Halbmondwahrheiten
Türkische Männer in Deutschland - Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft
Der türkische Mann - ein schwaches Geschlecht
Zwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben.
In zwölf...
Zwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben.
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Produktinformationen zu „Halbmondwahrheiten “
Der türkische Mann - ein schwaches Geschlecht
Zwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben.
In zwölf Geschichten gibt das Buch Einblick in die Lebenswelten des türkisch-muslimischen Mannes. Es behandelt die ungelösten Probleme der Integration, etwa warum Suleyman auch nach 40 Jahren in Deutschland kaum Deutsch spricht, warum Ibo den Hauptschulabschluss nicht schafft und schon dreimal vorbestraft ist. Warum Erdal seine Cousine aus der Türkei als Ehefrau akzeptiert, obwohl er sie kaum kennt. Wie Mohammed mit seiner neuen Aufgabe als alleinerziehender Vater umgeht. Und warum Mehmet als Importbräutigam nach Deutschland aufgebrochen ist.
Zwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben.
In zwölf Geschichten gibt das Buch Einblick in die Lebenswelten des türkisch-muslimischen Mannes. Es behandelt die ungelösten Probleme der Integration, etwa warum Suleyman auch nach 40 Jahren in Deutschland kaum Deutsch spricht, warum Ibo den Hauptschulabschluss nicht schafft und schon dreimal vorbestraft ist. Warum Erdal seine Cousine aus der Türkei als Ehefrau akzeptiert, obwohl er sie kaum kennt. Wie Mohammed mit seiner neuen Aufgabe als alleinerziehender Vater umgeht. Und warum Mehmet als Importbräutigam nach Deutschland aufgebrochen ist.
Klappentext zu „Halbmondwahrheiten “
Der türkische Mann - ein schwaches GeschlechtZwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben. Die Antwort auf Thilo Sarrazin!
In zwölf Geschichten gibt das Buch Einblick in die Lebenswelten des türkisch-muslimischen Mannes. Es behandelt die ungelösten Probleme der Integration, etwa warum Ali auch nach 40 Jahren in Deutschland kaum Deutsch spricht, warum Ismet keine Chance hatte, sein Abitur zu machen, sondern als junges Familienoberhaupt schnell Geld verdienen musste. Warum Koray eine Frau aus der Türkei als Ehefrau akzeptiert, obwohl er sie kaum kennt. Wie Adem mit seiner neuen Aufgabe als alleinerziehender Vater umgeht. Und warum Ahmet als Importbräutigam nach Deutschland aufgebrochen ist. Die Antwort auf Thilo Sarrazin!
Der türkische Mann - ein schwaches Geschlecht
Türkische Männer brechen das Schweigen
Innenansichten der Parallelgesellschaft
Das erste Sachbuch über Männerschicksale in der türkischen Community
Der türkische Mann - ein schwaches Geschlecht Zwölf Lebensgeschichten, die sich wie ein Mosaik aus über 40 Jahren Integrationsgeschichte zusammensetzen und Einblick in eine weitgehend geschlossene Gesellschaft geben. Die Antwort auf Thilo Sarrazin!In zwölf Geschichten gibt das Buch Einblick in die Lebenswelten des türkisch-muslimischen Mannes. Es behandelt die ungelösten Probleme der Integration, etwa warum Ali auch nach 40 Jahren in Deutschland kaum Deutsch spricht, warum Ismet keine Chance hatte, sein Abitur zu machen, sondern als junges Familienoberhaupt schnell Geld verdienen musste. Warum Koray eine Frau aus der Türkei als Ehefrau akzeptiert, obwohl er sie kaum kennt. Wie Adem mit seiner neuen Aufgabe als alleinerziehender Vater umgeht. Und warum Ahmet als Importbräutigam nach Deutschland aufgebrochen ist. Die Antwort auf Thilo Sarrazin!
Lese-Probe zu „Halbmondwahrheiten “
Halbmondwahrheiten von Isabella Kroth Einleitung
Türkisch-muslimische Männer -
eine geschlossene Gesellschaft ?
Adem war der Erste, der das Wagnis
einging. Jetzt sitzt er mit gut zwanzig Männern im Kreis. Er hält ein
Gläschen mit Çay in der Hand und balanciert es vorsichtig über den
Kopf seiner kleinen Tochter, die auf seinen Schoß klettert. Er sagt:
»Es ging um meine Ehre. Meine Frau hatte sie mit Füßen getreten.«
Die anderen Männer um ihn herum nicken. Sie wissen, was er meint.
Einer sagt: »Frauen sind die Ehre eines Mannes. Sie haben alles in der
Hand - sie können diese Ehre mehren oder sie zerstören.« Der Tee
im elektrischen Samowar in der Ecke brodelt auf. Durch die große
Fensterfront entschwindet das letzte Tageslicht.
Hier in einem Berliner Dienstzimmer haben sich Männer einer
viel beschworenen »Parallelgesellschaft« versammelt. Männer über
die pauschale Bilder kursieren: Das der türkischen Paschas, die ihre
Frauen daheim schlagen und ihre Ehre bis aufs Blut verteidigen, den
Gebetskranz immer bei der Hand. Das Bild der Väter, die ihre Töchter
zum Kopftuch und zur Ehe zwingen und ihre Söhne in den Koranunterricht
schicken. Von Patriarchen, die ihre archaischen Sitten und
Gebräuche mit nach Deutschland genommen haben. Bislang klingt
es in der Runde so, als würden sich Vorurteile bestätigen. Ich bin neben
einer Rechtsanwältin die einzige Frau im Raum, neben etwa
zwanzig Männern. Meine Anwesenheit stört ihr Gespräch nicht. Beinahe
bin ich froh, mich unsichtbar fühlen zu können.
... mehr
Bislang waren es vor allem Frauen als Opfer traditioneller Strukturen,
die über eben diese gesprochen haben. Bücher von Zwangsehen
und Ehrenmorden zementieren ein einseitiges Bild der Männer
als Patriarchen, die über ihre Familien regieren. Vielleicht aber sind
die Männer, die hinter diesen Frauen stehen, genauso Opfer einer patriarchalen
Gesellschaft? Die türkische Soziologin Pinar Selek, die ein
Buch über männliche Identitäten in der Türkei geschrieben hat, sieht
den Mann als ein »ramponiertes Wesen«, dem während seiner Entwicklung
nach und nach die Regeln des Patriarchats nahegebracht
werden. Der Pädagoge Ahmet Toprak hat über türkische Männer der
zweiten und dritten Generation in Deutschland geforscht. In seinem
Buch über Zwangsheirat, häusliche Gewalt und die Doppelmoral der
Ehre bezeichnet er die türkischen Männer als »schwaches Geschlecht«.
Wie fühlt es sich an, den Erwartungen entsprechen zu
müssen, immer stark zu sein, Orientierung zu geben, auf Traditionen
zu pochen - zumal wenn man fern der Heimat lebt oder sich in
Deutschland nicht zu Hause fühlt? Ich will herausfinden, wie stark
oder schwach und ramponiert die »Patriarchen« wirklich sind. Hierher
in die Gruppe bin ich gekommen, weil es hieß, ich könne mit
Männern darüber sprechen, wie es sich anfühlt, in Deutschland zu
leben, ohne wirklich angekommen zu sein. Mit Männern, die mir einen
Einblick geben können in eine Gesellschaft, die in Deutschland
oft als eine parallele bezeichnet wird.
Murat, der heute Abend noch wenig gesagt hat, meldet sich jetzt
zu Wort: »Wir haben unsere Ehre doch selber in der Hand. Man
kann da nicht nur die Frau verantwortlich machen.« Die Männer
schweigen. Berkant wischt sich über die Augen. In die Gesprächspause
hinein sagt er: »Ich hab meine Frau mit allem allein gelassen.
Ich hab sie kontrolliert und ausgenutzt. Dann hatte sie mich satt. Sie
hat mich sitzen lassen und mir vorgeworfen, ich sei ein Versager.«
Einer ruft dazwischen: »Ich würde meine Frau sofort verlassen, wenn
sie so was sagt.« Metin lacht auf: »Ne, du würdest sie umbringen.«
Plötzlich reden alle durcheinander. Bis ein Mann, der bislang geschwiegen
hat, die Stimme erhebt. Die Männer sehen zu ihm auf,
auch wenn er nicht der Älteste in der Runde ist. Sie lauschen seinen
Worten, was er sagt über Ehre, Stolz und Gerechtigkeit. Manchen
ersetzt dieser Mann den Vater, manchen ist er ein guter Freund. Für
alle ist er ein Lebensberater. Der Schlüssel zu einer Gesellschaft , von
der sie das Gefühl haben, dass sie ihnen verschlossen bleibt. Sie nennen
ihn Kazim-Abi, Kazim, den älteren Bruder. Es ist der Psychologe
Kazim Erdogan. Er ist einer von ihnen.
Für mich war er der Türöffner zu einer Gesellschaft, von der es
immer hieß, sie sei eine geschlossene; Zutritt nicht möglich. Am
Anfang meiner Recherchen hatte ich mit Vertretern von Verbänden,
Autoren und Pädagogen gesprochen, die mir von Problemen erzählten,
vor die sich türkischstämmige Männer in Deutschland gestellt
fühlten. Von der Hilfsorganisation Terre des Femmes erfuhr ich, dass
immer wieder auch Männer Hilfe suchen würden, dann aber abgewiesen
werden müssten, da es zu wenige Möglichkeiten geben würde, um
ihnen zu helfen. Ich bekam den Eindruck, dass die Probleme groß
seien, dass Männer aber über sie schweigen würden, auch aus Angst,
als Verräter ihrer Kultur und Traditionen zu gelten. Es hieß oft : »Das
ist eine geschlossene Gesellschaft - die lassen niemanden reinschauen.«
Oder: »Sie haben keine Chance, die Männer werden mit Ihnen nicht sprechen.«
Über diese ist dagegen schon viel gesagt worden: Die Wahrnehmung
der türkisch-muslimischen Männer ist geprägt von einem öffentlichen
Diskurs in oft schrillen Tönen. Deutschlandweit diskutieren
Experten über diese Männer - auf Gipfeln, Konferenzen und
Tagungen. Doch zu Wort gekommen sind diejenigen, über die so viel
geredet wird, noch kaum.
Über den Berliner Psychologen Kazim Erdogan hatte eine Mitarbeiterin
eines Frauenhauses gesagt, er sei einer der wenigen, der auch
Männern Hilfe anbieten würde. Als ich ihn anrief, hieß es: »Kommen
Sie! Sie sind herzlich eingeladen in die Gruppe.« Erdogan hat
die Männer der »Parallelgesellschaft« zu sich geholt, in den Psychosozialen
Dienst Neukölln, der mitten in einem Berliner Problemkiez
liegt: 300.000 Einwohner, mehr als ein Drittel davon Migranten. Die
Arbeitslosenquote liegt bei 23 Prozent. Ein moderner Glasbau, lange
Gänge, die erste Türe links trägt die Zimmernummer 011. Hier hat
der Psychologe eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer gegründet,
die jeden Montagabend tagt.
Heute Abend ist zum Beispiel Dursun, 66 Jahre, erschienen, ein
Einwanderer der ersten Generation, ein ehemaliger »Gastarbeiter«.
Über die viele Arbeit hatte er seine Familie vergessen. Die Kinder
holte er erst spät zu sich nach Deutschland, dann überließ er die Erziehung
seiner Frau. In der Gruppe hat er gelernt, wieder mit seinen
inzwischen erwachsenen Kindern zu sprechen. Auch seine Ehe ist
besser geworden. Der Psychologe hatte ihn nach einer Sitzung aufgefordert,
seiner Frau doch einmal einen Blumenstrauß zu kaufen. Als
Dursun seiner Frau am gleichen Abend gelbe Margeriten überreichte,
war sie erst misstrauisch. Dann strahlte sie.
Metin, 42, begann früh mit einer kriminellen Karriere. Die Hälfte
seines Lebens war er auf der Flucht vor der Abschiebung. Inzwischen
besitzt er eine befristete Duldung und sagt Sätze wie: »Man muss die
Jugendlichen von der Straße holen.« Abends zieht er durch die Parks
und versucht, junge Drogendealer zu bekehren.
Als der 39-jährige Berkant von seiner Frau verlassen wurde, brach
seine Welt zusammen. Er hatte sich jahrelang von ihr bedienen lassen;
nur Forderungen gestellt. Er sagt: »Ich war ein richtiger türkischer
Pascha.« Nach der Trennung war er überfordert. Als alleinerziehender
Vater von zwei Söhnen musste er sich plötzlich um den Haushalt
und die Kinder kümmern. In der Gruppe hat er gelernt, was Kinder
brauchen: Liebe und Geduld.
Ahmet ist im Anzug gekommen. Der Besuch bei Kazim Erdogan
ist für den 40-Jährigen etwas Besonderes. Ihm hat der Psychologe
seine Würde wiedergegeben, als Ahmet sich am Ende fühlte. Für
seine Frau hatte er die Türkei verlassen. Als »Importbräutigam« bekam
er von ihr ein Taschengeld; mit seiner Ehre war das nicht zu vereinbaren.
Sie sind Sunniten und Aleviten, türkische Kurden, ehemalige
»Gastarbeiter« oder junge Männer aus der zweiten oder dritten Einwanderergeneration.
Sie alle verbindet das Bedürfnis, sich ihren Frust
von der Seele zu reden. Über das zu sprechen, was ihnen Angst macht:
das Auseinanderfallen ihrer Familien, die zunehmende Kriminalität
auf den Straßen und das Gefühl, in Deutschland immer noch nicht
dazuzugehören. »Wir sind wie eine Familie«, sagt Dursun. »Auch
wenn manche das nicht verstehen: Wir können miteinander offen
über Probleme reden.«
Offen über Probleme zu sprechen, das haben viele der Männer erst
in den Abendsitzungen bei Kazim Erdogan gelernt. Seine Selbsthilfegruppe
für türkische Männer ist alles andere als gewöhnlich. Denn
die Scham ist groß: »Viele Themen tabuisiert die türkisch-muslimische
Gesellschaft«, sagt der Psychologe. »Ein türkischer Mann, dessen
Frau sich von ihm scheiden lässt, gilt als Versager. Wer zugibt, sich
allein zu fühlen, wird als Schwächling bezeichnet.«
Eine »geschlossene Gesellschaft« habe ich in der Gruppe von
Erdogan nicht vorgefunden. Dafür Männer, die bereit waren, sich
und ihre Vergangenheit infrage zu stellen. Männer, die Schwäche zugeben
können und die bestimmte Moralvorstellungen überdenken,
wie die von Ehre und Stolz. Eine entscheidende Rolle spielte der Psychologe
Erdogan. Er hat mir den Zugang leicht gemacht. Die Männer,
die zu ihm kommen, wollen über ihre Probleme sprechen. Sie
haben sich bereits geöffnet. Sie kommen in die Gruppe, weil sie sehen,
dass in Deutschland längst nicht alles so läuft, wie sie es sich wünschen.
Jeder der Teilnehmer der Gruppe war bereit, sich mit mir zu
unterhalten. Fast jeder wollte sich für das Buch portraitieren lassen.
Oft haben mich meine Gesprächspartner mit ihrer Direktheit und
Offenheit sogar überrascht. Auch außerhalb der Gruppe habe ich
viele Männer kennengelernt, die das Bedürfnis haben, sich mitzuteilen.
Niemand hat mir das Gespräch verweigert. Sie alle haben bereitwillig
und geduldig jede Frage beantwortet.
Ich habe gemerkt: Die Türen lassen sich aufstoßen. Die Gesellschaft
ist zugänglich. Die Männer, mit denen ich gesprochen habe,
waren freundlich und aufgeschlossen. Sie freuten sich, dass jemand
vorurteilsfrei mit ihnen sprach und nicht von vornherein die Frage
stellte, ob sie Opfer oder Täter waren. Das Vertrauen zu mir hat sich
über fast zwei Jahre aufgebaut. Die Männer waren immer wieder
bereit, sich mit mir zu treffen, sie haben mich in ihre Wohnungen
geladen, ins Café, in die Moschee oder in die Kirche. Ich durfte sie in
ihrem Alltag begleiten, mit ihnen die Kinder von der Schule abholen
gehen, gemeinsam mit ihnen essen und feiern. Sie haben über Fehler
gesprochen, die teils gravierend sind: Gewalt an Frauen, Drogen, Kriminalität.
Ein größerer Schritt aber war für die Männer, über ihre
Gefühle zu sprechen: Einsamkeit, Selbstzweifel, das Gefühl, ausgegrenzt
zu sein. Es war für sie eine große Überwindung, zuzugeben,
dass sie darunter leiden, nicht zu wissen, wie sie mit Eltern, Kindern
oder Ehefrauen sprechen sollen. Immer wieder haben mich meine
Gesprächspartner Freunden und Bekannten vorgestellt. Grenzen gab
es dort, wo bestimmte Familienmitglieder betroffen waren: die geschiedene
Ehefrau etwa oder oftmals die Eltern.
Wer sind nun diese Männer, über die so viel geredet wird, von
denen selbst aber man nie etwas hört? Was verhindert ihre »Integration
«? Und: Welche Probleme beschäftigen sie? In zwölf Portraits
kommen in diesem Buch Männer aus und um Kazim Erdogans
Gruppe zu Wort. Männer aus der ersten und zweiten Generation türkischer
Einwanderer, die mit ihren Einzelschicksalen nicht allein sind
und doch längst nicht die gesamte Gruppe türkischstämmiger Menschen
in Deutschland repräsentieren können und sollen. Es sind nicht
die klassischen Erfolgsgeschichten von Mitbürgern mit Migrationshintergrund.
Keine Ärzte, Anwälte oder Politiker werden portraitiert.
Die Männer stammen nicht aus dem Bildungsbürgertum von
Istanbul oder Ankara. Sie oder ihre Eltern und Großeltern haben in
der Türkei Armut, Arbeitslosigkeit oder Ausgrenzung hinter sich gelassen,
um in Deutschland einen Neustart zu wagen.
Dennoch lassen sich die portraitierten Männer nicht einer bestimmten
homogenen sozialen Gruppe zuordnen. Sie gehören unterschiedlichen
Lebenswelten an - Herkunft, Religion und Überzeugungen
divergieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich geöff net und
über Hindernisse gesprochen haben, die ihnen die Integration in
Deutschland schwer machen. Es sind Männer, die Einblick geben
können, weshalb Studien immer wieder auf Probleme insbesondere
von türkischstämmigen Migranten hinweisen.
Die zwölf Geschichten sind bewusst aus der Perspektive der Por-
traitierten geschrieben. Natürlich stehen hinter jeder Erzählung auch
Frauenschicksale; immer sind diese untrennbar verknüpft mit dem
Leben der Männer. Der Blickwinkel der Frauen oder auch der Kinder
und Eltern bleibt in den zwölf protokollarischen Portraits aber unberücksichtigt.
Die Männer wagen einen Tabubruch, indem sie off en
über Schwächen, Fehler und manchen religiös oder traditionell begründeten
Irrglauben sprechen. Polygamie, die Gedanken an einen
Ehrenmord, Drogenhandel, Scheinehe - sie erklären, wie es dazu
kommen kann. Ich will in den Geschichten nicht be- oder verurteilen,
sie sollen ein Versuch sein, zu erklären; deshalb sind sie so wertneutral
wie möglich aufgeschrieben. Wer nicht zuhört, wer zu schnell urteilt,
dem bleibt jede Gesellschaft verschlossen. Die Männer geben Einblick
in eine Gesellschaft, die wie von unsichtbaren Mauern umgeben
zu sein scheint. Diese Männer haben sie durchbrochen.
KAZIM ERDOGAN, DER KALIF
VON NEUKÖLLN
Der Psychologe Kazim Erdogan ist eine Vertrauensperson, wie es in ländlichen Regionen
der Türkei einst der Dorfälteste war. Bei ihm suchen Männer Orientierung,
die sie sonst nirgends finden. Mit den Menschen, die zu ihm kommen, verbindet ihn
vieles: Die Herkunft und auch die Erfahrungen, die er in Deutschland machte.
Er selbst nennt sich ironisch den
»Kalifen von Neukölln«, das Oberhaupt der islamischen Gemeinde
im Stadtteil. Auf seinem vollen Schreibtisch im Psychosozialen
Dienst Neukölln steht ein hölzernes Namensschild mit zwei kleinen
Flaggen - der deutschen und der türkischen. Es ist sein klar definiertes
Ziel, das Miteinander von Türken und Deutschen zu verbessern.
Geboren 1953, man könnte ihn älter schätzen, als er ist. Er geht
gebeugt, das kurze graue Haar ist licht: Ein Mann, dem man die
viele Arbeit ansieht. Dessen Tage oft um vier Uhr morgens beginnen
und vierzehn Stunden später enden. Ein Mann, der sich aufreibt für
sein Ziel. Er sagt: »Integration ist wie ein Auto. Ohne Pfl ege, rostet
sie.«
Kazim Erdogan hat viel gemeinsam mit den Männern, die zu ihm
kommen und Rat suchen. Er kennt die anatolische Weite, der viele
der Älteren nachtrauern. Er selbst stammt aus dem kleinen Dorf
Gökçeharman in Zentralanatolien. Ein Dorf im Niemandsland. Die
Familie Erdogan lebte in einem der einfachen Lehmhäuser mit fl achem
Dach, durch das bei Regen das Wasser durchsickerte, ohne
Strom und fließendes Wasser. Siebzehn Personen teil ten sich drei
Zimmer - neben den sieben Geschwistern und den Eltern auch die
Großeltern, Onkel und Tanten, sowie die Schwager. Die Familie teilte
sich Weizengrütze aus großen Schüsseln. »Wenn siebzehn Löff el den
Topf auskratzten, war das wie Musik«, sagt Erdogan.
Der Vater war Angestellter bei der Bahn. Ein einfacher Arbeiter,
in der Hierarchie ganz unten. Die Mutter arbeitete doppelt: Sie kümmerte
sich um den Haushalt und arbeitete auf den Feldern, wo sie per
Hand Gerste und Weizen erntete; Maschinen gab es keine. Von seinem
Gehalt als Eisenbahnmitarbeiter hatte der Vater Grund gekauft ,
er war überzeugt gewesen, die Felder könnten seinen Kindern einmal
das Überleben sichern. Dann kam die Abwanderung nach Deutschland.
Von den einst 360 Einwohnern in Gökçeharman sind gerade
einmal zwanzig Personen übrig geblieben. Die Lehmhäuser sind verlassen
und verfallen. Die Menschen haben die Flucht angetreten vor
Arbeitslosigkeit und harter Feldarbeit. Sie ließen sich als »Gastarbeiter
« werben, um ihr Glück in Deutschland zu suchen. Der Vater erkannte,
dass mit den Feldern nichts mehr zu gewinnen war. Also
setzte er, selbst Analphabet, auf Bildung. Seinen sechsjährigen Sohn
Kazim schickte er im Zug nach Erzurum, mit 300.000 Einwohnern
die größte Stadt in Ostanatolien, 400 Kilometer von Gökçeharman
entfernt. Sein Sohn sollte dort ein privates Internat besuchen, ein seltenes
Privileg. Dorthin brachten reiche Eltern ihre Söhne und Töchter,
oder eben jene Väter, die bei der Bahn arbeiteten, so wie Kazim
Erdogans Vater. Die Gebühren für die Schule hätte dieser sonst niemals
zahlen können. Als Bahnmitarbeiter aber musste er nur einen
kleinen Teil des Lohns abzwacken. Kazim Erdogan sagt, er war seinem
Vater jeden Tag dankbar, im Internat sein zu dürfen. »Mir war
immer bewusst, dass ich nicht nur für mich, sondern auch für meine
Familie lerne«, sagt er. Doch den sozialen Unterschied zwischen ihm
und den anderen Kindern spürte er deutlich. Viele Mitschüler bekamen
jede Woche Körbe voll mit Sultaninen, Nüssen, Feigen und Butter
zugeschickt, als Ergänzung zu Milchpulver und Weizengrütze in
der Schulkantine. Kazim Erdogan erhielt nie einen Korb. Im Internat
von Erzurum fühlte er sich nicht nur deshalb zum ersten Mal ausgegrenzt.
Er gehörte nicht dazu. Alle Schüler wussten, dass, wer aus dem
Dorf Gökçeharman kommt, Alevit und zudem Kurde sein muss. Und
nicht, so wie die Mehrheit, sunnitischer Türke. Während die anderen
während des Ramadan fasteten, versteckte er sich tags zum Essen auf
der Toilette. Im Unterricht strengte er sich doppelt an, um bei den
Lehrern nicht in Ungnade zu fallen.
Zwölf Jahre blieb er auf dem Internat, schloss das Gymnasium mit
der Note »sehr gut« ab. Er war damit der erste Abiturient aus seinem
Heimatdorf. Und er sollte der erste Akademiker sein. In Ankara
schrieb er sich in der Universität ein: Psychologie. Drei Monate vergingen,
ohne dass der Student ein einziges Mal in einer Vorlesung saß.
Faul war er nicht, im Gegenteil. Aber er besaß kein Geld, um sich das
Leben in der Stadt zu finanzieren. Also ging er, statt ins Psychologie-
Seminar, in ein Hotel zum Arbeiten. Er leitete eine Cafeteria, servierte
Tee und schleppte Getränkekisten. Dann exmatrikulierte er
sich. Seine Hoffnung war der Onkel in Berlin. Er hatte die türkische
Heimat schon vor ein paar Jahren verlassen, um als »Gastarbeiter«
nach Deutschland zu reisen. Seinem Neffen schrieb er Briefe und bot
ihm an, zu ihm zu kommen. In Deutschland stünde dem inzwischen
21-Jährigen die Welt offen: Das Studium sei umsonst, die Straßen mit
Münzen gepflastert. Der Onkel versprach, ein Flugticket zu schicken.
Es kam nie an.
Kazim Erdogan hatte nun ein Ziel. Er sparte selbst auf das Ticket,
das ihn nach Berlin bringen sollte, ins gelobte Land. Für einen Flug
reichte es nicht, aber für eine Busfahrkarte nach München mit anschließendem
Zugticket nach Berlin. Eine Vier-Tage-Reise, ohne Dusche
oder Bett. Im Gepäck: Zwei Cordhosen und eine Jeans, ein paar
Hemden und Pullover. In der Hosentasche: 100 DM und der Zettel
mit der Adresse des Onkels. Und für alle Fälle auch die eines Studentenwohnheims
in Charlottenburg.
Am 5. Februar 1974 stand er um sieben Uhr morgens am Berliner
Bahnhof Zoo, müde und hungrig. Aber da war kein Onkel. Kazim
Erdogan griff in die Hosentasche nach dem Zettel mit der Adresse -
er hatte ihn verloren. Die Ankunft im Märchenland Deutschland -
alles andere als verheißungsvoll. Niemand verstand ihn, als er um
Auskunft bitten wollte. Bis er auf einen türkischen Mann vom Reini-
gungsdienst traf. Der begleitete ihn zu dem Studentenwohnheim,
dessen Adresse der erschöpfte Ankömmling noch im Kopf hatte. Ein
paar Stunden später holte ihn der Onkel dort ab. Ein nüchternes
Wiedersehen, bei dem die erste Frage des Onkels lautete: »Wie viel
Geld hast du?« Der Neffe händigte ihm aus, was er noch übrig hatte:
69 DM. Der Onkel bestellte ein billiges Begrüßungsessen. Das Restgeld
trug er ins Wettbüro. »Wenn ich gewusst hätte, in welchen Verhältnissen
mein Onkel lebte, wäre ich wohl nicht nach Deutschland
gegangen«, sagt Erdogan. Der Onkel verließ mittags das Haus, dann
ging er ins Männercafé. Den Neffen aber schickte er in Fabriken, wo
er unter dem Namen des Onkels arbeitete. Erdogan war nun ein illegaler
Arbeiter, denn eigentlich hätte er nach drei Monaten in Deutschland
wieder ausreisen müssen. Ein schmächtiger Türke aus einem anatolischen
Bergdorf, voller Scham über seine Herkunft und doch voller
Hoffnung, in Deutschland studieren zu dürfen. Er ließ seine Zeugnisse
übersetzen und bewarb sich wieder um einen Studienplatz für
Psychologie. Dann schleppte er Kühlschränke und Waschmaschinen,
stand am Fließband und sortierte im Akkord Margarinebehälter,
schlug sich als Wärter die Nacht um die Ohren. Er arbeitete für Quelle
im Lager, für Wiener Wald in der Küche, schleppte Getränkekisten
für Coca Cola und Berliner Kindl und putzte bei IBM. Er war ein
verspäteter türkischer »Gastarbeiter« und »ganz unten«, so, wie es
der Journalist Günter Wallraff in seinem gleichnamigen Buch beschrieben
hat. »Ich war ein ehrlicher Verbrecher«, sagt Erdogan heute.
Am Zahltag erwarte ihn der Onkel jedes Mal ungeduldig. »Er
wusste genau, mit welcher U-Bahn ich nach Hause komme.« Noch
am Ausgang der Station »Rathaus Neukölln« überreichte er dem
Onkel seinen Wochenlohn. »Mir blieben gerade mal zehn DM, um
mir belegte Brötchen in den Fabrikkantinen zu kaufen, aber nicht
genug für die Fahrkarten mit der U-Bahn oder dem Bus.« Die
Schwarzfahrten wurden zur Zitterpartie, die Angst vor der Abschiebung
war der ständige Begleiter.
1974 war das Jahr nach dem offiziellen Anwerbestopp türkischer
»Gastarbeiter«. Seit einem Abkommen mit der Türkei von 1961 war
die Zahl der in Deutschland lebenden Türken auf 910.500 gestiegen.
Männer und Frauen, die die Engpässe am Arbeitsmarkt stopfen sollten
und erfolgreich am deutschen Wirtschaft swunder mitgearbeitet
hatten. Die eigentlich nicht bleiben, sondern per Rotationsverfahren
nach einem Jahr in die Türkei zurückkehren sollten. Das war die Th eorie
- die Praxis sah anders aus. Die deutschen Firmen wollten die
angelernten Arbeitskräfte behalten. Alles andere wäre aus ihrer Sicht
ökonomischer Unsinn gewesen. Genau wie für die türkischen Ankömmlinge.
Nach nur einem Jahr hatten sie ihre Ziele noch nicht
erfüllt: das Häuschen in der Türkei zu renovieren, ein Auto zu kaufen
oder die Eltern finanziell abzusichern. Die »Gastarbeiter« blieben.
Sie wurden zu Dauergästen und seit Anfang der 70er zur Belastung.
Nach dem Ölpreisschock litt die deutsche Konjunktur. Eine Phase
der Massenarbeitslosigkeit begann, die Euphorie über Arbeitskräfte
aus der Türkei war verflogen.
Sieben Monate nach seiner Ankunft in Berlin geriet Kazim Erdogan
in eine Routinekontrolle der Zivilpolizei. »Es hieß: ›Schönen
Guten Tag, den Ausweis bitte‹«, erinnert sich Erdogan, der damals
fast kein Wort Deutsch sprach. »Ich stammelte so etwas wie ›Pass
Hause‹, dann nahmen sie mich mit auf die Wache.« Erdogan gab den
Namen seines Onkels zu Protokoll. Der Polizist gab ihm eine Zigarette
zur Beruhigung und kontrollierte seine Taschen. Darin fand er
einen Brief des Onkels, der Empfänger war ein gewisser Kazim
Erdogan. Der Beamte schlug in einem Buch nach, in dem alle eingereisten
Türken registriert waren. Dann sah er den jungen Mann an
und schüttelte den Kopf. Schon am Abend saß der illegale Einwanderer,
der gehofft hatte, in Deutschland studieren zu dürfen, in Abschiebehaft
- zwischen vierzig oder fünfzig Mithäftlingen, die wie er auf
der Straße eingesammelt worden waren. »Ich fühlte Scham hoch
drei. Man kommt ohne Geld in ein reiches Land und wird wieder
rausgeschmissen. Da fühlt man sich als Versager.« Der 21-Jährige
hatte an diesem Tag vierzig Pfennig bei sich. Er warf zwei Zehn-Pfennig-
Stücke in ein Münztelefon mit Drehscheibe. Er verwählte sich,
weil er so zitterte. Die zwanzig Pfennig waren weg. Beim zweiten Versuch
erreichte Erdogan seinen Freund, einen Kurden aus Syrien. Ihn
bat er, eine Bestätigung der Universität zu holen und einen Dolmetscher.
Vier Tage später war Erdogan frei. Als immatrikulierter Student
hatte er Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis. Heute sagt er: »Ich
weiß, wie es sich anfühlt, Angst in einem fremden Land zu haben.
Deshalb kann ich die Männer, die zu mir kommen, gut verstehen.«
Vielleicht hatte Kazim Erdogan mehr Hartnäckigkeit als die Männer,
die heute bei ihm Rat suchen. Vielleicht hatte er auch mehr
Glück. In jedem Fall waren es sein hellwacher Geist, seine Intelligenz
und sein Arbeitseifer, die den Psychologen dorthin brachten, wo er
nun ist.
Als Kazim Erdogan damals seine Immatrikulation erhielt, zog er
von seinem Onkel in Neukölln weg in eine Zweizimmerwohnung in
Schöneberg, ohne fließendes Wasser. Zum Duschen ging er ins Stadt-
bad. Zum Kochen holte er sich Wasser aus dem Flur, das er in Schüsseln
abfüllte. Für die Miete sollte er 67,01 DM überweisen. »Einmal
habe ich den Pfennig weggelassen«, sagt er. »Dann kam eine Mahnung.
Beim nächsten Mal habe ich auf fünfzehn Pfennig aufgerundet.«
Er hatte Bekanntschaft gemacht mit deutscher Gründlichkeit.
Am 15. Oktober 1974, knapp acht Monate nach seiner Einreise,
begann er mit dem Deutschkurs fürs Studium. Ein Jahr später studierte
er Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft en.
In Deutschland setzte Phase zwei der Zuwanderung ein: Mit dem
Anwerbestopp von 1973 reduzierte sich die Zahl derer, die in
Deutschland Arbeit suchten. Dafür holten diejenigen, die schon hier
waren, per Familiennachzug ihre Angehörigen nach. Die Struktur des
Arbeitsmarktes änderte sich. 1970 hatten 75 Prozent der türkischen
Einwanderer sozialversicherungspflichtige Arbeit. Fünf Jahre später
arbeiteten noch 50 Prozent und im Jahr 1980 waren nur noch 39
Prozent in fester Anstellung.
Als Student beobachtete Erdogan die Entwicklung. 1979 beschrieb
er in seiner Diplomarbeit über »Arbeiter aus der Türkei in
Westberlin« die Probleme der Migration: fehlende Deutschkennt-
nisse, Bildungsarmut und Diskriminierung. Er forderte Deutschkurse
in den Fabriken und Integrationshilfen in den Schulen. Auch die
deutsche Politik erkannte Handlungsbedarf. Im gleichen Jahr, in dem
Erdogan seinen Abschluss machte, erschien das »Kühn-Memorandum«,
verfasst vom SPD-Abgeordneten und ersten Ausländerbeauf-
tragten Heinz Kühn. Dieser formulierte, was sich damals niemand
auszusprechen traute: Deutschland war zu einem Einwanderungsland
geworden, mit vier Millionen »Gastarbeitern« und ihren Familien.
Er forderte eine konsequente Integrationspolitik. Sein Memorandum
war so etwas wie ein erster Integrationsplan - mit Vorschlägen,
die teils erst Jahrzehnte später aufgegriffen wurden, etwa für in
Deutschland geborene Kinder eine Option, die deutsche Staatsbürgerschaft
anzunehmen. Sein Memorandum war visionär, doch es verschwand
in den Schubladen.
Anfang 1980 bot die Ulrike-von-Levetzow-Hauptschule Erdogan
eine Stelle an. Er war damit Angestellter im Öffentlichen Dienst und
bekam nach fünf Jahren seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Noch 1985 waren zwei Drittel der türkischen Einwanderer in
Deutschland an- oder ungelernte Arbeiter auf dem Bau oder in der
Schwerindustrie: Akkord-, Schicht- und Fließbandarbeit. Dabei wären
gut ausgebildete türkische Lehrer wie Kazim Erdogan spätestens
seit Anfang der 80er dringend nötig gewesen: 1,4 Millionen Menschen
aus der Türkei lebten in Deutschland, viele mit großen Sprachdefiziten
und Bildungsmängeln. Doch deutsche Bildungspolitiker
hatten immer noch das Rückfahrticket der Gäste im Kopf, genau wie
viele der Einwanderer.
In den Vorbereitungsklassen sollte der neue Lehrer Erdogan Migrantenkindern
Deutsch beibringen und sie quer durch die Fächer hinweg
unterrichten. »Ich hatte so etwas wie eine revolutionäre Haltung,
eine Botschaft. Ich wollte den Schülern ein Vorbild sein. Ich
wollte ihnen zeigen, dass man es schaffen kann, wenn man von ganz
unten kommt.« Und er wollte die Eltern seiner türkischstämmigen
Schüler zu sich holen. Er wollte den Vätern und Müttern die Scheu
nehmen.
© 2010 Diederichs Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-424-35022-7
Bislang waren es vor allem Frauen als Opfer traditioneller Strukturen,
die über eben diese gesprochen haben. Bücher von Zwangsehen
und Ehrenmorden zementieren ein einseitiges Bild der Männer
als Patriarchen, die über ihre Familien regieren. Vielleicht aber sind
die Männer, die hinter diesen Frauen stehen, genauso Opfer einer patriarchalen
Gesellschaft? Die türkische Soziologin Pinar Selek, die ein
Buch über männliche Identitäten in der Türkei geschrieben hat, sieht
den Mann als ein »ramponiertes Wesen«, dem während seiner Entwicklung
nach und nach die Regeln des Patriarchats nahegebracht
werden. Der Pädagoge Ahmet Toprak hat über türkische Männer der
zweiten und dritten Generation in Deutschland geforscht. In seinem
Buch über Zwangsheirat, häusliche Gewalt und die Doppelmoral der
Ehre bezeichnet er die türkischen Männer als »schwaches Geschlecht«.
Wie fühlt es sich an, den Erwartungen entsprechen zu
müssen, immer stark zu sein, Orientierung zu geben, auf Traditionen
zu pochen - zumal wenn man fern der Heimat lebt oder sich in
Deutschland nicht zu Hause fühlt? Ich will herausfinden, wie stark
oder schwach und ramponiert die »Patriarchen« wirklich sind. Hierher
in die Gruppe bin ich gekommen, weil es hieß, ich könne mit
Männern darüber sprechen, wie es sich anfühlt, in Deutschland zu
leben, ohne wirklich angekommen zu sein. Mit Männern, die mir einen
Einblick geben können in eine Gesellschaft, die in Deutschland
oft als eine parallele bezeichnet wird.
Murat, der heute Abend noch wenig gesagt hat, meldet sich jetzt
zu Wort: »Wir haben unsere Ehre doch selber in der Hand. Man
kann da nicht nur die Frau verantwortlich machen.« Die Männer
schweigen. Berkant wischt sich über die Augen. In die Gesprächspause
hinein sagt er: »Ich hab meine Frau mit allem allein gelassen.
Ich hab sie kontrolliert und ausgenutzt. Dann hatte sie mich satt. Sie
hat mich sitzen lassen und mir vorgeworfen, ich sei ein Versager.«
Einer ruft dazwischen: »Ich würde meine Frau sofort verlassen, wenn
sie so was sagt.« Metin lacht auf: »Ne, du würdest sie umbringen.«
Plötzlich reden alle durcheinander. Bis ein Mann, der bislang geschwiegen
hat, die Stimme erhebt. Die Männer sehen zu ihm auf,
auch wenn er nicht der Älteste in der Runde ist. Sie lauschen seinen
Worten, was er sagt über Ehre, Stolz und Gerechtigkeit. Manchen
ersetzt dieser Mann den Vater, manchen ist er ein guter Freund. Für
alle ist er ein Lebensberater. Der Schlüssel zu einer Gesellschaft , von
der sie das Gefühl haben, dass sie ihnen verschlossen bleibt. Sie nennen
ihn Kazim-Abi, Kazim, den älteren Bruder. Es ist der Psychologe
Kazim Erdogan. Er ist einer von ihnen.
Für mich war er der Türöffner zu einer Gesellschaft, von der es
immer hieß, sie sei eine geschlossene; Zutritt nicht möglich. Am
Anfang meiner Recherchen hatte ich mit Vertretern von Verbänden,
Autoren und Pädagogen gesprochen, die mir von Problemen erzählten,
vor die sich türkischstämmige Männer in Deutschland gestellt
fühlten. Von der Hilfsorganisation Terre des Femmes erfuhr ich, dass
immer wieder auch Männer Hilfe suchen würden, dann aber abgewiesen
werden müssten, da es zu wenige Möglichkeiten geben würde, um
ihnen zu helfen. Ich bekam den Eindruck, dass die Probleme groß
seien, dass Männer aber über sie schweigen würden, auch aus Angst,
als Verräter ihrer Kultur und Traditionen zu gelten. Es hieß oft : »Das
ist eine geschlossene Gesellschaft - die lassen niemanden reinschauen.«
Oder: »Sie haben keine Chance, die Männer werden mit Ihnen nicht sprechen.«
Über diese ist dagegen schon viel gesagt worden: Die Wahrnehmung
der türkisch-muslimischen Männer ist geprägt von einem öffentlichen
Diskurs in oft schrillen Tönen. Deutschlandweit diskutieren
Experten über diese Männer - auf Gipfeln, Konferenzen und
Tagungen. Doch zu Wort gekommen sind diejenigen, über die so viel
geredet wird, noch kaum.
Über den Berliner Psychologen Kazim Erdogan hatte eine Mitarbeiterin
eines Frauenhauses gesagt, er sei einer der wenigen, der auch
Männern Hilfe anbieten würde. Als ich ihn anrief, hieß es: »Kommen
Sie! Sie sind herzlich eingeladen in die Gruppe.« Erdogan hat
die Männer der »Parallelgesellschaft« zu sich geholt, in den Psychosozialen
Dienst Neukölln, der mitten in einem Berliner Problemkiez
liegt: 300.000 Einwohner, mehr als ein Drittel davon Migranten. Die
Arbeitslosenquote liegt bei 23 Prozent. Ein moderner Glasbau, lange
Gänge, die erste Türe links trägt die Zimmernummer 011. Hier hat
der Psychologe eine Selbsthilfegruppe für türkische Männer gegründet,
die jeden Montagabend tagt.
Heute Abend ist zum Beispiel Dursun, 66 Jahre, erschienen, ein
Einwanderer der ersten Generation, ein ehemaliger »Gastarbeiter«.
Über die viele Arbeit hatte er seine Familie vergessen. Die Kinder
holte er erst spät zu sich nach Deutschland, dann überließ er die Erziehung
seiner Frau. In der Gruppe hat er gelernt, wieder mit seinen
inzwischen erwachsenen Kindern zu sprechen. Auch seine Ehe ist
besser geworden. Der Psychologe hatte ihn nach einer Sitzung aufgefordert,
seiner Frau doch einmal einen Blumenstrauß zu kaufen. Als
Dursun seiner Frau am gleichen Abend gelbe Margeriten überreichte,
war sie erst misstrauisch. Dann strahlte sie.
Metin, 42, begann früh mit einer kriminellen Karriere. Die Hälfte
seines Lebens war er auf der Flucht vor der Abschiebung. Inzwischen
besitzt er eine befristete Duldung und sagt Sätze wie: »Man muss die
Jugendlichen von der Straße holen.« Abends zieht er durch die Parks
und versucht, junge Drogendealer zu bekehren.
Als der 39-jährige Berkant von seiner Frau verlassen wurde, brach
seine Welt zusammen. Er hatte sich jahrelang von ihr bedienen lassen;
nur Forderungen gestellt. Er sagt: »Ich war ein richtiger türkischer
Pascha.« Nach der Trennung war er überfordert. Als alleinerziehender
Vater von zwei Söhnen musste er sich plötzlich um den Haushalt
und die Kinder kümmern. In der Gruppe hat er gelernt, was Kinder
brauchen: Liebe und Geduld.
Ahmet ist im Anzug gekommen. Der Besuch bei Kazim Erdogan
ist für den 40-Jährigen etwas Besonderes. Ihm hat der Psychologe
seine Würde wiedergegeben, als Ahmet sich am Ende fühlte. Für
seine Frau hatte er die Türkei verlassen. Als »Importbräutigam« bekam
er von ihr ein Taschengeld; mit seiner Ehre war das nicht zu vereinbaren.
Sie sind Sunniten und Aleviten, türkische Kurden, ehemalige
»Gastarbeiter« oder junge Männer aus der zweiten oder dritten Einwanderergeneration.
Sie alle verbindet das Bedürfnis, sich ihren Frust
von der Seele zu reden. Über das zu sprechen, was ihnen Angst macht:
das Auseinanderfallen ihrer Familien, die zunehmende Kriminalität
auf den Straßen und das Gefühl, in Deutschland immer noch nicht
dazuzugehören. »Wir sind wie eine Familie«, sagt Dursun. »Auch
wenn manche das nicht verstehen: Wir können miteinander offen
über Probleme reden.«
Offen über Probleme zu sprechen, das haben viele der Männer erst
in den Abendsitzungen bei Kazim Erdogan gelernt. Seine Selbsthilfegruppe
für türkische Männer ist alles andere als gewöhnlich. Denn
die Scham ist groß: »Viele Themen tabuisiert die türkisch-muslimische
Gesellschaft«, sagt der Psychologe. »Ein türkischer Mann, dessen
Frau sich von ihm scheiden lässt, gilt als Versager. Wer zugibt, sich
allein zu fühlen, wird als Schwächling bezeichnet.«
Eine »geschlossene Gesellschaft« habe ich in der Gruppe von
Erdogan nicht vorgefunden. Dafür Männer, die bereit waren, sich
und ihre Vergangenheit infrage zu stellen. Männer, die Schwäche zugeben
können und die bestimmte Moralvorstellungen überdenken,
wie die von Ehre und Stolz. Eine entscheidende Rolle spielte der Psychologe
Erdogan. Er hat mir den Zugang leicht gemacht. Die Männer,
die zu ihm kommen, wollen über ihre Probleme sprechen. Sie
haben sich bereits geöffnet. Sie kommen in die Gruppe, weil sie sehen,
dass in Deutschland längst nicht alles so läuft, wie sie es sich wünschen.
Jeder der Teilnehmer der Gruppe war bereit, sich mit mir zu
unterhalten. Fast jeder wollte sich für das Buch portraitieren lassen.
Oft haben mich meine Gesprächspartner mit ihrer Direktheit und
Offenheit sogar überrascht. Auch außerhalb der Gruppe habe ich
viele Männer kennengelernt, die das Bedürfnis haben, sich mitzuteilen.
Niemand hat mir das Gespräch verweigert. Sie alle haben bereitwillig
und geduldig jede Frage beantwortet.
Ich habe gemerkt: Die Türen lassen sich aufstoßen. Die Gesellschaft
ist zugänglich. Die Männer, mit denen ich gesprochen habe,
waren freundlich und aufgeschlossen. Sie freuten sich, dass jemand
vorurteilsfrei mit ihnen sprach und nicht von vornherein die Frage
stellte, ob sie Opfer oder Täter waren. Das Vertrauen zu mir hat sich
über fast zwei Jahre aufgebaut. Die Männer waren immer wieder
bereit, sich mit mir zu treffen, sie haben mich in ihre Wohnungen
geladen, ins Café, in die Moschee oder in die Kirche. Ich durfte sie in
ihrem Alltag begleiten, mit ihnen die Kinder von der Schule abholen
gehen, gemeinsam mit ihnen essen und feiern. Sie haben über Fehler
gesprochen, die teils gravierend sind: Gewalt an Frauen, Drogen, Kriminalität.
Ein größerer Schritt aber war für die Männer, über ihre
Gefühle zu sprechen: Einsamkeit, Selbstzweifel, das Gefühl, ausgegrenzt
zu sein. Es war für sie eine große Überwindung, zuzugeben,
dass sie darunter leiden, nicht zu wissen, wie sie mit Eltern, Kindern
oder Ehefrauen sprechen sollen. Immer wieder haben mich meine
Gesprächspartner Freunden und Bekannten vorgestellt. Grenzen gab
es dort, wo bestimmte Familienmitglieder betroffen waren: die geschiedene
Ehefrau etwa oder oftmals die Eltern.
Wer sind nun diese Männer, über die so viel geredet wird, von
denen selbst aber man nie etwas hört? Was verhindert ihre »Integration
«? Und: Welche Probleme beschäftigen sie? In zwölf Portraits
kommen in diesem Buch Männer aus und um Kazim Erdogans
Gruppe zu Wort. Männer aus der ersten und zweiten Generation türkischer
Einwanderer, die mit ihren Einzelschicksalen nicht allein sind
und doch längst nicht die gesamte Gruppe türkischstämmiger Menschen
in Deutschland repräsentieren können und sollen. Es sind nicht
die klassischen Erfolgsgeschichten von Mitbürgern mit Migrationshintergrund.
Keine Ärzte, Anwälte oder Politiker werden portraitiert.
Die Männer stammen nicht aus dem Bildungsbürgertum von
Istanbul oder Ankara. Sie oder ihre Eltern und Großeltern haben in
der Türkei Armut, Arbeitslosigkeit oder Ausgrenzung hinter sich gelassen,
um in Deutschland einen Neustart zu wagen.
Dennoch lassen sich die portraitierten Männer nicht einer bestimmten
homogenen sozialen Gruppe zuordnen. Sie gehören unterschiedlichen
Lebenswelten an - Herkunft, Religion und Überzeugungen
divergieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich geöff net und
über Hindernisse gesprochen haben, die ihnen die Integration in
Deutschland schwer machen. Es sind Männer, die Einblick geben
können, weshalb Studien immer wieder auf Probleme insbesondere
von türkischstämmigen Migranten hinweisen.
Die zwölf Geschichten sind bewusst aus der Perspektive der Por-
traitierten geschrieben. Natürlich stehen hinter jeder Erzählung auch
Frauenschicksale; immer sind diese untrennbar verknüpft mit dem
Leben der Männer. Der Blickwinkel der Frauen oder auch der Kinder
und Eltern bleibt in den zwölf protokollarischen Portraits aber unberücksichtigt.
Die Männer wagen einen Tabubruch, indem sie off en
über Schwächen, Fehler und manchen religiös oder traditionell begründeten
Irrglauben sprechen. Polygamie, die Gedanken an einen
Ehrenmord, Drogenhandel, Scheinehe - sie erklären, wie es dazu
kommen kann. Ich will in den Geschichten nicht be- oder verurteilen,
sie sollen ein Versuch sein, zu erklären; deshalb sind sie so wertneutral
wie möglich aufgeschrieben. Wer nicht zuhört, wer zu schnell urteilt,
dem bleibt jede Gesellschaft verschlossen. Die Männer geben Einblick
in eine Gesellschaft, die wie von unsichtbaren Mauern umgeben
zu sein scheint. Diese Männer haben sie durchbrochen.
KAZIM ERDOGAN, DER KALIF
VON NEUKÖLLN
Der Psychologe Kazim Erdogan ist eine Vertrauensperson, wie es in ländlichen Regionen
der Türkei einst der Dorfälteste war. Bei ihm suchen Männer Orientierung,
die sie sonst nirgends finden. Mit den Menschen, die zu ihm kommen, verbindet ihn
vieles: Die Herkunft und auch die Erfahrungen, die er in Deutschland machte.
Er selbst nennt sich ironisch den
»Kalifen von Neukölln«, das Oberhaupt der islamischen Gemeinde
im Stadtteil. Auf seinem vollen Schreibtisch im Psychosozialen
Dienst Neukölln steht ein hölzernes Namensschild mit zwei kleinen
Flaggen - der deutschen und der türkischen. Es ist sein klar definiertes
Ziel, das Miteinander von Türken und Deutschen zu verbessern.
Geboren 1953, man könnte ihn älter schätzen, als er ist. Er geht
gebeugt, das kurze graue Haar ist licht: Ein Mann, dem man die
viele Arbeit ansieht. Dessen Tage oft um vier Uhr morgens beginnen
und vierzehn Stunden später enden. Ein Mann, der sich aufreibt für
sein Ziel. Er sagt: »Integration ist wie ein Auto. Ohne Pfl ege, rostet
sie.«
Kazim Erdogan hat viel gemeinsam mit den Männern, die zu ihm
kommen und Rat suchen. Er kennt die anatolische Weite, der viele
der Älteren nachtrauern. Er selbst stammt aus dem kleinen Dorf
Gökçeharman in Zentralanatolien. Ein Dorf im Niemandsland. Die
Familie Erdogan lebte in einem der einfachen Lehmhäuser mit fl achem
Dach, durch das bei Regen das Wasser durchsickerte, ohne
Strom und fließendes Wasser. Siebzehn Personen teil ten sich drei
Zimmer - neben den sieben Geschwistern und den Eltern auch die
Großeltern, Onkel und Tanten, sowie die Schwager. Die Familie teilte
sich Weizengrütze aus großen Schüsseln. »Wenn siebzehn Löff el den
Topf auskratzten, war das wie Musik«, sagt Erdogan.
Der Vater war Angestellter bei der Bahn. Ein einfacher Arbeiter,
in der Hierarchie ganz unten. Die Mutter arbeitete doppelt: Sie kümmerte
sich um den Haushalt und arbeitete auf den Feldern, wo sie per
Hand Gerste und Weizen erntete; Maschinen gab es keine. Von seinem
Gehalt als Eisenbahnmitarbeiter hatte der Vater Grund gekauft ,
er war überzeugt gewesen, die Felder könnten seinen Kindern einmal
das Überleben sichern. Dann kam die Abwanderung nach Deutschland.
Von den einst 360 Einwohnern in Gökçeharman sind gerade
einmal zwanzig Personen übrig geblieben. Die Lehmhäuser sind verlassen
und verfallen. Die Menschen haben die Flucht angetreten vor
Arbeitslosigkeit und harter Feldarbeit. Sie ließen sich als »Gastarbeiter
« werben, um ihr Glück in Deutschland zu suchen. Der Vater erkannte,
dass mit den Feldern nichts mehr zu gewinnen war. Also
setzte er, selbst Analphabet, auf Bildung. Seinen sechsjährigen Sohn
Kazim schickte er im Zug nach Erzurum, mit 300.000 Einwohnern
die größte Stadt in Ostanatolien, 400 Kilometer von Gökçeharman
entfernt. Sein Sohn sollte dort ein privates Internat besuchen, ein seltenes
Privileg. Dorthin brachten reiche Eltern ihre Söhne und Töchter,
oder eben jene Väter, die bei der Bahn arbeiteten, so wie Kazim
Erdogans Vater. Die Gebühren für die Schule hätte dieser sonst niemals
zahlen können. Als Bahnmitarbeiter aber musste er nur einen
kleinen Teil des Lohns abzwacken. Kazim Erdogan sagt, er war seinem
Vater jeden Tag dankbar, im Internat sein zu dürfen. »Mir war
immer bewusst, dass ich nicht nur für mich, sondern auch für meine
Familie lerne«, sagt er. Doch den sozialen Unterschied zwischen ihm
und den anderen Kindern spürte er deutlich. Viele Mitschüler bekamen
jede Woche Körbe voll mit Sultaninen, Nüssen, Feigen und Butter
zugeschickt, als Ergänzung zu Milchpulver und Weizengrütze in
der Schulkantine. Kazim Erdogan erhielt nie einen Korb. Im Internat
von Erzurum fühlte er sich nicht nur deshalb zum ersten Mal ausgegrenzt.
Er gehörte nicht dazu. Alle Schüler wussten, dass, wer aus dem
Dorf Gökçeharman kommt, Alevit und zudem Kurde sein muss. Und
nicht, so wie die Mehrheit, sunnitischer Türke. Während die anderen
während des Ramadan fasteten, versteckte er sich tags zum Essen auf
der Toilette. Im Unterricht strengte er sich doppelt an, um bei den
Lehrern nicht in Ungnade zu fallen.
Zwölf Jahre blieb er auf dem Internat, schloss das Gymnasium mit
der Note »sehr gut« ab. Er war damit der erste Abiturient aus seinem
Heimatdorf. Und er sollte der erste Akademiker sein. In Ankara
schrieb er sich in der Universität ein: Psychologie. Drei Monate vergingen,
ohne dass der Student ein einziges Mal in einer Vorlesung saß.
Faul war er nicht, im Gegenteil. Aber er besaß kein Geld, um sich das
Leben in der Stadt zu finanzieren. Also ging er, statt ins Psychologie-
Seminar, in ein Hotel zum Arbeiten. Er leitete eine Cafeteria, servierte
Tee und schleppte Getränkekisten. Dann exmatrikulierte er
sich. Seine Hoffnung war der Onkel in Berlin. Er hatte die türkische
Heimat schon vor ein paar Jahren verlassen, um als »Gastarbeiter«
nach Deutschland zu reisen. Seinem Neffen schrieb er Briefe und bot
ihm an, zu ihm zu kommen. In Deutschland stünde dem inzwischen
21-Jährigen die Welt offen: Das Studium sei umsonst, die Straßen mit
Münzen gepflastert. Der Onkel versprach, ein Flugticket zu schicken.
Es kam nie an.
Kazim Erdogan hatte nun ein Ziel. Er sparte selbst auf das Ticket,
das ihn nach Berlin bringen sollte, ins gelobte Land. Für einen Flug
reichte es nicht, aber für eine Busfahrkarte nach München mit anschließendem
Zugticket nach Berlin. Eine Vier-Tage-Reise, ohne Dusche
oder Bett. Im Gepäck: Zwei Cordhosen und eine Jeans, ein paar
Hemden und Pullover. In der Hosentasche: 100 DM und der Zettel
mit der Adresse des Onkels. Und für alle Fälle auch die eines Studentenwohnheims
in Charlottenburg.
Am 5. Februar 1974 stand er um sieben Uhr morgens am Berliner
Bahnhof Zoo, müde und hungrig. Aber da war kein Onkel. Kazim
Erdogan griff in die Hosentasche nach dem Zettel mit der Adresse -
er hatte ihn verloren. Die Ankunft im Märchenland Deutschland -
alles andere als verheißungsvoll. Niemand verstand ihn, als er um
Auskunft bitten wollte. Bis er auf einen türkischen Mann vom Reini-
gungsdienst traf. Der begleitete ihn zu dem Studentenwohnheim,
dessen Adresse der erschöpfte Ankömmling noch im Kopf hatte. Ein
paar Stunden später holte ihn der Onkel dort ab. Ein nüchternes
Wiedersehen, bei dem die erste Frage des Onkels lautete: »Wie viel
Geld hast du?« Der Neffe händigte ihm aus, was er noch übrig hatte:
69 DM. Der Onkel bestellte ein billiges Begrüßungsessen. Das Restgeld
trug er ins Wettbüro. »Wenn ich gewusst hätte, in welchen Verhältnissen
mein Onkel lebte, wäre ich wohl nicht nach Deutschland
gegangen«, sagt Erdogan. Der Onkel verließ mittags das Haus, dann
ging er ins Männercafé. Den Neffen aber schickte er in Fabriken, wo
er unter dem Namen des Onkels arbeitete. Erdogan war nun ein illegaler
Arbeiter, denn eigentlich hätte er nach drei Monaten in Deutschland
wieder ausreisen müssen. Ein schmächtiger Türke aus einem anatolischen
Bergdorf, voller Scham über seine Herkunft und doch voller
Hoffnung, in Deutschland studieren zu dürfen. Er ließ seine Zeugnisse
übersetzen und bewarb sich wieder um einen Studienplatz für
Psychologie. Dann schleppte er Kühlschränke und Waschmaschinen,
stand am Fließband und sortierte im Akkord Margarinebehälter,
schlug sich als Wärter die Nacht um die Ohren. Er arbeitete für Quelle
im Lager, für Wiener Wald in der Küche, schleppte Getränkekisten
für Coca Cola und Berliner Kindl und putzte bei IBM. Er war ein
verspäteter türkischer »Gastarbeiter« und »ganz unten«, so, wie es
der Journalist Günter Wallraff in seinem gleichnamigen Buch beschrieben
hat. »Ich war ein ehrlicher Verbrecher«, sagt Erdogan heute.
Am Zahltag erwarte ihn der Onkel jedes Mal ungeduldig. »Er
wusste genau, mit welcher U-Bahn ich nach Hause komme.« Noch
am Ausgang der Station »Rathaus Neukölln« überreichte er dem
Onkel seinen Wochenlohn. »Mir blieben gerade mal zehn DM, um
mir belegte Brötchen in den Fabrikkantinen zu kaufen, aber nicht
genug für die Fahrkarten mit der U-Bahn oder dem Bus.« Die
Schwarzfahrten wurden zur Zitterpartie, die Angst vor der Abschiebung
war der ständige Begleiter.
1974 war das Jahr nach dem offiziellen Anwerbestopp türkischer
»Gastarbeiter«. Seit einem Abkommen mit der Türkei von 1961 war
die Zahl der in Deutschland lebenden Türken auf 910.500 gestiegen.
Männer und Frauen, die die Engpässe am Arbeitsmarkt stopfen sollten
und erfolgreich am deutschen Wirtschaft swunder mitgearbeitet
hatten. Die eigentlich nicht bleiben, sondern per Rotationsverfahren
nach einem Jahr in die Türkei zurückkehren sollten. Das war die Th eorie
- die Praxis sah anders aus. Die deutschen Firmen wollten die
angelernten Arbeitskräfte behalten. Alles andere wäre aus ihrer Sicht
ökonomischer Unsinn gewesen. Genau wie für die türkischen Ankömmlinge.
Nach nur einem Jahr hatten sie ihre Ziele noch nicht
erfüllt: das Häuschen in der Türkei zu renovieren, ein Auto zu kaufen
oder die Eltern finanziell abzusichern. Die »Gastarbeiter« blieben.
Sie wurden zu Dauergästen und seit Anfang der 70er zur Belastung.
Nach dem Ölpreisschock litt die deutsche Konjunktur. Eine Phase
der Massenarbeitslosigkeit begann, die Euphorie über Arbeitskräfte
aus der Türkei war verflogen.
Sieben Monate nach seiner Ankunft in Berlin geriet Kazim Erdogan
in eine Routinekontrolle der Zivilpolizei. »Es hieß: ›Schönen
Guten Tag, den Ausweis bitte‹«, erinnert sich Erdogan, der damals
fast kein Wort Deutsch sprach. »Ich stammelte so etwas wie ›Pass
Hause‹, dann nahmen sie mich mit auf die Wache.« Erdogan gab den
Namen seines Onkels zu Protokoll. Der Polizist gab ihm eine Zigarette
zur Beruhigung und kontrollierte seine Taschen. Darin fand er
einen Brief des Onkels, der Empfänger war ein gewisser Kazim
Erdogan. Der Beamte schlug in einem Buch nach, in dem alle eingereisten
Türken registriert waren. Dann sah er den jungen Mann an
und schüttelte den Kopf. Schon am Abend saß der illegale Einwanderer,
der gehofft hatte, in Deutschland studieren zu dürfen, in Abschiebehaft
- zwischen vierzig oder fünfzig Mithäftlingen, die wie er auf
der Straße eingesammelt worden waren. »Ich fühlte Scham hoch
drei. Man kommt ohne Geld in ein reiches Land und wird wieder
rausgeschmissen. Da fühlt man sich als Versager.« Der 21-Jährige
hatte an diesem Tag vierzig Pfennig bei sich. Er warf zwei Zehn-Pfennig-
Stücke in ein Münztelefon mit Drehscheibe. Er verwählte sich,
weil er so zitterte. Die zwanzig Pfennig waren weg. Beim zweiten Versuch
erreichte Erdogan seinen Freund, einen Kurden aus Syrien. Ihn
bat er, eine Bestätigung der Universität zu holen und einen Dolmetscher.
Vier Tage später war Erdogan frei. Als immatrikulierter Student
hatte er Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis. Heute sagt er: »Ich
weiß, wie es sich anfühlt, Angst in einem fremden Land zu haben.
Deshalb kann ich die Männer, die zu mir kommen, gut verstehen.«
Vielleicht hatte Kazim Erdogan mehr Hartnäckigkeit als die Männer,
die heute bei ihm Rat suchen. Vielleicht hatte er auch mehr
Glück. In jedem Fall waren es sein hellwacher Geist, seine Intelligenz
und sein Arbeitseifer, die den Psychologen dorthin brachten, wo er
nun ist.
Als Kazim Erdogan damals seine Immatrikulation erhielt, zog er
von seinem Onkel in Neukölln weg in eine Zweizimmerwohnung in
Schöneberg, ohne fließendes Wasser. Zum Duschen ging er ins Stadt-
bad. Zum Kochen holte er sich Wasser aus dem Flur, das er in Schüsseln
abfüllte. Für die Miete sollte er 67,01 DM überweisen. »Einmal
habe ich den Pfennig weggelassen«, sagt er. »Dann kam eine Mahnung.
Beim nächsten Mal habe ich auf fünfzehn Pfennig aufgerundet.«
Er hatte Bekanntschaft gemacht mit deutscher Gründlichkeit.
Am 15. Oktober 1974, knapp acht Monate nach seiner Einreise,
begann er mit dem Deutschkurs fürs Studium. Ein Jahr später studierte
er Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft en.
In Deutschland setzte Phase zwei der Zuwanderung ein: Mit dem
Anwerbestopp von 1973 reduzierte sich die Zahl derer, die in
Deutschland Arbeit suchten. Dafür holten diejenigen, die schon hier
waren, per Familiennachzug ihre Angehörigen nach. Die Struktur des
Arbeitsmarktes änderte sich. 1970 hatten 75 Prozent der türkischen
Einwanderer sozialversicherungspflichtige Arbeit. Fünf Jahre später
arbeiteten noch 50 Prozent und im Jahr 1980 waren nur noch 39
Prozent in fester Anstellung.
Als Student beobachtete Erdogan die Entwicklung. 1979 beschrieb
er in seiner Diplomarbeit über »Arbeiter aus der Türkei in
Westberlin« die Probleme der Migration: fehlende Deutschkennt-
nisse, Bildungsarmut und Diskriminierung. Er forderte Deutschkurse
in den Fabriken und Integrationshilfen in den Schulen. Auch die
deutsche Politik erkannte Handlungsbedarf. Im gleichen Jahr, in dem
Erdogan seinen Abschluss machte, erschien das »Kühn-Memorandum«,
verfasst vom SPD-Abgeordneten und ersten Ausländerbeauf-
tragten Heinz Kühn. Dieser formulierte, was sich damals niemand
auszusprechen traute: Deutschland war zu einem Einwanderungsland
geworden, mit vier Millionen »Gastarbeitern« und ihren Familien.
Er forderte eine konsequente Integrationspolitik. Sein Memorandum
war so etwas wie ein erster Integrationsplan - mit Vorschlägen,
die teils erst Jahrzehnte später aufgegriffen wurden, etwa für in
Deutschland geborene Kinder eine Option, die deutsche Staatsbürgerschaft
anzunehmen. Sein Memorandum war visionär, doch es verschwand
in den Schubladen.
Anfang 1980 bot die Ulrike-von-Levetzow-Hauptschule Erdogan
eine Stelle an. Er war damit Angestellter im Öffentlichen Dienst und
bekam nach fünf Jahren seine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.
Noch 1985 waren zwei Drittel der türkischen Einwanderer in
Deutschland an- oder ungelernte Arbeiter auf dem Bau oder in der
Schwerindustrie: Akkord-, Schicht- und Fließbandarbeit. Dabei wären
gut ausgebildete türkische Lehrer wie Kazim Erdogan spätestens
seit Anfang der 80er dringend nötig gewesen: 1,4 Millionen Menschen
aus der Türkei lebten in Deutschland, viele mit großen Sprachdefiziten
und Bildungsmängeln. Doch deutsche Bildungspolitiker
hatten immer noch das Rückfahrticket der Gäste im Kopf, genau wie
viele der Einwanderer.
In den Vorbereitungsklassen sollte der neue Lehrer Erdogan Migrantenkindern
Deutsch beibringen und sie quer durch die Fächer hinweg
unterrichten. »Ich hatte so etwas wie eine revolutionäre Haltung,
eine Botschaft. Ich wollte den Schülern ein Vorbild sein. Ich
wollte ihnen zeigen, dass man es schaffen kann, wenn man von ganz
unten kommt.« Und er wollte die Eltern seiner türkischstämmigen
Schüler zu sich holen. Er wollte den Vätern und Müttern die Scheu
nehmen.
© 2010 Diederichs Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Weiss/Zembsch/Partner, Werkstatt/München
unter Verwendung eines Motivs von © ImageShop/Corbis
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-424-35022-7
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Autoren-Porträt von Isabella Kroth
Isabella Kroth, geboren 1980, lebt und arbeitet als Journalistin in München. 2004 erschien ihr Bestseller Scheherazades Tochter (zusammen mit Ayse).
Bibliographische Angaben
- Autor: Isabella Kroth
- 2010, 208 Seiten, Maße: 13,4 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Diederichs
- ISBN-10: 3424350222
- ISBN-13: 9783424350227
Rezension zu „Halbmondwahrheiten “
"Das Buch ist uneingeschränkt empfehlenswert für die, die nebeneinander leben wollen. Für diejenigen, die miteinander leben wollen, ist es eine Pflichtlektüre!"
Kommentar zu "Halbmondwahrheiten"
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