dummer Unfall. Würde es schnell zu Ende gehen? Oder würde er langsam und unter unwürdigen Umständen dahinsiechen? Und was käme danach, wenn überhaupt etwas kam?
Er war nicht gläubig. Genauso wenig hatte er ein reines Gewissen. Er glaubte nicht an einen gütigen Gott, an ein Jenseits voller Licht und Liebe. Er konnte sich nicht wie andere auf derlei Krücken stützen; scheinbar waren alle auf geheimnisvolle Art vor dem Schreckgespenst der eigenen Sterblichkeit geschützt. Alle außer Jones.
Seine Frau Maggie hatte von den nächtlichen Panikattacken genug. Am Anfang hatte sie ihm beigestanden und auf ihn eingeredet: Ruhig, Jones, atme einfach weiter. Beruhige dich.
Alles ist in Ordnung. Aber selbst sie, die unendlich geduldige Therapeutin, hatte sich angewöhnt, im Gästezimmer oder auf dem Sofa zu schlafen, manchmal sogar im Kinderzimmer ihres Sohnes, das leer stand, seit Ricky an der Georgetown Universität studierte.
Seine Frau war überzeugt, dass die Attacken etwas mit Rickys Auszug zu tun hatten. »Wenn ein Kind auszieht, um aufs College zu gehen, ist das ein Meilenstein. Es ist völlig normal, dann über die Vergänglichkeit des Lebens nachzudenken «, hatte sie gesagt. Offenbar war Maggie der Ansicht, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren wäre ein nützliches Ritual, dem sich niemand entziehen durfte. »Aber ab einem bestimmten Punkt schlägt die Nachdenklichkeit in Selbstmitleid oder gar Selbsthass um. Du musst einsehen, dass es fast schon wie sterben ist, sich immer und überall vor dem Tod zu fürchten.«
Dabei hatte er den Eindruck, als Einziger über den Tod nachzudenken. Anscheinend spazierten die anderen munter durchs Leben, ohne einen Gedanken ans drohende Ende zu verschwenden. Sie trieben sich stundenlang bei Facebook herum, quatschten im Starbucks-Drive-in in ihr Handy oder fläzten sich aufs Sofa, um hirnverbrannten TV-Müll zu konsumieren. Die Leute dachten kein bisschen nach - nicht übers Leben, nicht über den Tod und nicht über ihre Mitmenschen.
»Also wirklich, nimm die Dinge nicht so schwer, mein Schatz.« Das waren ihre letzten Worte an diesem Morgen gewesen, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Patienten gemacht hatte. Er versuchte wirklich, die Dinge nicht so schwerzunehmen.
Jones harkte Laub; die riesige Eiche vor dem Haus hatte fast alle ihre Blätter verloren. Jones hatte das Laub neben dem Rinnstein zu einem Haufen aufgetürmt. Seit sie in dem Haus wohnten, hatte ein Gärtner die Aufgabe übernommen, aber nach seiner Pensionierung vor einem Jahr hatte Jones beschlossen, alle Arbeiten selbst zu erledigen. Er mähte den Rasen, trimmte die Hecken, säuberte den Pool und putzte die Fenster. Jetzt harkte er das Laub zusammen, in Kürze würde er in der Einfahrt Schnee schippen. Erstaunlich, wie schnell so ein Arbeitstag verging, wenn Jones von morgens bis abends vor sich hinwerkelte, wie Maggie es nannte - Glühbirnen auswechselte, Bäume beschnitt, die Autos wusch.
Wird dir das reichen? Du bist dafür zu intellektuell. Können diese Aufgaben dich wirklich zufriedenstellen? Seine Frau überschätzte ihn. Er war kein bisschen intellektuell. Die Nachbarn fingen an, fest mit ihm zu rechnen; sie freuten sich, einen pensionierten Cop in der Nähe zu wissen, wenn sie auf Reisen oder zur Arbeit gingen. Er ließ die Handwerker ins Haus, leerte den Briefkasten, knipste abends eine Lampe an, behielt die Grundstücke im Auge und pflegte seine Waffensammlung. Am Anfang hatte Maggie sich über die Nachbarn geärgert, die unangemeldet klingelten und um dieses oder jenes baten, ganz besonders, da Jones sich weigerte, Geld anzunehmen, nicht einmal von Fremden. Aber dann fingen die Leute an, Geschenke vor die Tür zu stellen - eine Flasche Whisky oder einen Restaurantgutschein für das Grillmarks, ein schickes Steakhouse.
»Du solltest ein Geschäft draus machen«, hatte Maggie gesagt. Während eines von den Pedersens bezahlten Abendessens war sie plötzlich ganz enthusiastisch geworden. Jones hatte die hinterlistige Katze der Pedersens eine Woche lang gefüttert.
Er spöttelte: »Klar. Nutzloser Nachbar hängt den ganzen Tag rum und hat nichts zu tun, als den Klempner ins Haus zu lassen. Meinst du das?«
Sie lächelte ihn schief an, was er stets an ihr gemocht hatte. Sie zog einen Mundwinkel hoch, so wie immer, wenn sie ihn lustig fand, es aber nicht zugeben wollte.
»Warum? Du bietest wertvolle Dienste an, für die die Leute nur zu gern bezahlen würden«, sagte sie. »Denk mal drüber nach.«
Aber Jones erledigte die Gefälligkeiten gern und wollte gar nicht dafür bezahlt werden. Es war schön, gebraucht zu werden und sich um die Nachbarschaft zu kümmern, dafür zu sorgen, dass alles in Ordnung war. Seine Berufung konnte man nicht einfach so mit der Dienstmarke abgeben. Außerdem war er eigentlich gar nicht im Ruhestand, oder? Er hatte seinen Job nur aufgegeben, weil er es angesichts der Umstände für notwendig gehalten hatte. Aber das war eine andere Geschichte.
Am späten Vormittag war die Temperatur auf angenehme zwanzig Grad geklettert. Das Sonnenlicht vergoldete alles, die Luft duftete nach geharktem Laub, und von irgendwoher roch es nach Kaminfeuer. In der Einfahrt stand Rickys restaurierter Pontiac GTO Baujahr 1966, den er nur am Wochenende benutzte, wenn er zu Hause war. Jones hatte den Wagen inspiziert und poliert.
Jones vermisste seinen Sohn. Leider war ihr Verhältnis in den letzten Jahren vor allem von Streit geprägt gewesen. Dennoch konnte er es nicht erwarten, den Jungen wieder im Haus zu haben, und sei es nur für vier Tage. Hätte ihm jemand vorhergesagt, wie schmerzlich er sein Kind vermissen würde, wie schwer es ihm fallen würde, an dem leeren Kinderzimmer vorbeizugehen - Jones hätte kein Wort geglaubt. Er hätte es für eine der zahlreichen Plattitüden zum Thema Elternschaft gehalten.
Er lehnte den Rechen an den Stamm der Eiche und zog sich die Handschuhe aus. Zwei Trauertauben gurrten betrübt vor sich hin. Sie saßen auf dem Verandageländer und plusterten das gelbbraune Gefieder auf.
»Tut mir leid«, sagte Jones, und das nicht zum ersten Mal. Früh am Morgen hatte er ihren Nestbau gestört und einen losen Haufen aus Zweigen und Papierresten entfernt, den sie in den Öffnungsmechanismus des Garagentors gestopft hatten. Trauertauben bauen provisorische Brutstätten und sind so faul, dass sie die verlassenen Nester anderer Vögel in Besitz nehmen. Die Garage musste ihnen als idealer Nistplatz erschienen sein, weil sie dort vor Räubern geschützt waren. Aber Jones duldete keine Vögel in seiner Garage. Vögel waren Vorboten des Todes, das wusste jeder. Nun lungerten sie auf dem Grundstück herum und machten ihm ein schlechtes Gewissen.
»Ihr könnt euer Nest bauen, wo ihr wollt«, rief er und machte eine weit ausholende Armbewegung, »nur nicht hier.«
Offenbar hörten sie zu und verdrehten den Hals, während er sprach. Dann flatterten sie mit einem wütenden Tschilpen davon.
»Blöde Vögel.«
Jones wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Obwohl es nicht besonders warm war, hatte ihn die Gartenarbeit ins Schwitzen gebracht, was ihn daran erinnerte, dass sein Hausarzt ihn seit Jahren bekniete, zwölf Kilo abzunehmen. Sein Arzt, ein beneidenswert schlanker und attraktiver Mann im selben Alter, ließ keine Gelegenheit aus, Jones' Übergewicht zu erwähnen, egal aus welchem Grund er ihn aufsuchte. Auch Sie werden sterben, Doc, wollte Jones ihm immer sagen. Vermutlich kratzen Sie beim Sport ab. Wie viele Kilometer reißen Sie täglich runter - sieben, acht? Und am Wochenende noch mehr? Das wird Sie früh ins Grab bringen. Aber dann begnügte er sich damit, den Arzt darauf hinzuweisen, dass sein Bauchspeck ihm im letzten Jahr das Leben gerettet hatte.
»Das ist kein Argument«, sagte Dr. Gauze. »Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie einen zweiten Bauchschuss abkriegen? Besonders jetzt, da Sie auf dem Altenteil sitzen?«
Auf dem Altenteil? Jones war erst siebenundvierzig! Er stand im Garten und war immer noch dabei, über das Wort Altenteil nachzugrübeln, als ein beigefarbener Toyota Camry vor dem Haus hielt. Obwohl Jones angestrengt hinschaute, konnte er den Fahrer nicht erkennen. Dann öffnete sich die Tür, und eine zierliche Frau stieg aus dem Wagen. Jones kannte sie, konnte sie aber nicht einordnen. Sie sah so ausgemergelt aus, als würde sie vor lauter Nervosität nicht mehr essen. Langsam wie eine Kranke schlich sie auf die Einfahrt zu, die Lederhandtasche fest unter den Arm geklemmt. Sie schien Jones auf dem Rasen nicht bemerkt zu haben. Tatsächlich ging sie geradewegs an ihm vorbei.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er schließlich. Erschreckt fuhr sie herum.
»Jones Cooper?«, fragte sie und strich sich nervös mit der Hand über das grauschwarz melierte, zu einem unvorteilhaften Bob geschnittene Haar.
»Der bin ich.«
»Erkennen Sie mich?«, fragte sie.
Er kam näher heran und blieb auf der gepflasterten Einfahrt stehen. Das Garagentor musste dringend einmal gestrichen werden. Ja, sie kam ihm bekannt vor, aber ihr Name fiel ihm nicht ein.
»Tut mir leid«, sagte er. »Kennen wir uns?«
»Ich bin Eloise Montgomery.«
Jones brauchte einen Moment, dann stieg ihm die Hitze in die Wangen und seine Schultern verkrampften sich. Verdammt, dachte er.
»Mrs. Montgomery, was kann ich für Sie tun?«
Nervös schaute sie sich um. Jones folgte ihrem Blick zu den Laubhaufen, in den klaren, blauen Himmel.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« Ihr unsteter Blick blieb am Haus hängen.
»Geht das nicht auch hier?«, fragte er, verschränkte die Arme vor der Brust und pflanzte sich breitbeinig auf. Maggie hätte seine Unhöflichkeit unmöglich gefunden, aber das war ihm egal. Auf gar keinen Fall würde er diese Frau in sein Haus lassen.
»Es ist sehr persönlich«, sagte sie, »und mir ist kalt.«
Sie ging aufs Haus zu, blieb am Fuß der drei Treppenstufen stehen, die zur grau gestrichenen Veranda hinaufführten, und drehte sich zu ihm um. Ihm wurde unwohl dabei, die Frau so dicht am Haus stehen zu sehen, es war so wie eben mit den Vögeln. Sie wirkte zierlich und schreckhaft, strahlte aber dennoch eine gewisse Hartnäckigkeit aus. Sie erklomm die Treppe, ohne um Erlaubnis zu fragen, und als sie an der Tür stand, fiel ihm ein, dass ein Grashalm sich durch Asphalt bohrt, lässt man ihm nur genug Zeit. Er rechnete damit, dass sie die Fliegentür öffnen und eintreten würde, aber sie blieb geduldig stehen. Er warf seine Gartenhandschuhe neben den Rechen und folgte ihr widerwillig.
Kurz darauf saß sie am Esstisch, während er Kaffee kochte. Er behielt sie vom Küchentresen aus im Blick. Sie saß aufrecht und mit gefalteten Händen da. Sie hatte den abgewetzten Mantel mit dem Hahnentrittmuster nicht abgelegt und presste die Handtasche immer noch an den Leib. Ihre Augen kamen nicht zur Ruhe.
»Sie wollten mich nicht hereinbitten«, sagte sie und warf ihm einen flüchtigen Blick zu, bevor sie die Augen niederschlug. »Am liebsten wäre es Ihnen, ich würde verschwinden. «
Er hatte zwei Becher aus dem Küchenschrank genommen, die er jetzt unabsichtlich laut auf den Tresen knallte.
»Wow«, sagte er, »ich bin beeindruckt. Sie können tatsächlich Gedanken lesen!«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Kevin Carr schaltete das Radio aus, um den schizophrenen, fordernden Wortschwall nicht länger ertragen zu müssen. Iss dies. Kauf das. Sie wollen abnehmen? Weißere Zähne? Einen doppelten Cheeseburger mit Bacon? Einen Personal Trainer? Zwangsversteigerung am Sonntag. Aber die nun einsetzende Stille war fast noch schlimmer, denn jetzt konnte Kevin nichts anderes mehr hören als seine eigenen Gedanken, die dem Radio verdächtig ähnlich waren, sich aber nicht auf Knopfdruck abstellen ließen.
Die Pendler ringsum - ein paar Fahrgemeinschaften, aber die meisten Leute waren wie er allein unterwegs - hielten das Lenkrad fest umklammert und starrten geradeaus. Keiner von ihnen sah glücklich aus, oder? Niemand sang zur Musik aus dem Autoradio, niemand lächelte vor sich hin. Viele Leute telefonierten über ihre Freisprechanlage und gestikulierten, als säße jemand auf dem Beifahrersitz. Dabei waren sie allein. Sahen die Leute bleich und frustriert aus? Ungesund, unzufrieden? Oder projizierte er lediglich seine eigenen Gefühle auf die anderen? Betrachtete er seine Umwelt als Abbild seines Innenlebens?
Ohne zu blinken zog er den Wagen auf die rechte Spur und schnitt irgendein Arschloch in einem neuen BMW. Der Mann trat auf die Bremse und drückte wütend auf die Hupe. Beim Blick in den Rückspiegel sah Kevin, wie er ihm den Mittelfinger zeigte. Der BMW-Fahrer brüllte, obwohl er doch wissen musste, dass ihn keiner hörte. Kevin war wie berauscht vor Schadenfreude. Zum ersten Mal an diesem Tag musste er lächeln.
Sein Handy klingelte. Obwohl er nur ungern ans Telefon ging, wenn er den Anrufer nicht anhand des Displays erkennen konnte, nahm Kevin das Gespräch an, indem er auf die Taste am Lenkrad drückte. Momentan jonglierte er mit so vielen Bällen, dass er fast den Überblick verloren hatte.
»Hier Kevin Carr«, sagte er.
»Hey«, sagte Paula. »Bist du auf dem Heimweg?«
»Ich bin schon fast an der Ausfahrt«, antwortete er.
»Die Kleine braucht Windeln. Und Cameron hat leichtes Fieber. Könntest du Ibuprofensaft mitbringen?«
»Klar«, sagte er. »Sonst noch was?«
»Ich glaube, das ist alles. Heute war ich doch tatsächlich mit beiden Kindern im Supermarkt.« Im Hintergrund hörte Kevin Wasser rauschen und Töpfe scheppern. »Und wir haben es wieder nach draußen geschafft, ohne dass ich einen Nervenzusammenbruch bekommen habe, kaum zu glauben, was? Cammy war heute wirklich brav. Aber die Windeln habe ich vergessen.«
Er sah die Szene geradezu vor sich. Claire angeschnallt in der Babyschale, oben auf dem Einkaufswagen, und Cameron an Paulas Rockzipfel, während er Faxen machte und Lebensmittel aus den Regalen zog. Paula ließ sich nicht gehen und verließ das Haus stets gekämmt und geschminkt, ganz anders als die anderen Mütter, die er manchmal vor Camerons Kindergarten sah - Augenringe, fleckige Kleidung, wirres Haar. Das duldete er nicht.
»Das nächste Mal solltest du vorher einen Einkaufszettel schreiben«, sagte er.
Paula schwieg, und er hörte das Baby wimmern. Dieser weinerliche Dauerton, der in Geschrei umschlagen würde, falls nicht bald jemand herausfand, was es wollte, ließ ihn zusammenzucken. Das Weinen war Vorwurf, Anklage und Urteil in einem.
»Ja, Kevin«, sagte Paula. Ihre anfängliche Fröhlichkeit war verschwunden. »Danke für den Tipp.«
»Ich wollte dich nicht ...«
Aber sie hatte schon aufgelegt.
Im Supermarkt war Elton John der Meinung, draußen im Weltall fühle man sich einsam. Elton sang, er entspreche nicht dem Bild von Mann, dass man sich zu Hause von ihm gemacht habe. Kevin verstand nur zu gut, wie das gemeint war. Er schlenderte durch die endlosen, mit grellbunt verpackten Kunstprodukten aufgefüllten Gänge - fettreduziert, zuckerfrei, kohlehydratarm, ohne gesättigte Fettsäuren, cholesterinfrei, schlank machend, zwei zum Preis von einem, alles bio. In der Säuglingsabteilung dominierten Rosa, Hellblau und Pastellgelb. Er suchte nach der grün-braunen Verpackung jener Windelsorte, die Paula für die Kleine bevorzugte - aus recyceltem Material und biologisch abbaubar. Diese Bio-Bewegung konnte ihn wirklich auf die Palme bringen. Seit der industriellen Revolution hatten die großen Konzerne die Natur geplündert und geschändet, sie hatten Luft und Wasser verpestet, den Regenwald abgeholzt und den Boden vergiftet. Und nun sollte auf einmal das Individuum den Planeten durch persönlichen Einsatz retten, indem es für Bioprodukte den doppelten Preis bezahlte, was letztendlich nur den Gewinn jener Konzerne vergrößerte, die für die Erderwärmung und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verantwortlich waren, ganz zu schweigen von Fettleibigkeit und den dadurch bedingten Erkrankungen. Das war einfach zu viel für ihn.
An einer der vielen Kassen saß ein junges, hübsches Mädchen und blätterte gelangweilt in einem Promi-Magazin. Wie hieß sie gleich? Weil er seine Brille nicht trug, konnte er ihr Namensschild nicht entziffern. Tracie? Trixie? Trudie?
»Hallo, Mr. Carr. Heute habe ich Ihre Frau und Ihre Kinder gesehen«, sagte sie und zog seine Einkäufe über den Scanner. Windeln: zwölf Dollar neunundneunzig, Fiebersaft: acht Dollar neunundvierzig. Ein Blick auf die Titten einer Zwanzigjährigen: unbezahlbar. Dafür brauchte er keine Brille.
Paula hatte Cameron bis zu seinem zweiten Geburtstag gestillt und einen Monat später festgestellt, dass sie erneut schwanger war. Bei Claire betrug die Stillzeit inzwischen achtzehn Monate, dabei hatte Paula ihm versprochen, diesmal nach einem Jahr aufzuhören. Sie waren dazu übergegangen, ihre Brüste als Gebrauchsgegenstände zu betrachten, die ohne Hintergedanken ausgepackt wurden, sobald Claire zu jammern anfing. Die Zeit der spitzenbesetzten Push-up-BHs und seidenen Negligés war vorbei. Wenn Paula überhaupt einen BH trug, war er mit diesem Schnappmechanismus ausgestattet, damit das Baby trinken konnte. Tracie-Trixie-Trudie trug wahrscheinlich nur hübsche, knappe Wäsche, und an ihren pfirsichweichen Brüsten hing kein Baby, das allen Sexappeal aus ihr heraussaugte.
»Was für ein Glückspilz Sie sind«, sagte das Mädchen, »bei so einer netten Familie!«
»Stimmt«, sagte Kevin und warf einen Blick in seine Brieftasche. Wie immer war sie leer. Er starrte auf sieben Kreditkarten, die bunt und höhnisch in den Lederschlitzen steckten. Er konnte sich nicht erinnern, welche noch nicht gesperrt war. »Ich habe wirklich Glück.«
Lächelnd reichte er ihr seine Visa-Platinkarte und hielt die Luft an, bis das Pad seine Unterschrift forderte.
Kevin wusste, was das Mädchen sah, wenn sie ihn betrachtete, und er kannte den Grund für ihr bezauberndes Lächeln. Sie sah eine Breitling-Uhr, einen Anzug von Armani, einen mit Diamanten besetzten Ehering. Die Gegenstände, die er am Körper trug, waren mehr wert, als sie in einem ganzen Jahr verdiente. Wenn sie ihn betrachtete, sah sie sein Geld, nicht den haushohen Schuldenberg, den die Anschaffungen ihm beschert hatten. Die Leute nahmen immer nur die schillernde Oberfläche wahr. Was darunter lag, was wirklich zählte, interessierte niemanden.
»Haben Sie einen Einkaufsbeutel dabei?«, fragte sie mit einem strahlenden Lächeln und drohte ihm scherzhaft tadelnd mit dem Zeigefinger.
»Nein«, sagte Kevin. Er spielte den Zerknirschten. »Aber es geht auch so, ich brauche keine Tüte.« Er griff nach der Windelpackung und dem Hustensaft und lief zum Ausgang.
»Sie haben einen Baum gerettet, Mr. Carr!«, rief sie ihm nach. »Gut gemacht!«
Ihr jugendlicher Elan gab ihm das Gefühl, hundert Jahre alt zu sein. Und gerade als er den überdachten Eingangsbereich verließ, fing es heftig zu regnen an. Als er wieder im Auto saß, war er klatschnass. Er legte die Einkäufe auf den Rücksitz. Dann warf er einen Blick in den Rückspiegel und strich sich das dunkelbraune Haar aus der Stirn. Er zog ein Handtuch aus der Sporttasche, die auf dem Rücksitz lag, tupfte seine Anzugjacke ab und wischte die Regentropfen von den Ledersitzen.
Zitternd ließ er den Motor an. Es war nicht einmal besonders kalt, trotzdem fröstelte er am ganzen Leib. Für einen Moment blieb er wie gelähmt sitzen. Er brauchte eine Minute, nur eine einzige Minute der Stille, bevor er sich seine Maske wieder aufsetzte. Er legte den Rückwärtsgang ein, um aus der Parklücke zu setzen, aber dann griff er spontan unter den Beifahrersitz und holte den kleinen, schwarzen Beutel aus seinem Versteck. Kevin wollte sich bloß vergewissern, dass alles noch an seinem Platz war.
Er bewahrte den Beutel dort auf, seit sie im Sommer nach Florida gefahren waren und mit den Kindern Disneyworld besucht hatten. Allein für Eintrittskarten, Hotel und Essen hatte er über dreitausend Dollar hingeblättert. Das ganze Unterfangen war eine Pantomime der Normalität gewesen und die endlose Fahrt nach Süden ein einziges Chaos aus Salzstangen und Saftkartons, begleitet von Camerons nervigen CDs und Claires ewigem Gezeter und Geheul. Tagsüber waren sie durch den Vergnügungspark gelaufen, was Cameron viel Spaß gemacht hatte. Aber die Kleine war einfach noch zu jung dafür, und in Kombination mit der gnadenlosen Hitze und den endlosen Warteschlangen trieb ihr Geweine ihn fast in den Wahnsinn. Er zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er fürchtete, sein Kopf könnte jeden Augenblick explodieren. Er hatte Paula als attraktive, clevere und spritzige junge Frau kennengelernt. Nun lief sie als zweifache (und zwei Kleidergrößen breitere) Mom durch Disneyworld. Seit wann waren ihre Beine so stämmig? Während des Ausflugs war Kevin klar geworden, dass er einen Ausweg brauchte. So konnte er nicht weiterleben. Eine Scheidung käme natürlich nicht in Frage. Was für eine Vorstellung!
Eines Abends war er losgefahren, um Pizza zu holen. Er hatte eines der vielen Waffengeschäfte in der Gegend aufgesucht, die ihm zuvor aufgefallen waren.
»Das hier ist die beliebteste Schusswaffe in Amerika«, hatte der Verkäufer erklärt. »Die Glock 17 hat eine Munitionskapazität von siebzehn Neunmillimeterpatronen. Sie ist federleicht und ideal für den Hausgebrauch. Hoffentlich kommen Sie nie in so eine Lage, aber im Notfall können Sie damit auch ohne große Waffenkenntnisse Ihre Familie verteidigen. «
Der Verkäufer war etwa Mitte zwanzig, und seine Begeisterung für den Job war geradezu krankhaft. Er verkaufte Kevin auch eine Schachtel Patronen.
Wenige Tage später, am Abend vor der Heimreise, fuhr Kevin noch einmal hin und holte die Glock ab. Er konnte kaum fassen, dass er das Geschäft ganz legal mit einem Stoffbeutel verlassen konnte, in dem eine Pistole und Munition steckten. Auf dem Parkplatz hatte er alles unter dem Beifahrersitz verstaut. Seit sechs Monaten lag der Beutel nun dort. Paula benutzte seinen Wagen nie, und am Wochenende fuhren sie den Mercedes-Geländewagen, in dem sich die Kindersitze und die Wickeltasche und der Rest der Babyausrüstung - Buggy, Trinkflaschen, Feuchttücher - befanden. Paulas Wagen war immer so vollgeladen, als wollte sie monatelang verreisen.
Kevin griff in den Beutel, nahm die Plastikschatulle heraus und öffnete sie. Die flache, schwarze Pistole lag im Futteral und schimmerte im bernsteinfarbenen Licht der Parkplatzlampen. Er bewunderte die harten Kanten und den geriffelten, ergonomisch geformten Griff. Er hörte den Regen aufs Autodach trommeln und die gedämpfte Stimme einer Frau, die auf dem Weg zum Auto in ihr Handy sprach. Ich kann nicht glauben, dass er das gesagt hat, schimpfte sie. Was für ein Idiot!
Der Anblick der Pistole tröstete ihn. Seine Schultern entspannten sich, sein Atem ging ruhiger. Die entsetzliche Spannung, die ihn den ganzen Tag gequält hatte, schien ein Stück weit nachzulassen. Kevin wusste nicht, warum. Hätte man ihn gefragt, warum ihn der Anblick einer Pistole mit solch unglaublicher Erleichterung erfüllte, hätte er keine Antwort gewusst.
Eins
Jones Cooper fürchtete den Tod. Seine Todesangst weckte ihn in der Nacht und ließ ihn im Bett hochfahren, drückte ihm die Luft ab, schnürte ihm die Speiseröhre zu, ließ ihn röchelnd nach Luft schnappen. Die harmlosen Schatten im ehelichen Schlafzimmer verwandelten sich in eine Horde gieriger Zombies, die ihn stumm belauerten. Wann? Wie? Herzinfarkt. Krebs. Ein dummer Unfall. Würde es schnell zu Ende gehen? Oder würde er langsam und unter unwürdigen Umständen dahinsiechen? Und was käme danach, wenn überhaupt etwas kam?
Er war nicht gläubig. Genauso wenig hatte er ein reines Gewissen. Er glaubte nicht an einen gütigen Gott, an ein Jenseits voller Licht und Liebe. Er konnte sich nicht wie andere auf derlei Krücken stützen; scheinbar waren alle auf geheimnisvolle Art vor dem Schreckgespenst der eigenen Sterblichkeit geschützt. Alle außer Jones.
Seine Frau Maggie hatte von den nächtlichen Panikattacken genug. Am Anfang hatte sie ihm beigestanden und auf ihn eingeredet: Ruhig, Jones, atme einfach weiter. Beruhige dich.
Alles ist in Ordnung. Aber selbst sie, die unendlich geduldige Therapeutin, hatte sich angewöhnt, im Gästezimmer oder auf dem Sofa zu schlafen, manchmal sogar im Kinderzimmer ihres Sohnes, das leer stand, seit Ricky an der Georgetown Universität studierte.
Seine Frau war überzeugt, dass die Attacken etwas mit Rickys Auszug zu tun hatten. »Wenn ein Kind auszieht, um aufs College zu gehen, ist das ein Meilenstein. Es ist völlig normal, dann über die Vergänglichkeit des Lebens nachzudenken «, hatte sie gesagt. Offenbar war Maggie der Ansicht, die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren wäre ein nützliches Ritual, dem sich niemand entziehen durfte. »Aber ab einem bestimmten Punkt schlägt die Nachdenklichkeit in Selbstmitleid oder gar Selbsthass um. Du musst einsehen, dass es fast schon wie sterben ist, sich immer und überall vor dem Tod zu fürchten.«
Dabei hatte er den Eindruck, als Einziger über den Tod nachzudenken. Anscheinend spazierten die anderen munter durchs Leben, ohne einen Gedanken ans drohende Ende zu verschwenden. Sie trieben sich stundenlang bei Facebook herum, quatschten im Starbucks-Drive-in in ihr Handy oder fläzten sich aufs Sofa, um hirnverbrannten TV-Müll zu konsumieren. Die Leute dachten kein bisschen nach - nicht übers Leben, nicht über den Tod und nicht über ihre Mitmenschen.
»Also wirklich, nimm die Dinge nicht so schwer, mein Schatz.« Das waren ihre letzten Worte an diesem Morgen gewesen, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Patienten gemacht hatte. Er versuchte wirklich, die Dinge nicht so schwerzunehmen.
Jones harkte Laub; die riesige Eiche vor dem Haus hatte fast alle ihre Blätter verloren. Jones hatte das Laub neben dem Rinnstein zu einem Haufen aufgetürmt. Seit sie in dem Haus wohnten, hatte ein Gärtner die Aufgabe übernommen, aber nach seiner Pensionierung vor einem Jahr hatte Jones beschlossen, alle Arbeiten selbst zu erledigen. Er mähte den Rasen, trimmte die Hecken, säuberte den Pool und putzte die Fenster. Jetzt harkte er das Laub zusammen, in Kürze würde er in der Einfahrt Schnee schippen. Erstaunlich, wie schnell so ein Arbeitstag verging, wenn Jones von morgens bis abends vor sich hinwerkelte, wie Maggie es nannte - Glühbirnen auswechselte, Bäume beschnitt, die Autos wusch.
Wird dir das reichen? Du bist dafür zu intellektuell. Können diese Aufgaben dich wirklich zufriedenstellen? Seine Frau überschätzte ihn. Er war kein bisschen intellektuell. Die Nachbarn fingen an, fest mit ihm zu rechnen; sie freuten sich, einen pensionierten Cop in der Nähe zu wissen, wenn sie auf Reisen oder zur Arbeit gingen. Er ließ die Handwerker ins Haus, leerte den Briefkasten, knipste abends eine Lampe an, behielt die Grundstücke im Auge und pflegte seine Waffensammlung. Am Anfang hatte Maggie sich über die Nachbarn geärgert, die unangemeldet klingelten und um dieses oder jenes baten, ganz besonders, da Jones sich weigerte, Geld anzunehmen, nicht einmal von Fremden. Aber dann fingen die Leute an, Geschenke vor die Tür zu stellen - eine Flasche Whisky oder einen Restaurantgutschein für das Grillmarks, ein schickes Steakhouse.
»Du solltest ein Geschäft draus machen«, hatte Maggie gesagt. Während eines von den Pedersens bezahlten Abendessens war sie plötzlich ganz enthusiastisch geworden. Jones hatte die hinterlistige Katze der Pedersens eine Woche lang gefüttert.
Er spöttelte: »Klar. Nutzloser Nachbar hängt den ganzen Tag rum und hat nichts zu tun, als den Klempner ins Haus zu lassen. Meinst du das?«
Sie lächelte ihn schief an, was er stets an ihr gemocht hatte. Sie zog einen Mundwinkel hoch, so wie immer, wenn sie ihn lustig fand, es aber nicht zugeben wollte.
»Warum? Du bietest wertvolle Dienste an, für die die Leute nur zu gern bezahlen würden«, sagte sie. »Denk mal drüber nach.«
Aber Jones erledigte die Gefälligkeiten gern und wollte gar nicht dafür bezahlt werden. Es war schön, gebraucht zu werden und sich um die Nachbarschaft zu kümmern, dafür zu sorgen, dass alles in Ordnung war. Seine Berufung konnte man nicht einfach so mit der Dienstmarke abgeben. Außerdem war er eigentlich gar nicht im Ruhestand, oder? Er hatte seinen Job nur aufgegeben, weil er es angesichts der Umstände für notwendig gehalten hatte. Aber das war eine andere Geschichte.
Am späten Vormittag war die Temperatur auf angenehme zwanzig Grad geklettert. Das Sonnenlicht vergoldete alles, die Luft duftete nach geharktem Laub, und von irgendwoher roch es nach Kaminfeuer. In der Einfahrt stand Rickys restaurierter Pontiac GTO Baujahr 1966, den er nur am Wochenende benutzte, wenn er zu Hause war. Jones hatte den Wagen inspiziert und poliert.
Jones vermisste seinen Sohn. Leider war ihr Verhältnis in den letzten Jahren vor allem von Streit geprägt gewesen. Dennoch konnte er es nicht erwarten, den Jungen wieder im Haus zu haben, und sei es nur für vier Tage. Hätte ihm jemand vorhergesagt, wie schmerzlich er sein Kind vermissen würde, wie schwer es ihm fallen würde, an dem leeren Kinderzimmer vorbeizugehen - Jones hätte kein Wort geglaubt. Er hätte es für eine der zahlreichen Plattitüden zum Thema Elternschaft gehalten.
Er lehnte den Rechen an den Stamm der Eiche und zog sich die Handschuhe aus. Zwei Trauertauben gurrten betrübt vor sich hin. Sie saßen auf dem Verandageländer und plusterten das gelbbraune Gefieder auf.
»Tut mir leid«, sagte Jones, und das nicht zum ersten Mal. Früh am Morgen hatte er ihren Nestbau gestört und einen losen Haufen aus Zweigen und Papierresten entfernt, den sie in den Öffnungsmechanismus des Garagentors gestopft hatten. Trauertauben bauen provisorische Brutstätten und sind so faul, dass sie die verlassenen Nester anderer Vögel in Besitz nehmen. Die Garage musste ihnen als idealer Nistplatz erschienen sein, weil sie dort vor Räubern geschützt waren. Aber Jones duldete keine Vögel in seiner Garage. Vögel waren Vorboten des Todes, das wusste jeder. Nun lungerten sie auf dem Grundstück herum und machten ihm ein schlechtes Gewissen.
»Ihr könnt euer Nest bauen, wo ihr wollt«, rief er und machte eine weit ausholende Armbewegung, »nur nicht hier.«
Offenbar hörten sie zu und verdrehten den Hals, während er sprach. Dann flatterten sie mit einem wütenden Tschilpen davon.
»Blöde Vögel.«
Jones wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Obwohl es nicht besonders warm war, hatte ihn die Gartenarbeit ins Schwitzen gebracht, was ihn daran erinnerte, dass sein Hausarzt ihn seit Jahren bekniete, zwölf Kilo abzunehmen. Sein Arzt, ein beneidenswert schlanker und attraktiver Mann im selben Alter, ließ keine Gelegenheit aus, Jones' Übergewicht zu erwähnen, egal aus welchem Grund er ihn aufsuchte. Auch Sie werden sterben, Doc, wollte Jones ihm immer sagen. Vermutlich kratzen Sie beim Sport ab. Wie viele Kilometer reißen Sie täglich runter - sieben, acht? Und am Wochenende noch mehr? Das wird Sie früh ins Grab bringen. Aber dann begnügte er sich damit, den Arzt darauf hinzuweisen, dass sein Bauchspeck ihm im letzten Jahr das Leben gerettet hatte.
»Das ist kein Argument«, sagte Dr. Gauze. »Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie einen zweiten Bauchschuss abkriegen? Besonders jetzt, da Sie auf dem Altenteil sitzen?«
Auf dem Altenteil? Jones war erst siebenundvierzig! Er stand im Garten und war immer noch dabei, über das Wort Altenteil nachzugrübeln, als ein beigefarbener Toyota Camry vor dem Haus hielt. Obwohl Jones angestrengt hinschaute, konnte er den Fahrer nicht erkennen. Dann öffnete sich die Tür, und eine zierliche Frau stieg aus dem Wagen. Jones kannte sie, konnte sie aber nicht einordnen. Sie sah so ausgemergelt aus, als würde sie vor lauter Nervosität nicht mehr essen. Langsam wie eine Kranke schlich sie auf die Einfahrt zu, die Lederhandtasche fest unter den Arm geklemmt. Sie schien Jones auf dem Rasen nicht bemerkt zu haben. Tatsächlich ging sie geradewegs an ihm vorbei.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er schließlich. Erschreckt fuhr sie herum.
»Jones Cooper?«, fragte sie und strich sich nervös mit der Hand über das grauschwarz melierte, zu einem unvorteilhaften Bob geschnittene Haar.
»Der bin ich.«
»Erkennen Sie mich?«, fragte sie.
Er kam näher heran und blieb auf der gepflasterten Einfahrt stehen. Das Garagentor musste dringend einmal gestrichen werden. Ja, sie kam ihm bekannt vor, aber ihr Name fiel ihm nicht ein.
»Tut mir leid«, sagte er. »Kennen wir uns?«
»Ich bin Eloise Montgomery.«
Jones brauchte einen Moment, dann stieg ihm die Hitze in die Wangen und seine Schultern verkrampften sich. Verdammt, dachte er.
»Mrs. Montgomery, was kann ich für Sie tun?«
Nervös schaute sie sich um. Jones folgte ihrem Blick zu den Laubhaufen, in den klaren, blauen Himmel.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?« Ihr unsteter Blick blieb am Haus hängen.
»Geht das nicht auch hier?«, fragte er, verschränkte die Arme vor der Brust und pflanzte sich breitbeinig auf. Maggie hätte seine Unhöflichkeit unmöglich gefunden, aber das war ihm egal. Auf gar keinen Fall würde er diese Frau in sein Haus lassen.
»Es ist sehr persönlich«, sagte sie, »und mir ist kalt.«
Sie ging aufs Haus zu, blieb am Fuß der drei Treppenstufen stehen, die zur grau gestrichenen Veranda hinaufführten, und drehte sich zu ihm um. Ihm wurde unwohl dabei, die Frau so dicht am Haus stehen zu sehen, es war so wie eben mit den Vögeln. Sie wirkte zierlich und schreckhaft, strahlte aber dennoch eine gewisse Hartnäckigkeit aus. Sie erklomm die Treppe, ohne um Erlaubnis zu fragen, und als sie an der Tür stand, fiel ihm ein, dass ein Grashalm sich durch Asphalt bohrt, lässt man ihm nur genug Zeit. Er rechnete damit, dass sie die Fliegentür öffnen und eintreten würde, aber sie blieb geduldig stehen. Er warf seine Gartenhandschuhe neben den Rechen und folgte ihr widerwillig.
Kurz darauf saß sie am Esstisch, während er Kaffee kochte. Er behielt sie vom Küchentresen aus im Blick. Sie saß aufrecht und mit gefalteten Händen da. Sie hatte den abgewetzten Mantel mit dem Hahnentrittmuster nicht abgelegt und presste die Handtasche immer noch an den Leib. Ihre Augen kamen nicht zur Ruhe.
»Sie wollten mich nicht hereinbitten«, sagte sie und warf ihm einen flüchtigen Blick zu, bevor sie die Augen niederschlug. »Am liebsten wäre es Ihnen, ich würde verschwinden. «
Er hatte zwei Becher aus dem Küchenschrank genommen, die er jetzt unabsichtlich laut auf den Tresen knallte.
»Wow«, sagte er, »ich bin beeindruckt. Sie können tatsächlich Gedanken lesen!«
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Lisa Unger
Lisa Unger, geboren in Connecticut, ist in den USA, England und Holland aufgewachsen. Sie hat in einem Verlag gearbeitet, bevor sie sich entschloss, selbst Schriftstellerin zu werden. Gleich mit ihrem ersten Thriller gelang ihr ein Bestseller. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie heute in Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Unger
- 2012, 446 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Eva Bonné
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442477158
- ISBN-13: 9783442477159
Rezension zu „Gnade deiner Seele “
"Lisa Unger gehört zu meinen absoluten Lieblingsautoren. Sie wird mit jedem Buch noch besser." Karin Slaughter
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