Gondeln aus Glas
Gondeln aus Glas von NicolasRemin
LESEPROBE
Prolog
«Nuncet in hora mortis nostrae. Ahmen. »
Die letzten Worte des Tischgebetes,mit müder, lispelnder Stimme gesprochen, flatterten aus dem Mund des Königsbeider Sizilien wie dürres Laub. Einen Moment schloss Franz II. die Augen, soals wollte er seinen Erlöser um Vergebung für die fleischlichen Gelüste bitten,die ihn jetzt dazu zwangen, eine Mahlzeit einzunehmen. Dann schlug er die Augenwieder auf, löste seine Finger umständlich voneinanderund hob den Kopf- das Signal für die wartenden Diener, an den Tisch zu tretenund die Suppe zu servieren.
Marie Sophie nahm den Löffel von derTischdecke und beobachtete angewidert, wie die linke Hand ihres Gattenautomatisch den Sitz der Serviette prüfte, bevor er ebenfalls zum Löffel griff.Seine gestärkte Serviette, riesig und erstaunlich weiß, verursachte bei jederseiner Bewegungen ein knisterndes Rascheln_ Zu diesem Geräusch würde gleich - lautwie Pelotonfeuer - das röchelnde Schlürfen kommen,das ihre Schwiegermutter jedes Mal von sich gab, wenn ihre wulstigen Lippen denSuppenlöffel berührten.
Die Handschuhe der Diener, vollerverkrusteter Flecken, passten zur schmutzigen, seit einer Woche nicht mehrgewechselten Tischdecke. Dass die Wäsche im Palazzo Farnesenur alle zehn Tage gewaschen wurde, war Teil der Sparmaßnahmen ihrerSchwiegermutter. Dazu gehörte ebenfalls, dass übrig gebliebenes Essen vomVortag erneut serviert wurde. Die säuerlich riechende Suppe kannte Marie Sophiebereits - Hallo, Suppe! - vom gestrigen und vorgestrigen Abendessen.
Marie Sophie legte den Löffel, densie bereits in ihren Teller getaucht hatte, wieder auf das Tischtuch und wischtesich den Mund ab - eine sinnlose Geste, die ihr sofort einen misstrauischenBlick ihrer Schwiegermutter eintrug - aus Augen, kalt wie Eissplitter. Augen,die überall Verrat witterten.
Großer Gott, dachte sie, wie ich diese Frauhasse.
Allerdings war das habituelleMisstrauen der Königinwitwe durchaus berechtigt. Denn dass Garibaldi mit knapptausend Mann das Königreich beider Sizilien in weniger als sechs Monaten zuFall gebracht und die königliche Familie aus ihrer Residenz in Neapel ins römischeExil vertrieben hatte, war nur durch Verrat möglich gewesen: durch Generäle,die heimlich mit den Rothemden paktiert hatten, durch Minister, die sich hinterdem Rücken des Königs mit Garibaldi arrangiert hatten, durch Feigheit undFahnenflucht. Selbst im römischen Exil, wo sie seit nunmehr drei Jahrenlebten, war der Verrat allgegenwärtig. Der Wunsch des Königs, den Thron beiderSizilien zurückzuerobern, wurde schamlos ausgenutzt. So verschwanden Unsummenin den Taschen windiger Söldner, wurden gigantische Beträge für Waffenlieferungenbezahlt, welche die königstreuen Briganten nie erreichten.
Die Königin lehnte sich seufzendzurück, um einem speckigen Handschuh die Gelegenheit zu geben, den Suppentellerzu entfernen und einen Teller mit Pollo conPeperoni vor sie hinzustellen. Auch dem Huhn - Hallo, Huhn! - begegnetesie zum zweiten Mal. Es hatte bereits vorgestern auf dem Tisch gestanden, undinzwischen sah es regelrecht mumifiziert aus. Also würde sie sich auch heutedarauf beschränken, ein wenig Brot zu essen und vorsichtig an ihrem Weinglasmit dem sauren Falerner zu nippen.
Marie Sophie hielt die Augenniedergeschlagen, spürte jedoch, dass der Blick ihrer Schwiegermutter häufigerals gewöhnlich auf ihr ruhte. Sie fragte sich, ob sie ihr bereits auf der Spurwar - womöglich von dem alarmierenden Brief wusste, den sie heute erhaltenhatte.
Was natürlich Unsinn war, denn dieeinzige Person, die - außer ihrer Kammerzofe Marietta - ihr Geheimnis kannte,war Oberst Orlow, der Intendant des Hauses Borbone, ihr Reisemarschall und gelegentlicher Vertrauter.Und Orlow würde schweigen, schon allein deshalb, weiler - trotz seiner unbestrittenen Loyalität zum König - inzwischen viel zu tiefin ihre Angelegenheiten verwickelt war.
Außerdem: konnte man es wirklichVerrat nennen, was sie getan hatte? Hatte sie sich irgendetwas zuschulden kommenlassen, das ihrem Gatten, dem König beider Sizilien,ernsthaft geschadet hätte? Nein, entschied sie. Zum Verrat würde es erstwerden, wenn das Geschehene ans Licht kam. Doch das waren abstrakte, fastphilosophische Überlegungen - ein Luxus, den sie sich im Moment nicht leistenkonnte. Sie hatte das ganz konkrete Problem, mindestens fünfzigtausend Guldenauftreiben und die Summe so schnell wie möglich nach Brüssel schicken zu müssen.
Der Einfall, wie sie die Summebeschaffen konnte, kam ihr schließlich beim Dessert, einem angestaubten StückSchokoladentorte, deren Bekanntschaft - Hallo, Torte! - sie bereits vordrei Tagen gemacht hatte. Die beiden RaffaelZeichnungen,die Oberst Orlow auf seiner letzten Venedigreise andiesen Kostolany verkaufen konnte, hatten ihr gutesGeld eingebracht, und es sprach nichts dagegen, diese Geschäftsbeziehung zuerneuern. Und dem Händler etwas anzubieten, das erheblich kostbarer war.
Eine Stunde später stand sie in derKapelle des Palazzo Farnese und zog vorsichtig dasschwarze Tuch herab, das über einer Darstellung der heiligen Magdalena hing:das Brustbild einer im Gebet versunkenen, etwas fülligen Blondine. DasGemälde, ein Tizian, war relativ klein, man konnte esmühelos in einem größeren Koffer verstauen.
Das handliche Format hatte sie voreinem halben Jahr auf den Gedanken gebracht, eine Kopie für ihren Verwandten,den Erzherzog Maximilian, anfertigen zu lassen - damals hatte sie erfahren,dass der Erzherzog nach Mexiko gehen würde. Alle hatten das für eine gute Ideegehalten, doch dann hatte ihre Schwiegermutter plötzlich behauptet, derverklärte Gesichtsausdruck der heiligen Magdalena, der halb geöffnete, feuchtglänzende Mund und die glasig verzückten Augen würden auch eine ganz andereDeutung zulassen. Das hatte dem bigotten König sofort eingeleuchtet und ihndazu bewogen, eigenhändig ein schwarzes Tuch über die Magdalena zu breiten. Dieangefertigte Kopie lehnte seither unbeachtet an der Kapellenwand, wo siehinter einem Putzeinser und einem Stapel Gesangbüchern Staub ansetzte.
Marie Sophie nahm die Magdalena vonder Wand, löste die Klammern, die das (auf Holz gemalte) Bild im Rahmenhielten, und stellte es vorsichtig ab. Dann zog sie die Kopie hinter denGesangbüchern hervor und lehnte sie neben das Original. Sie konnte keinenUnterschied zwischen den Bildern erkennen. Allerdings - so hatte ihr Oberst Orlow erklärt - würde ein Experte sehr wohl in der Lagesein, die Kopie des Bildes von seinem Original zu unterscheiden. Aber war derKönig ein Experte? Wohl kaum. Außerdem hätte in absehbarer Zeit niemand einen vernünftigenGrund, das Tuch zu lüften.
Marie Sophie ließ sich auf ihre Knienieder und betrachtete die beiden Gemälde eingehend. Sie studierte denumflorten Blick der Magdalena, ihren sinnlichen, halb geöffneten Mund - undplötzlich sah sie die zweideutige Erhitzung im Ausdruck der Heiligen, die ihrfrüher nie aufgefallen war. Ihre Schwiegermutter hatte Recht gehabt.
Jedenfalls war das Bild für ihreZwecke, nicht nur wegen des Formates, genau das Richtige - pures Gold. Signor Kostolany, der angeblich für den russischen Hof (wo mangewagte Bilder schätzte) einkaufte, würde sich die Finger danach lecken undentsprechend zahlen.
Marie Sophie erhob sich, oder wolltesich erheben, denn in dem Moment, als sie sich aufrichtete, hörte sie einGeräusch an der Kapellentür. Kniend drehte sie sich um, die Hände vor der Brustgefaltet - ein drittes Gesicht zwischen den beiden Magdalenen.
Es war Oberst Orlow,der reglos an der Tür stand. Er trug die Uniform einer Armee, die es nicht mehrgab, und seine hoch gewachsene Gestalt füllte den Türrahmen aus. Die brennendeKerze in seiner Hand war gerade wie ein Dolch. Einen Moment lang schien er verwirrtzu sein. «Ich wusste nicht, dass Königliche Hoheit ...» Er brach den Satz abund räusperte sich nervös.
Was? Dass sie die Gewohnheit hatte,nach dein Abendessen in die Hauskapelle zu gehen, um zwei dampfende Blondinenanzubeten? «Ich wollte feststellen», sagte Marie Sophie ein wenig unwirsch, «obdiese Kopie noch existiert.»
Es war überflüssig, zu erwähnen,worum es ging. Der Oberst selbst hatte damals den Kopisten ausfindig gemachtund die Angelegenheit für sie abgewickelt.
Sie sah ihn an, als sie weitersprach. «Die Kopie existiert noch, und daraus ergebensich ... interessante Möglichkeiten.»
Der Schluss des Satzes war ein wenigrätselhaft, was den Oberst dazu veranlasste, vorsorglich auf seine Ergebenheit hinzuweisen.Er deutete eine Verbeugung an. «Vielleicht kann ich Königlicher Hoheitbehilflich sein.»
Marie Sophie senkte ihrenZeigefinger auf das linke der beiden Bilder. «Sie könnten das Bild im Rahmen befestigenund es wieder aufhängen.»
So also verfuhr der Oberst undverhüllte es anschließend mit dem schwarzen Tuch. «Und die Kopie?»
Das Wort Kopie traf den Sachverhaltnicht, aber das würde sie ihm später erklären. «Die tragen Sie in meinen Salon.»
«Wollen Königliche Hoheit das Bildaufhängen?»
Marie Sophie schüttelte den Kopf.«Ich will es mit auf eine Reise nehmen.» Sie nahm die Petroleumlampe von dein Betschemel und wandte sich zur Tür. «Und Sie werdenmich dabei begleiten. Ich möchte einen alten Bekannten von Ihnen besuchen.»
«Einen alten Bekannten?»
Marie Sophie lächelte. «Signor Kostolany.»
Orlows Augenbrauen schossen ruckartig nachoben. «Das heißt, wir fahren ... »
Sie beendete den Satz für ihn. «NachVenedig.»
© Verlag Kindler
- Autor: Nicolas Remin
- 2007, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 346340494X
- ISBN-13: 9783463404943
- Erscheinungsdatum: 18.01.2007
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