Goldbrokat
Historischer Roman
Ein faszinierender Einblick in die Geschichte des Seidenhandels.
Der Zufall beschert der verarmten Ariane Kusan eine neue Chance. Als sie LouLou Wever, einer stadtbekannten Halbweltdame, aus der Not hilft, nimmt diese Arianes Dienste als...
Der Zufall beschert der verarmten Ariane Kusan eine neue Chance. Als sie LouLou Wever, einer stadtbekannten Halbweltdame, aus der Not hilft, nimmt diese Arianes Dienste als...
Leider schon ausverkauft
Taschenbuch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Goldbrokat “
Ein faszinierender Einblick in die Geschichte des Seidenhandels.
Der Zufall beschert der verarmten Ariane Kusan eine neue Chance. Als sie LouLou Wever, einer stadtbekannten Halbweltdame, aus der Not hilft, nimmt diese Arianes Dienste als Schneiderin in Anspruch. Bald schon sind die Gewänder, die sie mit großem Geschick und Geschmack entwirft, in der feinen Gesellschaft heiß begehrt. Und auch Ariane selbst zieht die Aufmerksamkeit eines Bewunderers auf sich. Doch ein sorgsam gehütetes Geheimnis hindert sie daran, den Avancen des Mannes nachzugeben.
Der Zufall beschert der verarmten Ariane Kusan eine neue Chance. Als sie LouLou Wever, einer stadtbekannten Halbweltdame, aus der Not hilft, nimmt diese Arianes Dienste als Schneiderin in Anspruch. Bald schon sind die Gewänder, die sie mit großem Geschick und Geschmack entwirft, in der feinen Gesellschaft heiß begehrt. Und auch Ariane selbst zieht die Aufmerksamkeit eines Bewunderers auf sich. Doch ein sorgsam gehütetes Geheimnis hindert sie daran, den Avancen des Mannes nachzugeben.
Klappentext zu „Goldbrokat “
Ein faszinierender Einblick in die Geschichte des SeidenhandelsDer Zufall beschert der verarmten Ariane Kusan eine neue Chance. Als sie LouLou Wever, einer stadtbekannten Halbweltdame, aus der Not hilft, nimmt diese Arianes Dienste als Schneiderin in Anspruch. Bald schon sind die Gewänder, die sie mit großem Geschick und Geschmack entwirft, in der feinen Gesellschaft heiß begehrt. Und auch Ariane selbst zieht die Aufmerksamkeit eines Bewunderers auf sich. Doch ein sorgsam gehütetes Geheimnis hindert sie daran, den Avancen des Mannes nachzugeben ...
Lese-Probe zu „Goldbrokat “
Goldbrokat von Andrea SchachtDie Raupe
Träg und matt, auf abgezehrten Sträuchen,
Sah ein Schmetterling die Raupe schleichen;
Und erhob sich fröhlich, argwohnfrei,
Daß er Raupe selbst gewesen sei.
Johann Gottfried Herder,
Die Raupe und der Schmetterling
... mehr
Als der linde Frühlingswind durch die austreibenden Maulbeerbäume strich, schlüpfte die winzige, schwärzliche Seidenraupe aus ihrem Ei. Sie folgte gleich darauf ihrem untrüglichen Instinkt und begann, die saftigen Blätter zu fressen, die in ihrer Nähe ausgebreitet lagen. Nicht die goldenen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der hölzernen Wand fielen, beachtete sie, nicht die leisen Stimmen der geschäftigen Frauen, die ihnen die klein geschnittene Nahrung darboten, nicht das zarte Rascheln, mit denen ihre Artgenossen durch das junge Grün krochen. Fünf Tage fraß sie und fraß und fraß, bis sie schließlich in Erstarrung verfiel. Sie hatte so viel an Gewicht zugenommen, dass sie ein neues Gewand benötigte, und so legte sie nach einem Tag völliger Ruhe die alte Haut ab - und fraß weiter.
Nun war sie hellgrau geworden und noch viel hungriger. Nicht nur Blätter, auch die jungen Reiser der Maulbeerbäume schmeckten ihr. Bis sie wieder müde wurde und eine neue Haut benötigte. Mit frischem Mut fiel sie nach dem Erwachen über immer größere Portionen her, gefräßig, gierig, rastlos Blätter zermalmend, verdauend, wachsend.
Noch zweimal legte sie die beengende Haut ab, bis ihr Körper fast durchscheinend weiß war. Seit sie vor einem Monat geschlüpft war, hatte sie um das Zehntausendfache an Gewicht zugenommen und nun das Stadium erreicht, in dem sie nach einer weit größeren Ruhe als nur der kurzen Starre der Häutung verlangte.
Sie verlor das Interesse an der Nahrung und kroch über die hölzernen Hürden, um sich einen gemütlichen Platz zu suchen. Als sie ihn zwischen den dünnen Ästchen gefunden hatte, erzeugte sie mit der klebrigen Flüssigkeit, die nun aus ihrem Maul austrat, zwei Fäden und befestigte sie an den Reisern, um Halt für die nächste Stufe ihrer Entwicklung zu finden. Dann spann sie mit gleichmäßigen Drehungen den schier endlosen Faden um sich herum. Vier Tage arbeitete sie unermüdlich, dann versank sie erschöpft in den Schlaf, um das Wunder zu vollziehen.
So begann die Wandlung vom erdgebundenen, kriechenden Geschöpf in einen Falter, und als er schließlich den seidenen Kokon verließ, breitete der Schmetterling seine Flügel aus. Unbeschwert schwang er sich in die lichten Höhen, tanzte im Sonnenlicht über den blühenden Bäumen und begab sich auf die Suche nach seiner Partnerin.
Rückkehr aus dem Nirwana
Ein Opfer zu bringen bringt Heil.
Wird die Schale umgekehrt,
wird sie von Unrat entleert.
Demütiges Empfangen führt zu Erfolg.
I Ging, Ting - die Opferschale
Als er aus der unendlichen Schwärze auftauchte, webten die Klänge der Bronzeglocken einen Kokon aus sanften Tönen um ihn. Mit einem warmen Wind schwebte Kiefernduft durch den Raum, wo er sich mit einem Hauch von süßem Weihrauch mischte. Wunderbar körperlos fühlte er sich, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, eingebettet in das vollkommene Sein.
Er wäre gewiss zufrieden auf immer hier geblieben. Doch da begann sein Wille einen Faden zu spinnen, und an diesem dünnen Fädchen entlang entstand das Begehren. Es erwachte damit auch das Verlangen und mit ihm der Wunsch zu wissen, wo er sich befand.
Der Wille erstarkte und befähigte ihn, die schweren Lider zu heben, um die Welt durch das Tor seiner Augen in sein Bewusstsein eintreten zu lassen.
Ein heller Raum, lichtdurchflutet. Ein Mann in einer groben, braunen Robe neben ihm. Sein haarloser Schädel glänzte wie eine polierte Haselnuss, sein breitflächiges Gesicht trug den Ausdruck unendlicher Ruhe. Regungslos saß er an seinem Lager, nur seine Augen waren beharrlich auf ihn gerichtet. Schwarze, unergründliche Augen, hinter denen er Wissen und Stille erahnte.
Der Wille reichte nicht aus, um Worte zu formen, doch der Mann schien seine Gedanken lesen zu können.
»Ihr seid im Hanshan-Kloster, baixi Jong. Seit drei Tagen. Ihr habt zu viel Opium gegessen und seid krank geworden.«
So genau hatte er es nicht wissen wollen, denn es erinnerte ihn an vergangene Schmerzen. Er schloss die Lider wieder, doch der Mönch erhob sich mit leise wispernden Gewändern und richtete ihn an den Schultern auf.
»Trinkt, baixi Jong. Der Saft der Maulbeeren wird Euch reinigen.«
Schlucken war anstrengend, ein Teil des Saftes floss ihm aus den Mundwinkeln, doch die süßsaure Flüssigkeit schwemmte das Moos aus seinem Mund. Dann durfte er wieder liegen, ruhen und dem Klanggewebe der Glocken lauschen. Gefangen in den hallenden Tönen zog sich nach und nach sein Geist zurück aus dem hellen Raum der Gegenwart in die dunklen Gefilde seines Bewusstseins. Es war nicht Schlaf, es war nicht Traum, es war nicht mehr das körperlose Treiben im Sein. Es war das Versinken im bitteren Meer der Erinnerung.
Die waren die Schreie, mit denen seine Pein begann. Die entsetzlichen Schreie, die das Krachen und Knastern des brennenden Holzes übertönten. Die Schreie, aus unglaublicher Qual geboren, stachen wie Dolche in seine Sinne. Wieder spürte er die Hitze der Flammen, die gierig an dem Balken emporleckten, der vom Dach der Lagerhalle gestürzt war. Ein weiterer Stoffballen entzündete sich neben ihm mit einem Puffen, und das ihn verzehrende Feuer erhellte mit seinem gespenstisch zuckenden Licht die Umgebung. Er war gelähmt, hilflos, seine Augen tränten vom Rauch, das Luftholen ging nur keuchend schwer. Der Geruch von brennender Seide und verbranntem Fleisch breitete sich aus.
Erst die lauten Befehle seines Paten weckten ihn aus der Erstarrung. Mit bloßen Händen versuchte er, ihm zu helfen, den glosenden Balken anzuheben, unter dem sein Bruder gefangen lag. Er war zu schwer, viel schwerer, als dass ein Erwachsener und ein Junge ihn hätten bewegen können.
Vielleicht, vielleicht aber hätten sie es doch schaffen können. Die Angst um den Verletzten, dessen qualvolles Schreien, die wüsten Flüche seines Paten setzten ungeheure Kräfte in ihm frei. Er spürte die Brandwunden an seinen Händen nicht, hörte den eigenen röchelnden Atem nicht, ignorierte das Brennen in der Lunge. Er kämpfte um das Leben seines Bruders.
Aber plötzlich wurde ein Tor geöffnet, und das Feuer atmete die einströmende Luft mit einem gewalttätigen Aufbrausen ein. Die Schreie erstickten.
Er wurde an den Schultern gepackt und aus der Halle gezerrt.
Kühle Nachtluft umfing ihn, er wollte zusammenbrechen. Doch unbarmherzig wurde er gestoßen und gedrängt, bis er in einer Türnische niederfiel.
Donnernd stürzte das hölzerne Gebäude hinter ihm ein, ein Funkenregen ging nieder. Stichflammen zuckten gen Himmel. Über das Bersten und Krachen hinweg aber ertönten Schüsse. Jäger und Gejagte hetzten durch die Straßen, fielen, schrien, bluteten, starben vor seinen entsetzten Blicken auf dem Pflaster. Schwarzer, öliger Rauch hüllte die Gasse ein, hustend, würgend schwankte er auf den Knien, schloss verzweifelt die brennenden Augen, doch hinter den Lidern sah er nur wieder das Gesicht seines Bruders, von Schmerz entstellt.
Sein Pate versuchte, ihn mit seinem eigenen Körper vor der Gewalt auf der Straße abzuschirmen, und verfluchte dabei mit rauer, geschundener Stimme seinen Geschäftspartner, der feige geflohen war, statt ihnen zu helfen.
»Er wird dafür bezahlen, dafür werde ich sorgen. Dafür wird er selbst im schreienden Wahnsinn sterben, das schwöre ich. Und wenn es die letzte Tat in meinem Leben ist«, hörte er ihn heiser flüstern.
Und noch immer sah er das Gesicht seines sterbenden Bruders.
Er erblickte es jetzt wieder, doch allmählich verschwand die Pein daraus, und die Züge glätteten sich. Ignaz lächelte ihn unbeschwert an, so, wie er es oft getan hatte, wenn sie gemeinsam die Abenteuer ihrer Zukunft planten. Dann aber entfernte er sich mehr und mehr, schien sich in einen Nebel zu hüllen und verschwand in der Dunkelheit.
»Ja, ich komme zu dir, bald«, versprach der Mann im Kloster dem sich entfernenden Geist. »Ich bin bereit, Ignaz. Ich komme zu dir. Doch für mich wird es leichter sein, über die Schwelle zu treten, als für dich.«
In diesem Moment begannen die Krämpfe wieder, die seine Eingeweide zu verknoten, mit ihren Klauen zu zerfetzen und in Stücke zu reißen drohten, und er erkannte, dass er sich getäuscht hatte.
Das Schicksal hatte keinen leichten Tod für ihn vorgesehen.
Zerrissene Seide
Mädchen! Schlingt die wildesten Tänze,
reißt nur euren Kranz entzwei!
Ohne Furcht, denn solche Kränze
Flicht man immer wieder neu.
Eduard Mörike
Wir hatten uns heimlich davongemacht, Madame Mira, Philipp, Laura und ich. Weil Tante Caro den Besuch des Mülheimer Sommertheaters auf gar keinen Fall gebilligt hätte. Das war nämlich keine kulturell hochstehende Veranstaltung, auf der ich die gelangweilten Mitglieder der haute volée bei getragenen Klängen eines Kammerorchesters oder den pathetisch deklamierten Werken unserer Dichterfürsten amüsierten. Nein, es war Unterhaltung für Dienstmädchen und Arbeiter, für fesche Soldaten und stramme Wäscherinnen. Und für Kinder. Hier pielte in einem Pavillon am Rheinufer das preußische Muikkorps mitreißende Märsche, recht derbe Schwänke entlocken dem Publikum begeistertes Johlen, leicht bekleidete Tänzerinnen brachten die männlichen Zuschauer zum Schwitzen. Oder zum Pfeifen. Je nachdem, in welcher Begleitung sie sich befanden.
Madame Mira begutachtete die beweglichen Damen auf der Bühne fachmännisch, meine siebenjährige Tochter hingerissen, der achtjährige Philipp hingegen schenkte seine Aufmerksamkeit lieber dem taumelnden Kreisel eines anderen Jungen. Mir kam das Gehüpfe ein wenig dilettantisch vor, aber es war vermutlich weniger die Kunstfertigkeit des Tanzes als die possieriche Darstellung halb entblößter, in der guten Gesellschaft nicht erwähnbarer Körperteile, die den Reiz dieser Vorführung ausmachte.
Dennoch, der Ausflug war ein Gewinn für uns alle. Er war Madame Miras Wunsch zu ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag, den ich ihr nur zu gerne erfüllt hatte. Sie genoss das bunte, laute Treiben, die klebrig süße Limonade und den Streuselkuchen genau wie meine Kinder. Die beiden aber betrachteten die Fahrt mit dem Dampfschiff von Köln nach Mülheim als den Höhepunkt des Genusses, und die Rückfahrt stand nun noch bevor. Ganz konnte ich dieses Vergnügen nicht teilen, Dampfmaschinen weckten in mir ein vages Unbehagen. Auch wenn Philipp mir die Arbeitsweise präzise erklärt hatte. Mochte der Himmel wissen, woher er seine Kenntnisse hatte. Aus der Elementarschule sicher nicht. Selbst Laura hatte er schon mit seiner Begeisterung für rußende Schlote, rotierende Schwungräder und dampfende Kessel angesteckt. Sehr zu Tante Caros Missfallen, die dieses Sujet als ein für Mädchen höchst ungeeignetes ansah.
Ich hingegen verbat es Laura nicht, sich über die Dampfkraft kundig zu machen. Mir hatte man als Kind auch nie untersagt, mich mit all den Themen zu beschäftigen, die mein Interesse weckten. Vermutlich war das die Ursache allen Übels, das dann später über mich hereinbrechen sollte.
Aber darüber nachzudenken verbot der heutige Tag. Der strahlend schöne Julinachmittag neigte sich dem Abend zu, und es war an der Zeit, die Heimreise anzutreten. Madame Mira erklärte sich bereit, mit den Kindern zur Anlegestelle zu gehen, während ich -je nun, die Limonade verlangte ihr Recht. Zu diesem Behufe jedoch gab es keine passenden Räumlichkeiten, aber ich hatte die Dienstmädchen auch schon mal heimlich in die Büsche verschwinden sehen. Da ich für diesen Ausflug selbstredend auf die Krinoline verzichtet hatte, tat ich es ihnen nach und suchte den schmalen Pfad in das dichtbelaubte Uferdickicht.
Auf meinem Rückweg stolperte ich über ein rotes Seidenkleid im grünen Laub.
In dem von weiten Reifen ausgebreiteten Rock kauerte eine Dame, die sich bemühte, ihr Mieder mit den Händen zusammenzuhalten, wobei sie leise, aber unmissverständlich undamenhafte Worte murmelte. Sie blickte auf, als sie mich bemerkte, und ein hoffnungsvoller Blick lag in ihren Augen.
»Sie haben nicht zufällig eine Sicherheitsnadel dabei, die Sie mir leihen könnten?«
»Nein, eine Sicherheitsnadel nicht, aber Nadel und Faden sind meine ständigen Begleiter. Wenn Sie mir ein paar Schritte weiter aus diesem - ähm - stillen Örtchen folgen wollten, könnte ich das Problem rasch beheben.«
Nähzeug hatte ich immer im Retikül, ich kannte ja meine Kinder. Ich reichte der Dame meinen Schal, sodass sie ihr zerrissenes Dekolleté bedecken konnte, und führte sie hinter den nahegelegenen Kuchenstand, wo wir einigermaßen ungestört das Flickwerk vollbringen konnten.
Das Kleid war nicht von feinster Seide und auch nicht besonders sorgfältig genäht, aber selbst eines von besserer Qualität hätte wohl dem brutalen Angriff nicht standgehalten. Das Mieder war vorne bis zur Taille aufgerissen, und da die Besitzerin über eine nicht unbeträchtliche Oberweite verfügte, würde es schwierig werden, es zu reparieren. Mein gelber Organza-schal, schon reichlich geschlissen, mochte jedoch helfen, wenngleich die Farbkombination zu dem leuchtenden Rot recht grell wirkte. Mit einigen Handgriffen drapierte ich ihn so, dass er den Ausschnitt umgab und das klaffende Mieder verdeckte. Die Stiche, die ich machte, um ihn zu befestigen, waren flüchtig, aber für die Ewigkeit sollte dieses Provisorium ja auch nicht halten.
»Meine Güte, was sind Sie geschickt, Fräulein. Sind Sie Näherin?«
»So ähnlich. Halten Sie bitte still, gnädige Frau, sonst pieke ich Sie.«
»Die Gnädige können Sie sich sparen. Wäre ich eine, wäre mir das hier nicht passiert.«
»Mhm.«
»Diskret auch noch? Sie sind ein erstaunliches Geschöpf. Und Sie haben mir Ihren hübschen Schal geopfert. Geben Sie mir bitte Ihre Adresse, damit ich ihn Ihnen ersetzen kann.«
»Das ist nicht der Rede wert, Madame.«
»Doch, ist es, und Madame passt auch nicht so ganz. Wie heißen Sie, Fräulein?«
»Ariane Kusan«, stellte ich mich vor und bemerkte ein kurzes Zucken ihrer Lider. Sie sagte jedoch nichts, sondern wühlte in ihrem Täschchen und förderte eine Visitenkarte hervor.
Ich nahm sie entgegen, warf einen Blick darauf und vernähte dann den Faden. Mit der kleinen Verblüffung in ihrer Miene hatte ich mich wohl getäuscht. Woher sollte sie mich kennen? Ich hatte sie zumindest noch nie gesehen, und auch ihr Name sagte mir nichts. Darum schnitt ich den Faden ab und sagte: »Eh voilà, Frau Wever, fertig. Und jetzt muss ich mich beeilen, denn sonst schaffe ich es nicht mehr, auf das Mülheimer Bötchen zu kommen.«
Was keine faule Ausrede war. Ich musste tatsächlich die Röcke raffen und den Weg zur Anlegestelle in höchst unschicklicher Geschwindigkeit zurücklegen.
Madame Mira und die Kinder waren schon an Bord, als ich mich leise schnaufend zu ihnen gesellte.
»Was ist passiert, Ariane?«
»Eine Jungfer in Nöten. Oder so ähnlich.«
Ich reichte Madame Mira die Karte und berichtete von dem zerrissenen Seidenkleid.
»Ein allzu animierter Begleiter offensichtlich, den die Glut alle Schicklichkeit vergessen ließ.«
»Der jedoch seine Angebetete in einer unangenehmen Lage verlassen hat. Nun, LouLou Wever wird mit dergleichen Aufmerksamkeiten umzugehen wissen.«
»Sie kennen die Frau?«
»Vom Hörensagen. Sie ist eine stadtbekannte Kokette und nicht der Umgang, den Sie Ihrer Tante gegenüber erwähnen sollten, Liebelein. Aber es war sehr freundlich von Ihnen, ihr zu helfen.«
Manchmal verwendete Madame Mira recht eigenwillige Bezeichnungen, und ich grübelte, was wohl in ihren Augen eine Kokette war. Die Möglichkeiten konnten sich zwischen etablierter Bordellbesitzerin und einer geschiedenen Frau bewegen. Die Adresse auf der Visitenkarte war gutbeleumundet, in der Schildergasse waren die Wohnungen nicht billig.
»Nun ja, mich hielt sie für eine Näherin«, sagte ich und steckte die Karte sorgsam weg.
»So sehen Sie heute ja auch aus. Dieses Kleid ist scheußlich.«
»Ich weiß, aber nützlich. Man sieht die Marmeladen- und Limonadenflecken nicht so deutlich. Ich hoffe nur, Tante Caro hält sich bis in die Abendstunden bei ihrer lieben Freundin Belderbusch auf, damit ich ungesehen in mein Zimmer schlüpfen kann.«
Das verwaschene Barchentkleid hatte im Laufe der Jahre den größten Teil seiner blauen Farbe eingebüßt, und selbst die rotbraunen Satinbänder, die ich an Ausschnitt und Ärmel genäht hatte, konnten nicht über den fadenscheinigen Saum und manche Flecken im Rock hinwegtäuschen.
»Sie wird zum Essen bleiben, keine Sorge.«
Madame Mira grinste mich an, und ich nickte. Ein exquisites Essen schlug meine Tante nie aus. Warum auch, wir konnten uns schließlich nur schlichte Mahlzeiten leisten. Nicht, dass wir Hunger leiden mussten, aber für Lendenbraten oder Entenbrust reichte das Haushaltsgeld nicht.
Ein Umstand, den wir tunlichst zu verbergen trachteten.
Denn Tante Caro legte Wert darauf, in den höchsten Kreisen der Kölner Gesellschaft zu verkehren. Und darum galt es, eine makellose Fassade aufrechtzuerhalten.
Copyright © 2009 Blanvalet Verlag, München,
Als der linde Frühlingswind durch die austreibenden Maulbeerbäume strich, schlüpfte die winzige, schwärzliche Seidenraupe aus ihrem Ei. Sie folgte gleich darauf ihrem untrüglichen Instinkt und begann, die saftigen Blätter zu fressen, die in ihrer Nähe ausgebreitet lagen. Nicht die goldenen Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der hölzernen Wand fielen, beachtete sie, nicht die leisen Stimmen der geschäftigen Frauen, die ihnen die klein geschnittene Nahrung darboten, nicht das zarte Rascheln, mit denen ihre Artgenossen durch das junge Grün krochen. Fünf Tage fraß sie und fraß und fraß, bis sie schließlich in Erstarrung verfiel. Sie hatte so viel an Gewicht zugenommen, dass sie ein neues Gewand benötigte, und so legte sie nach einem Tag völliger Ruhe die alte Haut ab - und fraß weiter.
Nun war sie hellgrau geworden und noch viel hungriger. Nicht nur Blätter, auch die jungen Reiser der Maulbeerbäume schmeckten ihr. Bis sie wieder müde wurde und eine neue Haut benötigte. Mit frischem Mut fiel sie nach dem Erwachen über immer größere Portionen her, gefräßig, gierig, rastlos Blätter zermalmend, verdauend, wachsend.
Noch zweimal legte sie die beengende Haut ab, bis ihr Körper fast durchscheinend weiß war. Seit sie vor einem Monat geschlüpft war, hatte sie um das Zehntausendfache an Gewicht zugenommen und nun das Stadium erreicht, in dem sie nach einer weit größeren Ruhe als nur der kurzen Starre der Häutung verlangte.
Sie verlor das Interesse an der Nahrung und kroch über die hölzernen Hürden, um sich einen gemütlichen Platz zu suchen. Als sie ihn zwischen den dünnen Ästchen gefunden hatte, erzeugte sie mit der klebrigen Flüssigkeit, die nun aus ihrem Maul austrat, zwei Fäden und befestigte sie an den Reisern, um Halt für die nächste Stufe ihrer Entwicklung zu finden. Dann spann sie mit gleichmäßigen Drehungen den schier endlosen Faden um sich herum. Vier Tage arbeitete sie unermüdlich, dann versank sie erschöpft in den Schlaf, um das Wunder zu vollziehen.
So begann die Wandlung vom erdgebundenen, kriechenden Geschöpf in einen Falter, und als er schließlich den seidenen Kokon verließ, breitete der Schmetterling seine Flügel aus. Unbeschwert schwang er sich in die lichten Höhen, tanzte im Sonnenlicht über den blühenden Bäumen und begab sich auf die Suche nach seiner Partnerin.
Rückkehr aus dem Nirwana
Ein Opfer zu bringen bringt Heil.
Wird die Schale umgekehrt,
wird sie von Unrat entleert.
Demütiges Empfangen führt zu Erfolg.
I Ging, Ting - die Opferschale
Als er aus der unendlichen Schwärze auftauchte, webten die Klänge der Bronzeglocken einen Kokon aus sanften Tönen um ihn. Mit einem warmen Wind schwebte Kiefernduft durch den Raum, wo er sich mit einem Hauch von süßem Weihrauch mischte. Wunderbar körperlos fühlte er sich, losgelöst von Vergangenheit und Zukunft, eingebettet in das vollkommene Sein.
Er wäre gewiss zufrieden auf immer hier geblieben. Doch da begann sein Wille einen Faden zu spinnen, und an diesem dünnen Fädchen entlang entstand das Begehren. Es erwachte damit auch das Verlangen und mit ihm der Wunsch zu wissen, wo er sich befand.
Der Wille erstarkte und befähigte ihn, die schweren Lider zu heben, um die Welt durch das Tor seiner Augen in sein Bewusstsein eintreten zu lassen.
Ein heller Raum, lichtdurchflutet. Ein Mann in einer groben, braunen Robe neben ihm. Sein haarloser Schädel glänzte wie eine polierte Haselnuss, sein breitflächiges Gesicht trug den Ausdruck unendlicher Ruhe. Regungslos saß er an seinem Lager, nur seine Augen waren beharrlich auf ihn gerichtet. Schwarze, unergründliche Augen, hinter denen er Wissen und Stille erahnte.
Der Wille reichte nicht aus, um Worte zu formen, doch der Mann schien seine Gedanken lesen zu können.
»Ihr seid im Hanshan-Kloster, baixi Jong. Seit drei Tagen. Ihr habt zu viel Opium gegessen und seid krank geworden.«
So genau hatte er es nicht wissen wollen, denn es erinnerte ihn an vergangene Schmerzen. Er schloss die Lider wieder, doch der Mönch erhob sich mit leise wispernden Gewändern und richtete ihn an den Schultern auf.
»Trinkt, baixi Jong. Der Saft der Maulbeeren wird Euch reinigen.«
Schlucken war anstrengend, ein Teil des Saftes floss ihm aus den Mundwinkeln, doch die süßsaure Flüssigkeit schwemmte das Moos aus seinem Mund. Dann durfte er wieder liegen, ruhen und dem Klanggewebe der Glocken lauschen. Gefangen in den hallenden Tönen zog sich nach und nach sein Geist zurück aus dem hellen Raum der Gegenwart in die dunklen Gefilde seines Bewusstseins. Es war nicht Schlaf, es war nicht Traum, es war nicht mehr das körperlose Treiben im Sein. Es war das Versinken im bitteren Meer der Erinnerung.
Die waren die Schreie, mit denen seine Pein begann. Die entsetzlichen Schreie, die das Krachen und Knastern des brennenden Holzes übertönten. Die Schreie, aus unglaublicher Qual geboren, stachen wie Dolche in seine Sinne. Wieder spürte er die Hitze der Flammen, die gierig an dem Balken emporleckten, der vom Dach der Lagerhalle gestürzt war. Ein weiterer Stoffballen entzündete sich neben ihm mit einem Puffen, und das ihn verzehrende Feuer erhellte mit seinem gespenstisch zuckenden Licht die Umgebung. Er war gelähmt, hilflos, seine Augen tränten vom Rauch, das Luftholen ging nur keuchend schwer. Der Geruch von brennender Seide und verbranntem Fleisch breitete sich aus.
Erst die lauten Befehle seines Paten weckten ihn aus der Erstarrung. Mit bloßen Händen versuchte er, ihm zu helfen, den glosenden Balken anzuheben, unter dem sein Bruder gefangen lag. Er war zu schwer, viel schwerer, als dass ein Erwachsener und ein Junge ihn hätten bewegen können.
Vielleicht, vielleicht aber hätten sie es doch schaffen können. Die Angst um den Verletzten, dessen qualvolles Schreien, die wüsten Flüche seines Paten setzten ungeheure Kräfte in ihm frei. Er spürte die Brandwunden an seinen Händen nicht, hörte den eigenen röchelnden Atem nicht, ignorierte das Brennen in der Lunge. Er kämpfte um das Leben seines Bruders.
Aber plötzlich wurde ein Tor geöffnet, und das Feuer atmete die einströmende Luft mit einem gewalttätigen Aufbrausen ein. Die Schreie erstickten.
Er wurde an den Schultern gepackt und aus der Halle gezerrt.
Kühle Nachtluft umfing ihn, er wollte zusammenbrechen. Doch unbarmherzig wurde er gestoßen und gedrängt, bis er in einer Türnische niederfiel.
Donnernd stürzte das hölzerne Gebäude hinter ihm ein, ein Funkenregen ging nieder. Stichflammen zuckten gen Himmel. Über das Bersten und Krachen hinweg aber ertönten Schüsse. Jäger und Gejagte hetzten durch die Straßen, fielen, schrien, bluteten, starben vor seinen entsetzten Blicken auf dem Pflaster. Schwarzer, öliger Rauch hüllte die Gasse ein, hustend, würgend schwankte er auf den Knien, schloss verzweifelt die brennenden Augen, doch hinter den Lidern sah er nur wieder das Gesicht seines Bruders, von Schmerz entstellt.
Sein Pate versuchte, ihn mit seinem eigenen Körper vor der Gewalt auf der Straße abzuschirmen, und verfluchte dabei mit rauer, geschundener Stimme seinen Geschäftspartner, der feige geflohen war, statt ihnen zu helfen.
»Er wird dafür bezahlen, dafür werde ich sorgen. Dafür wird er selbst im schreienden Wahnsinn sterben, das schwöre ich. Und wenn es die letzte Tat in meinem Leben ist«, hörte er ihn heiser flüstern.
Und noch immer sah er das Gesicht seines sterbenden Bruders.
Er erblickte es jetzt wieder, doch allmählich verschwand die Pein daraus, und die Züge glätteten sich. Ignaz lächelte ihn unbeschwert an, so, wie er es oft getan hatte, wenn sie gemeinsam die Abenteuer ihrer Zukunft planten. Dann aber entfernte er sich mehr und mehr, schien sich in einen Nebel zu hüllen und verschwand in der Dunkelheit.
»Ja, ich komme zu dir, bald«, versprach der Mann im Kloster dem sich entfernenden Geist. »Ich bin bereit, Ignaz. Ich komme zu dir. Doch für mich wird es leichter sein, über die Schwelle zu treten, als für dich.«
In diesem Moment begannen die Krämpfe wieder, die seine Eingeweide zu verknoten, mit ihren Klauen zu zerfetzen und in Stücke zu reißen drohten, und er erkannte, dass er sich getäuscht hatte.
Das Schicksal hatte keinen leichten Tod für ihn vorgesehen.
Zerrissene Seide
Mädchen! Schlingt die wildesten Tänze,
reißt nur euren Kranz entzwei!
Ohne Furcht, denn solche Kränze
Flicht man immer wieder neu.
Eduard Mörike
Wir hatten uns heimlich davongemacht, Madame Mira, Philipp, Laura und ich. Weil Tante Caro den Besuch des Mülheimer Sommertheaters auf gar keinen Fall gebilligt hätte. Das war nämlich keine kulturell hochstehende Veranstaltung, auf der ich die gelangweilten Mitglieder der haute volée bei getragenen Klängen eines Kammerorchesters oder den pathetisch deklamierten Werken unserer Dichterfürsten amüsierten. Nein, es war Unterhaltung für Dienstmädchen und Arbeiter, für fesche Soldaten und stramme Wäscherinnen. Und für Kinder. Hier pielte in einem Pavillon am Rheinufer das preußische Muikkorps mitreißende Märsche, recht derbe Schwänke entlocken dem Publikum begeistertes Johlen, leicht bekleidete Tänzerinnen brachten die männlichen Zuschauer zum Schwitzen. Oder zum Pfeifen. Je nachdem, in welcher Begleitung sie sich befanden.
Madame Mira begutachtete die beweglichen Damen auf der Bühne fachmännisch, meine siebenjährige Tochter hingerissen, der achtjährige Philipp hingegen schenkte seine Aufmerksamkeit lieber dem taumelnden Kreisel eines anderen Jungen. Mir kam das Gehüpfe ein wenig dilettantisch vor, aber es war vermutlich weniger die Kunstfertigkeit des Tanzes als die possieriche Darstellung halb entblößter, in der guten Gesellschaft nicht erwähnbarer Körperteile, die den Reiz dieser Vorführung ausmachte.
Dennoch, der Ausflug war ein Gewinn für uns alle. Er war Madame Miras Wunsch zu ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag, den ich ihr nur zu gerne erfüllt hatte. Sie genoss das bunte, laute Treiben, die klebrig süße Limonade und den Streuselkuchen genau wie meine Kinder. Die beiden aber betrachteten die Fahrt mit dem Dampfschiff von Köln nach Mülheim als den Höhepunkt des Genusses, und die Rückfahrt stand nun noch bevor. Ganz konnte ich dieses Vergnügen nicht teilen, Dampfmaschinen weckten in mir ein vages Unbehagen. Auch wenn Philipp mir die Arbeitsweise präzise erklärt hatte. Mochte der Himmel wissen, woher er seine Kenntnisse hatte. Aus der Elementarschule sicher nicht. Selbst Laura hatte er schon mit seiner Begeisterung für rußende Schlote, rotierende Schwungräder und dampfende Kessel angesteckt. Sehr zu Tante Caros Missfallen, die dieses Sujet als ein für Mädchen höchst ungeeignetes ansah.
Ich hingegen verbat es Laura nicht, sich über die Dampfkraft kundig zu machen. Mir hatte man als Kind auch nie untersagt, mich mit all den Themen zu beschäftigen, die mein Interesse weckten. Vermutlich war das die Ursache allen Übels, das dann später über mich hereinbrechen sollte.
Aber darüber nachzudenken verbot der heutige Tag. Der strahlend schöne Julinachmittag neigte sich dem Abend zu, und es war an der Zeit, die Heimreise anzutreten. Madame Mira erklärte sich bereit, mit den Kindern zur Anlegestelle zu gehen, während ich -je nun, die Limonade verlangte ihr Recht. Zu diesem Behufe jedoch gab es keine passenden Räumlichkeiten, aber ich hatte die Dienstmädchen auch schon mal heimlich in die Büsche verschwinden sehen. Da ich für diesen Ausflug selbstredend auf die Krinoline verzichtet hatte, tat ich es ihnen nach und suchte den schmalen Pfad in das dichtbelaubte Uferdickicht.
Auf meinem Rückweg stolperte ich über ein rotes Seidenkleid im grünen Laub.
In dem von weiten Reifen ausgebreiteten Rock kauerte eine Dame, die sich bemühte, ihr Mieder mit den Händen zusammenzuhalten, wobei sie leise, aber unmissverständlich undamenhafte Worte murmelte. Sie blickte auf, als sie mich bemerkte, und ein hoffnungsvoller Blick lag in ihren Augen.
»Sie haben nicht zufällig eine Sicherheitsnadel dabei, die Sie mir leihen könnten?«
»Nein, eine Sicherheitsnadel nicht, aber Nadel und Faden sind meine ständigen Begleiter. Wenn Sie mir ein paar Schritte weiter aus diesem - ähm - stillen Örtchen folgen wollten, könnte ich das Problem rasch beheben.«
Nähzeug hatte ich immer im Retikül, ich kannte ja meine Kinder. Ich reichte der Dame meinen Schal, sodass sie ihr zerrissenes Dekolleté bedecken konnte, und führte sie hinter den nahegelegenen Kuchenstand, wo wir einigermaßen ungestört das Flickwerk vollbringen konnten.
Das Kleid war nicht von feinster Seide und auch nicht besonders sorgfältig genäht, aber selbst eines von besserer Qualität hätte wohl dem brutalen Angriff nicht standgehalten. Das Mieder war vorne bis zur Taille aufgerissen, und da die Besitzerin über eine nicht unbeträchtliche Oberweite verfügte, würde es schwierig werden, es zu reparieren. Mein gelber Organza-schal, schon reichlich geschlissen, mochte jedoch helfen, wenngleich die Farbkombination zu dem leuchtenden Rot recht grell wirkte. Mit einigen Handgriffen drapierte ich ihn so, dass er den Ausschnitt umgab und das klaffende Mieder verdeckte. Die Stiche, die ich machte, um ihn zu befestigen, waren flüchtig, aber für die Ewigkeit sollte dieses Provisorium ja auch nicht halten.
»Meine Güte, was sind Sie geschickt, Fräulein. Sind Sie Näherin?«
»So ähnlich. Halten Sie bitte still, gnädige Frau, sonst pieke ich Sie.«
»Die Gnädige können Sie sich sparen. Wäre ich eine, wäre mir das hier nicht passiert.«
»Mhm.«
»Diskret auch noch? Sie sind ein erstaunliches Geschöpf. Und Sie haben mir Ihren hübschen Schal geopfert. Geben Sie mir bitte Ihre Adresse, damit ich ihn Ihnen ersetzen kann.«
»Das ist nicht der Rede wert, Madame.«
»Doch, ist es, und Madame passt auch nicht so ganz. Wie heißen Sie, Fräulein?«
»Ariane Kusan«, stellte ich mich vor und bemerkte ein kurzes Zucken ihrer Lider. Sie sagte jedoch nichts, sondern wühlte in ihrem Täschchen und förderte eine Visitenkarte hervor.
Ich nahm sie entgegen, warf einen Blick darauf und vernähte dann den Faden. Mit der kleinen Verblüffung in ihrer Miene hatte ich mich wohl getäuscht. Woher sollte sie mich kennen? Ich hatte sie zumindest noch nie gesehen, und auch ihr Name sagte mir nichts. Darum schnitt ich den Faden ab und sagte: »Eh voilà, Frau Wever, fertig. Und jetzt muss ich mich beeilen, denn sonst schaffe ich es nicht mehr, auf das Mülheimer Bötchen zu kommen.«
Was keine faule Ausrede war. Ich musste tatsächlich die Röcke raffen und den Weg zur Anlegestelle in höchst unschicklicher Geschwindigkeit zurücklegen.
Madame Mira und die Kinder waren schon an Bord, als ich mich leise schnaufend zu ihnen gesellte.
»Was ist passiert, Ariane?«
»Eine Jungfer in Nöten. Oder so ähnlich.«
Ich reichte Madame Mira die Karte und berichtete von dem zerrissenen Seidenkleid.
»Ein allzu animierter Begleiter offensichtlich, den die Glut alle Schicklichkeit vergessen ließ.«
»Der jedoch seine Angebetete in einer unangenehmen Lage verlassen hat. Nun, LouLou Wever wird mit dergleichen Aufmerksamkeiten umzugehen wissen.«
»Sie kennen die Frau?«
»Vom Hörensagen. Sie ist eine stadtbekannte Kokette und nicht der Umgang, den Sie Ihrer Tante gegenüber erwähnen sollten, Liebelein. Aber es war sehr freundlich von Ihnen, ihr zu helfen.«
Manchmal verwendete Madame Mira recht eigenwillige Bezeichnungen, und ich grübelte, was wohl in ihren Augen eine Kokette war. Die Möglichkeiten konnten sich zwischen etablierter Bordellbesitzerin und einer geschiedenen Frau bewegen. Die Adresse auf der Visitenkarte war gutbeleumundet, in der Schildergasse waren die Wohnungen nicht billig.
»Nun ja, mich hielt sie für eine Näherin«, sagte ich und steckte die Karte sorgsam weg.
»So sehen Sie heute ja auch aus. Dieses Kleid ist scheußlich.«
»Ich weiß, aber nützlich. Man sieht die Marmeladen- und Limonadenflecken nicht so deutlich. Ich hoffe nur, Tante Caro hält sich bis in die Abendstunden bei ihrer lieben Freundin Belderbusch auf, damit ich ungesehen in mein Zimmer schlüpfen kann.«
Das verwaschene Barchentkleid hatte im Laufe der Jahre den größten Teil seiner blauen Farbe eingebüßt, und selbst die rotbraunen Satinbänder, die ich an Ausschnitt und Ärmel genäht hatte, konnten nicht über den fadenscheinigen Saum und manche Flecken im Rock hinwegtäuschen.
»Sie wird zum Essen bleiben, keine Sorge.«
Madame Mira grinste mich an, und ich nickte. Ein exquisites Essen schlug meine Tante nie aus. Warum auch, wir konnten uns schließlich nur schlichte Mahlzeiten leisten. Nicht, dass wir Hunger leiden mussten, aber für Lendenbraten oder Entenbrust reichte das Haushaltsgeld nicht.
Ein Umstand, den wir tunlichst zu verbergen trachteten.
Denn Tante Caro legte Wert darauf, in den höchsten Kreisen der Kölner Gesellschaft zu verkehren. Und darum galt es, eine makellose Fassade aufrechtzuerhalten.
Copyright © 2009 Blanvalet Verlag, München,
... weniger
Autoren-Porträt von Andrea Schacht
Schacht, AndreaAndrea Schacht (1956 - 2017) war lange Jahre als Wirtschaftsingenieurin und Unternehmensberaterin tätig, hat dann jedoch ihren seit Jugendtagen gehegten Traum verwirklicht, Schriftstellerin zu werden. Ihre historischen Romane um die scharfzüngige Kölner Begine Almut Bossart gewannen auf Anhieb die Herzen von Lesern und Buchhändlern. Mit »Die elfte Jungfrau« kletterte Andrea Schacht erstmals auf die SPIEGEL-Bestsellerliste, die sie auch danach mit vielen weiteren Romanen eroberte.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Schacht
- 2012, 608 Seiten, Maße: 12,7 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442372194
- ISBN-13: 9783442372195
- Erscheinungsdatum: 20.02.2012
Rezension zu „Goldbrokat “
"Andrea Schacht gelingt mit diesem Roman ein faszinierender Einblick in die Geschichte des Seidenhandels." buch aktuell
Kommentare zu "Goldbrokat"
0 Gebrauchte Artikel zu „Goldbrokat“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 4Schreiben Sie einen Kommentar zu "Goldbrokat".
Kommentar verfassen