Helden des Alltags
Es sind ganz normale Helden des Alltags, denen hier ein Denkmal gesetzt wird: ob aus Berlin oder aus Krasnojar/Sibirien.
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Es sind ganz normale Helden des Alltags, denen hier ein Denkmal gesetzt wird: ob aus Berlin oder aus Krasnojar/Sibirien.
"Was ist das Erfolgsrezept des Schlawiners Kaminer? Es ist vor allem seine Fähigkeit, mit charmant-naivem Blick den alltäglichsten Dingen seiner Umgebung komische Geheimnisse zu entlocken, und ganz nebenbei menschliche und gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen, die jeden bewegen. Mit lachendem Herzen sieht man den "Helden des Alltags" bei ihrer Gratwanderung zwischen Realität und Fantasie zu." Neues Deutschland
LESEPROBEMenschen beim Feiern
Einmal verschlug mich das Schicksal an die Spree. Dort, an derEcke Schiffbauerdamm/Albrechtstraße, feierten die Neuberliner Bundesbeamtenaus dem Rheinland in den dortigen Kneipen Ständige Vertretung und Zum Kölner sowie ineinem Hinterhof-Festzelt ihren Karneval. Immer wieder kamen lustig verkleideteMänner und Frauen aus dem Zelt an die frische Luft, sahen sich vorsichtig umund griffen sich dann hinter einigen Baustellenabsperrungen Bierbüchsen undkleine Schnapsflaschen, die sie dort deponiert hatten. Gierig nahmen sie einpaar Schlucke und stürzten sich dann erneut ins Getümmel, um weiter ihresinnlose
Polonäse zu tanzen und wildfremden Menschen um den Hals zufallen.
Diese Szene erinnerte mich an meinen Onkel. Jemand, der schlaugenug ist und Durst hat, findet immer einen guten Grund zum Feiern. Mein Onkelzum Beispiel, der in einem kleinen ukrainischen Kaff arbeitete, war ein sehrlebenslustiger Mensch. Als junger Mann hatte er einmal an den großen Feierlichkeitenanlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der großen sozialistischenOktoberrevolution teilgenommen. Dieses Fest beeindruckte ihn so tief, dass erdanach nicht mehr aufhören konnte zu feiern. Immer wieder versuchte er, zumnormalen Alltag zurückzukehren, allein zwei Mal machte er eine Entzugstherapie,aber alles war umsonst. Mein Onkel war zum Feiern geboren, so wie andereMenschen zum Arbeiten oder zum Fliegen geboren sind. Er konnte nirgendwo aufDauer arbeiten, wurde stets vorzeitig entlassen und gründete keine Familie. Dafürwar er der lustigste Mensch in der ganzen Stadt, und alle mochten ihn.
Er lebte zusammen mit einer dicken Katze und einem sprechendenPapagei und hatte jeden Tag ein paar wichtige Gründe zum Feiern. Ihm fielimmer was ein. So konnte er bei der Nachbarin anklopfen und erzählen, seineliebe Katze habe heute
© 2002 by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Autoren-Porträt vonWladimir Kaminer
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. Er absolvierte eineAusbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk und studierte anschließendDramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Seit 1990 lebt er mit seiner Frau undseinen beiden Kindern in Berlin. Kaminerveröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen deutschen Zeitungen undZeitschriften, hat eine wöchentliche Sendung namens "Wladimirs Welt" beimSFB4 Radio MultiKulti, wo er jeden Samstag seineNotizen eines Alltags-Kosmonauten zu Gehör bringt, und er organisiert im KaffeeBurger Veranstaltungen wie seine inzwischen berüchtigte "Russendisko". Mitder gleichnamigen Erzählsammlung avancierte das kreative Multitalent über Nachtzu einem der beliebtesten und gefragtestenJungautoren in Deutschland.
Interview mit Wladimir Kaminer
Können Sie uns etwas über Ihr Buch "Die Reise nachTrulala" erzählen?
Es geht um Falsch-Reisen und Nicht-Reisen. Erzählt wird vonverfehlten Reisezielen, z.B. in den Kapiteln "Verfehltes Paris","Die Verdeckung Amerikas" oder "Verdorben in Sibirien".
Sie sind Buchautor, schreiben für die taz und die FAZ,moderieren literarische Veranstaltungsreihen und sind DJ in der berühmten"Russendisko" des "Kaffee Burger", betätigten sich alsTheaterregisseur und Schauspieler - welches ist Ihr liebstes Kind?
Alle diese Tätigkeiten gefallen mir gleich gut, sonst würdeich sie nicht machen. Natürlich frage ich mich manchmal, ob das nicht zu vielist. Ich habe manchmal sechs verschiedene Jobs, die alle sehr viel Zeit undFleiß erfordern. Aber aus Erfahrung weiß ich, dass man nur schwer auf dieHälfte verzichten kann, um sich auf die andere zu konzentrieren. Wenn man ersteinmal angefangen hat und sich künstlerisch einsetzt, lernt man sehr viel, undes ist schade, damit aufzuhören. Das ist einer der vielen Kompromisse, die manmit sich selbst schließen muss, wenn man so aktiv bleiben will.
Sie sind 1990 nach Berlin gekommen, nachdem Sie in Moskauan der Theaterschule Tontechnik und Dramaturgie studiert hatten. Wie sind Siehier Schriftsteller geworden?
Ich hatte lange Zeit am Theater gearbeitet, auch in Berlin,und war "kunstbeschädigt". Im Herbst 1998 entdeckte ich die sogenannte Vorlesebühnen-Szene: Jede Woche lasen junge Autoren Geschichten zuverschiedensten Themen. Wichtig war ihnen, mit dem sehr verwöhntenKneipenpublikum in ein Gespräch von gegenseitigem Interesse zu kommen. DieseVeranstaltungen sind begehrt. Es ist immer voll, und ich fand es eine sehrwürdige Art, sich mit der künstlerischen und der realen Welt auseinander zusetzen und dabei noch Geld zu verdienen. Anfangs kam ich als Gast. Dann habeich die ersten Geschichten geschrieben, natürlich in einer Kneipe. Schließlichhabe ich vorgelesen... Ich schrieb und schrieb immer weiter, denn die Teilnahmean einer solchen Vorlesebühne erfordert Disziplin. Ja, und irgendwann wurde ichdann von einer Literaturagentin angesprochen, die mir anbot, ein Buch aus denGeschichten zu machen. So kam es zu meinem ersten Buch "Russendisko".
Es ist in Berlin angesiedelt.
Die Geschichten entstammen kleinen und kleinsten, oftabsurden Alltagsvorkommnissen. Sind sie eher der Beobachtung oder der Fantasieentsprungen?
Ich versuche nicht, mir Geschichten auszudenken. Ichbeobachte Außergewöhnliches und Unverständliches. Genau genommen will ich denAlltag aufklären helfen, damit man die Welt besser versteht und in Frieden mitihr leben kann. Das ist eine reizvolle Aufgabe. Ich möchte keine fiktivenGeschichten schreiben.
Charakteristisch für Ihren Stil ist der Humor. Ich findees erstaunlich, dass Sie ihn sich auch in der zunächst sehr fremden Umweltbewahrt haben. Sie mussten diesem Leben nahe kommen. Humor aber bedeutet -Distanz.
Das ist wahrscheinlich angeboren. Ehrlich gesagt, ich haltemich gar nicht für so witzig. Auf einer Lesereise durch verschiedene deutscheStädte hat mir mal ein Mann gesagt: "Ich habe auch zwei Jahre auf derSchönhauser Allee gelebt, ich habe Ihr Berlin nicht gefunden, das ist dochalles ausgedacht. Sie werden doch, wenn Sie in Nürnberg leben, genauso vieleinteressante Geschichten über Nürnberg schreiben können..." Ich wusstenicht, was ich dem Mann antworten sollte. Aber ich glaube nicht, dass ich dortso viele interessante Geschichten gefunden hätte. Ein paar vielleicht...
Ihre Bücher verkaufen sich ausgezeichnet. Wer sind nachIhren bisherigen Erfahrungen Ihre Leser?
Meine Leser sind sehr unterschiedlich. Alte und Junge,häufig sind sie im Alter meiner Eltern, und ich höre: "Danke, HerrKaminer, Sie haben unsere Lust am Leben wieder gestärkt." Wenn man so vielunterwegs ist wie ich, bildet man sich irgendwann ein, dass man eine Botschafthat und sucht nach Motivationen dafür. Aber eigentlich ist es der Reiz derVorlesebühne, den ich immer noch empfinde und den ich mit hineingenommen habein die so genannte große Literatur. Ich suche das Gespräch. Mit den Geschichtenstelle ich mich vor, danach sprechen wir über das Leben. Das sind dieinteressantesten Momente und sie liefern immer wieder Stoff für neueGeschichten.
Sie leben gerne in Berlin?
Ja, manchmal wundert mich das selbst. Die Schönhauser Alleeist eine stark befahrene Straße, sehr laut, die U-Bahn direkt vor unseremFenster. Aber es ist die richtige Umgebung für mich und meine Familie.Einerseits ist hier Großstadt mit allem, was dazu gehört, aber andererseits hatdie Gegend etwas Dörfliches. Alle kennen sich inzwischen, und bei mir ist es soweit, dass ich schon Videofilme für umsonst ausgeliehen bekomme...
Würden Sie in einem anderen Stadtteil wohnen wollen als imSzene-Bezirk Prenzlauer Berg?
Prenzlauer Berg war doch nicht immer Szene-Bezirk.Schönhauser Allee ist auf jeden Fall kein Szene-Bezirk, traditionell stimmt daseher für den Kollwitzplatz. Dort haben wir auch ein paar Jahre gewohnt. DasPublikum hier ist eine undurchsichtige Mischung unterschiedlichster Leute:Reiche mit schicken Autos, Arme, Studenten, Künstler und Arbeiter... Und einVerrückter - der läuft auch immer hier herum... Auf der Schönhauser Alleefinden Sie keine einzige Milchkaffee- oder spezifische Künstlerkneipe und auchkeine guten Restaurants. Geschäftsleute orientieren sich an Mehrheiten, und diegibt es hier nicht. Das merkt man auch bei den Wahlen. Hier haben alle Parteiengut abgeschnitten.
Welchen Eindruck haben Sie von der Wiedervereinigung derehemals geteilten Stadt?
Die Vereinigungsprozesse, die immer noch die ganze Welt inAtem halten, sind nur zu begrüßen. Ich bin für weniger Ideologie und Politik,für mehr Anarchie im Leben. Dass viele Menschen sich verunsichert fühlen undihnen Boden unter den Füßen fehlt, ist durchaus verständlich. Schade natürlich,sehr schade, dass viele gereizt reagieren auf diese Veränderungen. Die frühereIdeologie war die einer geteilten Nation. Jetzt muss zwangsläufig irgendetwasganz Neues entstehen: Die beiden Teile sollen zusammenwachsen, ein neuer Typuseines Bürgers soll entstehen... Die sollen doch alle bleiben wie sie sind undweiter leben, wie es ihnen gefällt - nur, dass es diese Mauer nicht mehr gibt.Es ist doch wunderbar, dass man hin- und herfahren kann und die ganze Weltgrößer und offener geworden ist. Die Kulturen und Lebensweisen müssen nichtzusammenwachsen, und sie müssen sich auch nicht unbedingt mögen. Früher habensich die Politiker leidenschaftlich geküsst und gehasst, jetzt ist das wenigerund vielleicht friedlicher geworden.
Was bedeutet Heimat für Sie?
Heimat ist das Land, wo man geboren wurde und die Kindheitverbracht hat. Meine Heimat ist Russland - ein sehr schönes Land, eine tolleHeimat. Gar keine Frage. Man muss nur nicht hysterisch werden und sagen:"Meine Heimat, meine Heimat, ich kann ohne dich nicht leben." Nein,ich kann durchaus ohne meine Heimat leben und sie von ferne lieben wie jedererwachsene Mensch, der ja auch irgendwann ohne seine Eltern lebt...
Welche menschlichen Eigenschaften - Trinkfestigkeitausgenommen - schätzen Sie besonders?
(Grübelt) Besondersschätze ich an Menschen die Fähigkeit, nett zu den anderen zu sein, egal, wiees einem geht. Es ist so wenig und doch so viel, Distanz zu sich selbst zugewinnen. Vielleicht trifft das Wort Lebensfreude auch besser, was ich meine.Trotz aller Umstände die Kraft zu haben, lebensfroh zu sein. Mit anderen.
Die Fragen stellte Katharina Steinke.
(DasInterview ist gekürzt und wurde erstmals veröffentlicht in: M COLLECTION,International Fashion Magazine, Deutsche Ausgabe)
- Autoren: Helmut Höge , Wladimir Kaminer
- 2004, 192 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann Verlag
- ISBN-10: 3442542146
- ISBN-13: 9783442542147
- Erscheinungsdatum: 01.11.2004
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