Grabstein - Mubei
Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958-1962
Die erste umfassende Dokumentation einer der schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte - ein epochemachendes Monumentalwerk
Mehr als 36 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer, in nahezu jeder Familie gibt es Tote zu beklagen und noch immer darf...
Mehr als 36 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer, in nahezu jeder Familie gibt es Tote zu beklagen und noch immer darf...
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Produktinformationen zu „Grabstein - Mubei “
Klappentext zu „Grabstein - Mubei “
Die erste umfassende Dokumentation einer der schlimmsten Katastrophen der Menschheitsgeschichte - ein epochemachendes MonumentalwerkMehr als 36 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer, in nahezu jeder Familie gibt es Tote zu beklagen und noch immer darf in China offiziell nicht darüber gesprochen werden: die schreckliche Hungerkatastrophe der Jahre 1958 bis 1962, die Mao und seine Parteikader zu verantworten haben.
Yang Jisheng, dessen eigener Vater verhungerte, hat über zwei Jahrzehnte lang Interviews mit Zeugen geführt und eine unglaubliche Fülle an bislang unzugänglichen Informationen zusammengetragen. Minutiös dokumentiert er so, in welch unheilvolles Desaster Maos »Großer Sprung nach vorn« führte. Ein aufsehenerregendes Buch, das bereits jetzt in einem Atemzug mit Solschenizyns Werken genannt wird.
Lese-Probe zu „Grabstein - Mubei “
Grabstein - Mùbei von Jisheng YangDas Grabmal
Sagte: »Dein Vater verhungert, du musst sofort zurück, am besten nimmst du ein bisschen Reis mit!« Weiter sagte er: »Dein Vater hat vor lauter Hunger nicht mehr die Kraft, Rinde von den Bäumen zu schälen, er wollte nach Jiangjiayan, Salz kaufen, damit er Salzwasser trinken konnte, aber er ist unterwegs zusammengebrochen, ein paar Leute aus Wanli haben ihn zurückgetragen.«
Ich habe auf der Stelle alles stehen und liegen lassen, habe mich von Herrn Lehrer Zhang, Jugendkomiteesekretär und Klassenlehrer in Personalunion, beurlauben und mir von der Mensa drei Pfund geschälten Reis, die Verpflegung für drei Tage, aushändigen lassen und bin sofort nach Hause geeilt. Als ich in Wanli ankam, war alles anders: Die Ulmen vor der Tür (in Xishui nennt man sie Ölbäume) hatten keine Rinde mehr, selbst die Wurzeln unten waren weg, übrig war eine zerzauste Grube. Der Teich lag trocken, wegen der Muscheln, erzählten die Nachbarn. Muscheln haben einen unangenehmen Geruch, die hat man früher nicht gegessen. Man hörte keine Hunde bellen, keine Hühner liefen herum, selbst die kleinen Kinder, die sonst hier fröhlich herumsprangen, blieben zu Hause und ließen sich nicht sehen. Wanli war ausgestorben.
Ich betrat unser Haus, nichts als die vier Wände, nicht ein Korn Getreide, nicht das Geringste zu essen, in den Krügen war nicht einmal Wasser. Aber wenn man vor Hunger schon nicht mehr laufen kann, wo soll da die Kraft herkommen, Wasser zu schleppen!
Vater lag auf dem Bett, die Augen matt und tief eingesunken, er hatte überhaupt kein Fleisch mehr im Gesicht, nur schlaffe, faltige Haut. Er wollte die Hand ausstrecken und mich begrüßen, tat es aber nicht, es war nur eine schwache Bewegung. Seine Hand war wie eines der Knochenpräparate, die ich im Anatomieunterricht gesehen hatte -
... mehr
auch wenn außen herum vertrocknete Haut war, so verdeckte sie doch nicht die Erhebungen und Vertiefungen des Skeletts! Wehmut und Erschütterung zogen mir jäh das Herz zusammen: Wie oft sagte man einfach so dahin, dass jemand »bis auf die Knochen abgemagert ist«, ohne zu wissen, welch ein Grauen und welch ein Horror das in Wirklichkeit war! Vater kaute irgendwelche Worte im Mund, es war sehr leise, er wollte, dass ich schleunigst hier verschwinde, zurück zur Schule.
Vor zwei Monaten war es meinem Vater noch gut gegangen (in Wahrheit hatte er damals schon Schwellungen an den Beinen, aber ich wusste nicht, dass die vom Hunger kamen). Vater war in der Produktionsgenossenschaft für die Weidung des Viehs zuständig. Das Vieh, das war ein Wasserbüffel, ein nettes Tier und durch Vaters sorgfältige Pflege kräftig und sauber. Und auch wenn dieser kleine Wasserbüffel selbst nicht sprechen konnte, seine Augen konnten es: Sie waren zutraulich oder schwermütig, voller Sehnsucht oder zornig. Er konnte sich über die Augen mit meinem Vater verständigen und der verstand ihn auch ganz gut. Immer wenn ich von der Schule heimkam, wollte ich auf ihm die Berghänge entlangreiten. Vor zwei Monaten ließ mich mein Vater aus der Schule holen. Die Produktionsgenossenschaft hatte den Wasserbüffel heimlich geschlachtet und meiner Familie ein Pfund von dem Fleisch zugeteilt. Vater wusste, dass das Leben in der Schule kein Zuckerschlecken war, deshalb hat er mich holen lassen, damit ich etwas von dem Fleisch abbekam.
Als ich zur Tür hineinkam, roch ich den verführerischen Duft von Fleisch. Vater aß nichts. Er sagte, er hätte sich mit dem Tier zu gut verstanden, er bekomme keinen Bissen herunter. Aber das war nur ein Vorwand, damit ich alles allein essen konnte. Ich habe mir den Mund vollgestopft und er hat dabeigesessen und zugesehen, seine Augen schimmerten gutmütig. Jetzt bereute ich es sehr, dass ich so voller Unverstand gewesen war. Wenn er das Fleisch gegessen hätte, wäre er jetzt nicht in so einem Zustand!
Ich knetete Vaters Hände, griff mir eilig den Wasserbottich und die Tragestange und füllte die Krüge auf. Ich schulterte auch die Hacke, hängte den Bambuskorb daran und ging zu dem Feld, auf dem wir im vergangenen Jahr Erdnüsse angepflanzt hatten, um dort die Keimlinge auszugraben (die Erdnüsse, die wir im letzten Jahr bei der Ernte übersehen hatten, hatten im Frühjahr zarte Keime getrieben, größer als Sojabohnen; es hieß zwar, die seien giftig, die könne man nicht essen, aber die Leute hatten trotzdem alles restlos kahlgefressen). Ich grub und grub, ich hatte solche Gewissensbisse! Warum war ich nicht früher zurückgekommen und hatte nach wildem Gemüse gegraben, warum hatte ich mich nicht früher beurlauben lassen und war mit ein wenig Reis nach Hause gekommen?
Aber Reue und Gewissensbisse halfen nichts. Ich kochte aus dem mitgebrachten Reis einen Brei, brachte ihn neben das Bett, aber mein Vater konnte schon nicht mehr schlucken. Drei Tage später haben wir uns für immer verabschiedet.
Mit der Hilfe meiner Dorfgenossen habe ich Vater in aller Eile unter die Erde gebracht. Solange es ihm gut ging, habe ich nicht sonderlich auf ihn geachtet; jetzt lag er still unter der Erde und Bilder aus der Vergangenheit tauchten in meinem Kopf auf.
Yang Xiushen, mein Vater, hieß mit Erwachsenennamen Yang Yupu, ein weiterer Name war Yang Hongyuan, er war 1889 geboren (im 15. Jahr der Regierungsdevise Guangxu des letzten Kaisers der Qing-Dynastie), am 6. Tag des 6. Monats nach dem Bauernkalender. Eigentlich war er mein Onkel und nur mein Ziehvater. Er hat mich großgezogen, seit ich drei Monate alt war, er und meine Mutter (meine Ziehmutter) waren besser zu mir, als wenn ich ihr eigenes Kind gewesen wäre, in unserem Ort war das schon Legende, wie ungewöhnlich vernarrt die beiden in mich waren.
Später habe ich von Leuten aus dem Dorf erfahren, dass mich mein Vater bei Wind und Wetter über die kleinen Pfade der Gemeinde geschleppt hat, um nach Milch für mich zu suchen, deshalb kann man sagen, dass das halbe Dorf meine Amme gewesen ist. Einmal war ich schwer krank und bewusstlos, da hat Vater vor dem Schrein einen Kotau gemacht und blieb auf den Knien, bis ich wieder zu mir gekommen war. Obwohl wir sehr arm waren, haben sie alles getan, damit ich zur Schule gehen konnte. Was mein Benehmen anging, waren sie ausgesprochen streng.
1950 hat die Gemeindeverwaltung von Mayuan, wo wir waren, häufig zu Versammlungen aufgerufen, in denen Grundbesitzer und böse Tyrannen bekämpft werden sollten. Einmal fand eine besonders große Versammlung am Dattelstachelberg statt und Vater nahm mich mit. Versammlungsort war ein abschüssiger Hang, an dessen Fuß provisorisch eine Bühne aufgebaut war. Der Hang stand voller Menschen. Der Himmel bebte von den Parolen, die Milizen mit ihren Gewehren auf der Schulter strahlten Wichtigkeit aus. Die Leute, die bekämpft werden sollten, wurden auf die Bühne gezerrt, sie waren aneinandergefesselt, und jedes Mal, wenn jemand seine Klage vorgebracht hatte, strömten die Leute zur Bühne und schlugen auf die Bekämpften ein. Wenn sie nach den Prügeln kein Lebenszeichen mehr von sich gaben, wurden sie den Hang hinaufgeschleppt und erschossen. Dieses Mal waren es 14 Leute. Ich bemerkte, dass Vater die ganze Zeit über kein Wort sagte. Als ich mit ein paar Spielkameraden vom Versammlungsplatz zurückkam, spielten wir »Bekämpft den Grundbesitzer«. Als Vater das sah, zerrte er mich unversehens ins Haus und versohlte mir kräftig den Hintern. Später habe ich ihn sagen hören, dass die Erschossenen nicht alles schlechte Menschen und dass die, die auf der Bühne auf sie eingeschlagen hätten, auch nicht alle Unschuldslämmer gewesen seien. Er hat mich dann nie wieder auf so eine Kampfversammlung mitgenommen.
Nach dem Tod meiner Mutter 1951 waren mein Vater und ich allein aufeinander angewiesen. Ich war eine Weile zu Hause und konnte nicht zur Schule gehen. Er hat mich keine Bauernarbeit machen lassen, hat den einzigen Stuhl bei uns zu Hause freigeräumt und jeden Tag mein Lernen kontrolliert. Aber einmal hat er mich zur Ablieferung der Getreideabgabe mitgehen lassen, ich durfte sogar zwei kleine Beutel mit Rohreis tragen.
Er sagte, früher hatten wir kein Feld, jetzt hat man uns ein Feld zugeteilt, die Ablieferung der Getreideabgabe ist eine wichtige Sache, das sollte ich miterleben. Allerdings konnte ich auf halbem Weg nicht mehr weiterlaufen. Also hat er mich samt meinen beiden Reisbeuteln auf die Tragestange gepackt und uns alle zusammen zur Getreidestation gebracht.
Bei der Agrarreform hat man meiner Familie Felder für 600 Kilo Korn zugeteilt (das entspricht drei Mu). Wie war die Freude groß, als sie uns damals das Land zugewiesen haben, so klein ich war, ich teilte die Freude, aber es waren noch keine zwei, drei Jahre herum, als der Boden von den Kollektiven wieder zurückgenommen wurde.
1954 habe ich die Aufnahmeprüfung für die Unterstufe der Mittelschule in Xishui gemacht. Da wir das Geld für die Schulspeisung nicht aufbringen konnten, musste ich jeden Tag zur Schule laufen. Von Zuhause bis zur Schule waren es 20 chinesische Meilen (zehn Kilometer). Um mir den Schulweg abzukürzen, hat Vater in dem von der Kreisstadt nur zehn Meilen entfernten Maqiao ein altes Haus gesucht und dort einen kleinen Teeladen aufgemacht. Diese zehn Meilen waren nur Hauptstraße und damit war die Voraussetzung für mich als Heimgänger geschaffen. Jeden Tag holte er mich, noch bevor es hell war, aus dem Bett und schickte mich Punkt sieben zur Schule. Einmal hatten wir einen solchen Wolkenbruch, dass die Mauer des alten Hauses zum Berg hin einbrach. Es hat nicht viel gefehlt und er wäre unter ihr begraben worden. Erst später, als ich von der Schule ein Stipendium bekam und dort wohnen und lernen konnte, hatte dieses harte Leben für meinen Vater ein Ende.
Dass mein Vater verhungert war, machte mich furchtbar traurig, aber ich habe der Regierung nie den geringsten Vorwurf gemacht. Mein Glaube an die groß propagierten Erfolge des »Großen Sprungs nach vorn« und an die Überlegenheit der Volkskommunen war unerschütterlich. Ich hielt, was zu Hause geschehen war, für einen Einzelfall. Ich hielt den Tod meines Vaters für Pech. Und wenn man an das Kommen des großen Kommunismus dachte, was zählte da das Unglück einer einzelnen Familie? Die Partei hatte mich gelehrt, dass man das »kleine Ich« gelegentlich opfern musste, um das »große Ich« zu bewahren, und ich war der Partei unbedingt gehorsam. Diese Einschätzung hielt sich bis zur Kulturrevolution.
Damals hatte ich nicht den geringsten Zweifel an dem, was uns die Organisationen der Partei beibrachten, ich habe das ohne Wenn und Aber akzeptiert. Meine schulischen Leistungen waren immer sehr gut, in der Volksschule war ich bei den Jungpionieren, mit der Mittelschule kam ich zur Kommunistischen Jugendliga. Als die Partei bei den Kampagnen gegen Rechtsabweichler 1957 sagte, die rechtsabweichlerischen Elemente seien schlecht, glaubte ich, dass sie schlecht sind.
Bei dem Großen Sprung 1958 war auch ich bei den Aktivisten in der Schule. Meine hymnischen Gedichte auf den Großen Sprung habe ich zur pädagogischen Ausstellungshalle des Bezirks Huanggang geschickt. Damals war ich Leiter des Propagandabüros des Jugendligakomitees und gleichzeitig Herausgeber der kleinen Schülerzeitung »Der junge Kommunist«, die ich von Matrizen abgezogen habe. Tagsüber habe ich an der Arbeit teilgenommen, abends habe ich die Zeitung gemacht.
Anfang 1959 habe ich für die Zeitung eine »Neujahrswidmung« geschrieben, in der begeistert der Große Sprung besungen wurde. Auf der großen Neujahrsversammlung der Schule hat der Schulleiter Wang Zhansong meinen Artikel vorgelesen, er hat kein Zeichen ausgelassen und ihn den Lehrern der ganzen Schule gewidmet.
All das habe ich ganz aufrichtig getan, ich hatte dabei keinerlei eigenen Vorteil im Sinn. Vaters Tod hatte mich zwar sehr traurig gemacht, aber meinen Glauben an die KP Chinas nicht im mindesten geschwächt. Damals haben die jungen Leute sich scharenweise in den Großen Sprung nach vorn gestürzt, auch sie ganz ohne Hintergedanken, der Kommunismus hat sie angespornt. Unter ihnen waren viele, die bereit gewesen wären, ihr Leben für das große kommunistische Ideal zu opfern.
Dass ich den Großen Sprung so aufrichtig unterstützt habe, lag neben dem Ansporn durch das kommunistische Ideal auch an meiner Unwissenheit. Mein Zuhause war ein abgelegenes kleines Dorf, weitab von den großen Straßen. Bis hierhin drangen kaum Informationen, die Bauern hatten keine Ahnung, was jenseits der Berge an wichtigen Dingen vor sich ging. Einmal habe ich gehört, wie ein alter Bauer zu meinem Vater sagte: Jemand scheint den Xuantong* gesehen zu haben, kann sein, er will wieder Kaiser werden. Sie wussten nicht, dass Pu Yi damals schon als Verräter in Haft war. Die Bauern hingen an ihrem Kaiser.
Von den großen Dingen, die am 1. Oktober 1949 in Beijing vor sich gingen, wussten sie ebenfalls nichts. Unser Dorfkader Huang Yuanzhong wusste es, er hat damals in der Gemeinde eine Versammlung abgehalten. Am Tag darauf hat sein Sohn (sie riefen ihn nur »Lausert«) zu mir gesagt: »Der Vorsitzende Mao hat den Thron bestiegen.«
Ich fragte: »Was heißt das, den Thron besteigen?«
Lausert sagte: »Wenn man Kaiser wird.« Er sagte, sein Vater hätte das gesagt.
Der Aktionsradius der überwältigenden Mehrheit der Bauern lag im Höchstfall bei 50 Kilometern. Mein Heimatdorf war zwar nur
* Xuantong war die letzte Regierungsdevise der Qing-Dynastie überhaupt, hier gleichgesetzt mit dem letzten Kaiser Pu Yi (Anm. d. Übers.).
100 Kilometer von Hankou entfernt, aber für die Bauern lag das in unerreichbarer Ferne. Die Leute konnten ihre Sehnsucht nach Hankou nur in Kinderliedern festhalten:
»Mann im Mond komm doch mit mir
nach Hankou rüber gehen wir;
Mann im Mond, lauf mit mir, lauf
dort die Yuanjia-Brücke rauf.«
Auch die Kreisstadt war ein ersehnter - und erreichbarer - Ort. Doch auch in die Kreisstadt brauchte man hin und zurück einen ganzen Tag, und die Hälfte des Wegs führte über schmale, unwegsame und gewundene Bergpfade. Die meisten sind im Jahr nur ein-, zweimal dorthin gekommen.
Sich in den Sommernächten nach dem Waschen draußen abzukühlen war die gemütlichste Zeit für die Bauern. Manch einer saß mit der ganzen Familie vor seinem Haus, man trank selbstangebauten Tee, wedelte mit den eigenhändig aus Stroh geflochtenen Fächern und sprach über den häuslichen Kleinkram. Wer es lieber hatte, wenn etwas los war, saß mit anderen im Kreis zusammen, man kühlte sich ab und plauderte. Oder man sprach über die »Bruderschaft im Pfirsichblütengarten«, von der der Geschichtenerzähler gesprochen hatte. Aber das alles hatte man schon zigmal gehört und war es eigentlich satt. Wenn jemand etwas Neues aus der Kreisstadt erzählen konnte, bekamen alle spitze Ohren. Und wer es konnte, genoss bei den Leuten hohe Achtung.
Dass unser Dorf so isoliert war, führte bei den Bauern zwar zu Unwissenheit, dadurch konnte sich aber auch ein Teil unverfälschter Menschlichkeit erhalten. Die Antipathie meines Vaters gegen die Kampfversammlung von 1957 entsprang keinem rationalen Urteil, sondern natürlicher Menschlichkeit. Als ich 1954 das Bauerndorf verließ, um in der Kreisstadt zur Schule zu gehen, war ich ein vollkommen unbeschriebenes Blatt.
Als die KP Chinas die Macht übernommen hatte, wurde das Land gegen alle Theorien und Informationen aus dem Ausland abgeschottet, andererseits hat man die traditionellen ethischen Normen vollständig negiert. Die Regierung hatte das Monopol auf Information und das Monopol auf Wahrheit. Das Zentralkomitee der KP Chinas war das Zentrum der Macht, das Zentrum der Wahrheit und auch das Informationszentrum. Sämtliche wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen wiesen mit allem Nachdruck die Richtigkeit des Regimes der Kommunistischen Partei nach; sämtliche kulturellen und künstlerischen Institutionen priesen vehement die KP Chinas; sämtliche Nachrichtenorganisationen verbreiteten Nachrichten, die den Glanz und die Größe der chinesischen Kommunisten bestätigten. Von den Kindergärten bis zu den Universitäten war es die erste Pflicht, Schülern und Studenten die kommunistische Weltanschauung einzupflanzen.
Die sozialwissenschaftlichen Organisationen, Kulturverbände, Nachrichtenorgane, Schulen und Universitäten - alle wurden zu Instrumenten der KP Chinas beim Aufbau ihres Monopols über das Denken, den Geist und die Öffentliche Meinung, sie alle formten rund um die Uhr die Seelen der jungen Menschen. Und wer in diesem Bereich arbeitete, hielt sich viel darauf zugute, solch ein »Ingenieur von Menschenseelen« zu sein.
Unter diesen Bedingungen, isoliert von Ideen und Informationen, hat die Zentralregierung mit ihrer Monopolmaschinerie langfristig kommunistische Wertvorstellungen verankert und alle anderen Wertvorstellungen verurteilt und beseitigt. Auf diese Weise wurden in den Köpfen der jungen Menschen klare und stramme Vorstellungen davon geschaffen, was richtig und falsch, was zu lieben und was zu hassen sei, samt einer tiefen Sehnsucht, die kommunistischen Ideale zu verwirklichen. Wenn sich in dieser Zeit in Wort und Tat irgendetwas vernehmen ließ, das gegen diese Ideale sprach oder mit ihnen nicht übereinstimmte, wurde es unweigerlich von der Masse attackiert.
Neben der massiven Indoktrination durch Sozialwissenschaften, Nachrichten, Literatur, Kunst und Schule war die der Organisation, also der Partei, noch weit wirkungsvoller. Auf allen Organisationsstufen der KP Chinas gab es zentrale Persönlichkeiten, um die herum sich wesentliche Unterstützer gruppierten; eine Ebene kontrollierte die andere, eine Ebene war der anderen ergeben. Die ständigen politischen Kampagnen, die in die Tausende und Abertausende gehenden kleineren und größeren Versammlungen, die Auszeichnungen und die Kritik, die Belohnungen und die Strafen zogen das Denken der jungen Menschen auf ein einspuriges Gleis. Jede mit der Kommunistischen Partei nicht übereinstimmende Auffassung wurde im Keim erstickt.
Damals glaubte ich aufrichtig an all das - China, in den letzten hundert Jahren vom Imperialismus gedemütigt, verarmt und geschwächt, konnte durch die »Drei Roten Banner« in den Sozialismus eintreten und darüber hinaus das höchste Ideal der Menschheit verwirklichen: den Kommunismus. Was zählten angesichts dieses hehren Ideals die Probleme der Gegenwart?
Ich hatte keine Zweifel an diesen »Drei Roten Bannern« - aber neben meiner Unwissenheit gab es dafür noch einen weiteren Grund: der gewaltige politische Druck der gesamten Gesellschaft, der dazu führte, dass ich es auch nicht wagte zu zweifeln.
Vor meinen Augen sind viele grauenvolle Dinge geschehen. Wan Shangjun, ein Mitschüler eine Klasse über mir, durfte wegen einer langen Rede, in der er Marschall Tito lobte und das »sozialistische Lager« kritisierte, die Aufnahmeprüfung für die Universität nicht machen. Bei der Aufnahmeprüfung für die Mittelschule war er noch der Beste des ganzen Kreises gewesen, ich war im Jahr nach ihm der Beste, deshalb kannten wir einander gut.
Er lernte viel und machte sich eine Menge Gedanken und hat dann wegen dieser unabhängigen Gedanken im Alter von 17 Jahren seine Zukunft verspielt. Im Frühjahr '59 wurden an einer Klo- wand drei mit Kreide geschriebene Worte entdeckt: »Nieder mit Mao« - alles war in heller Aufregung, das Ganze wurde auf schnellstem Weg der Schulleitung gemeldet, die Schulleitung hat es auf schnellstem Weg dem Amt für Öffentliche Sicherheit gemeldet, das Amt für Öffentliche Meinung hat den Fall sehr schnell gelöst; Der Mitschüler aus der Klasse über mir hatte das geschrieben, er war unzufrieden, weil er Hunger hatte, und hatte sich mit dieser Kritzelei Luft gemacht. Mein Vater hat mit eigenen Augen gesehen, wie sie ihn in Handschellen ins Gefängnis geschafft haben.
Die unablässige revolutionäre Kritik, die schweren Strafen, die man aus eigener Erfahrung kannte, haben dazu geführt, dass die Menschen eine regelrechte Angstneurose entwickelten. Und diese Angst war nichts, das jäh aufflammte und ebenso plötzlich wieder erlosch, wie etwa die Angst vor Schlangen oder wilden Tieren, diese Angst ging in Blut und Nerven über, sie wurde zu einem Überlebensinstinkt jedes Einzelnen. Die Menschen mieden politische Gefahren wie das Feuer.
In einem Staat, in dem die Kaisertreue so tief verwurzelt ist, betrachten die Menschen die Stimme der Zentralregierung als eine Autorität, und die KP Chinas hat mit der »mächtigen Waffe« einer Zentralregierung dem ganzen Volk eine einheitliche Wertewelt eingetrichtert. Die jungen Menschen mit ihren einfachen Erfahrungen haben aufrichtig an das geglaubt, was man ihnen beibrachte, und die Familienoberhäupter, die etwas mehr Erfahrung hatten, haben entweder aus Aberglauben an diese »mächtige Waffe« oder aus Angst vor der Regierung mit Fleiß ihre Kinder davon abgehalten, irgendwelche Gedanken zu äußern, die mit der Regierung nicht übereinstimmten, und stets darauf geachtet, dass ihre Sprösslinge willfährig und gehorsam waren.
1960 habe ich die Aufnahmeprüfung für die Qinghua-Universität in Beijing gemacht. Ich war kaum dort, als ich auch schon an einer Ausstellung der Qinghua gegen Rechtsabweichler teilnahm und treu und brav Erziehungsarbeit leistete. Anschließend ging es 50 Tage aufs Land, wo ich einerseits eine Erziehung durch körperliche Arbeit bekam und zum anderen Debatten zur Aufrechterhaltung der »Drei Roten Banner« führte. Mir knurrte zwar der Magen, aber ich zweifelte nicht an meiner Mission.
Die sonst für ihr freies Denken berühmte Universität war vollständig abgeschottet. Die Qinghua hatte schon immer sehr viele namhafte Professoren gehabt, aber wir kannten Männer wie Wen Yiduo und Zhu Ziqing nur aus den Büchern von Mao Zedong, wir wussten nichts von Chen Yanke und auch nichts von Wu Mi.
Die Bestände der Universitätsbibliothek der Qinghua waren riesig, aber wir durften außer zur Ingenieurtechnik nur Bücher ausleihen, die etwas mit Kommunismus zu tun hatten. Zwei Alumni der Qinghua, Yang Chenning und Li Zhengdao, hatten gerade erst den Nobelpreis für Physik bekommen, aber die Universität verschwieg diese Tatsache nicht nur, die Kaderversammlung der Jugendliga ließ auch durchblicken, die beiden seien ideologisch reaktionär, man solle nicht wie sie ihren Weg des »weißen Spezialistentums « gehen.
In meiner ganzen Zeit an der Qinghua war ich Parteigruppensekretär der Jugendliga, im Mai 1964 bin ich dann der KPCh beigetreten. Die Menschen damals hielten uns junge Leute für sehr einfach und rein. Und es stimmte auch, unsere »Einfachheit« bedeutete, dass wir nichts im Kopf hatten als das, was uns die Maschinerie der öffentlichen Meinung eingebläut hatte, wir glaubten alle das Gleiche; und unsere »Reinheit« bedeutete, dass wir neben dem, was uns die öffentliche Meinung eingetrichtert hatte, keinerlei eigenen Gedanken im Kopf hatten. Die Generation, die die KPCh unter ihrer neuen Regierung heranzog, bestand ausschließlich aus treuen Jüngern ihrer Staatsmacht. Wenn in diesen Jahrzehnten nichts Großes passiert wäre, wäre die Regierung stabil geblieben, und wir hätten unser Leben lang an unserem Glauben festgehalten.
Es war die Kulturrevolution, während der ich zum ersten Mal große Veränderungen erlebte. In ihrer Anfangszeit hat mich die Situation, wie sie von Abertausenden von Wandzeitungen in der Universität enthüllt wurde, zutiefst schockiert: dass die alte Revolution, die ich so viele Jahre verehrt hatte, in ihrer Lebensrealität derart korrupt und ideell dermaßen auf den Hund gekommen war!
Am 12. September 1966 habe ich mit einigen Studenten aus meiner Klasse mit über 20 Städten »Verbindung aufgenommen«, und wir erfuhren, dass die Wandzeitungen überall das Gleiche enthüllten: Korruption und Privilegien der hohen Beamten. Ich verlor mein blindes Vertrauen in die Autoritäten, in die hohe Beamtenschaft und in das, was in den Zeitungen stand. Ich begann an den Mythen zu zweifeln, die mir die KPCh so viele Jahre eingetrichtert hatte. Wie viele andere aus der breiten Masse habe ich mit dem Gedanken an Widerstand gegen die hohe Beamtenschaft an der Kulturrevolution teilgenommen.
Während der Kulturrevolution hat dann Zhang Tixue, der Provinzgouverneur von Hubei, etwas gesagt, das mich zutiefst erschütterte: In den drei schlechten Jahren seien in der Provinz Hubei drei Millionen Menschen verhungert.
Erst jetzt wurde mir klar, dass die Tragödie, die sich in meiner Familie abgespielt hatte, kein Einzelfall war!
Nach meinem Abschluss an der Universität bin ich der Nachrichtenagentur Neues China zugeteilt worden. Die Journalisten beim Neuen China hatten Zugang zu gesellschaftlichen Schichten wie sonst niemand. Ich wusste nicht nur, dass in vielen Bereichen die wirkliche Lage mit dem, was in den Unterrichtsmaterialien zur Parteigeschichte stand, nicht übereinstimmte, ich habe auch die Armut der Arbeiter in den Städten gesehen. Als Reporter des Neuen China wusste ich darüber hinaus, wie die »Nachrichten« in den Zeitungen zustande kamen, wusste, wie die Nachrichtenorgane zum Sprachrohr der politischen Macht gemacht wurden.
Nach Reform und Öffnung hat sich die Isolation des chinesischen Denkens im Vergleich zu früher beträchtlich gelockert. Einige historische Wahrheiten begannen sichtbar zu werden. In der Vergangenheit hatte uns die Partei gelehrt, im antijapanischen Krieg habe nur die KPCh gekämpft und die Guomindang habe immer nur kapituliert und Kompromisse geschlossen; erst jetzt erfuhren wir, dass die Guomindang die Hauptschlachtplätze im Krieg gegen Japan gehalten hatte und zwei ihrer Generäle für das Land gefallen waren.
In der Vergangenheit hat die Partei uns weisgemacht, aufgrund von Naturkatastrophen sei es in einigen wenigen Gebieten zu Hungersnöten gekommen; jetzt erfuhren wir, dass allein infolge einer von Menschen verursachten Katastrophe zig Millionen Menschen verhungert waren. Ich begann zu begreifen, dass die Geschichte der KPCh und die chinesische Geschichte der letzten knapp hundert Jahre nach den Bedürfnissen der Kommunisten verzerrt und verfälscht worden waren.
Wenn man einmal weiß, dass man in der Vergangenheit lange Zeit betrogen worden ist, dann entsteht daraus eine große Kraft, diese Täuschung abzuschütteln. Je mehr die Machthaber versuchen, die Tatsachen zu vertuschen, um so mehr zwingen sie uns, nach ihnen zu suchen. Ich habe nicht nur alles verschlungen, was an neuen historischen Materialien veröffentlicht wurde, ich habe auch bei meinen Nachrichtenrecherchen alles darangesetzt, die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren. Ich habe die Zwischenfälle 1989 in Beijing miterlebt, was mir die Augen weiter geöffnet hat. Das Blut der jungen Studenten hat mir all die Lügen der vergangenen Jahrzehnte aus dem Gehirn gewaschen. Als Nachrichtenjournalist habe ich alles darangesetzt, Meldungen und Kommentare zu veröffentlichen, die der Wahrheit entsprachen; als Wissenschaftler habe ich die Pflicht, der Geschichte ihr wahres Gesicht zurückzugeben und den Vielen, die ebenfalls getäuscht wurden, die Wahrheit zu sagen.
Bei meinen Bemühungen, die Täuschung abzuschütteln und die Wahrheit zu suchen, wurde mir Schritt für Schritt klar, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund mein Vater gestorben war. Obwohl das alles schon einige Jahrzehnte zurücklag, drang ich Tag für Tag tiefer in die Gründe ein, die zum Tod meines Vaters geführt hatten, und meine Sehnsucht nach ihm wurde Tag für Tag größer. Anfang der 80er Jahre entstand in meinem Heimatort die Mode, für die Ahnen Grabsteine zu errichten. Vor allem für solche, die es »draußen« zu etwas gebracht hatten und hohe Beamte geworden waren, errichtete man imposante Grabmale.
Freunde und Verwandte ermahnten auch mich, meinem Vater ein solches Grabmal zu errichten. Ich dachte, ich bin zwar kein hoher Beamter geworden, aber der Grabstein für meinen Vater soll imposanter werden als der für die hohen Beamten. Trotzdem musste ich an das Schicksal der Grabsteine denken, die in meinem Dorf 1958 errichtet worden waren. Die einen wurden für Wasserbaueinrichtungen abgebaut, aus anderen hat man die Sockel für die kleinen Hochöfen während des Großen Sprungs gebaut, mit wieder anderen hat man die Straßen gepflastert und Millionen Menschen sind über sie hinweggetrampelt.
Je imposanter die Grabmale, umso größer die Gefahr, dass sie abgerissen wurden. Es war unumgänglich, meinem Vater einen Grabstein zu errichten, aber es durfte kein Stein sein, der auf der Erde stand, er musste in den Herzen aufgestellt werden. Auf einem Stein, der in die Herzen gesetzt ist, kann man nicht herumtrampeln und er kann nicht wieder entfernt werden.
In meinem Herzen habe ich meinem Vater tatsächlich einen Grabstein errichtet. Dieses Buch ist die Inschrift, die ich in ihn meißele. Auch wenn ich längst von dieser Welt verschwunden sein werde, die Stimme meines Herzens, die durch diese Inschrift spricht, wird in den großen Bibliotheken der Welt bleiben.
Die Tragödie, die sich in meiner Familie abgespielt hat, hat sich auch in Millionen anderer Familien im ganzen Land abgespielt.
Der Leser wird im Kapitel 11 dieses Buches Verweise auf das vielfältige Material aus dem In-und Ausland finden, das bestätigt, dass zwischen 1958 und 1962 in China 36 Millionen Menschen verhungert sind. Aufgrund des Hungers ist die Geburtenrate gesunken und es kamen 40 Millionen weniger Kinder zur Welt.
In vielen Provinzen war fast jede Familie betroffen, viele wurden vollständig ausgelöscht, in manchen Dörfern sind sämtliche Bewohner ums Leben gekommen. Das passt zu zwei Zeilen aus »Dem Seuchengott zum Geleit«, einem Gedicht Mao Zedongs aus dem Jahr 1958: »Tausend Dörfer sind öde und leer, in zehntausend Hütten traurig der Geister Gesang.«
Was hat man sich darunter vorzustellen, wenn man sagt, 36 Millionen Menschen sind verhungert?
Das sind 450mal so viele Menschen wie die, die dem Abwurf der Atombombe am 9. August 1945 auf Nagasaki zum Opfer fielen.1
Es sind 150mal so viele Menschen wie die, die das große Erdbeben von Tangshan am 28. Juli 1976 in den Tod riss.2
Es sind mehr als alle Toten des gesamten Ersten Weltkriegs.
Das Ausmaß des Schreckens dieser Hungersnot übersteigt bei weitem den Schrecken der Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs. Im Zweiten Weltkrieg sind zwischen 40 und 50 Millionen Menschen ums Leben gekommen.3 Aber zu diesen 40 bis 50 Millionen Menschen ist es im Verlauf von sieben, acht Jahren in Europa, Asien und Afrika, also einem riesigen Gebiet, gekommen; die 36 Millionen sind alleine in China und innerhalb von nur drei, vier Jahren gestorben, wobei in den meisten Gebieten die Hauptzahl der Opfer während eines halben Jahres zu beklagen war.
Diese Zahl stellt alle bisherigen Katastrophen in der chinesischen Geschichte in den Schatten: Die höchste Opferzahl, die in der chinesischen Geschichte verzeichnet ist, bezieht sich auf die Opfer der Naturkatastrophen zwischen 1928 und 1930, von denen alle 22 Provinzen betroffen waren. Diese Zahl überstieg bereits alles zuvor Dagewesene, aber sie belief sich auf »nur« zehn Millionen Tote.
In den 17 Jahren von 1920 bis 1936 sind als Folge von Naturkatastrophen insgesamt 18,36 Millionen Menschen ums Leben gekommen.
Li Wenhai und die anderen Autoren des Buchs »Hungersnöte in Chinas jüngerer Geschichte« und »Die zehn großen Hungersnöte in Chinas jüngerer Geschichte« halten die oben angegebene Zahl für zu hoch gegriffen, sie sind der Auffassung, dass zwischen 1928 und 1930, der schlimmsten der von ihnen aufgelisteten Hungersnöte, weniger als sechs Millionen Menschen den Tod fanden; bei dem großen Yangzi-Hochwasser 1931 fanden 140 000 Menschen den Tod. Was die Zahl der Opfer angeht, übertrifft die Hungersnot zwischen 1958 und 1962 die schlimmsten vergleichbaren Ereignisse um eine Vielfaches.
Und es gab niemanden, der klagte und weinte, es gab keine angemessenen Riten, keine Feuerwerke und kein Papiergeld bei den Beerdigungen, da waren kein Mitgefühl, keine Trauer, keine Tränen, keine Erschütterung und keine Angst. Millionen von Menschen sind einfach so, apathisch und ohne einen Laut, verschwunden.
In manchen Gegenden hat man die Leichen mit Lkws zu großen Massengräbern am Ortsausgang gekarrt; in anderen Gebieten schauten noch Arme und Beine aus dem Boden heraus, weil man keine Kraft mehr hatte, sie anständig zu vergraben; mancherorts lagen die Toten einfach am Straßenrand, wie und wo sie auf der Suche nach etwas Essbarem umgefallen waren, und nicht wenige lagen lange zu Hause herum, wo ihnen Ratten Nasen und Augen abgenagt haben.
Im Herbst 1999 habe ich erfahren, wie es in einigen von der Hungersnot besonders betroffenen Gemeinden in der Provinz Henan zugegangen ist. Der über 70 Jahre alte Yu Wenhai, ein Bauer aus der Gegend, hat mich zu einem Kornfeld vor dem Ort geführt, er zeigte auf die Bäume in der Mitte des Feldes und sagte: Bei den hohen Bäumen da war früher eine große Grube, da drin haben sie einen Haufen von über hundert Leichen verscharrt.
Wenn kein Betroffener wie Yu Wenhai darauf aufmerksam gemacht hätte, hätte niemand je erfahren, dass unter dem üppig grünen Weizenfeld und den kerzengeraden Bäumen eine furchtbare Tragödie verborgen liegt.
Der Hunger gegen Ende war entsetzlicher als der Tod selbst. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hat man sich in den Bauch gestopft. Wo man Guanyin- Erde, eine Art fetten Lehms, ausgegraben hat, hat man sie sich schon beim Graben in dicken Klumpen in den Mund geschoben. Die Leichen der Toten, Verhungernde von außerhalb, selbst eigene Verwandte hat man zu Lebensmitteln gemacht.
Damals war es kein Einzelfall, wenn »Menschen einander gegessen « haben, ebenso wenig, dass man, wie es in den alten Aufzeichnungen heißt, »die Kinder austauschte und aß«, aber in den Jahren dieser Hungersnot haben die Menschen vielfach auch die eigenen Kinder gegessen. Ich habe selbst noch solche »Menschenfresser« gesehen, habe zugehört, wie sie den Geschmack von Menschenfleisch beschrieben.
Nach zuverlässigen Materialien, die mir vorliegen, gab es landesweit tausende Fälle von Kannibalismus.5 Diese Tragödien werden in den verschiedenen Kapiteln dieses Buches für jede Provinz genau aufgelistet.
Es war ein in der Geschichte der Menschheit beispielloses Desaster: In Jahren mit ganz normalen Ernteerträgen, ohne Krieg und ohne Seuchen, starben Millionen Menschen hungers und es kam in großem Umfang zu Kannibalismus.
In den darauffolgenden Jahrzehnten ist in sämtlichen Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und amtlichen Dokumenten in China diese ungeheure menschliche Tragödie ausgespart oder vertuscht worden. Wenn es um die verhungerten Menschen ging, waren die Lippen der Kader versiegelt. In Bezug auf die Statistiken wurde mit allen möglichen Tricks gearbeitet, um von den Millionenzahlen herunterzukommen. Um das Ganze für immer zu vertuschen, haben die zuständigen Behörden angeordnet, sämtliche Materialien über die von den Provinzen nach oben gemeldeten millionenfachen Verluste an Menschenleben zu vernichten.
Über nach Hongkong entkommene Flüchtlinge und Angehörige von Auslandschinesen in China drangen ein paar Informationen nach außen, und einige westliche Medien haben auf diese Informationen gestützt immer wieder über die Hungersnot in China berichtet. Diese Berichte waren sporadisch und ausgesprochen unvollständig, trotzdem hat die chinesische Regierung das alles abgetan als »üble Attacken« und »lügnerische Verleumdungen«.
Um die öffentliche Weltmeinung umzudrehen, hat die chinesische Regierung ein paar »befreundete Persönlichkeiten« nach China eingeladen, in der Hoffnung, durch ihre Berichte »den wahren Sachverhalt zu klären«. Für diese Leute wurden von der Regierung umfangreiche Vorbereitungen getroffen: Sämtliche Reiserouten wurden sorgfältig festgelegt, samt den zu besuchenden Orten, den Kontakten mit der Bevölkerung und den Tischreden für die ausländischen Gäste und so weiter und so fort. Als diese ausländischen Gäste da waren, wurden sie von der einfachen Bevölkerung komplett abgeschirmt, mancherorts hat man ihnen bewusst etwas von Wohlstand und Zufriedenheit vorgespielt.
Fang Shi, damals stellvertretender Leiter der Inlandsabteilung der Nachrichtenagentur Neues China, hat die Aufgabe übernommen, die Gäste auf ihrem Inspektionsbesuch nach Anhui zu begleiten. Er hat mir später erzählt, wie das Provinzkomitee von Anhui die ausländischen Gäste hinters Licht geführt hat. Und die so Getäuschten haben nach der Rückkehr in ihre Länder Artikel veröffentlicht, in denen sie »aus eigener Anschauung« die »gewaltigen Erfolge« Chinas priesen und behaupteten, in China könne keine Rede sein von einer Hungersnot, im Gegenteil, das Volk lebe in Wohlstand und Reichtum.
Der englische Reporter Felix Green schreibt in seinem berühmten Chinabuch »A Curtain of Ignorance«, er habe 1960 überall eine strenge Getreidezuteilung beobachtet, nirgendwo aber habe er irgendetwas von Hunger in größerem Umfang gesehen.
Edgar Snow, der amerikanische Journalist, den in China jedes Kind kennt, war einer derer, die, nachdem man sie selbst betrogen hatte, nun auch andere betrogen. Die Artikel der ausländischen Gäste wurden auch von der Nachrichtenagentur Neues China übersetzt, sie standen als Produkte des »Reimports« in den »Referenzmaterialien « und wurden zu einem Instrument, das Denken auf Linie zu bringen und abweichende Meinungen im Land zu unterdrücken.
Erst über 20 Jahre später begannen einige ausländische Wissenschaftler und im Ausland reisende Chinesen die unerhörte Tragödie etwas bekannter zu machen und zu untersuchen. Diese Forschungen waren von sehr großem Wert. Aber die Forscher waren weit weg vom Ort des Geschehens und hatten keine Möglichkeit, das interne Material in chinesischen Archiven zu sichten, weshalb die Lektüre ihrer Untersuchungsergebnisse immer ein Gefühl von verlorener Liebesmüh' hinterlässt.
Seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts habe ich den Umstand, dass ich im ganzen Land recherchieren konnte, dafür genutzt, das entsprechende Material in den verschiedenen Gebieten im ganzen Land einzusehen und mit Menschen zu sprechen, die diese Jahre selbst erlebt haben. Vom hohen Norden bis in den tiefen Süden, vom Westen bis in den Osten Chinas habe ich das Material von mehr als einem Dutzend Provinzen gesichtet, ich habe mit über hundert Betroffenen gesprochen. In zehn Jahren mühevoller Kleinarbeit habe ich Zehntausende von Seiten Material gesammelt und über zehn dicke Bände mit den Aufzeichnungen von Gesprächen mit Betroffenen gefüllt. Ich habe schließlich ein relativ vollständiges und gründliches Bild von der wahren Situation der drei, vier Jahre, über die sich die Hungersnot hinzog, bekommen.
Angesichts der schlimmen Folgen, die diese gewaltige Hungersnot nach sich zog, hat Liu Shaoqi einmal zu Mao Zedong gesagt: »Es sind so viele verhungert, wenn die Geschichte von uns beiden geschrieben wird, dann muss der Kannibalismus erwähnt werden! «
Im Frühjahr 1962 hat Liu Shaoqi in einem Gespräch mit Deng Liqun noch einmal davon gesprochen, dass die »Hungersnot in den Geschichtsbüchern stehen muss«.
Aber das alles ist nun schon über 40 Jahre her und in China gibt es bis heute kein solches Buch. Das ist nicht nur aus historischer Sicht bedauernswert, es ist auch gegenüber den Millionen unschuldiger Opfer unverzeihlich. Ich habe viele Jahre darauf verwandt und dieses Buch schließlich geschrieben. Es ist auch ein Grabmal für die Seelen der vielen Millionen verhungerten Menschen, und ich hoffe, es wird ihnen Trost spenden.
Liu Shaoqi hat darüber hinaus einmal gesagt, diese Katastrophe müsse man in die Denkmäler einmeißeln, darüber müsse man Buch führen, »das muss man unseren Kindern und Kindeskindern weitergeben, damit solche Fehler in Zukunft nicht mehr gemacht werden.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Vor zwei Monaten war es meinem Vater noch gut gegangen (in Wahrheit hatte er damals schon Schwellungen an den Beinen, aber ich wusste nicht, dass die vom Hunger kamen). Vater war in der Produktionsgenossenschaft für die Weidung des Viehs zuständig. Das Vieh, das war ein Wasserbüffel, ein nettes Tier und durch Vaters sorgfältige Pflege kräftig und sauber. Und auch wenn dieser kleine Wasserbüffel selbst nicht sprechen konnte, seine Augen konnten es: Sie waren zutraulich oder schwermütig, voller Sehnsucht oder zornig. Er konnte sich über die Augen mit meinem Vater verständigen und der verstand ihn auch ganz gut. Immer wenn ich von der Schule heimkam, wollte ich auf ihm die Berghänge entlangreiten. Vor zwei Monaten ließ mich mein Vater aus der Schule holen. Die Produktionsgenossenschaft hatte den Wasserbüffel heimlich geschlachtet und meiner Familie ein Pfund von dem Fleisch zugeteilt. Vater wusste, dass das Leben in der Schule kein Zuckerschlecken war, deshalb hat er mich holen lassen, damit ich etwas von dem Fleisch abbekam.
Als ich zur Tür hineinkam, roch ich den verführerischen Duft von Fleisch. Vater aß nichts. Er sagte, er hätte sich mit dem Tier zu gut verstanden, er bekomme keinen Bissen herunter. Aber das war nur ein Vorwand, damit ich alles allein essen konnte. Ich habe mir den Mund vollgestopft und er hat dabeigesessen und zugesehen, seine Augen schimmerten gutmütig. Jetzt bereute ich es sehr, dass ich so voller Unverstand gewesen war. Wenn er das Fleisch gegessen hätte, wäre er jetzt nicht in so einem Zustand!
Ich knetete Vaters Hände, griff mir eilig den Wasserbottich und die Tragestange und füllte die Krüge auf. Ich schulterte auch die Hacke, hängte den Bambuskorb daran und ging zu dem Feld, auf dem wir im vergangenen Jahr Erdnüsse angepflanzt hatten, um dort die Keimlinge auszugraben (die Erdnüsse, die wir im letzten Jahr bei der Ernte übersehen hatten, hatten im Frühjahr zarte Keime getrieben, größer als Sojabohnen; es hieß zwar, die seien giftig, die könne man nicht essen, aber die Leute hatten trotzdem alles restlos kahlgefressen). Ich grub und grub, ich hatte solche Gewissensbisse! Warum war ich nicht früher zurückgekommen und hatte nach wildem Gemüse gegraben, warum hatte ich mich nicht früher beurlauben lassen und war mit ein wenig Reis nach Hause gekommen?
Aber Reue und Gewissensbisse halfen nichts. Ich kochte aus dem mitgebrachten Reis einen Brei, brachte ihn neben das Bett, aber mein Vater konnte schon nicht mehr schlucken. Drei Tage später haben wir uns für immer verabschiedet.
Mit der Hilfe meiner Dorfgenossen habe ich Vater in aller Eile unter die Erde gebracht. Solange es ihm gut ging, habe ich nicht sonderlich auf ihn geachtet; jetzt lag er still unter der Erde und Bilder aus der Vergangenheit tauchten in meinem Kopf auf.
Yang Xiushen, mein Vater, hieß mit Erwachsenennamen Yang Yupu, ein weiterer Name war Yang Hongyuan, er war 1889 geboren (im 15. Jahr der Regierungsdevise Guangxu des letzten Kaisers der Qing-Dynastie), am 6. Tag des 6. Monats nach dem Bauernkalender. Eigentlich war er mein Onkel und nur mein Ziehvater. Er hat mich großgezogen, seit ich drei Monate alt war, er und meine Mutter (meine Ziehmutter) waren besser zu mir, als wenn ich ihr eigenes Kind gewesen wäre, in unserem Ort war das schon Legende, wie ungewöhnlich vernarrt die beiden in mich waren.
Später habe ich von Leuten aus dem Dorf erfahren, dass mich mein Vater bei Wind und Wetter über die kleinen Pfade der Gemeinde geschleppt hat, um nach Milch für mich zu suchen, deshalb kann man sagen, dass das halbe Dorf meine Amme gewesen ist. Einmal war ich schwer krank und bewusstlos, da hat Vater vor dem Schrein einen Kotau gemacht und blieb auf den Knien, bis ich wieder zu mir gekommen war. Obwohl wir sehr arm waren, haben sie alles getan, damit ich zur Schule gehen konnte. Was mein Benehmen anging, waren sie ausgesprochen streng.
1950 hat die Gemeindeverwaltung von Mayuan, wo wir waren, häufig zu Versammlungen aufgerufen, in denen Grundbesitzer und böse Tyrannen bekämpft werden sollten. Einmal fand eine besonders große Versammlung am Dattelstachelberg statt und Vater nahm mich mit. Versammlungsort war ein abschüssiger Hang, an dessen Fuß provisorisch eine Bühne aufgebaut war. Der Hang stand voller Menschen. Der Himmel bebte von den Parolen, die Milizen mit ihren Gewehren auf der Schulter strahlten Wichtigkeit aus. Die Leute, die bekämpft werden sollten, wurden auf die Bühne gezerrt, sie waren aneinandergefesselt, und jedes Mal, wenn jemand seine Klage vorgebracht hatte, strömten die Leute zur Bühne und schlugen auf die Bekämpften ein. Wenn sie nach den Prügeln kein Lebenszeichen mehr von sich gaben, wurden sie den Hang hinaufgeschleppt und erschossen. Dieses Mal waren es 14 Leute. Ich bemerkte, dass Vater die ganze Zeit über kein Wort sagte. Als ich mit ein paar Spielkameraden vom Versammlungsplatz zurückkam, spielten wir »Bekämpft den Grundbesitzer«. Als Vater das sah, zerrte er mich unversehens ins Haus und versohlte mir kräftig den Hintern. Später habe ich ihn sagen hören, dass die Erschossenen nicht alles schlechte Menschen und dass die, die auf der Bühne auf sie eingeschlagen hätten, auch nicht alle Unschuldslämmer gewesen seien. Er hat mich dann nie wieder auf so eine Kampfversammlung mitgenommen.
Nach dem Tod meiner Mutter 1951 waren mein Vater und ich allein aufeinander angewiesen. Ich war eine Weile zu Hause und konnte nicht zur Schule gehen. Er hat mich keine Bauernarbeit machen lassen, hat den einzigen Stuhl bei uns zu Hause freigeräumt und jeden Tag mein Lernen kontrolliert. Aber einmal hat er mich zur Ablieferung der Getreideabgabe mitgehen lassen, ich durfte sogar zwei kleine Beutel mit Rohreis tragen.
Er sagte, früher hatten wir kein Feld, jetzt hat man uns ein Feld zugeteilt, die Ablieferung der Getreideabgabe ist eine wichtige Sache, das sollte ich miterleben. Allerdings konnte ich auf halbem Weg nicht mehr weiterlaufen. Also hat er mich samt meinen beiden Reisbeuteln auf die Tragestange gepackt und uns alle zusammen zur Getreidestation gebracht.
Bei der Agrarreform hat man meiner Familie Felder für 600 Kilo Korn zugeteilt (das entspricht drei Mu). Wie war die Freude groß, als sie uns damals das Land zugewiesen haben, so klein ich war, ich teilte die Freude, aber es waren noch keine zwei, drei Jahre herum, als der Boden von den Kollektiven wieder zurückgenommen wurde.
1954 habe ich die Aufnahmeprüfung für die Unterstufe der Mittelschule in Xishui gemacht. Da wir das Geld für die Schulspeisung nicht aufbringen konnten, musste ich jeden Tag zur Schule laufen. Von Zuhause bis zur Schule waren es 20 chinesische Meilen (zehn Kilometer). Um mir den Schulweg abzukürzen, hat Vater in dem von der Kreisstadt nur zehn Meilen entfernten Maqiao ein altes Haus gesucht und dort einen kleinen Teeladen aufgemacht. Diese zehn Meilen waren nur Hauptstraße und damit war die Voraussetzung für mich als Heimgänger geschaffen. Jeden Tag holte er mich, noch bevor es hell war, aus dem Bett und schickte mich Punkt sieben zur Schule. Einmal hatten wir einen solchen Wolkenbruch, dass die Mauer des alten Hauses zum Berg hin einbrach. Es hat nicht viel gefehlt und er wäre unter ihr begraben worden. Erst später, als ich von der Schule ein Stipendium bekam und dort wohnen und lernen konnte, hatte dieses harte Leben für meinen Vater ein Ende.
Dass mein Vater verhungert war, machte mich furchtbar traurig, aber ich habe der Regierung nie den geringsten Vorwurf gemacht. Mein Glaube an die groß propagierten Erfolge des »Großen Sprungs nach vorn« und an die Überlegenheit der Volkskommunen war unerschütterlich. Ich hielt, was zu Hause geschehen war, für einen Einzelfall. Ich hielt den Tod meines Vaters für Pech. Und wenn man an das Kommen des großen Kommunismus dachte, was zählte da das Unglück einer einzelnen Familie? Die Partei hatte mich gelehrt, dass man das »kleine Ich« gelegentlich opfern musste, um das »große Ich« zu bewahren, und ich war der Partei unbedingt gehorsam. Diese Einschätzung hielt sich bis zur Kulturrevolution.
Damals hatte ich nicht den geringsten Zweifel an dem, was uns die Organisationen der Partei beibrachten, ich habe das ohne Wenn und Aber akzeptiert. Meine schulischen Leistungen waren immer sehr gut, in der Volksschule war ich bei den Jungpionieren, mit der Mittelschule kam ich zur Kommunistischen Jugendliga. Als die Partei bei den Kampagnen gegen Rechtsabweichler 1957 sagte, die rechtsabweichlerischen Elemente seien schlecht, glaubte ich, dass sie schlecht sind.
Bei dem Großen Sprung 1958 war auch ich bei den Aktivisten in der Schule. Meine hymnischen Gedichte auf den Großen Sprung habe ich zur pädagogischen Ausstellungshalle des Bezirks Huanggang geschickt. Damals war ich Leiter des Propagandabüros des Jugendligakomitees und gleichzeitig Herausgeber der kleinen Schülerzeitung »Der junge Kommunist«, die ich von Matrizen abgezogen habe. Tagsüber habe ich an der Arbeit teilgenommen, abends habe ich die Zeitung gemacht.
Anfang 1959 habe ich für die Zeitung eine »Neujahrswidmung« geschrieben, in der begeistert der Große Sprung besungen wurde. Auf der großen Neujahrsversammlung der Schule hat der Schulleiter Wang Zhansong meinen Artikel vorgelesen, er hat kein Zeichen ausgelassen und ihn den Lehrern der ganzen Schule gewidmet.
All das habe ich ganz aufrichtig getan, ich hatte dabei keinerlei eigenen Vorteil im Sinn. Vaters Tod hatte mich zwar sehr traurig gemacht, aber meinen Glauben an die KP Chinas nicht im mindesten geschwächt. Damals haben die jungen Leute sich scharenweise in den Großen Sprung nach vorn gestürzt, auch sie ganz ohne Hintergedanken, der Kommunismus hat sie angespornt. Unter ihnen waren viele, die bereit gewesen wären, ihr Leben für das große kommunistische Ideal zu opfern.
Dass ich den Großen Sprung so aufrichtig unterstützt habe, lag neben dem Ansporn durch das kommunistische Ideal auch an meiner Unwissenheit. Mein Zuhause war ein abgelegenes kleines Dorf, weitab von den großen Straßen. Bis hierhin drangen kaum Informationen, die Bauern hatten keine Ahnung, was jenseits der Berge an wichtigen Dingen vor sich ging. Einmal habe ich gehört, wie ein alter Bauer zu meinem Vater sagte: Jemand scheint den Xuantong* gesehen zu haben, kann sein, er will wieder Kaiser werden. Sie wussten nicht, dass Pu Yi damals schon als Verräter in Haft war. Die Bauern hingen an ihrem Kaiser.
Von den großen Dingen, die am 1. Oktober 1949 in Beijing vor sich gingen, wussten sie ebenfalls nichts. Unser Dorfkader Huang Yuanzhong wusste es, er hat damals in der Gemeinde eine Versammlung abgehalten. Am Tag darauf hat sein Sohn (sie riefen ihn nur »Lausert«) zu mir gesagt: »Der Vorsitzende Mao hat den Thron bestiegen.«
Ich fragte: »Was heißt das, den Thron besteigen?«
Lausert sagte: »Wenn man Kaiser wird.« Er sagte, sein Vater hätte das gesagt.
Der Aktionsradius der überwältigenden Mehrheit der Bauern lag im Höchstfall bei 50 Kilometern. Mein Heimatdorf war zwar nur
* Xuantong war die letzte Regierungsdevise der Qing-Dynastie überhaupt, hier gleichgesetzt mit dem letzten Kaiser Pu Yi (Anm. d. Übers.).
100 Kilometer von Hankou entfernt, aber für die Bauern lag das in unerreichbarer Ferne. Die Leute konnten ihre Sehnsucht nach Hankou nur in Kinderliedern festhalten:
»Mann im Mond komm doch mit mir
nach Hankou rüber gehen wir;
Mann im Mond, lauf mit mir, lauf
dort die Yuanjia-Brücke rauf.«
Auch die Kreisstadt war ein ersehnter - und erreichbarer - Ort. Doch auch in die Kreisstadt brauchte man hin und zurück einen ganzen Tag, und die Hälfte des Wegs führte über schmale, unwegsame und gewundene Bergpfade. Die meisten sind im Jahr nur ein-, zweimal dorthin gekommen.
Sich in den Sommernächten nach dem Waschen draußen abzukühlen war die gemütlichste Zeit für die Bauern. Manch einer saß mit der ganzen Familie vor seinem Haus, man trank selbstangebauten Tee, wedelte mit den eigenhändig aus Stroh geflochtenen Fächern und sprach über den häuslichen Kleinkram. Wer es lieber hatte, wenn etwas los war, saß mit anderen im Kreis zusammen, man kühlte sich ab und plauderte. Oder man sprach über die »Bruderschaft im Pfirsichblütengarten«, von der der Geschichtenerzähler gesprochen hatte. Aber das alles hatte man schon zigmal gehört und war es eigentlich satt. Wenn jemand etwas Neues aus der Kreisstadt erzählen konnte, bekamen alle spitze Ohren. Und wer es konnte, genoss bei den Leuten hohe Achtung.
Dass unser Dorf so isoliert war, führte bei den Bauern zwar zu Unwissenheit, dadurch konnte sich aber auch ein Teil unverfälschter Menschlichkeit erhalten. Die Antipathie meines Vaters gegen die Kampfversammlung von 1957 entsprang keinem rationalen Urteil, sondern natürlicher Menschlichkeit. Als ich 1954 das Bauerndorf verließ, um in der Kreisstadt zur Schule zu gehen, war ich ein vollkommen unbeschriebenes Blatt.
Als die KP Chinas die Macht übernommen hatte, wurde das Land gegen alle Theorien und Informationen aus dem Ausland abgeschottet, andererseits hat man die traditionellen ethischen Normen vollständig negiert. Die Regierung hatte das Monopol auf Information und das Monopol auf Wahrheit. Das Zentralkomitee der KP Chinas war das Zentrum der Macht, das Zentrum der Wahrheit und auch das Informationszentrum. Sämtliche wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen wiesen mit allem Nachdruck die Richtigkeit des Regimes der Kommunistischen Partei nach; sämtliche kulturellen und künstlerischen Institutionen priesen vehement die KP Chinas; sämtliche Nachrichtenorganisationen verbreiteten Nachrichten, die den Glanz und die Größe der chinesischen Kommunisten bestätigten. Von den Kindergärten bis zu den Universitäten war es die erste Pflicht, Schülern und Studenten die kommunistische Weltanschauung einzupflanzen.
Die sozialwissenschaftlichen Organisationen, Kulturverbände, Nachrichtenorgane, Schulen und Universitäten - alle wurden zu Instrumenten der KP Chinas beim Aufbau ihres Monopols über das Denken, den Geist und die Öffentliche Meinung, sie alle formten rund um die Uhr die Seelen der jungen Menschen. Und wer in diesem Bereich arbeitete, hielt sich viel darauf zugute, solch ein »Ingenieur von Menschenseelen« zu sein.
Unter diesen Bedingungen, isoliert von Ideen und Informationen, hat die Zentralregierung mit ihrer Monopolmaschinerie langfristig kommunistische Wertvorstellungen verankert und alle anderen Wertvorstellungen verurteilt und beseitigt. Auf diese Weise wurden in den Köpfen der jungen Menschen klare und stramme Vorstellungen davon geschaffen, was richtig und falsch, was zu lieben und was zu hassen sei, samt einer tiefen Sehnsucht, die kommunistischen Ideale zu verwirklichen. Wenn sich in dieser Zeit in Wort und Tat irgendetwas vernehmen ließ, das gegen diese Ideale sprach oder mit ihnen nicht übereinstimmte, wurde es unweigerlich von der Masse attackiert.
Neben der massiven Indoktrination durch Sozialwissenschaften, Nachrichten, Literatur, Kunst und Schule war die der Organisation, also der Partei, noch weit wirkungsvoller. Auf allen Organisationsstufen der KP Chinas gab es zentrale Persönlichkeiten, um die herum sich wesentliche Unterstützer gruppierten; eine Ebene kontrollierte die andere, eine Ebene war der anderen ergeben. Die ständigen politischen Kampagnen, die in die Tausende und Abertausende gehenden kleineren und größeren Versammlungen, die Auszeichnungen und die Kritik, die Belohnungen und die Strafen zogen das Denken der jungen Menschen auf ein einspuriges Gleis. Jede mit der Kommunistischen Partei nicht übereinstimmende Auffassung wurde im Keim erstickt.
Damals glaubte ich aufrichtig an all das - China, in den letzten hundert Jahren vom Imperialismus gedemütigt, verarmt und geschwächt, konnte durch die »Drei Roten Banner« in den Sozialismus eintreten und darüber hinaus das höchste Ideal der Menschheit verwirklichen: den Kommunismus. Was zählten angesichts dieses hehren Ideals die Probleme der Gegenwart?
Ich hatte keine Zweifel an diesen »Drei Roten Bannern« - aber neben meiner Unwissenheit gab es dafür noch einen weiteren Grund: der gewaltige politische Druck der gesamten Gesellschaft, der dazu führte, dass ich es auch nicht wagte zu zweifeln.
Vor meinen Augen sind viele grauenvolle Dinge geschehen. Wan Shangjun, ein Mitschüler eine Klasse über mir, durfte wegen einer langen Rede, in der er Marschall Tito lobte und das »sozialistische Lager« kritisierte, die Aufnahmeprüfung für die Universität nicht machen. Bei der Aufnahmeprüfung für die Mittelschule war er noch der Beste des ganzen Kreises gewesen, ich war im Jahr nach ihm der Beste, deshalb kannten wir einander gut.
Er lernte viel und machte sich eine Menge Gedanken und hat dann wegen dieser unabhängigen Gedanken im Alter von 17 Jahren seine Zukunft verspielt. Im Frühjahr '59 wurden an einer Klo- wand drei mit Kreide geschriebene Worte entdeckt: »Nieder mit Mao« - alles war in heller Aufregung, das Ganze wurde auf schnellstem Weg der Schulleitung gemeldet, die Schulleitung hat es auf schnellstem Weg dem Amt für Öffentliche Sicherheit gemeldet, das Amt für Öffentliche Meinung hat den Fall sehr schnell gelöst; Der Mitschüler aus der Klasse über mir hatte das geschrieben, er war unzufrieden, weil er Hunger hatte, und hatte sich mit dieser Kritzelei Luft gemacht. Mein Vater hat mit eigenen Augen gesehen, wie sie ihn in Handschellen ins Gefängnis geschafft haben.
Die unablässige revolutionäre Kritik, die schweren Strafen, die man aus eigener Erfahrung kannte, haben dazu geführt, dass die Menschen eine regelrechte Angstneurose entwickelten. Und diese Angst war nichts, das jäh aufflammte und ebenso plötzlich wieder erlosch, wie etwa die Angst vor Schlangen oder wilden Tieren, diese Angst ging in Blut und Nerven über, sie wurde zu einem Überlebensinstinkt jedes Einzelnen. Die Menschen mieden politische Gefahren wie das Feuer.
In einem Staat, in dem die Kaisertreue so tief verwurzelt ist, betrachten die Menschen die Stimme der Zentralregierung als eine Autorität, und die KP Chinas hat mit der »mächtigen Waffe« einer Zentralregierung dem ganzen Volk eine einheitliche Wertewelt eingetrichtert. Die jungen Menschen mit ihren einfachen Erfahrungen haben aufrichtig an das geglaubt, was man ihnen beibrachte, und die Familienoberhäupter, die etwas mehr Erfahrung hatten, haben entweder aus Aberglauben an diese »mächtige Waffe« oder aus Angst vor der Regierung mit Fleiß ihre Kinder davon abgehalten, irgendwelche Gedanken zu äußern, die mit der Regierung nicht übereinstimmten, und stets darauf geachtet, dass ihre Sprösslinge willfährig und gehorsam waren.
1960 habe ich die Aufnahmeprüfung für die Qinghua-Universität in Beijing gemacht. Ich war kaum dort, als ich auch schon an einer Ausstellung der Qinghua gegen Rechtsabweichler teilnahm und treu und brav Erziehungsarbeit leistete. Anschließend ging es 50 Tage aufs Land, wo ich einerseits eine Erziehung durch körperliche Arbeit bekam und zum anderen Debatten zur Aufrechterhaltung der »Drei Roten Banner« führte. Mir knurrte zwar der Magen, aber ich zweifelte nicht an meiner Mission.
Die sonst für ihr freies Denken berühmte Universität war vollständig abgeschottet. Die Qinghua hatte schon immer sehr viele namhafte Professoren gehabt, aber wir kannten Männer wie Wen Yiduo und Zhu Ziqing nur aus den Büchern von Mao Zedong, wir wussten nichts von Chen Yanke und auch nichts von Wu Mi.
Die Bestände der Universitätsbibliothek der Qinghua waren riesig, aber wir durften außer zur Ingenieurtechnik nur Bücher ausleihen, die etwas mit Kommunismus zu tun hatten. Zwei Alumni der Qinghua, Yang Chenning und Li Zhengdao, hatten gerade erst den Nobelpreis für Physik bekommen, aber die Universität verschwieg diese Tatsache nicht nur, die Kaderversammlung der Jugendliga ließ auch durchblicken, die beiden seien ideologisch reaktionär, man solle nicht wie sie ihren Weg des »weißen Spezialistentums « gehen.
In meiner ganzen Zeit an der Qinghua war ich Parteigruppensekretär der Jugendliga, im Mai 1964 bin ich dann der KPCh beigetreten. Die Menschen damals hielten uns junge Leute für sehr einfach und rein. Und es stimmte auch, unsere »Einfachheit« bedeutete, dass wir nichts im Kopf hatten als das, was uns die Maschinerie der öffentlichen Meinung eingebläut hatte, wir glaubten alle das Gleiche; und unsere »Reinheit« bedeutete, dass wir neben dem, was uns die öffentliche Meinung eingetrichtert hatte, keinerlei eigenen Gedanken im Kopf hatten. Die Generation, die die KPCh unter ihrer neuen Regierung heranzog, bestand ausschließlich aus treuen Jüngern ihrer Staatsmacht. Wenn in diesen Jahrzehnten nichts Großes passiert wäre, wäre die Regierung stabil geblieben, und wir hätten unser Leben lang an unserem Glauben festgehalten.
Es war die Kulturrevolution, während der ich zum ersten Mal große Veränderungen erlebte. In ihrer Anfangszeit hat mich die Situation, wie sie von Abertausenden von Wandzeitungen in der Universität enthüllt wurde, zutiefst schockiert: dass die alte Revolution, die ich so viele Jahre verehrt hatte, in ihrer Lebensrealität derart korrupt und ideell dermaßen auf den Hund gekommen war!
Am 12. September 1966 habe ich mit einigen Studenten aus meiner Klasse mit über 20 Städten »Verbindung aufgenommen«, und wir erfuhren, dass die Wandzeitungen überall das Gleiche enthüllten: Korruption und Privilegien der hohen Beamten. Ich verlor mein blindes Vertrauen in die Autoritäten, in die hohe Beamtenschaft und in das, was in den Zeitungen stand. Ich begann an den Mythen zu zweifeln, die mir die KPCh so viele Jahre eingetrichtert hatte. Wie viele andere aus der breiten Masse habe ich mit dem Gedanken an Widerstand gegen die hohe Beamtenschaft an der Kulturrevolution teilgenommen.
Während der Kulturrevolution hat dann Zhang Tixue, der Provinzgouverneur von Hubei, etwas gesagt, das mich zutiefst erschütterte: In den drei schlechten Jahren seien in der Provinz Hubei drei Millionen Menschen verhungert.
Erst jetzt wurde mir klar, dass die Tragödie, die sich in meiner Familie abgespielt hatte, kein Einzelfall war!
Nach meinem Abschluss an der Universität bin ich der Nachrichtenagentur Neues China zugeteilt worden. Die Journalisten beim Neuen China hatten Zugang zu gesellschaftlichen Schichten wie sonst niemand. Ich wusste nicht nur, dass in vielen Bereichen die wirkliche Lage mit dem, was in den Unterrichtsmaterialien zur Parteigeschichte stand, nicht übereinstimmte, ich habe auch die Armut der Arbeiter in den Städten gesehen. Als Reporter des Neuen China wusste ich darüber hinaus, wie die »Nachrichten« in den Zeitungen zustande kamen, wusste, wie die Nachrichtenorgane zum Sprachrohr der politischen Macht gemacht wurden.
Nach Reform und Öffnung hat sich die Isolation des chinesischen Denkens im Vergleich zu früher beträchtlich gelockert. Einige historische Wahrheiten begannen sichtbar zu werden. In der Vergangenheit hatte uns die Partei gelehrt, im antijapanischen Krieg habe nur die KPCh gekämpft und die Guomindang habe immer nur kapituliert und Kompromisse geschlossen; erst jetzt erfuhren wir, dass die Guomindang die Hauptschlachtplätze im Krieg gegen Japan gehalten hatte und zwei ihrer Generäle für das Land gefallen waren.
In der Vergangenheit hat die Partei uns weisgemacht, aufgrund von Naturkatastrophen sei es in einigen wenigen Gebieten zu Hungersnöten gekommen; jetzt erfuhren wir, dass allein infolge einer von Menschen verursachten Katastrophe zig Millionen Menschen verhungert waren. Ich begann zu begreifen, dass die Geschichte der KPCh und die chinesische Geschichte der letzten knapp hundert Jahre nach den Bedürfnissen der Kommunisten verzerrt und verfälscht worden waren.
Wenn man einmal weiß, dass man in der Vergangenheit lange Zeit betrogen worden ist, dann entsteht daraus eine große Kraft, diese Täuschung abzuschütteln. Je mehr die Machthaber versuchen, die Tatsachen zu vertuschen, um so mehr zwingen sie uns, nach ihnen zu suchen. Ich habe nicht nur alles verschlungen, was an neuen historischen Materialien veröffentlicht wurde, ich habe auch bei meinen Nachrichtenrecherchen alles darangesetzt, die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren. Ich habe die Zwischenfälle 1989 in Beijing miterlebt, was mir die Augen weiter geöffnet hat. Das Blut der jungen Studenten hat mir all die Lügen der vergangenen Jahrzehnte aus dem Gehirn gewaschen. Als Nachrichtenjournalist habe ich alles darangesetzt, Meldungen und Kommentare zu veröffentlichen, die der Wahrheit entsprachen; als Wissenschaftler habe ich die Pflicht, der Geschichte ihr wahres Gesicht zurückzugeben und den Vielen, die ebenfalls getäuscht wurden, die Wahrheit zu sagen.
Bei meinen Bemühungen, die Täuschung abzuschütteln und die Wahrheit zu suchen, wurde mir Schritt für Schritt klar, vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund mein Vater gestorben war. Obwohl das alles schon einige Jahrzehnte zurücklag, drang ich Tag für Tag tiefer in die Gründe ein, die zum Tod meines Vaters geführt hatten, und meine Sehnsucht nach ihm wurde Tag für Tag größer. Anfang der 80er Jahre entstand in meinem Heimatort die Mode, für die Ahnen Grabsteine zu errichten. Vor allem für solche, die es »draußen« zu etwas gebracht hatten und hohe Beamte geworden waren, errichtete man imposante Grabmale.
Freunde und Verwandte ermahnten auch mich, meinem Vater ein solches Grabmal zu errichten. Ich dachte, ich bin zwar kein hoher Beamter geworden, aber der Grabstein für meinen Vater soll imposanter werden als der für die hohen Beamten. Trotzdem musste ich an das Schicksal der Grabsteine denken, die in meinem Dorf 1958 errichtet worden waren. Die einen wurden für Wasserbaueinrichtungen abgebaut, aus anderen hat man die Sockel für die kleinen Hochöfen während des Großen Sprungs gebaut, mit wieder anderen hat man die Straßen gepflastert und Millionen Menschen sind über sie hinweggetrampelt.
Je imposanter die Grabmale, umso größer die Gefahr, dass sie abgerissen wurden. Es war unumgänglich, meinem Vater einen Grabstein zu errichten, aber es durfte kein Stein sein, der auf der Erde stand, er musste in den Herzen aufgestellt werden. Auf einem Stein, der in die Herzen gesetzt ist, kann man nicht herumtrampeln und er kann nicht wieder entfernt werden.
In meinem Herzen habe ich meinem Vater tatsächlich einen Grabstein errichtet. Dieses Buch ist die Inschrift, die ich in ihn meißele. Auch wenn ich längst von dieser Welt verschwunden sein werde, die Stimme meines Herzens, die durch diese Inschrift spricht, wird in den großen Bibliotheken der Welt bleiben.
Die Tragödie, die sich in meiner Familie abgespielt hat, hat sich auch in Millionen anderer Familien im ganzen Land abgespielt.
Der Leser wird im Kapitel 11 dieses Buches Verweise auf das vielfältige Material aus dem In-und Ausland finden, das bestätigt, dass zwischen 1958 und 1962 in China 36 Millionen Menschen verhungert sind. Aufgrund des Hungers ist die Geburtenrate gesunken und es kamen 40 Millionen weniger Kinder zur Welt.
In vielen Provinzen war fast jede Familie betroffen, viele wurden vollständig ausgelöscht, in manchen Dörfern sind sämtliche Bewohner ums Leben gekommen. Das passt zu zwei Zeilen aus »Dem Seuchengott zum Geleit«, einem Gedicht Mao Zedongs aus dem Jahr 1958: »Tausend Dörfer sind öde und leer, in zehntausend Hütten traurig der Geister Gesang.«
Was hat man sich darunter vorzustellen, wenn man sagt, 36 Millionen Menschen sind verhungert?
Das sind 450mal so viele Menschen wie die, die dem Abwurf der Atombombe am 9. August 1945 auf Nagasaki zum Opfer fielen.1
Es sind 150mal so viele Menschen wie die, die das große Erdbeben von Tangshan am 28. Juli 1976 in den Tod riss.2
Es sind mehr als alle Toten des gesamten Ersten Weltkriegs.
Das Ausmaß des Schreckens dieser Hungersnot übersteigt bei weitem den Schrecken der Kriegshandlungen des Zweiten Weltkriegs. Im Zweiten Weltkrieg sind zwischen 40 und 50 Millionen Menschen ums Leben gekommen.3 Aber zu diesen 40 bis 50 Millionen Menschen ist es im Verlauf von sieben, acht Jahren in Europa, Asien und Afrika, also einem riesigen Gebiet, gekommen; die 36 Millionen sind alleine in China und innerhalb von nur drei, vier Jahren gestorben, wobei in den meisten Gebieten die Hauptzahl der Opfer während eines halben Jahres zu beklagen war.
Diese Zahl stellt alle bisherigen Katastrophen in der chinesischen Geschichte in den Schatten: Die höchste Opferzahl, die in der chinesischen Geschichte verzeichnet ist, bezieht sich auf die Opfer der Naturkatastrophen zwischen 1928 und 1930, von denen alle 22 Provinzen betroffen waren. Diese Zahl überstieg bereits alles zuvor Dagewesene, aber sie belief sich auf »nur« zehn Millionen Tote.
In den 17 Jahren von 1920 bis 1936 sind als Folge von Naturkatastrophen insgesamt 18,36 Millionen Menschen ums Leben gekommen.
Li Wenhai und die anderen Autoren des Buchs »Hungersnöte in Chinas jüngerer Geschichte« und »Die zehn großen Hungersnöte in Chinas jüngerer Geschichte« halten die oben angegebene Zahl für zu hoch gegriffen, sie sind der Auffassung, dass zwischen 1928 und 1930, der schlimmsten der von ihnen aufgelisteten Hungersnöte, weniger als sechs Millionen Menschen den Tod fanden; bei dem großen Yangzi-Hochwasser 1931 fanden 140 000 Menschen den Tod. Was die Zahl der Opfer angeht, übertrifft die Hungersnot zwischen 1958 und 1962 die schlimmsten vergleichbaren Ereignisse um eine Vielfaches.
Und es gab niemanden, der klagte und weinte, es gab keine angemessenen Riten, keine Feuerwerke und kein Papiergeld bei den Beerdigungen, da waren kein Mitgefühl, keine Trauer, keine Tränen, keine Erschütterung und keine Angst. Millionen von Menschen sind einfach so, apathisch und ohne einen Laut, verschwunden.
In manchen Gegenden hat man die Leichen mit Lkws zu großen Massengräbern am Ortsausgang gekarrt; in anderen Gebieten schauten noch Arme und Beine aus dem Boden heraus, weil man keine Kraft mehr hatte, sie anständig zu vergraben; mancherorts lagen die Toten einfach am Straßenrand, wie und wo sie auf der Suche nach etwas Essbarem umgefallen waren, und nicht wenige lagen lange zu Hause herum, wo ihnen Ratten Nasen und Augen abgenagt haben.
Im Herbst 1999 habe ich erfahren, wie es in einigen von der Hungersnot besonders betroffenen Gemeinden in der Provinz Henan zugegangen ist. Der über 70 Jahre alte Yu Wenhai, ein Bauer aus der Gegend, hat mich zu einem Kornfeld vor dem Ort geführt, er zeigte auf die Bäume in der Mitte des Feldes und sagte: Bei den hohen Bäumen da war früher eine große Grube, da drin haben sie einen Haufen von über hundert Leichen verscharrt.
Wenn kein Betroffener wie Yu Wenhai darauf aufmerksam gemacht hätte, hätte niemand je erfahren, dass unter dem üppig grünen Weizenfeld und den kerzengeraden Bäumen eine furchtbare Tragödie verborgen liegt.
Der Hunger gegen Ende war entsetzlicher als der Tod selbst. Die Maiskolben waren gefressen, das wilde Gemüse war gefressen, die Baumrinde war gefressen, Vogelmist, Mäuse und Ratten, Baumwolle, alles hat man sich in den Bauch gestopft. Wo man Guanyin- Erde, eine Art fetten Lehms, ausgegraben hat, hat man sie sich schon beim Graben in dicken Klumpen in den Mund geschoben. Die Leichen der Toten, Verhungernde von außerhalb, selbst eigene Verwandte hat man zu Lebensmitteln gemacht.
Damals war es kein Einzelfall, wenn »Menschen einander gegessen « haben, ebenso wenig, dass man, wie es in den alten Aufzeichnungen heißt, »die Kinder austauschte und aß«, aber in den Jahren dieser Hungersnot haben die Menschen vielfach auch die eigenen Kinder gegessen. Ich habe selbst noch solche »Menschenfresser« gesehen, habe zugehört, wie sie den Geschmack von Menschenfleisch beschrieben.
Nach zuverlässigen Materialien, die mir vorliegen, gab es landesweit tausende Fälle von Kannibalismus.5 Diese Tragödien werden in den verschiedenen Kapiteln dieses Buches für jede Provinz genau aufgelistet.
Es war ein in der Geschichte der Menschheit beispielloses Desaster: In Jahren mit ganz normalen Ernteerträgen, ohne Krieg und ohne Seuchen, starben Millionen Menschen hungers und es kam in großem Umfang zu Kannibalismus.
In den darauffolgenden Jahrzehnten ist in sämtlichen Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und amtlichen Dokumenten in China diese ungeheure menschliche Tragödie ausgespart oder vertuscht worden. Wenn es um die verhungerten Menschen ging, waren die Lippen der Kader versiegelt. In Bezug auf die Statistiken wurde mit allen möglichen Tricks gearbeitet, um von den Millionenzahlen herunterzukommen. Um das Ganze für immer zu vertuschen, haben die zuständigen Behörden angeordnet, sämtliche Materialien über die von den Provinzen nach oben gemeldeten millionenfachen Verluste an Menschenleben zu vernichten.
Über nach Hongkong entkommene Flüchtlinge und Angehörige von Auslandschinesen in China drangen ein paar Informationen nach außen, und einige westliche Medien haben auf diese Informationen gestützt immer wieder über die Hungersnot in China berichtet. Diese Berichte waren sporadisch und ausgesprochen unvollständig, trotzdem hat die chinesische Regierung das alles abgetan als »üble Attacken« und »lügnerische Verleumdungen«.
Um die öffentliche Weltmeinung umzudrehen, hat die chinesische Regierung ein paar »befreundete Persönlichkeiten« nach China eingeladen, in der Hoffnung, durch ihre Berichte »den wahren Sachverhalt zu klären«. Für diese Leute wurden von der Regierung umfangreiche Vorbereitungen getroffen: Sämtliche Reiserouten wurden sorgfältig festgelegt, samt den zu besuchenden Orten, den Kontakten mit der Bevölkerung und den Tischreden für die ausländischen Gäste und so weiter und so fort. Als diese ausländischen Gäste da waren, wurden sie von der einfachen Bevölkerung komplett abgeschirmt, mancherorts hat man ihnen bewusst etwas von Wohlstand und Zufriedenheit vorgespielt.
Fang Shi, damals stellvertretender Leiter der Inlandsabteilung der Nachrichtenagentur Neues China, hat die Aufgabe übernommen, die Gäste auf ihrem Inspektionsbesuch nach Anhui zu begleiten. Er hat mir später erzählt, wie das Provinzkomitee von Anhui die ausländischen Gäste hinters Licht geführt hat. Und die so Getäuschten haben nach der Rückkehr in ihre Länder Artikel veröffentlicht, in denen sie »aus eigener Anschauung« die »gewaltigen Erfolge« Chinas priesen und behaupteten, in China könne keine Rede sein von einer Hungersnot, im Gegenteil, das Volk lebe in Wohlstand und Reichtum.
Der englische Reporter Felix Green schreibt in seinem berühmten Chinabuch »A Curtain of Ignorance«, er habe 1960 überall eine strenge Getreidezuteilung beobachtet, nirgendwo aber habe er irgendetwas von Hunger in größerem Umfang gesehen.
Edgar Snow, der amerikanische Journalist, den in China jedes Kind kennt, war einer derer, die, nachdem man sie selbst betrogen hatte, nun auch andere betrogen. Die Artikel der ausländischen Gäste wurden auch von der Nachrichtenagentur Neues China übersetzt, sie standen als Produkte des »Reimports« in den »Referenzmaterialien « und wurden zu einem Instrument, das Denken auf Linie zu bringen und abweichende Meinungen im Land zu unterdrücken.
Erst über 20 Jahre später begannen einige ausländische Wissenschaftler und im Ausland reisende Chinesen die unerhörte Tragödie etwas bekannter zu machen und zu untersuchen. Diese Forschungen waren von sehr großem Wert. Aber die Forscher waren weit weg vom Ort des Geschehens und hatten keine Möglichkeit, das interne Material in chinesischen Archiven zu sichten, weshalb die Lektüre ihrer Untersuchungsergebnisse immer ein Gefühl von verlorener Liebesmüh' hinterlässt.
Seit Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts habe ich den Umstand, dass ich im ganzen Land recherchieren konnte, dafür genutzt, das entsprechende Material in den verschiedenen Gebieten im ganzen Land einzusehen und mit Menschen zu sprechen, die diese Jahre selbst erlebt haben. Vom hohen Norden bis in den tiefen Süden, vom Westen bis in den Osten Chinas habe ich das Material von mehr als einem Dutzend Provinzen gesichtet, ich habe mit über hundert Betroffenen gesprochen. In zehn Jahren mühevoller Kleinarbeit habe ich Zehntausende von Seiten Material gesammelt und über zehn dicke Bände mit den Aufzeichnungen von Gesprächen mit Betroffenen gefüllt. Ich habe schließlich ein relativ vollständiges und gründliches Bild von der wahren Situation der drei, vier Jahre, über die sich die Hungersnot hinzog, bekommen.
Angesichts der schlimmen Folgen, die diese gewaltige Hungersnot nach sich zog, hat Liu Shaoqi einmal zu Mao Zedong gesagt: »Es sind so viele verhungert, wenn die Geschichte von uns beiden geschrieben wird, dann muss der Kannibalismus erwähnt werden! «
Im Frühjahr 1962 hat Liu Shaoqi in einem Gespräch mit Deng Liqun noch einmal davon gesprochen, dass die »Hungersnot in den Geschichtsbüchern stehen muss«.
Aber das alles ist nun schon über 40 Jahre her und in China gibt es bis heute kein solches Buch. Das ist nicht nur aus historischer Sicht bedauernswert, es ist auch gegenüber den Millionen unschuldiger Opfer unverzeihlich. Ich habe viele Jahre darauf verwandt und dieses Buch schließlich geschrieben. Es ist auch ein Grabmal für die Seelen der vielen Millionen verhungerten Menschen, und ich hoffe, es wird ihnen Trost spenden.
Liu Shaoqi hat darüber hinaus einmal gesagt, diese Katastrophe müsse man in die Denkmäler einmeißeln, darüber müsse man Buch führen, »das muss man unseren Kindern und Kindeskindern weitergeben, damit solche Fehler in Zukunft nicht mehr gemacht werden.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Jisheng Yang
Yang JishengYang Jisheng, geboren 1940, studierte an der Tsinghua Universität in Beijing und trat 1964 der Kommunistischen Partei bei. Seit seinem Hochschulabschluss 1966 arbeitete er als Journalist für die Xinhua News Agency, der offiziellen Presseagentur der chinesischen Regierung, wodurch er Zugang zu Statistiken und Dokumenten der Partei hatte wie bislang niemand. Seit den frühen 90er Jahren führte er über ein Jahrzehnt lang Interviews mit zahlreichen Zeitzeugen, um sie - verbunden mit einer beispiellosen Fülle an Daten - zu seiner Dokumentation der großen Hungerkatastrophe zusammenzufügen. Hoffmann, Hans PeterHans Peter Hoffmann, Professor für Sinologie, freier Autor und Übersetzer, lehrt und schreibt in Tübingen und Taipeh.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jisheng Yang
- 2012, 1. Auflage, 800 Seiten, Maße: 14,4 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Hans P. Hoffmann
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100800230
- ISBN-13: 9783100800237
- Erscheinungsdatum: 18.06.2012
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