Haben oder Sein
Neben der "Kunst des Liebens" erschien 1973 dieses berühmteste Werk Erich Fromms, in dem er die Thesen früherer Werke prägnant resümiert: Dabei steht das Haben für eine entfremdete Existenz, orientiert am Leistungs- und Besitzstandsdenken westlicher...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Neben der "Kunst des Liebens" erschien 1973 dieses berühmteste Werk Erich Fromms, in dem er die Thesen früherer Werke prägnant resümiert: Dabei steht das Haben für eine entfremdete Existenz, orientiert am Leistungs- und Besitzstandsdenken westlicher Zivilisationen, das Sein für ein erfülltes, nicht entfremdetes Leben, für die Hinwendung zur eigentlichen Bestimmung des Menschlichen.
Haben oder Sein von ErichFromm
LESEPROBE
Das Endeeiner Illusion
Die großeVerheißung unbegrenzten Fortschritts - die Aussicht auf Unterwerfung der Naturund auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahlungauf uneingeschränkte persönliche Freiheit - das war es, was die Hoffnung undden Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitaltersaufrechterhielt. Zwar hatte die menschliche Zivilisation mit der aktivenBeherrschung der Natur durch den Menschen begonnen, aber dieser Herrschaftwaren bis zum Beginn des Industriezeitalters Grenzen gesetzt. Von der Ersetzungder menschlichen und tierischen Körperkraft durch mechanische und später nukleareEnergie bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computerbestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, auf dem Wege zuunbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durchdie Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Wirwaren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welterschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neueSchöpfung zu liefern brauchte.
Männer undin zunehmendem Maß auch Frauen erlebten ein neues Gefühl der Freiheit. Siewaren Herren ihres eigenen Lebens; die Ketten der Feudalherrschaft warenzerbrochen, sie waren aller Fesseln ledig und konnten tun, was sie wollten. So empfandensie es wenigstens. Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt,verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheitwerde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen, wenn die Industrialisierungnur im gleichen Tempo voranschreite. Sozialismus und Kommunismus wandelten sichrasch von einer Bewegung, die eine nette Gesellschaft und einen neuen Menschenanstrebte, zu einer Kraft, die das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete: der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft.Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermannschrankenlos glücklich sein. Diese Trias von unbegrenzter Produktion, absoluterFreiheit und uneingeschränkt ein Glück bildete den Kern der neuen Fortschritts-Religion,und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die »Stadt Gottes«. istes verwunderlich, daß dieser neue Glaube seineAnhänger mit Energie, Vitalität und Hoffnung erfüllte?
Man muß sich die Tragweite dieser großen Verheißung und diephantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vorAugen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in dasAusbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist inder Tat nicht imstande gewesen, seine große Verheißung einzulösen, und immermehr Menschen werden sich folgender Tatsachen bewußt:
- daß Glück und größtmögliches Vergnügen nicht aus der uneingeschränktenBefriedigung aller Wünsche resultieren und nicht zu Wohl-Sein (well-being) führen;
- daß der Traum, unabhängige Herren über unser Leben zu sein,mit unserer Erkenntnis endete, dag wir alle zu Rädern in der bürokratischenMaschine geworden sind;
- daß unsere Gedanken, Gefühle und unser Geschmack durch denIndustrie- und Staatsapparat manipuliert werden, der die Massenmedien beherrscht;
- daß der wachsende wirtschaftliche Fortschritt auf die reichenNationen beschränkt blieb und der Abstand zwischen ihnen und den armen Nationenimmer größer geworden ist;
- daß der technische Fortschritt sowohl ökologische Gefahren alsauch die Gefahr eines Atomkrieges mit sich brachte, die jede für sich oderbeide zusammen jeglicher Zivilisation und vielleicht sogar jedem Leben ein Endebereiten können.
Als AlbertSchweitzer am 4.11-1954 zur Entgegennahme des Friedensnobelpreisesnach Oslo kam, forderte er die ganze Welt auf: »Wagen wir die Dinge zu sehen,wie sie sind. Es hat sich ereignet, daß der Menschein Übermensch geworden ist ... Erbringt die übermenschliche Vernünftigkeit,die dem Besitz über-menschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf ... Damitwird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte,daß der Obermensch mit dem Zunehmen seiner Machtzugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird ...Was uns aber eigentlich zu Bewußtsein kommen sollte und schonlange vorher hätte kommensollen, ist dies, daß wir als Übermenschen Unmenschengeworden sind« (A.Schweitzer, 1966, S. 118 ff.).
Warum hatsich die große Verheißung nicht erfiillt?
Daß sichdie große Verheißung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanentenökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismusan den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich1. daß das Ziel des Lebens Glück, das heißt einMaximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche odersubjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus);2. daß Egoismus, Selbstsucht und Habgier -Eigenschaften, die das System fördern muß, umexistieren zu können - zu Harmonie und Frieden führen.
RadikalerHedonismus wurde bekanntlich in verschiedenen Epochen der Geschichte von denReichen praktiziert. Wer über unbegrenzte Mittel verfügte, wie beispielsweisedie Elite Roms und die der italienischen Städte in der Renaissance sowie die Englandsund Frankreichs im 18. und 19. jahrhundert, der versuchte, seinem Leben durchunbegrenztes Vergnügen einen Sinn zu geben. Doch obwohl dies in bestimmtenKreisen zu bestimmten Zeiten die gängige Praxis war, entsprang sie mit einerAusnahme nie der Theorie des »Wohl-Seins«, die von den großen Meistern desLebens in China, Indien, dem Nahen Osten und Europa formuliert worden war.
DieAusnahme ist der griechische Philosoph Aristipp, ein Schüler des Sokrates (1.Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.), der lehrte, dag das Ziel des Lebens der Genuß eines Optimums an körperlichen Freuden sei und daß Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei. DasWenige, was wir über seine Philosophiewissen, verdanken wir Diogenes Laertius, doch es reicht aus, um zu belegen, daß Aristipp der einzige radikale Hedonistwar, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seineBefriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, die Lust, ist.
Epikur kann kaum als Vertreterdieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertrat, gesehen werden. Obwohl Epikurdie »reine« Lust als das höchste Ziel ansieht, bedeutet dies für ihn die »Abwesenheitvon Schmerz« (aponia) und »Seelenruhe« (ataraxia). Laut Epikur kann Vergnügen im Sinne derBefriedigung von 13egierden nicht das Ziel des Lebens sein, denn auf solche Lustfolge zwangsläufig Unlust, und dadurch entferne sich der Mensch von seinemwahren Ziel, der Abwesenheit von Schmerz. (Epikurs Theorie weist vieleParallelen zu jener Freuds auf.) Dennoch scheint Epikur im Gegensatz zurPosition des Aristoteleseinen gewissen Subjektivismus vertreten zu haben,soweit die widersprüchlichen Darstellungen der Epikureischen Philosophie eineendgültige Interpretation zulassen. Keiner der anderen großen Meister lehrte, daß die faktische Existenz eines Wunsches eine ethnischeForm konstituierte. Ihnen ging es um das optimale Wohl-Sein (vivere bene) der Menschheit.
© DeutscheVerlags-Anstalt
Aus demEnglischen übersetzt von Brigitte Stein
Überarbeitetvon Rainer Funk
- Autor: Erich Fromm
- 2007, 268 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Spiegel-Verlag
- ISBN-10: 3877630286
- ISBN-13: 9783877630280
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Haben oder Sein".
Kommentar verfassen