Herzenstimmen
Roman
Vor zehn Jahren hat eine Reise nach Burma Julia Wins Leben verändert. Mittlerweile hat der Alltagsstress in New York sie aber wieder eingeholt. Da erhält sie einen rätselhaften Brief von ihrem Bruder aus Burma. Damit kommt die Erinnerung...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Herzenstimmen “
Vor zehn Jahren hat eine Reise nach Burma Julia Wins Leben verändert. Mittlerweile hat der Alltagsstress in New York sie aber wieder eingeholt. Da erhält sie einen rätselhaften Brief von ihrem Bruder aus Burma. Damit kommt die Erinnerung zurück und Julia wird klar, dass sie die Lehren von damals über das Leben vergessen hat. Sie weiß, sie muss nach Burma zurück. Doch wird sie dort ihr Glück finden?
Klappentext zu „Herzenstimmen “
Die Rückkehr an den magischen Ort einer unvergesslichen LiebesgeschichteZehn Jahre ist es her, seit Julia Win aus Burma als anderer Mensch zurückkehrte. Sie hatte ihren Vater gesucht, den Bruder gefunden und war beseelt gewesen von der schönsten Liebesgeschichte, die sie je gehört hatte. Doch in der Zwischenzeit wurde sie von ihrer Karriere in einer New Yorker Anwaltskanzlei längst wieder in das rastlose westliche Leben zurückgeholt. Da erreicht sie ein rätselhafter Brief ihres Bruders U Ba aus Burma, und mit dem Brief kommt nicht nur die Erinnerung zurück, sondern Julia wird auch klar, dass sie die Lehren von damals über die Liebe und das Leben vergessen hat. Und seit sie den Brief gelesen hat, geschieht Seltsames: Immer wieder spricht eine fremde innere Stimme zu ihr, deren Fragen Julia Angst machen, aber auch eine tiefe Sehnsucht wecken. Hat der alte burmesische Mönch, den sie um Rat fragt, mit seiner Vermutung recht, dass zwei Seelen in Julias Brust wohnen? Und was kann sievon dieser anderen, ihr unbekannten Seele lernen? Schon fürchtet Julia, den Verstand zu verlieren, doch dann wird ihr klar, dass nur ihr Bruder in Burma ihr helfen kann. Mit seiner Hilfe muss Julia dem Ursprung und dem Geheimnis der Stimme auf den Grund gehen, um zwei Seelen zu versöhnen und das Glück zu finden.
Jan-Philipp Sendkers Roman "Das Herzenhören" ist ein Phänomen: ein Buch, das im Laufe der Jahre Hunderttausende Leserherzen gewonnen hat - und noch immer werden es täglich mehr. Sendker hat damit eine universelle Liebesgeschichte für unsere Zeit geschrieben und mit Julia Win und ihrem Halbbruder U Ba unvergessliche Figuren geschaffen. Mit Herzenstimmen findet der Bestseller nun eine grandiose Fortsetzung, auf die unzählige Leserinnen sehnsüchtig warten.
Lese-Probe zu „Herzenstimmen “
Herzenstimmen von Jan-Philipp Sendker1
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Der Tag, an dem meine Welt aus den Fugen geriet, begann unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Es war ein klirrend kalter Freitag in der Woche vor Thanksgiving. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ich es hätte kommen sehen können. Weshalb hatte ich nichts bemerkt? Wie konnte sich ein so folgenschweres Ereignis in meinem Leben anbahnen, ohne dass ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte? Ausgerechnet ich, die Überraschungen so verabscheute. Die sich auf alles, jede Verhandlung, jede Reise, selbst einen Ausflug am Wochenende oder ein gemeinsames Kochen mit Bekannten so gewissenhaft wie möglich vorbereitete. Ich überließ nichts gern dem Zufall. Ich ertrug das Unerwartete nur schwer. Es zählte nicht zu meinen Freunden.
Amy war sich sicher, es habe erste Symptome gegeben. Es gebe sie immer. Wir seien nur so sehr in unseren Alltag vertieft, Gefangene unserer Routinen, dass wir den Blick für sie verloren haben.
Für die kleinen Geschichten, die uns Großes erzählen.
Sie war überzeugt, dass jeder Mensch sich selbst das größte Rätsel ist und unsere lebenslange Aufgabe darin besteht, der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen. Lösen, behauptete sie, würden wir es nie. Aber auf den Weg dorthin müssten wir uns machen. Ganz gleich, wie lang er ist oder wohin er uns führt.
Ich war mir nicht sicher. Amy und ich waren oft unterschiedlicher Meinung. Das sollte nicht heißen, dass ich ihr in diesem Fall nicht bis zu einem gewissen Grad recht gab. Vermutlich hatte es in den Monaten zuvor immer wieder Momente gegeben, die mich hätten warnen können. Aber wie viel Zeit können wir tagein und tagaus damit verbringen, in uns hineinzuhorchen, um mögliche Signale und Zeichen für irgendetwas zu entschlüsseln?
Ich gehörte nicht zu den Menschen, die jede körperliche Veränderung sofort als Anzeichen einer Störung ihres seelischen Gleichgewichts deuteten.
Die kleinen, roten Pickel am Hals, die sich innerhalb weniger Tage in einen schmerzhaft brennenden Hautausschlag verwandelten, für den kein Arzt eine Erklärung fand, und die nach einigen Wochen so plötzlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren, konnten viele Ursachen haben. Das gelegentliche Rauschen in den Ohren ebenfalls. Meine Schlaflosigkeit. Meine zunehmende Gereiztheit und die Ungeduld, die sich in den allermeisten Fällen gegen mich selber richtete. Beides war mir nicht unbekannt, und ich führte das auf die Belastungen im Büro zurück. Der Preis, den jeder von uns in der Kanzlei zahlte und auch zu zahlen bereit war. Ich beklagte mich nicht.
Der Brief lag in der Mitte meines Schreibtisches. Es war ein leicht zerknitterter, hellblauer Luftpostumschlag, wie ihn heute kaum noch jemand benutzt. Ich erkannte seine Handschrift sofort. Niemand schrieb mit solcher Hingabe. Nur er nahm sich die Zeit, aus Briefen kleine Kunstwerke zu machen. Die geschwungenen Linien hatte er mit schwarzer Tinte so fein säuberlich gezogen, als handle es sich um eine Kalligrafie. Jeder Buchstabe ein Geschenk. Zwei Seiten eng beschrieben, jeder Satz, jede Zeile mit einer Sorgfalt und Leidenschaft aufs Papier gebracht, wie es nur Menschen vermögen, für die das Schreiben eine Gabe ist, die man nicht hoch genug achten kann.
Auf dem Kuvert klebte eine amerikanische Briefmarke. Er musste es einem Touristen mitgegeben haben, das war der schnellste und sicherste Weg. Ich schaute auf die Uhr. In zwei Minuten sollte die nächste Konferenz beginnen, nicht genug Zeit, um den ganzen Brief zu lesen, aber meine Neugier war zu groß. Ich öffnete den Umschlag und überflog in aller Eile die ersten Zeilen.
Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs
»Meine liebe kleine Schwester,
ich hoffe, ... erreicht Dich ... guter Gesundheit. Bitte ... Schweigen, das letzte Mal ... ein paar Zeilen ...?
Eine Ewigkeit ... erkrankt ... bald sterben ... ein Kommen und Gehen ... das Leben ... wie schnell sich Deine Welt dreht. Gestern ... etwas Sonderbares ... Eine Frau ... tot zusammengebrochen. ... um Vergebung gebeten. Tränen ... groß wie Erdnüsse ... «
Ein kräftiges Klopfen holte mich zurück. Mulligan stand in der Tür. Sein wuchtiger, durchtrainierter Körper füllte fast den ganzen Rahmen aus. Ich wollte ihn um einen Augenblick Geduld bitten. Ein Brief meines Bruders aus Burma. Ein kleines Kunstwerk, das ... Er lächelte, und bevor ich ein Wort sagen konnte, tippte er mit dem Finger auf seine große Armbanduhr. Ich nickte. Mulligan war einer der Partner von Simon & Koons, unser bester Anwalt, aber von Tränen, groß wie Erdnüsse, verstand er nichts. Von Buchstaben als Geschenk auch nicht. Seine Handschrift war unleserlich.
Die anderen Kollegen warteten bereits. Es roch nach frischem Kaffee, Marc steckte sich den letzten Bissen eines Muffins in den Mund und grinste mir zu. Wir hatten eine Wette Während Mulligan etwas vom »Wert des geistigen Eigentums« erzählte, fielen mir seine ersten Sätze wieder ein. Wort für Wort. »Ich meine es ernst«, war U Ba nach meinem Lachen unbeirrt fortgefahren. »Ich spreche von der Liebe, die Blinde zu Sehenden macht. Von der Liebe, die stärker ist als die Angst. Ich spreche von der Liebe, die dem Leben einen Sinn einhaucht ... «
Nein, hatte ich ihm irgendwann geantwortet. Nein, daran glaubte ich nicht.
In den folgenden Tagen war ich von ihm eines Besseren belehrt worden. Und jetzt? Fast zehn Jahre später? Glaubte ich noch an eine Kraft, die Blinde zu Sehenden macht? Würde ich in diesem Kreis jemanden überzeugen können, dass der Mensch über Eigensucht triumphieren kann? Sie würden mich auslachen.
Mulligan sprach vom »wichtigsten Fall des Jahres ... deshalb müssen wir ... « Ich bemühte mich noch einmal mit aller Kraft um Konzentration, doch meine Gedanken drifteten fort, willenlos wie ein Stück Holz, mit dem die Wellen spielen.
»Julia.« Mulligan zerrte mich zurück nach Manhattan. »Du bist dran.«
Ich nickte ihm zu, warf einen hilflosen Blick auf meine Notizen, wollte mit ein paar Standardsätzen beginnen, als mich ein zaghaftes Flüstern unterbrach.
Ich stockte.
Wer bist du?
Hingehaucht und doch nicht zu überhören.
Wer bist du?
Eine Frauenstimme. Immer noch leise, aber klar und deutlich.
Ich schaute über meine rechte Schulter, um zu sehen, wer mich mit so einer Frage ausgerechnet in diesem Moment unterbrach. Niemand.
Wo mochte sie sonst herkommen?
Wer bist du?
Ich drehte mich unwillkürlich nach links. Nichts. Ein Flüstern aus dem Nirgendwo.
Was wollen die Männer von dir?
Gespannte Stille um mich herum. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mir wurde warm. Ich schwieg beklommen und hielt die Augen gesenkt. Jemand räusperte sich.
Nimm dich in Acht vor ihnen.
»Julia?«
Kein Wort. Nicht eins. Atemnot. Woher kam diese Stimme? Wer sprach zu mir? Was wollte sie? Warum sollte ich mich vor meinen Kollegen hüten?
»Du kannst beginnen. Wir sind ganz Ohr.« Mulligans wachsende Ungeduld. Erstes Hüsteln.
Du musst ganz vorsichtig sein. Pass auf, was du sagst. Pass auf, wen du anschaust.
Ich hob den Kopf und ließ meinen Blick vorsichtig kreisen. Das unruhige Wippen mancher Oberkörper. Marcs besorgte Miene, er litt mit mir. Vermutete ich. Über Franks breites Gesicht flog ein spöttisches Lächeln. Als hätte er immer geahnt, dass der Tag käme, an dem ich den Druck nicht mehr aushalten und kläglich scheitern würde.
Du darfst ihnen nicht trauen, egal was sie sagen.
Die Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie gelähmt. Vor meinen Augen begannen die Gesichter zu verschwimmen. Handschweiß. Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.
»Julia. Ist dir nicht gut?«
Keiner wird dir helfen.
»Entschuldigung«, sagte ich.
Sofort herrschte wieder Ruhe. Es hatte lauter geklungen als nötig. Mehr ein Schrei als eine höfliche Bitte um Aufmerksamkeit. Ihre Blicke. Die folgende Stille. Mir schwindelte. Ich war dabei zu versagen.
»Möchtest du etwas trinken?«
Es klang besorgt. Oder täuschte ich mich? Musste ich mich in Acht nehmen?
Sag nichts. Schweig.
Vor mir tat sich ein dunkler Abgrund auf, der mit jeder Sekunde wuchs. Ich wollte mich verstecken, mich irgendwo verkriechen. Was war nur in mich gefahren? Ich hörte eine Stimme, laut und unmissverständlich. Eine Stimme, über die ich keine Kontrolle besaß. Eine Fremde. In mir. Ich fühlte mich immer kleiner werden. Kleiner und bedürftiger. Kein Wort würde ich von mir geben können, solange nicht Ruhe in meinen Kopf einkehrte. Ich griff mir an die Ohren und drückte einige Male kurz und kräftig, wie ich es tat, wenn das gelegentliche Rauschen zu laut wurde. Ich versuchte es noch einmal mit tiefem Ein- und Ausatmen und wusste sofort, dass es nichts nützen würde.
Sie meinen es nicht gut mit dir. Ihr Lächeln war nicht echt. Sie sind gefährlich.
Schreien. Sie mit meiner wahren Stimme übertönen. LASS MICH IN RUHE. SEI ENDLICH STILL. STILL. STILL. Kein Wort. Nicht eins.
Mulligans und mein Blick trafen sich. Seine Stirn lag in Falten, die Lippen waren ein schmaler Strich, seine hellblauen Augen fokussierten mich. Ich begriff, dass mir in diesem Raum wirklich niemand helfen konnte. Ich musste raus. Sofort. Ich wollte auf die Toilette, in mein Büro, nach Hause, egal wohin, Hauptsache weg. Sie erwarteten einen Vortrag, sie erwarteten Ideen und Vorschläge, und wenn ich dazu nicht in der Lage war, erwarteten sie zumindest eine Erklärung für mein Verhalten. Eine Entschuldigung. Nichts davon konnte ich ihnen geben. Mir fehlte die Kraft. Ich hatte nichts zu sagen. Ein kurzes Zögern, dann richtete ich mich langsam auf, schob meinen Stuhl nach hinten und erhob mich. Meine Beine zitterten.
Was tust du?
»Julia, um Himmels willen, was ist mit dir los?«
Ich nahm meine Unterlagen, wandte mich ab und ging zur Tür. Mulligan rief etwas, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte.
Ich öffnete die Tür, trat hinaus und schloss sie leise wieder. Und jetzt?
Ich ging an den Toiletten vorbei den Gang zu meinem Büro entlang, legte die Akten auf den Tisch, nahm meinen Mantel, steckte U Bas Brief in meine Handtasche und verließ, ohne Hast und ohne ein weiteres Wort, die Kanzlei.
Ich ahnte noch nicht, dass ich mich, ohne mir dessen bewusst zu sein, auf den Weg gemacht hatte.
An diesem klirrend kalten, wolkenlosen Herbsttag in der Woche vor Thanksgiving.
2
Sie erinnerte sich nicht mehr an jede Einzelheit. Ein Ziehen im Bauch, ein leichtes zunächst. Eines, dem man keine Beachtung schenken musste. Sie saß am Fenster und schaute hinaus. Ein wolkenloser Morgen. Unter ihnen lag Hartford.
Das Ziehen nahm zu. Ein unangenehmer Schmerz, aber vermutlich ganz normal für die ersten Wochen. Glaubte sie. Wollte sie glauben.
Niemand hatte sie gewarnt. Niemand hatte ihr gesagt, was auf dem Spiel stand. Oder doch? Sich schonen, Stress und Aufregung vermeiden. Keinen Alkohol. Was Ärzte so sagen, hatte sie gedacht. Möglichst nicht fliegen. Möglichst. Nicht: auf keinen Fall.
New York-Boston. Flugzeit nicht einmal eine Stunde. Was sollte da passieren?
Natürlich hätte sie den Zug nehmen können. Fünf Stunden. Kurz hatte sie daran gedacht. Der Termin war um 10 Uhr und nicht zu verlegen. Sie hätte am Abend zuvor fahren müssen. Umständlich und zeitaufwendig.
Möglichst. Nicht: auf keinen Fall. Wir hören nur, was wir hören wollen.
Retroamniales Hämatom. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen. Ein Bluterguss hinter der Gebärmutter. Es klang in ihren Ohren nicht besorgniserregend, auch wenn das Gesicht des Arztes eine andere Geschichte erzählte. Von der wollte sie nichts wissen. Ein Bluterguss war ein Bluterguss und nichts Bedrohliches, dachte sie, egal wo er lag.
Wann beginnt Leben? Mit dem Akt der Befruchtung? Bei der Geburt? Irgendwann dazwischen. Aber wann?
Hatte sie getötet? Oder den Tod zumindest in Kauf genommen? Billigend? Leichtfertig? Oder war es eine Willkür der Natur gewesen? Schicksal. Wer hatte darauf eine Antwort? Wer wollte sich anmaßen, hier der Richter zu sein?
Neun Wochen alt. Groß wie ein Streichholz. Natürlich nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.
Sie fühlte in den Ohren, dass etwas nicht stimmte. Ein leichtes Problem mit dem Kabinendruck. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen müssten, sagte der Pilot und entschuldigte sich für mögliche Unannehmlichkeiten. Sie verließen die Reiseflughöhe, und nach wenigen Minuten war es wieder vorbei.
Nur die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen blieb. Als hätte sie sich ein kleines Glas warmes Wasser über den Schoß geschüttet. Und noch eins.
Nach der Landung hielt sie sich den Bauch. Sie war die Letzte, die das Flugzeug verließ, ihr erster Weg führte auf die Toilette. Dort endete es.
EinVersprechen, streichholzgroß.
Kein Leben, aber eine Hoffnung darauf.
...
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Der Tag, an dem meine Welt aus den Fugen geriet, begann unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Es war ein klirrend kalter Freitag in der Woche vor Thanksgiving. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ich es hätte kommen sehen können. Weshalb hatte ich nichts bemerkt? Wie konnte sich ein so folgenschweres Ereignis in meinem Leben anbahnen, ohne dass ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte? Ausgerechnet ich, die Überraschungen so verabscheute. Die sich auf alles, jede Verhandlung, jede Reise, selbst einen Ausflug am Wochenende oder ein gemeinsames Kochen mit Bekannten so gewissenhaft wie möglich vorbereitete. Ich überließ nichts gern dem Zufall. Ich ertrug das Unerwartete nur schwer. Es zählte nicht zu meinen Freunden.
Amy war sich sicher, es habe erste Symptome gegeben. Es gebe sie immer. Wir seien nur so sehr in unseren Alltag vertieft, Gefangene unserer Routinen, dass wir den Blick für sie verloren haben.
Für die kleinen Geschichten, die uns Großes erzählen.
Sie war überzeugt, dass jeder Mensch sich selbst das größte Rätsel ist und unsere lebenslange Aufgabe darin besteht, der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen. Lösen, behauptete sie, würden wir es nie. Aber auf den Weg dorthin müssten wir uns machen. Ganz gleich, wie lang er ist oder wohin er uns führt.
Ich war mir nicht sicher. Amy und ich waren oft unterschiedlicher Meinung. Das sollte nicht heißen, dass ich ihr in diesem Fall nicht bis zu einem gewissen Grad recht gab. Vermutlich hatte es in den Monaten zuvor immer wieder Momente gegeben, die mich hätten warnen können. Aber wie viel Zeit können wir tagein und tagaus damit verbringen, in uns hineinzuhorchen, um mögliche Signale und Zeichen für irgendetwas zu entschlüsseln?
Ich gehörte nicht zu den Menschen, die jede körperliche Veränderung sofort als Anzeichen einer Störung ihres seelischen Gleichgewichts deuteten.
Die kleinen, roten Pickel am Hals, die sich innerhalb weniger Tage in einen schmerzhaft brennenden Hautausschlag verwandelten, für den kein Arzt eine Erklärung fand, und die nach einigen Wochen so plötzlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren, konnten viele Ursachen haben. Das gelegentliche Rauschen in den Ohren ebenfalls. Meine Schlaflosigkeit. Meine zunehmende Gereiztheit und die Ungeduld, die sich in den allermeisten Fällen gegen mich selber richtete. Beides war mir nicht unbekannt, und ich führte das auf die Belastungen im Büro zurück. Der Preis, den jeder von uns in der Kanzlei zahlte und auch zu zahlen bereit war. Ich beklagte mich nicht.
Der Brief lag in der Mitte meines Schreibtisches. Es war ein leicht zerknitterter, hellblauer Luftpostumschlag, wie ihn heute kaum noch jemand benutzt. Ich erkannte seine Handschrift sofort. Niemand schrieb mit solcher Hingabe. Nur er nahm sich die Zeit, aus Briefen kleine Kunstwerke zu machen. Die geschwungenen Linien hatte er mit schwarzer Tinte so fein säuberlich gezogen, als handle es sich um eine Kalligrafie. Jeder Buchstabe ein Geschenk. Zwei Seiten eng beschrieben, jeder Satz, jede Zeile mit einer Sorgfalt und Leidenschaft aufs Papier gebracht, wie es nur Menschen vermögen, für die das Schreiben eine Gabe ist, die man nicht hoch genug achten kann.
Auf dem Kuvert klebte eine amerikanische Briefmarke. Er musste es einem Touristen mitgegeben haben, das war der schnellste und sicherste Weg. Ich schaute auf die Uhr. In zwei Minuten sollte die nächste Konferenz beginnen, nicht genug Zeit, um den ganzen Brief zu lesen, aber meine Neugier war zu groß. Ich öffnete den Umschlag und überflog in aller Eile die ersten Zeilen.
Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs
»Meine liebe kleine Schwester,
ich hoffe, ... erreicht Dich ... guter Gesundheit. Bitte ... Schweigen, das letzte Mal ... ein paar Zeilen ...?
Eine Ewigkeit ... erkrankt ... bald sterben ... ein Kommen und Gehen ... das Leben ... wie schnell sich Deine Welt dreht. Gestern ... etwas Sonderbares ... Eine Frau ... tot zusammengebrochen. ... um Vergebung gebeten. Tränen ... groß wie Erdnüsse ... «
Ein kräftiges Klopfen holte mich zurück. Mulligan stand in der Tür. Sein wuchtiger, durchtrainierter Körper füllte fast den ganzen Rahmen aus. Ich wollte ihn um einen Augenblick Geduld bitten. Ein Brief meines Bruders aus Burma. Ein kleines Kunstwerk, das ... Er lächelte, und bevor ich ein Wort sagen konnte, tippte er mit dem Finger auf seine große Armbanduhr. Ich nickte. Mulligan war einer der Partner von Simon & Koons, unser bester Anwalt, aber von Tränen, groß wie Erdnüsse, verstand er nichts. Von Buchstaben als Geschenk auch nicht. Seine Handschrift war unleserlich.
Die anderen Kollegen warteten bereits. Es roch nach frischem Kaffee, Marc steckte sich den letzten Bissen eines Muffins in den Mund und grinste mir zu. Wir hatten eine Wette Während Mulligan etwas vom »Wert des geistigen Eigentums« erzählte, fielen mir seine ersten Sätze wieder ein. Wort für Wort. »Ich meine es ernst«, war U Ba nach meinem Lachen unbeirrt fortgefahren. »Ich spreche von der Liebe, die Blinde zu Sehenden macht. Von der Liebe, die stärker ist als die Angst. Ich spreche von der Liebe, die dem Leben einen Sinn einhaucht ... «
Nein, hatte ich ihm irgendwann geantwortet. Nein, daran glaubte ich nicht.
In den folgenden Tagen war ich von ihm eines Besseren belehrt worden. Und jetzt? Fast zehn Jahre später? Glaubte ich noch an eine Kraft, die Blinde zu Sehenden macht? Würde ich in diesem Kreis jemanden überzeugen können, dass der Mensch über Eigensucht triumphieren kann? Sie würden mich auslachen.
Mulligan sprach vom »wichtigsten Fall des Jahres ... deshalb müssen wir ... « Ich bemühte mich noch einmal mit aller Kraft um Konzentration, doch meine Gedanken drifteten fort, willenlos wie ein Stück Holz, mit dem die Wellen spielen.
»Julia.« Mulligan zerrte mich zurück nach Manhattan. »Du bist dran.«
Ich nickte ihm zu, warf einen hilflosen Blick auf meine Notizen, wollte mit ein paar Standardsätzen beginnen, als mich ein zaghaftes Flüstern unterbrach.
Ich stockte.
Wer bist du?
Hingehaucht und doch nicht zu überhören.
Wer bist du?
Eine Frauenstimme. Immer noch leise, aber klar und deutlich.
Ich schaute über meine rechte Schulter, um zu sehen, wer mich mit so einer Frage ausgerechnet in diesem Moment unterbrach. Niemand.
Wo mochte sie sonst herkommen?
Wer bist du?
Ich drehte mich unwillkürlich nach links. Nichts. Ein Flüstern aus dem Nirgendwo.
Was wollen die Männer von dir?
Gespannte Stille um mich herum. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mir wurde warm. Ich schwieg beklommen und hielt die Augen gesenkt. Jemand räusperte sich.
Nimm dich in Acht vor ihnen.
»Julia?«
Kein Wort. Nicht eins. Atemnot. Woher kam diese Stimme? Wer sprach zu mir? Was wollte sie? Warum sollte ich mich vor meinen Kollegen hüten?
»Du kannst beginnen. Wir sind ganz Ohr.« Mulligans wachsende Ungeduld. Erstes Hüsteln.
Du musst ganz vorsichtig sein. Pass auf, was du sagst. Pass auf, wen du anschaust.
Ich hob den Kopf und ließ meinen Blick vorsichtig kreisen. Das unruhige Wippen mancher Oberkörper. Marcs besorgte Miene, er litt mit mir. Vermutete ich. Über Franks breites Gesicht flog ein spöttisches Lächeln. Als hätte er immer geahnt, dass der Tag käme, an dem ich den Druck nicht mehr aushalten und kläglich scheitern würde.
Du darfst ihnen nicht trauen, egal was sie sagen.
Die Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie gelähmt. Vor meinen Augen begannen die Gesichter zu verschwimmen. Handschweiß. Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.
»Julia. Ist dir nicht gut?«
Keiner wird dir helfen.
»Entschuldigung«, sagte ich.
Sofort herrschte wieder Ruhe. Es hatte lauter geklungen als nötig. Mehr ein Schrei als eine höfliche Bitte um Aufmerksamkeit. Ihre Blicke. Die folgende Stille. Mir schwindelte. Ich war dabei zu versagen.
»Möchtest du etwas trinken?«
Es klang besorgt. Oder täuschte ich mich? Musste ich mich in Acht nehmen?
Sag nichts. Schweig.
Vor mir tat sich ein dunkler Abgrund auf, der mit jeder Sekunde wuchs. Ich wollte mich verstecken, mich irgendwo verkriechen. Was war nur in mich gefahren? Ich hörte eine Stimme, laut und unmissverständlich. Eine Stimme, über die ich keine Kontrolle besaß. Eine Fremde. In mir. Ich fühlte mich immer kleiner werden. Kleiner und bedürftiger. Kein Wort würde ich von mir geben können, solange nicht Ruhe in meinen Kopf einkehrte. Ich griff mir an die Ohren und drückte einige Male kurz und kräftig, wie ich es tat, wenn das gelegentliche Rauschen zu laut wurde. Ich versuchte es noch einmal mit tiefem Ein- und Ausatmen und wusste sofort, dass es nichts nützen würde.
Sie meinen es nicht gut mit dir. Ihr Lächeln war nicht echt. Sie sind gefährlich.
Schreien. Sie mit meiner wahren Stimme übertönen. LASS MICH IN RUHE. SEI ENDLICH STILL. STILL. STILL. Kein Wort. Nicht eins.
Mulligans und mein Blick trafen sich. Seine Stirn lag in Falten, die Lippen waren ein schmaler Strich, seine hellblauen Augen fokussierten mich. Ich begriff, dass mir in diesem Raum wirklich niemand helfen konnte. Ich musste raus. Sofort. Ich wollte auf die Toilette, in mein Büro, nach Hause, egal wohin, Hauptsache weg. Sie erwarteten einen Vortrag, sie erwarteten Ideen und Vorschläge, und wenn ich dazu nicht in der Lage war, erwarteten sie zumindest eine Erklärung für mein Verhalten. Eine Entschuldigung. Nichts davon konnte ich ihnen geben. Mir fehlte die Kraft. Ich hatte nichts zu sagen. Ein kurzes Zögern, dann richtete ich mich langsam auf, schob meinen Stuhl nach hinten und erhob mich. Meine Beine zitterten.
Was tust du?
»Julia, um Himmels willen, was ist mit dir los?«
Ich nahm meine Unterlagen, wandte mich ab und ging zur Tür. Mulligan rief etwas, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte.
Ich öffnete die Tür, trat hinaus und schloss sie leise wieder. Und jetzt?
Ich ging an den Toiletten vorbei den Gang zu meinem Büro entlang, legte die Akten auf den Tisch, nahm meinen Mantel, steckte U Bas Brief in meine Handtasche und verließ, ohne Hast und ohne ein weiteres Wort, die Kanzlei.
Ich ahnte noch nicht, dass ich mich, ohne mir dessen bewusst zu sein, auf den Weg gemacht hatte.
An diesem klirrend kalten, wolkenlosen Herbsttag in der Woche vor Thanksgiving.
2
Sie erinnerte sich nicht mehr an jede Einzelheit. Ein Ziehen im Bauch, ein leichtes zunächst. Eines, dem man keine Beachtung schenken musste. Sie saß am Fenster und schaute hinaus. Ein wolkenloser Morgen. Unter ihnen lag Hartford.
Das Ziehen nahm zu. Ein unangenehmer Schmerz, aber vermutlich ganz normal für die ersten Wochen. Glaubte sie. Wollte sie glauben.
Niemand hatte sie gewarnt. Niemand hatte ihr gesagt, was auf dem Spiel stand. Oder doch? Sich schonen, Stress und Aufregung vermeiden. Keinen Alkohol. Was Ärzte so sagen, hatte sie gedacht. Möglichst nicht fliegen. Möglichst. Nicht: auf keinen Fall.
New York-Boston. Flugzeit nicht einmal eine Stunde. Was sollte da passieren?
Natürlich hätte sie den Zug nehmen können. Fünf Stunden. Kurz hatte sie daran gedacht. Der Termin war um 10 Uhr und nicht zu verlegen. Sie hätte am Abend zuvor fahren müssen. Umständlich und zeitaufwendig.
Möglichst. Nicht: auf keinen Fall. Wir hören nur, was wir hören wollen.
Retroamniales Hämatom. Sie konnte sich darunter nichts vorstellen. Ein Bluterguss hinter der Gebärmutter. Es klang in ihren Ohren nicht besorgniserregend, auch wenn das Gesicht des Arztes eine andere Geschichte erzählte. Von der wollte sie nichts wissen. Ein Bluterguss war ein Bluterguss und nichts Bedrohliches, dachte sie, egal wo er lag.
Wann beginnt Leben? Mit dem Akt der Befruchtung? Bei der Geburt? Irgendwann dazwischen. Aber wann?
Hatte sie getötet? Oder den Tod zumindest in Kauf genommen? Billigend? Leichtfertig? Oder war es eine Willkür der Natur gewesen? Schicksal. Wer hatte darauf eine Antwort? Wer wollte sich anmaßen, hier der Richter zu sein?
Neun Wochen alt. Groß wie ein Streichholz. Natürlich nicht lebensfähig. Noch lange nicht. Und trotzdem.
Sie fühlte in den Ohren, dass etwas nicht stimmte. Ein leichtes Problem mit dem Kabinendruck. Nichts, worüber sie sich Sorgen machen müssten, sagte der Pilot und entschuldigte sich für mögliche Unannehmlichkeiten. Sie verließen die Reiseflughöhe, und nach wenigen Minuten war es wieder vorbei.
Nur die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen blieb. Als hätte sie sich ein kleines Glas warmes Wasser über den Schoß geschüttet. Und noch eins.
Nach der Landung hielt sie sich den Bauch. Sie war die Letzte, die das Flugzeug verließ, ihr erster Weg führte auf die Toilette. Dort endete es.
EinVersprechen, streichholzgroß.
Kein Leben, aber eine Hoffnung darauf.
...
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Jan-Philipp Sendker
Sendker, Jan-PhilippJan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung Risse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-Bestseller Das Herzenhören (2002) folgten Das Flüstern der Schatten (2007), Drachenspiele (2009), Herzenstimmen (2012), Am anderen Ende der Nacht (2016) und Das Geheimnis des alten Mönches (2017). Seine Romane sind in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jan-Philipp Sendker
- 2012, 352 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 389667448X
- ISBN-13: 9783896674487
- Erscheinungsdatum: 27.08.2012
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