Herznovelle
Eine Frau wird von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht, zu einer Herzoperation. Die beiden wirken wie Schlafwandler, keiner scheint den anderen wahrzunehmen. Nach einer erfolgreichen Operation kehrt sie schon nach wenigen Wochen nach Hause zurück. Doch...
Leider schon ausverkauft
Buch (Gebunden)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Herznovelle “
Klappentext zu „Herznovelle “
Eine Frau wird von ihrem Mann ins Krankenhaus gebracht, zu einer Herzoperation. Die beiden wirken wie Schlafwandler, keiner scheint den anderen wahrzunehmen. Nach einer erfolgreichen Operation kehrt sie schon nach wenigen Wochen nach Hause zurück. Doch schon bald plagen sie Träume, in denen sie mehr lebt als in ihrem realen Leben. Sie findet in den Alltag vor ihrer Operation nicht mehr zurück. Im Krankenhaus begibt sie sich auf die Suche nach dem Herzspezialisten, ihrem Lebensretter, der ihr Herz berührt hat. In der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart ist Julya Rabinowich eine neue Stimme, die aufhorchen lässt. "Herznovelle" ist ein Text über die große Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod.
Lese-Probe zu „Herznovelle “
Herznovelle von Julya Rabinowich... mehr
Bernhard steht im Badezimmer und kontrolliert mich beim Kontrollieren des Spiegelschränkchens. Ich sehe sein besorgtes Gesicht, halb verdeckt von meinem, ein Auge mit dunklem Brillenrand späht hinter meinen Haaren hervor. Ich kann es nicht leiden, wenn er besorgt ist, das überträgt sich und besorgt mich gleich mit. Ich habe eigene Sorgen und benötige seine nicht. Er pflegt sie, seine Sorge, eine Bewegung von mir nicht rechtzeitig mitzubekommen, zu spät zu sein, nicht hilfreich genug, nicht zur Stelle, an der man ihn brauchen könnte.
Ich schließe die spiegelnde Tür, sein Gesicht gleitet mit ihr zur Seite, weg aus meinem Gesichtsfeld, aber ich höre seinen Atem immer noch hinter mir, spüre seinen Körper an der Schwelle. Seine Sorge steht hinter ihm, überragt ihn genau um das Stück, das den Abstand seines Kopfes über meinem ausmacht. Ich habe keine Lust, Teil einer Sorgenmatrjoschka-Serie zu sein.
»Hast du die Koffer schon hinuntergetragen?«, frage ich, um ihn aus dem Weg zu bekommen.
»Ja«, sagt er, »ich wollte nur nachsehen.«
»Ich bin gleich fertig.«
»Ja. Ich weiß.«
Er rührt sich nicht vom Fleck. Die Luft wird knapp im Bad, das warm und feucht ist, ich habe gerade noch eine Dusche genommen, der große Spiegel neben der Wanne ist beschlagen, das Handtuch habe ich achtlos auf den Boden geworfen, weiß mit mintfarbenem Rand auf beigen Kacheln.
Ich hebe meinen Fuß mit sauber manikürten Nägeln und setze ihn auf den Stoff, meine Zehen sinken in die dichten Fasern, die vollgesogen sind mit Feuchtigkeit. Ich sehe im Nebel des Spiegels große rote Flecken auf meiner Haut, die sich über die zarten Fältchen des Dekolletés gebreitet haben. Wenn ich einen solchen Fleck berühre, wird er unheimlich weiß in der Mitte, bevor er in ein noch tieferes Rot wechselt.
Ich werde mich jetzt nicht kratzen.
Die Flecken brauchen Zeit zum Verschwinden. Ich habe Zeit.
Es riecht nach guter Seife und meinem Parfum. Ich halte die Flasche immer noch in der Hand. Goldener Verschluss mit den Firmeninitialen, zwei C inein ander verschlungen, meine Finger auf der Flasche mit goldenem Ring am Ringfinger, zwei Goldstränge, ebenfalls ineinander verwoben, ich muss dran denken, dass unsere Eheringe von Chanel inspiriert worden sind und dass die Flasche mit »Allure« beschriftet ist, und muss lächeln.
Bernhard lächelt mit.
»Alles wird gut«, sagt er und zwinkert.
»Bitte pack mir das noch ein«, antworte ich und strecke den Arm nach hinten aus und reiche ihm die Flasche, ohne mich umzudrehen.
»Ich habe es vergessen.«
Bernhard verschwindet aus der Spiegelfläche. Ich schließe kurz die Augen. Die Blumen: gegossen. Die Nachbarin wird sicher wieder eine meiner Lieblingspflanzen vergessen. Die Küche geputzt, Lebensmittel eingefroren.
Ob ich auch alle Bücher in den Koffer geschlichtet habe, kann ich beim besten Willen nicht mehr feststellen. Auf meinem Nachtkästchen liegen jedenfalls keine mehr. Aufladekabel, Kopfhörer. Notfalltropfen, die meine wohlmeinende Freundin Carla spendiert hat. In meiner Handtasche stapeln sich bereits mehrere unangebrochene Fläschchen. Ich glaube nicht daran. Aber eingepackt habe ich sie.
Ich gehe nackt durch das Haus.
»Wo bleibst du«, ruft Bernhard.
»Gleich«, sage ich, »du bist doch kein Taxi, oder?«
Mein Kleid hängt über dem Sessel im Schlafzimmer. Hut, Handschuhe, Mantel darübergeworfen. Hautfarbene Unterwäsche. Das Höschen klebt sich an die noch feuchte Haut, ich muss die Spitze wieder ent winden und über meinem Hintern glattstreichen. Durchsichtige Strumpfhosen, die meine Beine auch im Winter bloß erscheinen lassen. Bequeme Schuhe. Aber elegant. Als ich das Kleid vorsichtig über meine geföhnten Haare ziehe, zittern meine Hände. Ich sehe sie zittern und spüre nichts.
Bernhard steht draußen vor dem Gartenzaun, den Koffer neben sich, die Autoschlüssel kreisen unaufhörlich um seine Finger und klimpern. Als er mich sieht, lächelt er wieder.
»Der Rasen gehört gedüngt«, sage ich, als ich ihm zum Wagen folge. Die Fahrt wird wohl eine halbe Stunde dauern.
Bernhard trägt meinen Mantel hinter mir her, feierlich wie eine Schleppe, meine Tasche aus weichem greigefarbenem Leder drücke ich ihm vor Angst achtlos in die Hand, seine zittert, meine nicht. Sehe ihn an, kurz, lächle und drücke die Klinke auf, Bernhard, der Gang, die Plastiksitze, Wartende in der Kardiologie bleiben hinter mir zurück, die grüne Tür schwingt auf und ich dreh mich weg von Bernhard und gehe hindurch. Der Raum ist sehr eng, der Sessel, in dem die Patienten sich ihrem Schicksal stellen, stößt sofort an meine Knie, ich denke an die teure Strumpfhose. Lege die Hand auf die glatte Rückenlehne und blicke auf.
Er sitzt an seinem Tisch, er sieht nicht auf, obwohl ich bereits mitten im Raum stehe, er blättert in einem weißen Berg aus Papieren und blättert weiter und lässt sich von meiner Anwesenheit nicht stören, als wäre ich ein Eindringling und hätte keinen Termin, und ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt und beginne mich langsam zu ärgern.
Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt.
Ich sehe von oben auf seinen Scheitel, volles Haar, kleine schmale Brille. Ich räuspere mich, ein wenig arrogant, als wäre mir das bisschen Luft aus leichter Abneigung im Hals stecken geblieben, und er räuspert sich auch, als ob er sich über mich lustig machen wollte, mir meine Überheblichkeit aufzeigen, als ob die Situation nicht schon lächerlich genug wäre. Ich greife nach dem Taschengurt, um die Tasche mit Nachdruck auf die Sitzfläche zu wuchten, und will nicht als Erste grüßen, aber dann fällt mir ein, dass sie bei Bernhard draußen ist, und ich sage:
»Grüß Gott.«
Er lässt seine Papierberge in Ruhe, legt langsam das oberste Blatt hin und sieht mich an. Seine Augen haben eine intensive Farbe, aber ich kann sie nicht einordnen, grau oder blau oder grün.
Er ist schön. Das denke ich im ersten Augenblick, beim nochmaligen Hinsehen vergeht das Gefühl sofort wieder. Sein Gesicht wirkt müde. Diese Müdigkeit löscht die Attraktivität aus. Ich bin eigenartig erleichtert.
»Setzen Sie sich«, sagt er und lächelt sehr professionell.
Deutet mit seiner Hand auf den Plastiksessel.
Das ist alles unwichtig jetzt. Absolut unwichtig. Ich raffe meinen Mantel an mich und gehe zum Ausgang. Ich sehe Bernhard draußen hinter den riesigen Glastüren auf und ab gehen und rauchen. Wir werden schweigend Kaffee trinken und zwei Stunden vertreiben. Er wird mich umarmen und ich werde meinen Kopf auf seine Schulter legen und so tun, als ob heute ein ganz normaler Tag wäre. Ich spüre die Türen hinter mir zugleiten und habe das Gefühl, die Pfote aus der Falle gezogen zu haben. Rechtzeitig.
Ich weiß jetzt, wie seine Augen sind. Grün.
Bernhard ist weg. Alles ist weg. Morgen wird alles anders sein.
»Alles wird gut«, sagt Bernhard mit standhafter Überzeugung aus dem Hörer des Telefons neben meinem Bett. Ich bin schon sehr müde, aber ich kann immer noch nicht einschlafen.
»Du wirst sehen. Denk nur: nie wieder Herzbeschwerden!«
»Ja.«
»Na eben! Dann können wir wieder in die Berge wandern gehen.«
»Ich hasse Bergtouren.«
»Bergluft ist gesund. Du wirst dich daran gewöhnen.«
»Ich will mich nicht daran gewöhnen, weil ich sie nicht mag.«
»Das sagst du nur, weil du noch nicht gesund bist.« Ich hänge auf und wälze mich im engen Bett hin und her.
Ich habe das Gefühl, dass mein Leben von mir abgeschnitten wurde wie eine alte, gewaltsam abgezogene Haut, die nur noch an kleinen störenden Fleischfetzen hing, die unnötigen Schmerz verursacht haben.
Und keine Wendy weit und breit, die sie mir wieder angenäht hätte.
Nie sind die Wendys da, wenn man sie braucht. Ich stoße meinen Teebecher um, kalte Flüssigkeit rinnt mir über die Füße, ich stehe auf. Tigere in meinem kleinen Zweibettzimmer umher, das nur ein besetztes Bett hat: meines. Draußen leuchtet die Kleinstadt herein, ich habe die Vorhänge dicht zugezogen, die Nacht soll mich verlieren im harten Licht der Neonröhren. Ich schlage mein Tagebuch auf, stopfe meine alte blutige Haut hinein, in einen einzigen Satz.
»Ich habe Angst.«
Schlage den Deckel zu, werfe das Tagebuch ins Metallnachtkästchen, neben die Bonbonniere von meinen Eltern, neben die Glückwunschkarte von Bernhard. Ich war früher einmal der Meinung, dass ich anderes machen könnte als das, was ich tue: etwas Kreatives,
Spannendes. Etwas, wofür Menschen mich bewundern würden, nicht nur Bernhard. Meine Deutschlehrerin hat mich ermutigt, mich im Schreiben zu üben, sie meinte, ich hätte eine originelle Wortwahl, ein Händchen für Geschichten.
Es wartet um die Ecke
es wartet, um mich anzufallen in meinem Hals zu stocken meine Brust zu füllen
an meines Herzens statt
das, an die Rippen gedrückt empört auf seine Rechte pocht es hat kein
ich habe Recht.
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien
Bernhard steht im Badezimmer und kontrolliert mich beim Kontrollieren des Spiegelschränkchens. Ich sehe sein besorgtes Gesicht, halb verdeckt von meinem, ein Auge mit dunklem Brillenrand späht hinter meinen Haaren hervor. Ich kann es nicht leiden, wenn er besorgt ist, das überträgt sich und besorgt mich gleich mit. Ich habe eigene Sorgen und benötige seine nicht. Er pflegt sie, seine Sorge, eine Bewegung von mir nicht rechtzeitig mitzubekommen, zu spät zu sein, nicht hilfreich genug, nicht zur Stelle, an der man ihn brauchen könnte.
Ich schließe die spiegelnde Tür, sein Gesicht gleitet mit ihr zur Seite, weg aus meinem Gesichtsfeld, aber ich höre seinen Atem immer noch hinter mir, spüre seinen Körper an der Schwelle. Seine Sorge steht hinter ihm, überragt ihn genau um das Stück, das den Abstand seines Kopfes über meinem ausmacht. Ich habe keine Lust, Teil einer Sorgenmatrjoschka-Serie zu sein.
»Hast du die Koffer schon hinuntergetragen?«, frage ich, um ihn aus dem Weg zu bekommen.
»Ja«, sagt er, »ich wollte nur nachsehen.«
»Ich bin gleich fertig.«
»Ja. Ich weiß.«
Er rührt sich nicht vom Fleck. Die Luft wird knapp im Bad, das warm und feucht ist, ich habe gerade noch eine Dusche genommen, der große Spiegel neben der Wanne ist beschlagen, das Handtuch habe ich achtlos auf den Boden geworfen, weiß mit mintfarbenem Rand auf beigen Kacheln.
Ich hebe meinen Fuß mit sauber manikürten Nägeln und setze ihn auf den Stoff, meine Zehen sinken in die dichten Fasern, die vollgesogen sind mit Feuchtigkeit. Ich sehe im Nebel des Spiegels große rote Flecken auf meiner Haut, die sich über die zarten Fältchen des Dekolletés gebreitet haben. Wenn ich einen solchen Fleck berühre, wird er unheimlich weiß in der Mitte, bevor er in ein noch tieferes Rot wechselt.
Ich werde mich jetzt nicht kratzen.
Die Flecken brauchen Zeit zum Verschwinden. Ich habe Zeit.
Es riecht nach guter Seife und meinem Parfum. Ich halte die Flasche immer noch in der Hand. Goldener Verschluss mit den Firmeninitialen, zwei C inein ander verschlungen, meine Finger auf der Flasche mit goldenem Ring am Ringfinger, zwei Goldstränge, ebenfalls ineinander verwoben, ich muss dran denken, dass unsere Eheringe von Chanel inspiriert worden sind und dass die Flasche mit »Allure« beschriftet ist, und muss lächeln.
Bernhard lächelt mit.
»Alles wird gut«, sagt er und zwinkert.
»Bitte pack mir das noch ein«, antworte ich und strecke den Arm nach hinten aus und reiche ihm die Flasche, ohne mich umzudrehen.
»Ich habe es vergessen.«
Bernhard verschwindet aus der Spiegelfläche. Ich schließe kurz die Augen. Die Blumen: gegossen. Die Nachbarin wird sicher wieder eine meiner Lieblingspflanzen vergessen. Die Küche geputzt, Lebensmittel eingefroren.
Ob ich auch alle Bücher in den Koffer geschlichtet habe, kann ich beim besten Willen nicht mehr feststellen. Auf meinem Nachtkästchen liegen jedenfalls keine mehr. Aufladekabel, Kopfhörer. Notfalltropfen, die meine wohlmeinende Freundin Carla spendiert hat. In meiner Handtasche stapeln sich bereits mehrere unangebrochene Fläschchen. Ich glaube nicht daran. Aber eingepackt habe ich sie.
Ich gehe nackt durch das Haus.
»Wo bleibst du«, ruft Bernhard.
»Gleich«, sage ich, »du bist doch kein Taxi, oder?«
Mein Kleid hängt über dem Sessel im Schlafzimmer. Hut, Handschuhe, Mantel darübergeworfen. Hautfarbene Unterwäsche. Das Höschen klebt sich an die noch feuchte Haut, ich muss die Spitze wieder ent winden und über meinem Hintern glattstreichen. Durchsichtige Strumpfhosen, die meine Beine auch im Winter bloß erscheinen lassen. Bequeme Schuhe. Aber elegant. Als ich das Kleid vorsichtig über meine geföhnten Haare ziehe, zittern meine Hände. Ich sehe sie zittern und spüre nichts.
Bernhard steht draußen vor dem Gartenzaun, den Koffer neben sich, die Autoschlüssel kreisen unaufhörlich um seine Finger und klimpern. Als er mich sieht, lächelt er wieder.
»Der Rasen gehört gedüngt«, sage ich, als ich ihm zum Wagen folge. Die Fahrt wird wohl eine halbe Stunde dauern.
Bernhard trägt meinen Mantel hinter mir her, feierlich wie eine Schleppe, meine Tasche aus weichem greigefarbenem Leder drücke ich ihm vor Angst achtlos in die Hand, seine zittert, meine nicht. Sehe ihn an, kurz, lächle und drücke die Klinke auf, Bernhard, der Gang, die Plastiksitze, Wartende in der Kardiologie bleiben hinter mir zurück, die grüne Tür schwingt auf und ich dreh mich weg von Bernhard und gehe hindurch. Der Raum ist sehr eng, der Sessel, in dem die Patienten sich ihrem Schicksal stellen, stößt sofort an meine Knie, ich denke an die teure Strumpfhose. Lege die Hand auf die glatte Rückenlehne und blicke auf.
Er sitzt an seinem Tisch, er sieht nicht auf, obwohl ich bereits mitten im Raum stehe, er blättert in einem weißen Berg aus Papieren und blättert weiter und lässt sich von meiner Anwesenheit nicht stören, als wäre ich ein Eindringling und hätte keinen Termin, und ich stehe da wie bestellt und nicht abgeholt und beginne mich langsam zu ärgern.
Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt.
Ich sehe von oben auf seinen Scheitel, volles Haar, kleine schmale Brille. Ich räuspere mich, ein wenig arrogant, als wäre mir das bisschen Luft aus leichter Abneigung im Hals stecken geblieben, und er räuspert sich auch, als ob er sich über mich lustig machen wollte, mir meine Überheblichkeit aufzeigen, als ob die Situation nicht schon lächerlich genug wäre. Ich greife nach dem Taschengurt, um die Tasche mit Nachdruck auf die Sitzfläche zu wuchten, und will nicht als Erste grüßen, aber dann fällt mir ein, dass sie bei Bernhard draußen ist, und ich sage:
»Grüß Gott.«
Er lässt seine Papierberge in Ruhe, legt langsam das oberste Blatt hin und sieht mich an. Seine Augen haben eine intensive Farbe, aber ich kann sie nicht einordnen, grau oder blau oder grün.
Er ist schön. Das denke ich im ersten Augenblick, beim nochmaligen Hinsehen vergeht das Gefühl sofort wieder. Sein Gesicht wirkt müde. Diese Müdigkeit löscht die Attraktivität aus. Ich bin eigenartig erleichtert.
»Setzen Sie sich«, sagt er und lächelt sehr professionell.
Deutet mit seiner Hand auf den Plastiksessel.
Das ist alles unwichtig jetzt. Absolut unwichtig. Ich raffe meinen Mantel an mich und gehe zum Ausgang. Ich sehe Bernhard draußen hinter den riesigen Glastüren auf und ab gehen und rauchen. Wir werden schweigend Kaffee trinken und zwei Stunden vertreiben. Er wird mich umarmen und ich werde meinen Kopf auf seine Schulter legen und so tun, als ob heute ein ganz normaler Tag wäre. Ich spüre die Türen hinter mir zugleiten und habe das Gefühl, die Pfote aus der Falle gezogen zu haben. Rechtzeitig.
Ich weiß jetzt, wie seine Augen sind. Grün.
Bernhard ist weg. Alles ist weg. Morgen wird alles anders sein.
»Alles wird gut«, sagt Bernhard mit standhafter Überzeugung aus dem Hörer des Telefons neben meinem Bett. Ich bin schon sehr müde, aber ich kann immer noch nicht einschlafen.
»Du wirst sehen. Denk nur: nie wieder Herzbeschwerden!«
»Ja.«
»Na eben! Dann können wir wieder in die Berge wandern gehen.«
»Ich hasse Bergtouren.«
»Bergluft ist gesund. Du wirst dich daran gewöhnen.«
»Ich will mich nicht daran gewöhnen, weil ich sie nicht mag.«
»Das sagst du nur, weil du noch nicht gesund bist.« Ich hänge auf und wälze mich im engen Bett hin und her.
Ich habe das Gefühl, dass mein Leben von mir abgeschnitten wurde wie eine alte, gewaltsam abgezogene Haut, die nur noch an kleinen störenden Fleischfetzen hing, die unnötigen Schmerz verursacht haben.
Und keine Wendy weit und breit, die sie mir wieder angenäht hätte.
Nie sind die Wendys da, wenn man sie braucht. Ich stoße meinen Teebecher um, kalte Flüssigkeit rinnt mir über die Füße, ich stehe auf. Tigere in meinem kleinen Zweibettzimmer umher, das nur ein besetztes Bett hat: meines. Draußen leuchtet die Kleinstadt herein, ich habe die Vorhänge dicht zugezogen, die Nacht soll mich verlieren im harten Licht der Neonröhren. Ich schlage mein Tagebuch auf, stopfe meine alte blutige Haut hinein, in einen einzigen Satz.
»Ich habe Angst.«
Schlage den Deckel zu, werfe das Tagebuch ins Metallnachtkästchen, neben die Bonbonniere von meinen Eltern, neben die Glückwunschkarte von Bernhard. Ich war früher einmal der Meinung, dass ich anderes machen könnte als das, was ich tue: etwas Kreatives,
Spannendes. Etwas, wofür Menschen mich bewundern würden, nicht nur Bernhard. Meine Deutschlehrerin hat mich ermutigt, mich im Schreiben zu üben, sie meinte, ich hätte eine originelle Wortwahl, ein Händchen für Geschichten.
Es wartet um die Ecke
es wartet, um mich anzufallen in meinem Hals zu stocken meine Brust zu füllen
an meines Herzens statt
das, an die Rippen gedrückt empört auf seine Rechte pocht es hat kein
ich habe Recht.
© Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien
... weniger
Autoren-Porträt von Julya Rabinowich
Julya Rabinowich, geboren 1970 in St. Petersburg, lebt seit 1977 in Wien, wo sie auch studierte. Autorin (zahlreiche Theaterstücke), Malerin und Simultandolmetscherin. Im Standard erscheint wöchentlich ihre Kolumne Geschüttelt, nicht gerührt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julya Rabinowich
- 2011, 160 Seiten, Maße: 12,3 x 19,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Deuticke
- ISBN-10: 3552061584
- ISBN-13: 9783552061583
Rezension zu „Herznovelle “
"Eine glasklare Erzählung, die sich ihrem hochemotionalen Thema einer traurigen Hysterie mit strenger Pointiertheit nähert." Julia Kospach"Kleine, triste Geschichte, große Wirkung. Einfache Sätze, die viel sagen. Chirurgie mit Wörtern." Peter Pisa, Kurier, 12.02.11
"Ein wunderbares literarisches Kabinettstück, das eine unerhörte Begebenheit - dass ein Mann im physischen Sinne das Herz einer Frau berührt - zu einer unbeschwerten Hommage an die Novellenkunst Arthur Schnitzlers macht." Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 26.02.11"Auch wenn am Ende nur ein kleines Glück und eine kleine Liebe erreicht werden, bleibt die Hoffnung, nein die Erkenntnis, dass ein verrücktes Herz allemal besser ist als ein kaltes." Stefan Gmünder, Der Standard, 12./13.02.11
"Wie schon in ihrem Romandebut "Spaltkopf" nähert sich die gebürtige Leningraderin den großen Gefühlen mit kleinem Gepäck, ohne Pathoslast, mit Witz und bösem Scharfblick." Daniela Strigl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.06.2011
"Eine kurzweilig zu lesende, von Traum- und Lyrikfetzen durchsetzte und vor originellen Bildern nur so strotzende kleine Erzählung." Florian Hunger, Jüdische Zeitung, Juli 2011
"Die bedingungslose Konsequenz, mit der hier eine Liebe Raum sucht, ist bestürzend. Und faszinierend ist, mit welch sinnlicher Wucht Julya Rabinowich diese Geschichte erzählt: Ein sehr schönes Buch!" Armin Kratzert, BR-LeseZeichen, 14.11.2011
Kommentar zu "Herznovelle"
0 Gebrauchte Artikel zu „Herznovelle“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Herznovelle".
Kommentar verfassen