Gomorrha
Reise in das Reich der Camorra. Ausgezeichnet mit dem Premio Viareggio-Repaci 2006 und dem Premio Giancarlo Siani 2006
(Sprache: Deutsch, Italienisch)
"Der Müll und die Macht": Die süditalienische Camorra mischt mit im internationalen Drogenhandel, verschiebt riesige Mengen Giftmülls in Italien, macht gewaltige Geschäfte mit der Herstellung billiger wie hochwertiger...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Gomorrha “
"Der Müll und die Macht": Die süditalienische Camorra mischt mit im internationalen Drogenhandel, verschiebt riesige Mengen Giftmülls in Italien, macht gewaltige Geschäfte mit der Herstellung billiger wie hochwertiger Textilien, hat praktisch das Monopol auf den Handel mit Zement und Geschäftsbeziehungen, die bis nach Deutschland, Schottland oder China reichen. Auf ihr Konto gehen jedes Jahr Hunderte von Toten.
Der junge Journalist Roberto Saviano stammt selbst aus Neapel. Er hat unter Einsatz seines Lebens vor Ort recherchiert, Beweise geliefert und ein brillantes Buch geschrieben, das dem Leser den Atem nimmt. Die Macht der Camorra wie anderer Verbrecherorganisationen stützt sich auf Schweigen. Saviano hat diesem Schweigen die Macht des Wortes entgegengestellt. Damit hat er sich auch tödlicher Gefahr ausgesetzt, lebt seitdem an geheimen Orten und begibt sich nur unter dem Schutz von Bodyguards in die Öffentlichkeit.
Klappentext zu „Gomorrha “
Reise in das Reich der Camorra
Die süditalienische Camorra mischt mit im internationalen Drogenhandel, verschiebt riesige Mengen Giftmülls in Italien, macht gewaltige Geschäfte mit der Herstellung billiger wie hochwertiger Textilien, hat praktisch das Monopol auf den Handel mit Zement und Geschäftsbeziehungen, die bis nach Deutschland, Schottland oder China reichen. Auf ihr Konto gehen jedes Jahr Hunderte von Toten.
Der junge Journalist Roberto Saviano stammt selbst aus Neapel. Er hat unter Einsatz seines Lebens vor Ort recherchiert, Beweise geliefert und ein brillantes Buch geschrieben, das dem Leser den Atem nimmt. Die Macht der Camorra wie anderer Verbrecherorganisationen stützt sich auf Schweigen. Saviano hat diesem Schweigen die Macht des Wortes entgegengestellt. Damit hat er sich auch tödlicher Gefahr ausgesetzt, lebt seitdem an geheimen Orten und begibt sich nur unter dem Schutz von Bodyguards in die Öffentlichkeit.
Roberto Saviano erhielt den Geschwister-Scholl-Preis 2009 für sein Buch 'Das Gegenteil von Tod' - aber darüber hinaus für sein engagiertes Schreiben insgesamt.
»Mancher denkt, dass Drohungen und Einschüchterungen zum Verbergen der Worte führen. Gerade dies passiert aber oft nicht. Statt der Stille geht man den unbegehbaren Weg des täglichen Kampfes, des andauernden und leisen Nahkampfes, wie bei einem Schattenkampf, zwischen dem, was das eigene Gewissen auferlegt, und den legitimen Sorgen eines bedrohten Lebens. Für mich persönlich ist das Schreiben gleichbedeutend damit, nicht auf meine Worte zu verzichten, mich nicht zu verlieren, mich nicht geschlagen zu geben, nicht zu verzweifeln, wenn alles mich zur Verzweiflung und Einsamkeit bringt.«
Auszug aus der Dankesrede von Roberto Saviano bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2009 (aus dem Italienischen von Beatrix Lux)
Lese-Probe zu „Gomorrha “
Gomorrha von Roberto SavianoDer Hafen
Während der Kran ihn auf das Schiff hievte, trudelte der Container, als schwimme er auf der Luft. Der Spreader, der ihn am Kran hält, konnte die Bewegung nicht stoppen. Die schlecht verriegelten Öffnungen sprangen plötzlich auf, und Dutzende von Körpern fielen heraus. Sie sahen aus wie Schaufensterpuppen. Doch beim Aufprall auf den Boden barsten die Köpfe, als wären es echte Schädel. Und es waren Schädel. Aus dem Container regnete es Männer und Frauen. Auch einige Kinder. Tot. Tiefgefroren, übereinandergepackt, hineingeschichtet wie Heringe in die Dose. Die Chinesen, die ewig leben. Die Unsterblichen, die ihre Papiere vom einen zum anderen weiterreichen. Hier also waren sie gelandet. Die Leichen, über die die wildesten Gerüchte umgingen, es hieß, sie würden in Restaurants verkocht, auf den Grundstücken um die Fabriken herum vergraben, in den Krater des Vesuv geworfen. Da waren sie. Zu Dutzenden purzelten sie aus dem Container, um den Hals Schildchen mit ihrem Namen. Alle hatten Geld beiseite gelegt, um sich in ihren Heimatorten in China begraben zu lassen. Ein Teil des Lohnes war einbehalten worden als Garantie für die Rückreise, als Tote. Ein Platz im Container und eine Grube in einem Fleckchen chinesischer Erde. Als der Kranfahrer aus dem Hafen mir die Sache erzählte, bedeckte er sein Gesicht mit den Händen und blickte mich durch die Fingerzwischen- räume an. Als ob diese Maske der Hände ihm Mut mache, weiterzuerzählen. Er hatte die Leichen herausfallen sehen und nicht einmal Alarm schlagen oder jemanden benachrichtigen müssen. Kaum war der Container auf den Boden herabgelassen, tauchten wie aus dem Nichts Dutzende von Menschen auf, stapelten die Leichen wieder hinein und schwemmten die Reste mit einem Wasserschlauch weg. So lief das. Der Kranfahrer konnte es selbst
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noch nicht fassen, hoffte, es sei nur eine Halluzination, wegen der vielen Überstunden. Er schloß die Fingerzwischenräume, bedeckte das ganze Gesicht mit den Händen und sprach weinerlich weiter, aber ich konnte ihn nicht mehr verstehen.
Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. Durch den Hafen von Neapel. Stoff, Plastikteil, Spielzeug, Hammer, Schuh, Schraubenzieher, Bolzen, Videospiel, Jacke, Hose, Bohrer oder Uhr, es gibt nichts, was nicht den Hafen passiert. Er ist eine klaffende Wunde. Endpunkt der endlosen Reisewege der Waren. Die Schiffe kommen an und steuern im Golf auf das Hafenbecken zu wie die Jungen zu den Zitzen des Muttertieres, nur daß sie nicht saugen, sondern ausgesaugt werden. Der Hafen von Neapel ist die Öffnung im Globus, durch die ausgespuckt wird, was China und der Orient hervorbringen, den die Chronisten auch heute noch gern den Fernen Osten nennen. Fern, sehr fern. Fast unvorstellbar. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir Kimonos, Marco Polo mit seinem Bart und Bruce Lee im kühnen Sprung. In Wirklichkeit ist dieser Orient mit dem Hafen von Neapel so eng wie mit keinem anderen Ort der Welt verbunden. Hier hat der Orient nichts Fernes. Er liegt unmittelbar vor der Tür und müßte der Nahe Orient genannt werden. Alles, was China produziert, wird hier ausgekippt. Wie wenn einem Kind sein Eimerchen in einer Sandkuhle umfällt und das verschüttete Wasser sich ausbreitet und versickert. Über Neapel werden zwanzig Prozent des Wertes der Textilproduktion aus China eingeführt, aber siebzig Prozent der Warenmenge passieren den Hafen. Dieses merkwürdige Phänomen ist schwer zu verstehen, aber Waren haben magische Fähigkeiten, sie können existieren, ohne vorhanden zu sein, ankommen, ohne je zu erscheinen, den Kunden ein Vermögen kosten, obwohl sie wertlos sind, für die Steuerbehörden als Lumpen durchgehen, obwohl sie aus edlem Material sind. Bei den Textilien gibt es eine ganze Reihe Warenkategorien, und auf den Begleitpapieren genügt ein Federstrich, um Kosten und Mehrwertsteuer radikal zu senken. Im schwarzen Loch des Hafens scheint sich die molekulare Struktur der Dinge aufzulösen und erst in einiger Entfernung von der Küste wieder zusammenzufügen. Die Ware muß den Hafen sofort verlassen. Alles geht so schnell, daß sie verschwindet, während es geschieht. Als ob gar nichts gewesen wäre, nur eine Handbewegung. Eine nicht vorhandene Fahrt, eine falsche Ankunft, ein Gespensterschiff, eine Ladung, die sich in Luft auflöst. Als ob sie nie existiert hätte. Verdampft. Die Ware muß beim Käufer ankommen ohne Spuren ihrer Reise, sie muß sein Lager schnell erreichen, sofort, bevor die Zeit läuft, die Zeit, während der eine Kontrolle statt- finden könnte. Tonnen von Waren bewegen sich, als wären sie Päckchen, die vom Postboten ausgeliefert werden. Auf den 1336 000 Quadratmetern Fläche und den 11,5 Kilometern Länge des Hafens von Neapel erfährt die Zeit eine erstaunliche Verdichtung. Was draußen eine Stunde dauern würde, scheint hier in kaum einer Minute möglich zu sein. Die angeblich sprichwörtliche Langsamkeit der Neapolitaner wird hier Lügen gestraft. Die chinesischen Waren unterlaufen die zeitliche Dimension, in der der Zoll seine Kontrolle durchführen kann. Rasend schnell. Eine Minute nach der anderen Minute wird hier niedergemacht. Ein Massaker von Minuten, ein Blutbad von Sekunden, der Durchsicht der Papiere entrissen, angetrieben vom Gaspedal der Lastwagen, begleitet von den Kränen und Loren, die die Container ausweiden.
Im Hafen von Neapel ist die größte staatliche Reederei Chinas tätig, die Cosco. Sie gebietet über die drittgrößte Handelsflotte der Welt und betreibt den größten Containerterminal. Sie kooperiert mit der MSC, die ihrerseits die zweitgrößte Handelsflotte der Welt besitzt und in Genf ansässig ist. Schweizer und Chinesen haben sich zusammengetan und beschlossen, den größten Teil ihrer Geschäfte in Neapel ab- zuwickeln. Hier verfügen sie mit mehr als neunhundertfünfzig Metern Kaimauer, hundertdreißigtausend Quadratmetern Containerterminal und dreißigtausend Quadratmetern Au- ßenfläche über ein Areal, auf dem fast der gesamte Verkehr von und nach Neapel abgewickelt wird. Man muß viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen zu können, wie sich die ungeheure chinesische Produktion ganz auf den neapolitanischen Hafen konzentrieren kann. Ein biblisches Gleichnis drängt sich auf, der Hafen ähnelt dem Nadelöhr, durch das anstelle des Kamels Schiffe ziehen. Buge, die sich kreuzen, riesige Frachter, die in Reih und Glied draußen auf die Einfahrt in den Golf warten, beim Manövrieren das Ächzen der Hecks, der eisernen Aufbauten, der Bordwände und Bolzen, wenn sie sich in das enge neapolitanische Loch zwängen. Wie in einen Anus, dessen Schließmuskel sich unter großen Schmerzen weitet.
Doch das stimmt nicht. Es ist ganz anders. Keinerlei augenfälliges Durcheinander. Alle Schiffe laufen in ordentlicher Reihenfolge ein und aus, jedenfalls wirkt es vom Festland aus so. Dabei nehmen hundertfünfzigtausend Container pro Jahr diesen Weg. Ganze Städte voller Waren werden im Hafen auf- gebaut, um gleich wieder abgebaut und weitertransportiert zu werden. Der Vorzug des Hafens liegt in seiner Durchlässigkeit, keinerlei bürokratische Verlangsamung, jede gründliche Kontrolle würde diesen Gepard des Transports in ein langsames und schwerfälliges Faultier verwandeln.
An den Piers finde ich mich nie zurecht. Der Bausan-Pier wirkt wie aus Legobausteinen übereinandergestapelt. Eine riesige Struktur, die gar keinen Raum zu haben, sondern ihn zu erfinden scheint. Eine Ecke des Piers erinnert an einen Bienenstock. Tausende seltsame Waben füllen eine ganze Wand. Es sind die Steckdosen für die Reefer-Container, die Tiefkühlprodukte transportieren und wie Schwänze an diesen Wabenwänden hängen. Alle Burger und Fischstäbchen der ganzen Welt sind in diesen eisigen Containern gestapelt. Am Bausan-Pier habe ich stets den Eindruck, ich könnte sehen, woher sämtliche für die Menschheit produzierten Dinge kommen. Wo sie die letzte Nacht verbringen, bevor sie verkauft werden.
Als stünde ich am Ursprung der Welt. Innerhalb von Stunden durchqueren diesen Hafen alle Klamotten, die die Pariser Jugend im kommenden Monat tragen wird, die Fischstäbchen, die die Bevölkerung von Brescia ein Jahr lang ernähren, Uhren für die Handgelenke der Katalanen und Seide für alle Kleider, die die Engländer für eine Saison brauchen. Es wäre interessant, irgendwo zu erfahren, nicht nur wo eine bestimmte Ware hergestellt worden ist, sondern auch, welchen Weg sie genommen hat, bis sie in die Hand des Käufers gelangt. Die Herkunft der meisten Produkte ist multipel, hybrid und Resultat von mehreren Kreuzungen. Zur Hälfte entstehen sie im Inneren Chinas, dann werden sie in irgendeinem slawischen Randstaat weiterverarbeitet, im Nordosten Italiens fertiggestellt, in Apulien oder nördlich von Tirana verpackt, um schließlich in irgendeinem europäischen Kaufhaus zu landen. Die Ware genießt eine Reisefreiheit, die keinem menschlichen Wesen je zugestanden würde. Alle Etappen, alle zusätzlichen oder offiziellen Wege enden in Neapel. Solange die ungeheuren Fullcontainer langsam durch den Golf auf die Piers zusteuern, wirken sie wie schwerfällige Mammuts aus Eisen und Ketten mit verrosteten Schweißnähten an den Bordwänden, aus denen Wasser rinnt, Schiffe, auf denen man eine riesige Mannschaft vermuten würde. Sobald sie jedoch anlegen, werden sie von einer Handvoll Männer entladen, die man für unfähig halten würde, diese Giganten auf hoher See zu bändigen.
Als ich zum erstenmal ein chinesisches Schiff am Pieranlegen sah, glaubte ich, die Produktion der ganzen Welt vor mir zu haben. Meine Augen waren nicht in der Lage, die ungeheure Menge der Container zu erfassen. Ich konnte sie nicht zählen. Es mag lächerlich klingen, aber ich kam beim Nachrechnen durcheinander, die Zahlen wurden zu groß und verwirrten sich.
© dtv
Übersetzung: Friederike Hausmann
Alles nur Denkbare wird hier durchgeschleust. Durch den Hafen von Neapel. Stoff, Plastikteil, Spielzeug, Hammer, Schuh, Schraubenzieher, Bolzen, Videospiel, Jacke, Hose, Bohrer oder Uhr, es gibt nichts, was nicht den Hafen passiert. Er ist eine klaffende Wunde. Endpunkt der endlosen Reisewege der Waren. Die Schiffe kommen an und steuern im Golf auf das Hafenbecken zu wie die Jungen zu den Zitzen des Muttertieres, nur daß sie nicht saugen, sondern ausgesaugt werden. Der Hafen von Neapel ist die Öffnung im Globus, durch die ausgespuckt wird, was China und der Orient hervorbringen, den die Chronisten auch heute noch gern den Fernen Osten nennen. Fern, sehr fern. Fast unvorstellbar. Wenn wir die Augen schließen, sehen wir Kimonos, Marco Polo mit seinem Bart und Bruce Lee im kühnen Sprung. In Wirklichkeit ist dieser Orient mit dem Hafen von Neapel so eng wie mit keinem anderen Ort der Welt verbunden. Hier hat der Orient nichts Fernes. Er liegt unmittelbar vor der Tür und müßte der Nahe Orient genannt werden. Alles, was China produziert, wird hier ausgekippt. Wie wenn einem Kind sein Eimerchen in einer Sandkuhle umfällt und das verschüttete Wasser sich ausbreitet und versickert. Über Neapel werden zwanzig Prozent des Wertes der Textilproduktion aus China eingeführt, aber siebzig Prozent der Warenmenge passieren den Hafen. Dieses merkwürdige Phänomen ist schwer zu verstehen, aber Waren haben magische Fähigkeiten, sie können existieren, ohne vorhanden zu sein, ankommen, ohne je zu erscheinen, den Kunden ein Vermögen kosten, obwohl sie wertlos sind, für die Steuerbehörden als Lumpen durchgehen, obwohl sie aus edlem Material sind. Bei den Textilien gibt es eine ganze Reihe Warenkategorien, und auf den Begleitpapieren genügt ein Federstrich, um Kosten und Mehrwertsteuer radikal zu senken. Im schwarzen Loch des Hafens scheint sich die molekulare Struktur der Dinge aufzulösen und erst in einiger Entfernung von der Küste wieder zusammenzufügen. Die Ware muß den Hafen sofort verlassen. Alles geht so schnell, daß sie verschwindet, während es geschieht. Als ob gar nichts gewesen wäre, nur eine Handbewegung. Eine nicht vorhandene Fahrt, eine falsche Ankunft, ein Gespensterschiff, eine Ladung, die sich in Luft auflöst. Als ob sie nie existiert hätte. Verdampft. Die Ware muß beim Käufer ankommen ohne Spuren ihrer Reise, sie muß sein Lager schnell erreichen, sofort, bevor die Zeit läuft, die Zeit, während der eine Kontrolle statt- finden könnte. Tonnen von Waren bewegen sich, als wären sie Päckchen, die vom Postboten ausgeliefert werden. Auf den 1336 000 Quadratmetern Fläche und den 11,5 Kilometern Länge des Hafens von Neapel erfährt die Zeit eine erstaunliche Verdichtung. Was draußen eine Stunde dauern würde, scheint hier in kaum einer Minute möglich zu sein. Die angeblich sprichwörtliche Langsamkeit der Neapolitaner wird hier Lügen gestraft. Die chinesischen Waren unterlaufen die zeitliche Dimension, in der der Zoll seine Kontrolle durchführen kann. Rasend schnell. Eine Minute nach der anderen Minute wird hier niedergemacht. Ein Massaker von Minuten, ein Blutbad von Sekunden, der Durchsicht der Papiere entrissen, angetrieben vom Gaspedal der Lastwagen, begleitet von den Kränen und Loren, die die Container ausweiden.
Im Hafen von Neapel ist die größte staatliche Reederei Chinas tätig, die Cosco. Sie gebietet über die drittgrößte Handelsflotte der Welt und betreibt den größten Containerterminal. Sie kooperiert mit der MSC, die ihrerseits die zweitgrößte Handelsflotte der Welt besitzt und in Genf ansässig ist. Schweizer und Chinesen haben sich zusammengetan und beschlossen, den größten Teil ihrer Geschäfte in Neapel ab- zuwickeln. Hier verfügen sie mit mehr als neunhundertfünfzig Metern Kaimauer, hundertdreißigtausend Quadratmetern Containerterminal und dreißigtausend Quadratmetern Au- ßenfläche über ein Areal, auf dem fast der gesamte Verkehr von und nach Neapel abgewickelt wird. Man muß viel Phantasie aufbringen, um sich vorzustellen zu können, wie sich die ungeheure chinesische Produktion ganz auf den neapolitanischen Hafen konzentrieren kann. Ein biblisches Gleichnis drängt sich auf, der Hafen ähnelt dem Nadelöhr, durch das anstelle des Kamels Schiffe ziehen. Buge, die sich kreuzen, riesige Frachter, die in Reih und Glied draußen auf die Einfahrt in den Golf warten, beim Manövrieren das Ächzen der Hecks, der eisernen Aufbauten, der Bordwände und Bolzen, wenn sie sich in das enge neapolitanische Loch zwängen. Wie in einen Anus, dessen Schließmuskel sich unter großen Schmerzen weitet.
Doch das stimmt nicht. Es ist ganz anders. Keinerlei augenfälliges Durcheinander. Alle Schiffe laufen in ordentlicher Reihenfolge ein und aus, jedenfalls wirkt es vom Festland aus so. Dabei nehmen hundertfünfzigtausend Container pro Jahr diesen Weg. Ganze Städte voller Waren werden im Hafen auf- gebaut, um gleich wieder abgebaut und weitertransportiert zu werden. Der Vorzug des Hafens liegt in seiner Durchlässigkeit, keinerlei bürokratische Verlangsamung, jede gründliche Kontrolle würde diesen Gepard des Transports in ein langsames und schwerfälliges Faultier verwandeln.
An den Piers finde ich mich nie zurecht. Der Bausan-Pier wirkt wie aus Legobausteinen übereinandergestapelt. Eine riesige Struktur, die gar keinen Raum zu haben, sondern ihn zu erfinden scheint. Eine Ecke des Piers erinnert an einen Bienenstock. Tausende seltsame Waben füllen eine ganze Wand. Es sind die Steckdosen für die Reefer-Container, die Tiefkühlprodukte transportieren und wie Schwänze an diesen Wabenwänden hängen. Alle Burger und Fischstäbchen der ganzen Welt sind in diesen eisigen Containern gestapelt. Am Bausan-Pier habe ich stets den Eindruck, ich könnte sehen, woher sämtliche für die Menschheit produzierten Dinge kommen. Wo sie die letzte Nacht verbringen, bevor sie verkauft werden.
Als stünde ich am Ursprung der Welt. Innerhalb von Stunden durchqueren diesen Hafen alle Klamotten, die die Pariser Jugend im kommenden Monat tragen wird, die Fischstäbchen, die die Bevölkerung von Brescia ein Jahr lang ernähren, Uhren für die Handgelenke der Katalanen und Seide für alle Kleider, die die Engländer für eine Saison brauchen. Es wäre interessant, irgendwo zu erfahren, nicht nur wo eine bestimmte Ware hergestellt worden ist, sondern auch, welchen Weg sie genommen hat, bis sie in die Hand des Käufers gelangt. Die Herkunft der meisten Produkte ist multipel, hybrid und Resultat von mehreren Kreuzungen. Zur Hälfte entstehen sie im Inneren Chinas, dann werden sie in irgendeinem slawischen Randstaat weiterverarbeitet, im Nordosten Italiens fertiggestellt, in Apulien oder nördlich von Tirana verpackt, um schließlich in irgendeinem europäischen Kaufhaus zu landen. Die Ware genießt eine Reisefreiheit, die keinem menschlichen Wesen je zugestanden würde. Alle Etappen, alle zusätzlichen oder offiziellen Wege enden in Neapel. Solange die ungeheuren Fullcontainer langsam durch den Golf auf die Piers zusteuern, wirken sie wie schwerfällige Mammuts aus Eisen und Ketten mit verrosteten Schweißnähten an den Bordwänden, aus denen Wasser rinnt, Schiffe, auf denen man eine riesige Mannschaft vermuten würde. Sobald sie jedoch anlegen, werden sie von einer Handvoll Männer entladen, die man für unfähig halten würde, diese Giganten auf hoher See zu bändigen.
Als ich zum erstenmal ein chinesisches Schiff am Pieranlegen sah, glaubte ich, die Produktion der ganzen Welt vor mir zu haben. Meine Augen waren nicht in der Lage, die ungeheure Menge der Container zu erfassen. Ich konnte sie nicht zählen. Es mag lächerlich klingen, aber ich kam beim Nachrechnen durcheinander, die Zahlen wurden zu groß und verwirrten sich.
© dtv
Übersetzung: Friederike Hausmann
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Autoren-Porträt von Roberto Saviano
Roberto Saviano, geboren 1979 in Neapel, ist Autor des internationalen Bestsellers 'Gomorrha'. Wegen andauernder Morddrohungen von Seiten der Camorra steht Saviano unter Polizeischutz und lebt seit mehr als acht Jahren im Untergrund. Er erhielt 2009 den Geschwister-Scholl-Preis und 2011 den Olof-Palme-Preis für seinen publizistischen Einsatz gegen organisiertes Verbrechen und Korruption.Friederike Hausmann, geboren 1945, studierte in Berlin Geschichte und Altphilologie. Die promovierte Historikerin arbeitete als Lehrerin, hielt sich mehrere Jahre in Italien auf und lebt heute als Übersetzerin und freie Autorin in München. Veröffentlichungen: 'Garibaldi. Die Geschichte eines Abenteurers, der Italien zur Einheit verhalf' (1987); 'Kleine Geschichte Italiens von 1943 his heute' (1997); 'Die deutschen Anarchisten von Chicago oder Warum Amerika den 1. Mai nicht kennt' (1998).
Bibliographische Angaben
- Autor: Roberto Saviano
- 2009, 17. Aufl., 384 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch/Italienisch
- Übersetzung:Hausmann, Friederike; Seuß, Rita
- Übersetzer: Friederike Hausmann
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423345292
- ISBN-13: 9783423345293
- Erscheinungsdatum: 01.02.2009
Sprache:
Deutsch, Italienisch
Rezension zu „Gomorrha “
»Die Zuhörer lauschen ihm wie einem Forscher, der von Expeditionen in die unentdeckte Wildnis berichtet.« Marc Widmann, Süddeutsche Zeitung
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