Heute und in Ewigkeit
Roman
Lulu ist zehn, als ihre Mutter vor ihren Augen von ihrem Vater erstochen wird. Jetzt hat sie niemanden mehr außer ihre Schwester Merry. In unerschütterlicher Geschwisterliebe gehen die beiden ihren Weg. Doch dann wird ihr Verhältnis auf eine harte Probe gestellt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Heute und in Ewigkeit “
Lulu ist zehn, als ihre Mutter vor ihren Augen von ihrem Vater erstochen wird. Jetzt hat sie niemanden mehr außer ihre Schwester Merry. In unerschütterlicher Geschwisterliebe gehen die beiden ihren Weg. Doch dann wird ihr Verhältnis auf eine harte Probe gestellt.
Klappentext zu „Heute und in Ewigkeit “
Zwei Schwestern - eine dramatische Kindheit - ein Ja zum LebenLulu ist zehn, als ihr Vater vor ihren Augen die Mutter ersticht. Jetzt gibt es nur noch sie und ihre Schwester Merry - und niemanden, der sie tröstet. Scheinbar unzertrennlich meistern die beiden in den Folgejahren alle Schwierigkeiten. Doch ihre Geschwisterliebe wird auf eine harte Probe gestellt. Denn während die eine ihren Vater verleugnet, sucht die andere nach Wegen der Versöhnung ...
Lese-Probe zu „Heute und in Ewigkeit “
Heute und in Ewigkeit von Randy S. MeyersTEIL EINS
1
Lulu: Juli 1971
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Ich war nicht überrascht, als Mama mich bat, ihr das Leben zu retten. Noch bevor ich in den Kindergarten kam, wusste ich, dass sie nicht zu den Müttern gehörte, die Makkaroni-Ketten um den Hals tragen. Im Grunde betrachtete Mama mich als eine Art Mini-Dienstmädchen:
Bring mir eine Pepsi, Lulu.
Lauf vor zum Laden und kauf mir eine Schachtel Winston. Und dann, eines Tages, erhöhte sie den Einsatz:
Lass Daddy nicht in die Wohnung.
In dem Juli, als meine Familie auseinanderfiel, war meine Schwester fünf Jahre alt, schon fast sechs, und ich bald zehn, womit ich in den Augen meiner Mutter ungefähr fünfzig Jahre alt sein musste. Daddy war nie eine große Hilfe, auch vorher nicht, ehe er uns verlassen hatte. Er hatte seine eigenen Probleme. Mein Vater wollte ständig das, was er nicht haben konnte, und nach meiner Mutter verzehrte er sich am meisten. Er war im Schatten von Coney Island aufgewachsen, Brooklyns Fantasiewelt - vielleicht erklärte das seine Schwäche für Mamas Pin-up-Girl-Fassade, aber es war mir immer ein Rätsel, wie er den ganzen Rest übersehen konnte. Ihre Hülle aus Zuckerguss muss ihn daran gehindert haben zu bemerken, wie sehr sie jeden Augenblick verabscheute, der sich nicht ausschließlich um sie drehte.
Mamas und Daddys Streitereien waren der Herzschlag unserer Wohnung. Dennoch war mein Vater bis zu dem Tag, da meine Mutter ihn rauswarf, ein hervorragendes Beispiel für Hoffnung wider besseres Wissen. Er kam jeden Abend von der Arbeit nach Hause und freute sich auf ein Abendessen, einen Begrüßungskuss und ein kaltes Bier. Mama betrachtete seine Rückkehr als Signal, sich über ihr ganzes Leben zu beklagen.
»Was glaubst du eigentlich, wie viele Stunden ich jeden Tag mit denen allein aushalte, Joey?«, hatte Mama ihn gefragt, nur ein paar Tage, bevor er ausgezogen war. Sie hatte dabei auf meine Schwester Merry und mich gezeigt, während wir auf dem winzigen Resopaltisch in der Ecke unserer viel zu kleinen Küche das Leiterspiel spielten. Wir waren die bravsten kleinen Mädchen in ganz Brooklyn, denn wir wussten, wenn wir Mama nicht gehorchten, bekamen wir einen scharfen Klaps und mussten stundenlang unsere Zehen anstarren.
»Allein?« Bierdunst dampfte von Daddys Lippen. »Herrgott noch mal, du quatschst doch den halben Tag lang mit Teenie, und den Rest der Zeit lackierst du dir die Fingernägel. Du weißt schon, dass wir einen Herd haben, oder? Den man auch anschalten kann und alles?«
Mamas Freundin Teenie wohnte unten im Erdgeschoss, mit fünf Söhnen und einem bösen Ehemann, dessen riesiger Kopf an einen Amboss erinnerte. In Teenies Wohnung roch es immer nach Bleiche und frisch gebügelter Baumwolle. Bügeln war Teenies Valiumersatz. Nach den Wutausbrüchen ihres Mannes war sie immer so außer sich, dass sie Mama auch noch um unsere zerknitterte Wäsche bat. Wir hatten es also Teenies Mann zu verdanken, dass wir auf gestärkten Bettlaken und himmlisch glatten Kissenhüllen schliefen.
Ich träumte davon, aus meiner sogenannten Familie befreit zu werden, und war überzeugt, in Wahrheit die geheime Tochter unseres gut aussehenden Bürgermeisters John V. Lindsay und seiner reizenden, kultivierten Ehefrau zu sein. Er wirkte so klug, und sie war bestimmt die Art Mutter, die mir Bücher statt nachgeahmten Barbies, noch dazu zweite Wahl, aus der schrottigen Spielzeugabteilung von Woolworth kaufen würde. Die Familie Lindsay hatte mich in diese hässliche Wohnung mit der abblätternden Farbe und den drittklassigen Eltern gesteckt, weil ich meinen wahren Wert beweisen sollte, und ich würde sie nicht enttäuschen. Selbst, wenn Mama mir direkt ins Gesicht schrie, behielt ich einen maßvollen Tonfall bei, den Mrs. Lindsay sicher gutgeheißen hätte.
An jenem Nachmittag befahl Mama uns, einen Mittagsschlaf zu machen. In dem winzigen Sarg von einem Schlafzimmer, den ich mir mit Merry teilte, war es unerträglich heiß. Linderung fanden wir nur, wenn Mama uns die klebrig verschwitzten Arme und die Brust mit einem Handtuch abrieb, das sie in Alkohol und kaltes Wasser getaucht hatte.
Ich lag in der nachmittäglichen Hitze, fieberte ungeduldig meinem Geburtstag am nächsten Tag entgegen und betete, Mama möge mir den Chemiekasten gekauft haben, den ich den ganzen Monat lang immer wieder erwähnt hatte. Letztes Jahr hatte ich mir ein paar Bände der Encyclopedia Britannica gewünscht und eine Puppe bekommen, die weinen und in die Windeln machen konnte. Ich hatte nie eine Puppe gewollt, und selbst wenn, wer wollte schon eine Puppe, die einen anpieselte?
Ich machte mir wirklich Hoffnungen, weil Mamas Laune sich in letzter Zeit sehr gebessert hatte. Seit sie Daddy rausgeworfen hatte, schrie Mama uns nur noch selten an. Sie merkte kaum, dass es uns gab. Wenn ich sie daran erinnerte, dass es Zeit zum Abendessen war, blickte sie von ihrer Illustrierten auf und sagte: »Nehmt euch was aus meinem Geldbeutel und geht zu Harry's.«
Dann spazierten wir drei Querstraßen weiter zu Harry's Coffee Shop und bestellten Thunfischsandwichs und Malzmilch, Vanille für Merry und Schoko für mich. Normalerweise war ich zuerst fertig, dann schlang ich die Füße um die kalte Chromstange unter dem hohen Barhocker aus Leder und kreiselte ungeduldig herum, während ich auf Merry wartete. Meine Schwester nippte immer nur an ihrer Malzmilch und knabberte winzig kleine Bissen von ihrem Sandwich ab. Ich schrie sie an, sie solle sich beeilen, und ahmte dabei Oma Zelda nach, Daddys Mutter. »Nun mach schon, Prinzessin Etepetete. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, die Königin von England?«
Vielleicht glaubte sie das. Vielleicht war Merrys geheime Mutter ja Königin Elizabeth.
Nachdem Daddy ausgezogen war, führte Mama einige unverständliche neue Regeln ein. Macht eurem Vater nicht die Tür auf. Wenn ihr ihn bei Oma Zelda besucht, sagt kein Wort über mich. Diese alte Krähe will euch nur aushorchen. Und erzählt ja niemandem von meinen Freunden.
Diese männlichen Freunde kamen Mama ständig besuchen. Ich wusste nicht so recht, wie ich verhindern sollte, doch etwas über sie zu sagen. Um gar nichts von Mama zu erzählen, hätte ich sehr unhöflich und ungehorsam sein müssen, denn wenige Sekunden, nachdem mein Vater uns zur Begrüßung geküsst hatte, ging es mit den Fragen los:
Wie geht es eurer Mutter?
Wer besucht euch denn so zu Hause?
Trägt sie neue Kleider? Hat sie neue Schallplatten? Eine neue Haarfarbe?
Sogar ein Kind konnte erkennen, dass Daddy sich nach Mama-Neuigkeiten sehnte.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Daddys Abwesenheit sich wie eine Erleichterung anfühlte. Ehe er gegangen war, hatte er Mamas volle Aufmerksamkeit gefordert, später geradezu darum gebettelt, oder er hatte sie mit einem dummen, verträumten Gesichtsausdruck angestarrt.
Manchmal fragte ich mich, warum meine Mutter Daddy überhaupt geheiratet hatte. Da ich damals noch zu jung war, um die Zeit zwischen ihrer Hochzeit und meiner Geburt richtig deuten zu können, war ich nie auf die Idee gekommen, dass ich der Grund dafür sein könnte, und Mama legte keinen großen Wert auf freundschaftliche Mutter-Tochter-Gespräche. Mama gefiel gar nichts, was nach Introspektion roch. Deshalb verstand sie sich vermutlich so gut mit Teenie. Teenie verschwendete auch keinen Gedanken an die tiefere Bedeutung des Lebens. Sie konnte Stunden damit zubringen, Mamas lackierte Fingernägel zu begutachten, und blickte dann gerade lange genug von ihrer Bügelwäsche auf, um den Farbton auszusuchen, der Mamas heller Haut am meisten schmeichelte, während meine Mutter einen Nagel nach dem anderen lackierte.
Ich blätterte die nächste Seite von Die Maske mit dem Katzenkopf um, und der Schweiß tropfte mir von den Armen. Da ich nur sechs Bücher auf einmal aus der Bibliothek ausleihen konnte, musste ich sie mir gut einteilen, sonst blieben mir für den Sonntag nur die fünf Readers Digest-Bände auf unserem rot lackierten Bücherbord im Wohnzimmer, und die hatte ich alle schon gelesen. Grünliche Bronzestatuen von wild aussehenden chinesischen Drachen mit langen, spitzenbewehrten Schwänzen als Buchstützen hielten die dicken Schmöker zusammen. Ein Symbol für Glück, behauptete Mama.
Schwarze Onyxkästchen in allen möglichen Formen und Größen mit Intarsien aus Perlmutt schmückten die Regale im Wohnzimmer. Sie fühlten sich glatt und kühl an. Mamas Vater hatte sie vom Krieg in Japan mit nach Hause gebracht. Mamas Mutter, die wir Mimi Rubee nannten, schenkte Mama die Kästchen, nachdem unser Großvater gestorben war, weil sie ständig darum bettelte und Mimi Rubee ganz verrückt machte.
Mama war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte.
Die Sonne kroch über die Mauern, die unseren düsteren Hinterhof umschlossen, und knallte in unser Schlafzimmer. Ich drehte mein Kissen um, knuffte es zu einem halbwegs bequemen Gebilde zusammen und suchte nach einem Zipfel kühler Baumwolle, auf die ich den Kopf legen konnte. Merry, die im Schneidersitz auf ihrem Bett saß, bewegte ihre Anziehpuppen in verschiedene Positionen. Sie lehnte sie an die Wand, knickte die Falzstreifen erst an einem Papierkostüm, dann am nächsten um und bewegte die Lippen zu den lautlosen Theaterstücken, die ihre Figuren ganz allein für sie spielten.
Merry sollte eigentlich ein Nickerchen machen, und ich sollte eigentlich dafür sorgen, dass sie das auch tat. Meine Schwester sah ganz stolz und glücklich aus in ihrem apfelgrünen Badeanzug, den man oben mit kleinen gelben Schnüren zubinden konnte. Ich hasste das Ding, weil ich ihr helfen und es ganz herunterziehen und hinterher wieder zubinden musste, jedes Mal, wenn sie auf die Toilette ging. Merry liebte den Badeanzug, weil er von Daddy war. In Wahrheit hatte ihn Oma Zelda ausgesucht, nicht Daddy, aber ich verriet nichts. Ich wollte Merry den Spaß nicht verderben.
Meine Schwester war ungewöhnlich niedlich, und ich war ungewöhnlich unscheinbar. Jeden Tag hielten uns Leute auf der Straße an und beugten sich herab, um sich über Merrys schwarze Locken oder ihre braunen Schokotaler-Augen zu ergehen oder um ihre rosige Wange zu streicheln, als sei ihre Haut ein Stoff, den zu befühlen sie einfach nicht widerstehen konnten. Ich kam mir immer vor, als schleppte ich die Prinzessin von Brooklyn mit mir herum.
Daddy war total vernarrt in Merry. Tante Cilla hatte das einmal gesagt, während wir zugesehen hatten, wie Daddy Merry ein m&m nach dem anderen einzeln in den Mund gesteckt hatte. »Macht dich das nicht eifersüchtig?«, hatte sie meine Mutter gefragt. Tante Cilla, Mamas Schwester, sah aus wie eine aufgeblasene Kugelfisch-Ausgabe meiner Mutter.
»Oh, aber sicher doch. Die Fünfjährigen liegen ihm zu Füßen«, hatte Mama Tante Cilla geantwortet, aber eigentlich war der Satz für Daddys Ohren bestimmt gewesen.
Merry machte Daddy glücklich. Ich schaffte das nie. Wenn er zum Beispiel einen Witz machte, überlegte ich mit zusammengekniffenen Augen, ob das Rätsel oder das Wortspiel lustig genug war, um darüber zu lachen. Dann wurde er böse und sagte: »Himmel, Lulu, musst du denn alles analysieren, was man zu dir sagt?«
Ich rutschte wieder auf dem Bett herum und lehnte mich ans Fensterbrett, die Ellbogen halb hinausgestreckt, um ein bisschen Luft zu bekommen. Die Musik aus Mrs. Schwartz' Stereoanlage hallte laut über den Hof. Vermutlich hatte jemand gerufen, sie solle sie ausmachen, woraufhin Mrs. Schwartz sie normalerweise erst recht aufdrehte. »Raindrops Keep Falling on My Head« war so laut, dass ich das erste leise Klopfen an der Wohnungstür gar nicht hörte.
»Da klopft jemand«, verkündete Merry und hüpfte vom Bett.
»Halt.« Ich schwang die Beine über die Bettkante. »Bist du verrückt? Mama würde uns umbringen. Lass mich gehen. Du sollst doch eigentlich schlafen.«
Merry hüpfte wieder auf ihr Bett und landete mit den Füßen unter dem Po. Sie war recht mager und klein für ihr Alter. In ihrem grünen Badeanzug sah sie aus wie ein springender Grashüpfer.
Ich schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Mama nutzte unsere Mittagsruhe dazu, selbst ein Nickerchen zu machen - ihren Schönheitsschlaf nannte sie das -, und sie hasste es, zu früh geweckt zu werden. Ich hielt mir den Zeigefinger vor die Lippen, um Merry zu signalisieren, dass sie still sein solle. Sie riss die Augen auf, und ihre Schokotaler fragten: Glaubst du vielleicht, ich wäre dumm?
Unser Zimmer und die Wohnungstür lagen direkt nebeneinander. Ich öffnete zentimeterweise unsere Zimmertür und versuchte, ganz leise zu sein. Das Klopfen wurde lauter.
»Wer ist da?«, raunte ich, wobei ich den Mund fast an den Rand der Tür presste.
»Mach auf, Lulu.«
Ich hörte meinen Vater atmen.
»Komm schon, Lulu. Mach die Tür auf.«
»Ich soll dich aber nicht reinlassen«, flüsterte ich und betete, dass Mama mich nicht hörte.
»Keine Angst, Schokokrispie. Mama wird nicht böse. Versprochen.«
Ich hatte auf einmal Tränen in den Augen, als ich meinen Kosenamen hörte. Früher war ich Schokokrispie gewesen, und Merry Honeypop. Mama nannte er Honigsmack, weil das die allersüßeste Sorte ist, sagte er immer. Dann schmatzte er mit den Lippen, und meine Mutter warf nach ihm, was sie gerade in der Hand hielt.
Aber sie hatte dabei immer gelächelt.
»Ich weiß, dass du Angst vor Mama hast, aber du musst mich reinlassen. Ich bin dein Vater.« Daddy senkte die Stimme und sagte verschwörerisch: »Mein Name steht auf dem Mietvertrag.«
Ich wusste nicht genau, was ein Mietvertrag war, doch vielleicht hatte er recht. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit, ließ aber die angelaufene Kette vor und erspähte ein Scheibchen von meinem Vater.
Er beugte sich ganz dicht zu mir herunter und lächelte. Seine Zähne sahen schmutzig aus, als hätte er Kekse oder so etwas gegessen, ohne sie sich hinterher zu putzen. Er roch nach Zigaretten, Bier und noch etwas anderem. Etwas, das mir Angst machte. Etwas, das ich noch nie zuvor gerochen hatte.
Er legte eine Hand an die Tür und drückte. Die Kette spannte sich. »Entriegle die Kette, Lulu.«
Ich wich zurück und überlegte, ob ich Mama holen sollte. Da spürte ich Merry hinter mir. Ich wusste nicht, ob Daddy sie auch sah. Aber ich glaubte es nicht. Sonst hätte er sicher Hallo gesagt.
»Ich hole Mama«, sagte ich.
»Du brauchst deine Mama nicht zu holen. Mach einfach die verdammte Tür auf. Ich habe etwas für sie.«
»Ich hole sie an die Tür.«
»Stell dich nicht so stur. Lass mich sofort rein!«
Er rüttelte am Türknauf, und mein Herz bebte.
»Geh wieder ins Bett«, flüsterte ich Merry zu. Als sie verschwunden war, streckte ich mich nach dem Riegel. Daddy ließ die Tür los, damit die Kette sich lockerte.
»Danke, Lulu.« Er berührte die Meduse, die an den Türpfosten genagelt war, und küsste dann seine Finger. Das nannte er Jüdisches Glück, die einzige Sorte, die wir Juden kriegen, sagte er immer. Dann tätschelte er mir das Kinn. Ich wich vor seinem bitteren Tabakgestank zurück und hätte mir am liebsten das Gesicht gewaschen.
»Du bist mein feines Mädchen.« Daddy ging den kurzen Flur entlang und bog bei der winzigen Nische, in die er mir einen Schreibtisch gequetscht hatte, nach links ab.
Ich lief zögerlich hinter ihm her, den halben Flur entlang, schlüpfte dann ins Bad und ließ die Tür gerade so weit offen, dass ich etwas hören, aber nichts sehen konnte.
»Herrgott, Joey, du hast mich fast zu Tode erschreckt!« Mutter klang nervös. Ich stellte mir vor, wie sie sich die dünne Decke, die sie im Sommer für ihr Nickerchen hernahm, bis ans Kinn hochzog.
»Hast du mich vermisst, Süße?«, fragte mein Vater.
»Louisa, komm sofort her«, rief Mama.
Ich rührte mich nicht. Sagte kein Wort.
»Wir müssen uns unterhalten.« Daddy nuschelte komisch.
»Raus hier. Du bist betrunken. Ich habe dir nichts zu sagen.«
Ich hörte, wie sie aufstand und mein Vater hinter ihr her stapfte. Die Kühlschranktür ging mit einem schmatzenden Geräusch auf. Zischend wurde eine Getränkedose geöffnet. Sie waren in der Küche.
»Du hattest aber reichlich zu sagen, als du meinem Boss meinen Gehaltsscheck abgeschwatzt hast, was, Miss America?«, schrie Daddy.» Hast du da auch so schön mit dem Hintern gewackelt?«
Ein dumpfer Knall drang aus meinem Zimmer. Merry huschte den Flur entlang, und ihre nackten Füße machten leise, klebrige Geräusche auf dem Linoleum. Ich wollte die Hand ausstrecken und sie zu mir ins Bad zerren.
Da hörte ich, wie sie vor dem Sofa stehen blieb, dann quietschten die Federn, als sie hinaufsprang. Ich stellte mir vor, wie sie sich zusammenkauerte und mit angezogenen Knien leicht zitterte. Vom Sofa aus konnte man gut in die Küche schauen.
»Irgendjemand muss diesen Kindern was zu essen geben. Was soll ich denn tun? Geld drucken?«, erwiderte Mama.
»Ich brauche das Geld, Celeste. Sofort.«
Meine Mutter nuschelte etwas, zu leise, als dass ich es hätte verstehen können. Ich öffnete die Badezimmertür ein Stückchen weiter.
»Ich meine es ernst. Gib es mir, Celeste. Gib es her.«
Daddys leise Stimme brummte wie ein Motor. Gib es mir. Gib es mir. Gib es mir.
»Verschwinde, oder ich rufe die Polizei.«
Etwas scharrte über den Boden.
»Raus!«
»Ich brauche es. Ich brauche das Geld, verdammt noch mal!« Ein dumpfer Knall.
Meine Schwester wimmerte. War sie in die Küche gegangen? Ich sollte sie wegholen.
»Psst, Honeypop. Ist schon gut.« Vaters Worte verschwammen. Ich sah ihn vor mir, wie er sich hinabbeugte, Merry auf den Kopf küsste, wie er es immer tat, sich eine ihrer Locken um den Zeigefinger wickelte und sie dann wieder hochspringen ließ.
»Geh in Mamas Zimmer, Merry«, befahl Mama.
»Ja, geh in Mamas Zimmer«, wiederholte mein Vater. Etwas schepperte, als wären eine Menge Sachen auf den Boden gefallen. »Bourbon, Celeste? Du kaufst ihnen Schnaps, von meinem Geld?«
Es hörte sich an, als weinte er. Ich drückte mich an die Wand und schob mich langsam auf sie zu.
»Geh zu deiner Mutter.« Mama klang jetzt eher wütend als ängstlich. »Werd erst mal nüchtern.«
»Glaubst du, ich gebe dir Geld, damit du deinen Liebhabern Schnaps kaufst?«
Daddys Stimme hatte sich wieder verändert. Er klang jetzt nicht mehr weinerlich. Auf einmal klang er groß. Wie ein Wolf. Ein Bär. Es krachte laut, immer wieder. Ich stellte mir vor, wie er mit den Schranktüren schlug und schlug und schlug. Metall kreischte, und es krachte erneut, als würde etwas aus den Angeln gerissen.
GIB IHM DAS GELD, MAMA!
»Lulu«, kreischte Mama. »Er hat ein Messer. Er will mich umbringen. Hol Teenie!«
Was, wenn Teenie nicht zu Hause war?
Nein, Teenie ging ja nie aus.
Was sollte ich sagen?
Ich blieb wie erstarrt im Flur stehen, eine Ewigkeit lang, so fühlte es sich jedenfalls an, während Mama und Daddy sich anbrüllten. Dann rannte ich die abgewetzten Stufen zu Teenies Wohnung hinunter. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, um den Fernseher zu übertönen. Ich machte einen solchen Lärm, dass ich fast damit rechnete, das ganze Haus würde zusammenbrechen. Schließlich öffnete ihr jüngster Sohn die Tür. Ich schoss nach drinnen und fand Teenie im Wohnzimmer, wo sie Deal or no Deal anschaute und die Boxershorts ihres Mannes bügelte.
»Mein Vater hat ein Messer«, sagte ich nur.
»Pass auf die Jungen auf«, rief Teenie ihrem ältesten Sohn zu und zog den Stecker vom Bügeleisen heraus, ohne es vorher abzuschalten.
Als wir aus der Wohnung rannten, rief Teenie: »Ihr bleibt hier, Kinder. Rührt euch ja nicht vom Fleck!«
Wir hetzten die Treppe hinauf. Ich überlegte, ob ich noch jemanden bitten sollte, mit Teenie und mir mitzukommen. Mr. Ford vielleicht. Er lebte allein. Er war ein Junggeselle. Alt. Aber er war ein Mann, auch wenn mein Vater ihn immer eine Schwuchtel nannte.
Nein, wir brauchten niemanden sonst. Mein Vater mochte Teenie. Er würde auf sie hören. Sie würde ihn dazu bringen, dass er sich beruhigte.
Wir rannten in die Wohnung. Ich war direkt hinter Teenie, als sie vom Wohnzimmer in die Küche schlitterte. Die Küchenschränke standen weit offen, weil mein Vater sie aufgerissen und so fest zugeknallt hatte, dass sie wieder aufgesprungen waren, und man konnte unser türkisfarbenes und weißes Geschirr darin sehen. Eine zerbrochene Schranktür schwang in der kräftigen, feuchten Brise, die die Vorhänge blähte, hin und her.
Mama lag auf dem Boden. Blut tropfte auf das grün und braun gemusterte Linoleum. Teenie fiel auf die Knie, knüllte den Rand ihrer breiten Baumwollschürze zusammen und hielt den Stoff auf die Stelle an Mamas Brust, wo das Blut am schnellsten herausgepumpt wurde.
Teenie blickte zu mir auf. »Schnell, wähl die Notrufnummer.« Ihre Stimme brach. »Die sollen einen Krankenwagen schicken. Die Polizei.«
Ich starrte auf Mama hinab. Bitte stirb nicht.
»Mach schon, Lulu!«
Ich rannte in Mutters Zimmer. Das Telefon stand neben dem Bett. Rosa. Ein Prinzessinnen-Telefon. Merry lag auf Mutters grau-rosa gemusterter Tagesdecke. Mama würde entsetzlich wütend werden, wenn sie sah, dass das Blut überall hingelaufen war. Der niedliche grüne Badeanzug, der Merry zu einem kleinen Grashüpfer gemacht hatte, war in der Mitte aufgeschlitzt, aber die perfekte Schleife, die ich in die gelben Bänder gemacht hatte, war noch ganz ordentlich.
Mein Vater lag neben Merry. Blut lief aus seinen Handgelenken.
»Hast du schon angerufen?«, schrie Teenie aus der Küche.
Ich nahm das Telefon vom Nachttisch und achtete darauf, nicht damit an Mamas Bett zu stoßen, weil ich wusste, dass ihr das nicht gefallen würde.
Copyright © 2010 sowie dieser Ausgabe 2012 by Diana Verlag, München
Ich war nicht überrascht, als Mama mich bat, ihr das Leben zu retten. Noch bevor ich in den Kindergarten kam, wusste ich, dass sie nicht zu den Müttern gehörte, die Makkaroni-Ketten um den Hals tragen. Im Grunde betrachtete Mama mich als eine Art Mini-Dienstmädchen:
Bring mir eine Pepsi, Lulu.
Lauf vor zum Laden und kauf mir eine Schachtel Winston. Und dann, eines Tages, erhöhte sie den Einsatz:
Lass Daddy nicht in die Wohnung.
In dem Juli, als meine Familie auseinanderfiel, war meine Schwester fünf Jahre alt, schon fast sechs, und ich bald zehn, womit ich in den Augen meiner Mutter ungefähr fünfzig Jahre alt sein musste. Daddy war nie eine große Hilfe, auch vorher nicht, ehe er uns verlassen hatte. Er hatte seine eigenen Probleme. Mein Vater wollte ständig das, was er nicht haben konnte, und nach meiner Mutter verzehrte er sich am meisten. Er war im Schatten von Coney Island aufgewachsen, Brooklyns Fantasiewelt - vielleicht erklärte das seine Schwäche für Mamas Pin-up-Girl-Fassade, aber es war mir immer ein Rätsel, wie er den ganzen Rest übersehen konnte. Ihre Hülle aus Zuckerguss muss ihn daran gehindert haben zu bemerken, wie sehr sie jeden Augenblick verabscheute, der sich nicht ausschließlich um sie drehte.
Mamas und Daddys Streitereien waren der Herzschlag unserer Wohnung. Dennoch war mein Vater bis zu dem Tag, da meine Mutter ihn rauswarf, ein hervorragendes Beispiel für Hoffnung wider besseres Wissen. Er kam jeden Abend von der Arbeit nach Hause und freute sich auf ein Abendessen, einen Begrüßungskuss und ein kaltes Bier. Mama betrachtete seine Rückkehr als Signal, sich über ihr ganzes Leben zu beklagen.
»Was glaubst du eigentlich, wie viele Stunden ich jeden Tag mit denen allein aushalte, Joey?«, hatte Mama ihn gefragt, nur ein paar Tage, bevor er ausgezogen war. Sie hatte dabei auf meine Schwester Merry und mich gezeigt, während wir auf dem winzigen Resopaltisch in der Ecke unserer viel zu kleinen Küche das Leiterspiel spielten. Wir waren die bravsten kleinen Mädchen in ganz Brooklyn, denn wir wussten, wenn wir Mama nicht gehorchten, bekamen wir einen scharfen Klaps und mussten stundenlang unsere Zehen anstarren.
»Allein?« Bierdunst dampfte von Daddys Lippen. »Herrgott noch mal, du quatschst doch den halben Tag lang mit Teenie, und den Rest der Zeit lackierst du dir die Fingernägel. Du weißt schon, dass wir einen Herd haben, oder? Den man auch anschalten kann und alles?«
Mamas Freundin Teenie wohnte unten im Erdgeschoss, mit fünf Söhnen und einem bösen Ehemann, dessen riesiger Kopf an einen Amboss erinnerte. In Teenies Wohnung roch es immer nach Bleiche und frisch gebügelter Baumwolle. Bügeln war Teenies Valiumersatz. Nach den Wutausbrüchen ihres Mannes war sie immer so außer sich, dass sie Mama auch noch um unsere zerknitterte Wäsche bat. Wir hatten es also Teenies Mann zu verdanken, dass wir auf gestärkten Bettlaken und himmlisch glatten Kissenhüllen schliefen.
Ich träumte davon, aus meiner sogenannten Familie befreit zu werden, und war überzeugt, in Wahrheit die geheime Tochter unseres gut aussehenden Bürgermeisters John V. Lindsay und seiner reizenden, kultivierten Ehefrau zu sein. Er wirkte so klug, und sie war bestimmt die Art Mutter, die mir Bücher statt nachgeahmten Barbies, noch dazu zweite Wahl, aus der schrottigen Spielzeugabteilung von Woolworth kaufen würde. Die Familie Lindsay hatte mich in diese hässliche Wohnung mit der abblätternden Farbe und den drittklassigen Eltern gesteckt, weil ich meinen wahren Wert beweisen sollte, und ich würde sie nicht enttäuschen. Selbst, wenn Mama mir direkt ins Gesicht schrie, behielt ich einen maßvollen Tonfall bei, den Mrs. Lindsay sicher gutgeheißen hätte.
An jenem Nachmittag befahl Mama uns, einen Mittagsschlaf zu machen. In dem winzigen Sarg von einem Schlafzimmer, den ich mir mit Merry teilte, war es unerträglich heiß. Linderung fanden wir nur, wenn Mama uns die klebrig verschwitzten Arme und die Brust mit einem Handtuch abrieb, das sie in Alkohol und kaltes Wasser getaucht hatte.
Ich lag in der nachmittäglichen Hitze, fieberte ungeduldig meinem Geburtstag am nächsten Tag entgegen und betete, Mama möge mir den Chemiekasten gekauft haben, den ich den ganzen Monat lang immer wieder erwähnt hatte. Letztes Jahr hatte ich mir ein paar Bände der Encyclopedia Britannica gewünscht und eine Puppe bekommen, die weinen und in die Windeln machen konnte. Ich hatte nie eine Puppe gewollt, und selbst wenn, wer wollte schon eine Puppe, die einen anpieselte?
Ich machte mir wirklich Hoffnungen, weil Mamas Laune sich in letzter Zeit sehr gebessert hatte. Seit sie Daddy rausgeworfen hatte, schrie Mama uns nur noch selten an. Sie merkte kaum, dass es uns gab. Wenn ich sie daran erinnerte, dass es Zeit zum Abendessen war, blickte sie von ihrer Illustrierten auf und sagte: »Nehmt euch was aus meinem Geldbeutel und geht zu Harry's.«
Dann spazierten wir drei Querstraßen weiter zu Harry's Coffee Shop und bestellten Thunfischsandwichs und Malzmilch, Vanille für Merry und Schoko für mich. Normalerweise war ich zuerst fertig, dann schlang ich die Füße um die kalte Chromstange unter dem hohen Barhocker aus Leder und kreiselte ungeduldig herum, während ich auf Merry wartete. Meine Schwester nippte immer nur an ihrer Malzmilch und knabberte winzig kleine Bissen von ihrem Sandwich ab. Ich schrie sie an, sie solle sich beeilen, und ahmte dabei Oma Zelda nach, Daddys Mutter. »Nun mach schon, Prinzessin Etepetete. Was glaubst du eigentlich, wer du bist, die Königin von England?«
Vielleicht glaubte sie das. Vielleicht war Merrys geheime Mutter ja Königin Elizabeth.
Nachdem Daddy ausgezogen war, führte Mama einige unverständliche neue Regeln ein. Macht eurem Vater nicht die Tür auf. Wenn ihr ihn bei Oma Zelda besucht, sagt kein Wort über mich. Diese alte Krähe will euch nur aushorchen. Und erzählt ja niemandem von meinen Freunden.
Diese männlichen Freunde kamen Mama ständig besuchen. Ich wusste nicht so recht, wie ich verhindern sollte, doch etwas über sie zu sagen. Um gar nichts von Mama zu erzählen, hätte ich sehr unhöflich und ungehorsam sein müssen, denn wenige Sekunden, nachdem mein Vater uns zur Begrüßung geküsst hatte, ging es mit den Fragen los:
Wie geht es eurer Mutter?
Wer besucht euch denn so zu Hause?
Trägt sie neue Kleider? Hat sie neue Schallplatten? Eine neue Haarfarbe?
Sogar ein Kind konnte erkennen, dass Daddy sich nach Mama-Neuigkeiten sehnte.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Daddys Abwesenheit sich wie eine Erleichterung anfühlte. Ehe er gegangen war, hatte er Mamas volle Aufmerksamkeit gefordert, später geradezu darum gebettelt, oder er hatte sie mit einem dummen, verträumten Gesichtsausdruck angestarrt.
Manchmal fragte ich mich, warum meine Mutter Daddy überhaupt geheiratet hatte. Da ich damals noch zu jung war, um die Zeit zwischen ihrer Hochzeit und meiner Geburt richtig deuten zu können, war ich nie auf die Idee gekommen, dass ich der Grund dafür sein könnte, und Mama legte keinen großen Wert auf freundschaftliche Mutter-Tochter-Gespräche. Mama gefiel gar nichts, was nach Introspektion roch. Deshalb verstand sie sich vermutlich so gut mit Teenie. Teenie verschwendete auch keinen Gedanken an die tiefere Bedeutung des Lebens. Sie konnte Stunden damit zubringen, Mamas lackierte Fingernägel zu begutachten, und blickte dann gerade lange genug von ihrer Bügelwäsche auf, um den Farbton auszusuchen, der Mamas heller Haut am meisten schmeichelte, während meine Mutter einen Nagel nach dem anderen lackierte.
Ich blätterte die nächste Seite von Die Maske mit dem Katzenkopf um, und der Schweiß tropfte mir von den Armen. Da ich nur sechs Bücher auf einmal aus der Bibliothek ausleihen konnte, musste ich sie mir gut einteilen, sonst blieben mir für den Sonntag nur die fünf Readers Digest-Bände auf unserem rot lackierten Bücherbord im Wohnzimmer, und die hatte ich alle schon gelesen. Grünliche Bronzestatuen von wild aussehenden chinesischen Drachen mit langen, spitzenbewehrten Schwänzen als Buchstützen hielten die dicken Schmöker zusammen. Ein Symbol für Glück, behauptete Mama.
Schwarze Onyxkästchen in allen möglichen Formen und Größen mit Intarsien aus Perlmutt schmückten die Regale im Wohnzimmer. Sie fühlten sich glatt und kühl an. Mamas Vater hatte sie vom Krieg in Japan mit nach Hause gebracht. Mamas Mutter, die wir Mimi Rubee nannten, schenkte Mama die Kästchen, nachdem unser Großvater gestorben war, weil sie ständig darum bettelte und Mimi Rubee ganz verrückt machte.
Mama war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte.
Die Sonne kroch über die Mauern, die unseren düsteren Hinterhof umschlossen, und knallte in unser Schlafzimmer. Ich drehte mein Kissen um, knuffte es zu einem halbwegs bequemen Gebilde zusammen und suchte nach einem Zipfel kühler Baumwolle, auf die ich den Kopf legen konnte. Merry, die im Schneidersitz auf ihrem Bett saß, bewegte ihre Anziehpuppen in verschiedene Positionen. Sie lehnte sie an die Wand, knickte die Falzstreifen erst an einem Papierkostüm, dann am nächsten um und bewegte die Lippen zu den lautlosen Theaterstücken, die ihre Figuren ganz allein für sie spielten.
Merry sollte eigentlich ein Nickerchen machen, und ich sollte eigentlich dafür sorgen, dass sie das auch tat. Meine Schwester sah ganz stolz und glücklich aus in ihrem apfelgrünen Badeanzug, den man oben mit kleinen gelben Schnüren zubinden konnte. Ich hasste das Ding, weil ich ihr helfen und es ganz herunterziehen und hinterher wieder zubinden musste, jedes Mal, wenn sie auf die Toilette ging. Merry liebte den Badeanzug, weil er von Daddy war. In Wahrheit hatte ihn Oma Zelda ausgesucht, nicht Daddy, aber ich verriet nichts. Ich wollte Merry den Spaß nicht verderben.
Meine Schwester war ungewöhnlich niedlich, und ich war ungewöhnlich unscheinbar. Jeden Tag hielten uns Leute auf der Straße an und beugten sich herab, um sich über Merrys schwarze Locken oder ihre braunen Schokotaler-Augen zu ergehen oder um ihre rosige Wange zu streicheln, als sei ihre Haut ein Stoff, den zu befühlen sie einfach nicht widerstehen konnten. Ich kam mir immer vor, als schleppte ich die Prinzessin von Brooklyn mit mir herum.
Daddy war total vernarrt in Merry. Tante Cilla hatte das einmal gesagt, während wir zugesehen hatten, wie Daddy Merry ein m&m nach dem anderen einzeln in den Mund gesteckt hatte. »Macht dich das nicht eifersüchtig?«, hatte sie meine Mutter gefragt. Tante Cilla, Mamas Schwester, sah aus wie eine aufgeblasene Kugelfisch-Ausgabe meiner Mutter.
»Oh, aber sicher doch. Die Fünfjährigen liegen ihm zu Füßen«, hatte Mama Tante Cilla geantwortet, aber eigentlich war der Satz für Daddys Ohren bestimmt gewesen.
Merry machte Daddy glücklich. Ich schaffte das nie. Wenn er zum Beispiel einen Witz machte, überlegte ich mit zusammengekniffenen Augen, ob das Rätsel oder das Wortspiel lustig genug war, um darüber zu lachen. Dann wurde er böse und sagte: »Himmel, Lulu, musst du denn alles analysieren, was man zu dir sagt?«
Ich rutschte wieder auf dem Bett herum und lehnte mich ans Fensterbrett, die Ellbogen halb hinausgestreckt, um ein bisschen Luft zu bekommen. Die Musik aus Mrs. Schwartz' Stereoanlage hallte laut über den Hof. Vermutlich hatte jemand gerufen, sie solle sie ausmachen, woraufhin Mrs. Schwartz sie normalerweise erst recht aufdrehte. »Raindrops Keep Falling on My Head« war so laut, dass ich das erste leise Klopfen an der Wohnungstür gar nicht hörte.
»Da klopft jemand«, verkündete Merry und hüpfte vom Bett.
»Halt.« Ich schwang die Beine über die Bettkante. »Bist du verrückt? Mama würde uns umbringen. Lass mich gehen. Du sollst doch eigentlich schlafen.«
Merry hüpfte wieder auf ihr Bett und landete mit den Füßen unter dem Po. Sie war recht mager und klein für ihr Alter. In ihrem grünen Badeanzug sah sie aus wie ein springender Grashüpfer.
Ich schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Mama nutzte unsere Mittagsruhe dazu, selbst ein Nickerchen zu machen - ihren Schönheitsschlaf nannte sie das -, und sie hasste es, zu früh geweckt zu werden. Ich hielt mir den Zeigefinger vor die Lippen, um Merry zu signalisieren, dass sie still sein solle. Sie riss die Augen auf, und ihre Schokotaler fragten: Glaubst du vielleicht, ich wäre dumm?
Unser Zimmer und die Wohnungstür lagen direkt nebeneinander. Ich öffnete zentimeterweise unsere Zimmertür und versuchte, ganz leise zu sein. Das Klopfen wurde lauter.
»Wer ist da?«, raunte ich, wobei ich den Mund fast an den Rand der Tür presste.
»Mach auf, Lulu.«
Ich hörte meinen Vater atmen.
»Komm schon, Lulu. Mach die Tür auf.«
»Ich soll dich aber nicht reinlassen«, flüsterte ich und betete, dass Mama mich nicht hörte.
»Keine Angst, Schokokrispie. Mama wird nicht böse. Versprochen.«
Ich hatte auf einmal Tränen in den Augen, als ich meinen Kosenamen hörte. Früher war ich Schokokrispie gewesen, und Merry Honeypop. Mama nannte er Honigsmack, weil das die allersüßeste Sorte ist, sagte er immer. Dann schmatzte er mit den Lippen, und meine Mutter warf nach ihm, was sie gerade in der Hand hielt.
Aber sie hatte dabei immer gelächelt.
»Ich weiß, dass du Angst vor Mama hast, aber du musst mich reinlassen. Ich bin dein Vater.« Daddy senkte die Stimme und sagte verschwörerisch: »Mein Name steht auf dem Mietvertrag.«
Ich wusste nicht genau, was ein Mietvertrag war, doch vielleicht hatte er recht. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit, ließ aber die angelaufene Kette vor und erspähte ein Scheibchen von meinem Vater.
Er beugte sich ganz dicht zu mir herunter und lächelte. Seine Zähne sahen schmutzig aus, als hätte er Kekse oder so etwas gegessen, ohne sie sich hinterher zu putzen. Er roch nach Zigaretten, Bier und noch etwas anderem. Etwas, das mir Angst machte. Etwas, das ich noch nie zuvor gerochen hatte.
Er legte eine Hand an die Tür und drückte. Die Kette spannte sich. »Entriegle die Kette, Lulu.«
Ich wich zurück und überlegte, ob ich Mama holen sollte. Da spürte ich Merry hinter mir. Ich wusste nicht, ob Daddy sie auch sah. Aber ich glaubte es nicht. Sonst hätte er sicher Hallo gesagt.
»Ich hole Mama«, sagte ich.
»Du brauchst deine Mama nicht zu holen. Mach einfach die verdammte Tür auf. Ich habe etwas für sie.«
»Ich hole sie an die Tür.«
»Stell dich nicht so stur. Lass mich sofort rein!«
Er rüttelte am Türknauf, und mein Herz bebte.
»Geh wieder ins Bett«, flüsterte ich Merry zu. Als sie verschwunden war, streckte ich mich nach dem Riegel. Daddy ließ die Tür los, damit die Kette sich lockerte.
»Danke, Lulu.« Er berührte die Meduse, die an den Türpfosten genagelt war, und küsste dann seine Finger. Das nannte er Jüdisches Glück, die einzige Sorte, die wir Juden kriegen, sagte er immer. Dann tätschelte er mir das Kinn. Ich wich vor seinem bitteren Tabakgestank zurück und hätte mir am liebsten das Gesicht gewaschen.
»Du bist mein feines Mädchen.« Daddy ging den kurzen Flur entlang und bog bei der winzigen Nische, in die er mir einen Schreibtisch gequetscht hatte, nach links ab.
Ich lief zögerlich hinter ihm her, den halben Flur entlang, schlüpfte dann ins Bad und ließ die Tür gerade so weit offen, dass ich etwas hören, aber nichts sehen konnte.
»Herrgott, Joey, du hast mich fast zu Tode erschreckt!« Mutter klang nervös. Ich stellte mir vor, wie sie sich die dünne Decke, die sie im Sommer für ihr Nickerchen hernahm, bis ans Kinn hochzog.
»Hast du mich vermisst, Süße?«, fragte mein Vater.
»Louisa, komm sofort her«, rief Mama.
Ich rührte mich nicht. Sagte kein Wort.
»Wir müssen uns unterhalten.« Daddy nuschelte komisch.
»Raus hier. Du bist betrunken. Ich habe dir nichts zu sagen.«
Ich hörte, wie sie aufstand und mein Vater hinter ihr her stapfte. Die Kühlschranktür ging mit einem schmatzenden Geräusch auf. Zischend wurde eine Getränkedose geöffnet. Sie waren in der Küche.
»Du hattest aber reichlich zu sagen, als du meinem Boss meinen Gehaltsscheck abgeschwatzt hast, was, Miss America?«, schrie Daddy.» Hast du da auch so schön mit dem Hintern gewackelt?«
Ein dumpfer Knall drang aus meinem Zimmer. Merry huschte den Flur entlang, und ihre nackten Füße machten leise, klebrige Geräusche auf dem Linoleum. Ich wollte die Hand ausstrecken und sie zu mir ins Bad zerren.
Da hörte ich, wie sie vor dem Sofa stehen blieb, dann quietschten die Federn, als sie hinaufsprang. Ich stellte mir vor, wie sie sich zusammenkauerte und mit angezogenen Knien leicht zitterte. Vom Sofa aus konnte man gut in die Küche schauen.
»Irgendjemand muss diesen Kindern was zu essen geben. Was soll ich denn tun? Geld drucken?«, erwiderte Mama.
»Ich brauche das Geld, Celeste. Sofort.«
Meine Mutter nuschelte etwas, zu leise, als dass ich es hätte verstehen können. Ich öffnete die Badezimmertür ein Stückchen weiter.
»Ich meine es ernst. Gib es mir, Celeste. Gib es her.«
Daddys leise Stimme brummte wie ein Motor. Gib es mir. Gib es mir. Gib es mir.
»Verschwinde, oder ich rufe die Polizei.«
Etwas scharrte über den Boden.
»Raus!«
»Ich brauche es. Ich brauche das Geld, verdammt noch mal!« Ein dumpfer Knall.
Meine Schwester wimmerte. War sie in die Küche gegangen? Ich sollte sie wegholen.
»Psst, Honeypop. Ist schon gut.« Vaters Worte verschwammen. Ich sah ihn vor mir, wie er sich hinabbeugte, Merry auf den Kopf küsste, wie er es immer tat, sich eine ihrer Locken um den Zeigefinger wickelte und sie dann wieder hochspringen ließ.
»Geh in Mamas Zimmer, Merry«, befahl Mama.
»Ja, geh in Mamas Zimmer«, wiederholte mein Vater. Etwas schepperte, als wären eine Menge Sachen auf den Boden gefallen. »Bourbon, Celeste? Du kaufst ihnen Schnaps, von meinem Geld?«
Es hörte sich an, als weinte er. Ich drückte mich an die Wand und schob mich langsam auf sie zu.
»Geh zu deiner Mutter.« Mama klang jetzt eher wütend als ängstlich. »Werd erst mal nüchtern.«
»Glaubst du, ich gebe dir Geld, damit du deinen Liebhabern Schnaps kaufst?«
Daddys Stimme hatte sich wieder verändert. Er klang jetzt nicht mehr weinerlich. Auf einmal klang er groß. Wie ein Wolf. Ein Bär. Es krachte laut, immer wieder. Ich stellte mir vor, wie er mit den Schranktüren schlug und schlug und schlug. Metall kreischte, und es krachte erneut, als würde etwas aus den Angeln gerissen.
GIB IHM DAS GELD, MAMA!
»Lulu«, kreischte Mama. »Er hat ein Messer. Er will mich umbringen. Hol Teenie!«
Was, wenn Teenie nicht zu Hause war?
Nein, Teenie ging ja nie aus.
Was sollte ich sagen?
Ich blieb wie erstarrt im Flur stehen, eine Ewigkeit lang, so fühlte es sich jedenfalls an, während Mama und Daddy sich anbrüllten. Dann rannte ich die abgewetzten Stufen zu Teenies Wohnung hinunter. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, um den Fernseher zu übertönen. Ich machte einen solchen Lärm, dass ich fast damit rechnete, das ganze Haus würde zusammenbrechen. Schließlich öffnete ihr jüngster Sohn die Tür. Ich schoss nach drinnen und fand Teenie im Wohnzimmer, wo sie Deal or no Deal anschaute und die Boxershorts ihres Mannes bügelte.
»Mein Vater hat ein Messer«, sagte ich nur.
»Pass auf die Jungen auf«, rief Teenie ihrem ältesten Sohn zu und zog den Stecker vom Bügeleisen heraus, ohne es vorher abzuschalten.
Als wir aus der Wohnung rannten, rief Teenie: »Ihr bleibt hier, Kinder. Rührt euch ja nicht vom Fleck!«
Wir hetzten die Treppe hinauf. Ich überlegte, ob ich noch jemanden bitten sollte, mit Teenie und mir mitzukommen. Mr. Ford vielleicht. Er lebte allein. Er war ein Junggeselle. Alt. Aber er war ein Mann, auch wenn mein Vater ihn immer eine Schwuchtel nannte.
Nein, wir brauchten niemanden sonst. Mein Vater mochte Teenie. Er würde auf sie hören. Sie würde ihn dazu bringen, dass er sich beruhigte.
Wir rannten in die Wohnung. Ich war direkt hinter Teenie, als sie vom Wohnzimmer in die Küche schlitterte. Die Küchenschränke standen weit offen, weil mein Vater sie aufgerissen und so fest zugeknallt hatte, dass sie wieder aufgesprungen waren, und man konnte unser türkisfarbenes und weißes Geschirr darin sehen. Eine zerbrochene Schranktür schwang in der kräftigen, feuchten Brise, die die Vorhänge blähte, hin und her.
Mama lag auf dem Boden. Blut tropfte auf das grün und braun gemusterte Linoleum. Teenie fiel auf die Knie, knüllte den Rand ihrer breiten Baumwollschürze zusammen und hielt den Stoff auf die Stelle an Mamas Brust, wo das Blut am schnellsten herausgepumpt wurde.
Teenie blickte zu mir auf. »Schnell, wähl die Notrufnummer.« Ihre Stimme brach. »Die sollen einen Krankenwagen schicken. Die Polizei.«
Ich starrte auf Mama hinab. Bitte stirb nicht.
»Mach schon, Lulu!«
Ich rannte in Mutters Zimmer. Das Telefon stand neben dem Bett. Rosa. Ein Prinzessinnen-Telefon. Merry lag auf Mutters grau-rosa gemusterter Tagesdecke. Mama würde entsetzlich wütend werden, wenn sie sah, dass das Blut überall hingelaufen war. Der niedliche grüne Badeanzug, der Merry zu einem kleinen Grashüpfer gemacht hatte, war in der Mitte aufgeschlitzt, aber die perfekte Schleife, die ich in die gelben Bänder gemacht hatte, war noch ganz ordentlich.
Mein Vater lag neben Merry. Blut lief aus seinen Handgelenken.
»Hast du schon angerufen?«, schrie Teenie aus der Küche.
Ich nahm das Telefon vom Nachttisch und achtete darauf, nicht damit an Mamas Bett zu stoßen, weil ich wusste, dass ihr das nicht gefallen würde.
Copyright © 2010 sowie dieser Ausgabe 2012 by Diana Verlag, München
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Autoren-Porträt von Randy S. Meyers
Meyers, Randy SusanRandy Susan Meyers lebt heute mit ihrem Mann in Boston, wo sie Creative Writing am Grub Street Writer's Center unterrichtet. Sie war Co-Autorin mehrerer Sachbücher und schrieb Kurzgeschichten, bevor sie mit "Heute und in Ewigkeit" ihren ersten Roman verfasste. Hintergrund für dieses Buch ist ihre jahrelange Arbeit mit Opfern häuslicher Gewalt und gefährdeten Jugendlichen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Randy S. Meyers
- 2012, 464 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Volk, Katharina
- Übersetzer: Katharina Volk
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453354796
- ISBN-13: 9783453354791
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