High Heels & Ringelsocken
Sophie hat neben ihrer Karriere eigentlich nur eines im Sinn: Ihre Schuhkollektion zu vergrößern. Kinder? Für sie kein Thema. Doch dann stehen plötzlich zwei vor der Tür: ihre Patenkinder Bella und Izzy, die Kinder ihrer Freundin...
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Produktinformationen zu „High Heels & Ringelsocken “
Sophie hat neben ihrer Karriere eigentlich nur eines im Sinn: Ihre Schuhkollektion zu vergrößern. Kinder? Für sie kein Thema. Doch dann stehen plötzlich zwei vor der Tür: ihre Patenkinder Bella und Izzy, die Kinder ihrer Freundin Carrie, die tödlich verunglückt ist. Und nun? Na, das kann ja nur völlig chaotisch werden.
"Witzig, warmherzig, wunderbar!"
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Lese-Probe zu „High Heels & Ringelsocken “
High Heels und Ringelsocken von Rowan Coleman1
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Sophie dachte über die Frage nach, die Jake Flynn ihr gerade eben gestellt hatte. Es war keine schwierige Frage, man musste keinen Abschluss in irgendetwas haben und auch nicht über besondere Fähigkeiten auf dem Gebiet der Semantik verfügen. Nein, es war viel kniffliger, denn Jake Flynn hatte sie gefragt, ob sie mit ihm zu Mittag essen wollte. Aber das war nicht die Frage, die sie beschäftigte, ihr ging es vielmehr um einen anderen Punkt : Welche Art von Essen sollte das sein ?
Während Jake am anderen Ende der Leitung auf ihre Antwort wartete, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und drehte sich so, dass sie aus dem Fenster ihres Büros hinunter auf den Platz sehen konnte. Eine Böe trieb ein buntes Stück Abfall kreuz und quer über die fast menschenleere Fläche. Eine der wesentlichen Schwierigkeiten in Sophies Leben (aber kein Problem - sie weigerte sich beharrlich, zuzugeben, dass sie ein Problem hatte, auch wenn ihr persönlicher Assistent Cal ihr immer wieder das Gegenteil versicherte) bestand darin, dass sie nicht wusste, wann sich ein Mann von ihr angezogen fühlte.
Andere Frauen und die meisten ihrer Freundinnen ... okay, alle ihre Freundinnen besaßen so etwas wie einen siebten Sinn, der sich mindestens einen Monat früher zu Wort meldete, als das bei Sophie der Fall war. Während ihre Freundinnen schon nach dreißig Sekunden Blickkontakt in einem Nachtklub wussten, ob sie mit einer kurzen Verlobungszeit und einer langen Ehe rechnen konnten, hatte Sophie einfach viel zu viel Angst davor, die Signale falsch zu deuten. Stattdessen wartete sie lieber auf nichts Geringeres als riesige Blumensträuße, die ihr von Boten ins Büro gebracht wurden, und auf eine Einladung zu einem Kurztrip nach Venedig, bevor sie die Möglichkeit in Erwägung zog, ein Mann könnte an ihr Interesse haben. Und da in den letzten zehn Jahren nur ein Mann so etwas gemacht hatte - nämlich ihr Ex-Freund Alex -, beschränkten sich ihre Erfahrungen auf ihn sowie auf eine Handvoll hoffnungsvoller Kandidaten, die ihre Freundinnen und Kolleginnen für sie angeschleppt hatten. Alle hatten sie bei der ersten Hürde kapituliert. Und diese Hürde war Sophie selbst. Ihre Verunsicherung angesichts Jake Flynns Einladung wurde noch durch die Tatsache gesteigert, dass er ein Kunde war, ihr neuester und wichtigster Kunde seit Wochen. Er war derjenige, auf dem ihre Hoffnungen ruhten, endlich den Vorsprung für die heiß begehrte Beförderung herauszuholen. Sie würde ihre Chefin Gillian mit einem lukrativen, langfristigen Vertrag beeindrucken, den sie mit Jakes Firma, der Madison Corporation, aushandeln wollte. Cal war nach dem ersten Treffen vor fast drei Monaten bereits davon überzeugt gewesen, dass Jake an ihr interessiert war.
»Ist er nicht«, hatte sie abgestritten. »Er ist nur freundlich. Er ist Amerikaner, und du weißt genau, dass Amerikaner immer sehr freundlich sind.« »Aber nicht so freundlich«, hatte Cal beharrt. »Außer, er will Sophies erste Reaktion darauf war ein energischer Blick gewesen, der ihn zum Verstummen brachte, danach hatte sie ihm klar gemacht, worauf es einzig und allein ankam : nämlich Jake Flynn davon zu überzeugen, dass McCarthy Hughes die beste Wahl war, um das erste Event seines Unternehmens in Großbritannien zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Und ihm zu beweisen, dass ihre Ideen, Pläne und Budgetvorstellungen der Konkurrenz gleich um ein paar Nasenlängen voraus waren. Und genau das war Sophie auch gelungen. »Ich habe noch nie einen Partyplaner erlebt, der seine Arbeit so ernsthaft angeht wie Sie«, hatte Jake gleich nach dem ersten Meeting zu ihr gesagt. »Sie haben das Zeug zum General bei der Armee !« Sophie hatte höflich gelacht und seine Hand geschüttelt (während sie sich fragte, ob diese Bemerkung wohl etwas damit zu tun hatte, dass sie am Abend zuvor die Haarwachsbehandlung für ihre Oberlippe vergessen hatte), dann war sie mit ihm bis zum Aufzug gegangen.
»Er hat mit dir geflirtet«, ließ Cal sie wissen, als sie vom Aufzug an ihren Schreibtisch zurückkehrte. »Cal«, warnte sie ihn. »Er hat nicht mit mir geflirtet, und selbst wenn, würde ich mich nicht mit ihm verabreden, weil er mein Kunde ist.« »Du bist Partyplanerin, keine Anwältin«, hielt Cal dagegen. »Ich glaube, es gibt keine Regeln, gegen die du damit verstoßen könntest.« »Ich verstoße damit gegen meine Regeln«, sagte sie. »Alles verstößt gegen deine Regeln«, hatte Cal zurückgegeben und danach das Thema auf sich beruhen lassen. Da Sophie ein so hoffnungsloser Fall war, wenn es darum ging, einem Mann anzumerken, ob er sich für sie interessierte oder nicht, vermied sie es normalerweise völlig, über solche Dinge nachzudenken. Aber jetzt konnte sie einfach nicht anders,
als darüber zu spekulieren, ob Cal recht hatte, was Jake betraf. Es war wie der Teil eines Kreuzworträtsels, bei dem sie einfach nicht auf die Lösung kam. Ihr wollte nicht aus dem Kopf gehen, dass Jake Flynn mit seinem kantigen Kinn und seinem adretten Erscheinungsbild ein gut aussehender Mann war. Und er war überaus höflich, und - das war ihr auch aufgefallen - er hatte immer sehr frischen Atem. Es wäre fatal, wenn sie gute Manieren und gute Mundhygiene als Zeichen dafür missdeutete, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Eine solche Fehleinschätzung würde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen. Aber Jake war wirklich tabu, was ihn umso faszinierender machte. Nicht weil Sophie eine von den Frauen war, die sämtliche Vorsicht über Bord warfen und sich gegen jede Vernunft auf eine Affäre einließen, sondern weil sie es bevorzugte, wenn die Männer, die ihr gefielen, für sie tabu waren. Das machte das Ganze viel einfacher, und vor allem sparte sie auf diese Weise eine Menge Zeit. Gut fünf Sekunden waren vergangen, seit Jake die Frage nach dem Mittagessen gestellt hatte, und sie war damit beschäftigt, in dieser kurzen Zeit alle verfügbaren Fakten abzurufen und zu analysieren.
Die Party war in Planung, der Termin stand fest, und alle notwendigen Vorbereitungen waren getroffen worden. Also gab es für Jake Flynn keinen zwingenden Grund, sich jetzt, lange vor dem Ereignis, mit Sophie in Verbindung zu setzen. Immerhin war es bis dahin noch fast ein Monat. Trotzdem wusste
Sophie beim besten Willen nicht, welche Art von Mittagessen Jake vorschwebte. Aber als sie für einen Moment einen klaren Kopf hatte, wurde ihr bewusst, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als zuzusagen. Immerhin war er ihr wichtigster Kunde. »Entschuldigen Sie bitte, Jake«, sagte sie und überspielte geschickt die lange Pause. »Ich habe nur in meinen Terminplan gesehen, und da ist um zwölf Uhr nichts vermerkt, also ... Ähm ... Augenblick ... was ist denn das ?« Mit lila Tinte waren die Initialen »TA« um Punkt zwölf eingetragen worden. Das war nicht Cals Werk, schließlich war er viel zu ordentlich, als dass er ihren Kalender auf eine so schludrige Art verunstaltet hätte. Dafür war ihre Auszubildende Lisa verantwortlich. Sophie seufzte. Da standen nur die Initialen »TA« in einer mädchenhaften Schrift, irgendeine Art von Erklärung suchte sie vergeblich. Wie oft musste sie Lisa denn noch sagen, dass sie Cal bitten sollte, neue Termine für sie einzutragen ? Das Problem war, dass Lisa Angst vor Cal hatte, und obwohl er genau genommen auch Lisas Assistent war, hätte sie sich lieber mit einem rostigen Nagel die Augen ausgekratzt, bevor sie ihn um einen Gefallen bat.
»Egal, was das ist, es lässt sich verschieben«, sagte sie und fühlte sich einen Moment lang völlig untypisch leichtsinnig, ehe sich ihr Magen sorgenvoll verkrampfte. So wichtig konnte der Termin nicht sein, sagte sie sich. Ansonsten hätte Lisa sie zweifellos rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht.
»Großartig«, rief Jake, als hätte er bis gerade eben gebannt den Atem angehalten. »Okay, dann komme ich vorbei und hole Sie um zwölf ab.« »Oh, das müssen Sie nicht tun, Jake ...«, begann Sophie, unterbrach sich dann aber und dachte kurz darüber nach, dass der Sinn dieser Einladung nicht eindeutig zu bestimmen war. »Aber wenn Sie es gerne möchten, dann bitte«, brachte sie ihre Antwort ein wenig ungelenk zu Ende. »Ja, das möchte ich«, erklärte er lachend. »Dann bis um zwölf.« »Super«, erwiderte Sophie. Jake legte auf, und sie saß da und starrte den Hörer an. Das war definitiv nicht der geeignete Augenblick, um über die Tatsache nachzudenken, dass sie seit über einem Jahr keinen Sex mehr gehabt hatte. Denn dann würde sie sich als Nächstes Sorgen
darüber machen, dass sie sich, sollte sie je wieder mit einem Mann im Bett landen, schrecklich blamieren könnte. Da ihr noch fünf Minuten vor der anstehenden Besprechung mit der Deutschen Bank blieben, warf sie einen Blick auf die auffälligen Spitzen ihrer neuen roséfarbenen Wildlederstiefel
und musste lächeln. Am Morgen hatte sie gut zehn Minuten länger benötigt, um ins Büro zu kommen, denn damit das Wildleder keine Flecken bekam, war sie gezwungen gewesen, einen Bogen um alle Pfützen zu machen, die der halbherzige Schneefall der vergangenen Nacht hinterlassen hatte. Und da
war natürlich noch die Sache mit den Absätzen. Es war knifflig und vermutlich sogar riskant, mit ihnen eine nasse und überfüllte Rolltreppe hinunterzugehen, aber als Sophie jetzt abwechselnd die Füße anhob, um ihre Stiefel zu betrachten, fand sie, dass es dieses Risiko wert gewesen war. Natürlich hätte sie sie in eine Tüte stecken, den Weg ins Büro in ausgelatschten Turnschuhen zurücklegen und sich dann am Schreibtisch umziehen können. Der Haken war nur, dass sie gar keine ausgelatschten
Turnschuhe besaß. Und Turnschuhe unter dem Schreibtisch gegen solche Stiefel zu tauschen war etwas für Weicheier. Außerdem fand sie, dass das Beste an ihren neuen Stiefeln darin bestand, sie zu tragen. Sophie war ganz sicher nicht der abenteuerlustigste oder spontanste Mensch der Welt, aber wenn es eine Sache gab, bei der sie eisernen Willen bewies, dann waren es ihre Schuhe - bei allen achtundvierzig Paar. Cal hatte mal gesagt, ihre extravagante Vorliebe für Schuhe stehe für die Diva in ihr, die sich aus der puritanischen, sexuell unterdrückten Hülle zu befreien versuche. Sophie war dem Vorwurf entgegengetreten, indem sie ihn darauf hinwies, dass sie oft Röcke trug, die nicht mal knielang waren, also konnte sie wohl kaum puritanisch und sexuell unterdrückt sein. Cal schnaubte daraufhin und warf ihr vor, wenn Heteros sich auch erst outen müssten, hätte sie das bis heute nicht getan. Außerdem würde sie mit ihren auffälligen Schuhen nur davon ablenken, dass es ihr an jeglicher Sexualität fehle. Sophie entgegnete, dass er damit völlig danebenlag. Es waren nur Schuhe, weiter nichts. Schuhe und Stiefel und Pumps. Sie liebte Schuhe in allen Farben, Formen und Größen, und ihre Reaktion, wenn sie in der Vogue oder der Glamour ein neues Paar entdeckte, war nahezu überwältigend. Es war ein herzzerreißendes Verlangen, das erst nachließ, wenn diese Schuhe in einem Karton lagen, der in einer teuren Tragetasche aus gewachstem Papier an Sophies Hand baumelte. Und dann folgten der Augenblick himmlischer Befriedigung und die anschließende
Vorfreude darauf, den »Schuh-down« des Tages mit ihrer Bürorivalin und Allround-Nemesis Eve McQueen zu gewinnen.
Cal sprach oft davon, dass es für Leute von ihrem Schlag spezielle Hilfeseiten im Internet gab, aber sie ließ seine Bemerkungen von sich abprallen und erklärte ihm, das liege nur daran, dass ihre Mutter sie gezwungen habe, bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag schwere, klobige Schuhe zu tragen, während ihre Freundinnen ihre grauen Lackschuhe mit Riemchen um den Knöchel präsentierten. Ihre Schuhsammlung war nach ihren Worten der kleine Teil ihrer Persönlichkeit, dem Freiheit und Kreativität vergönnt waren. Ihre Schuhe waren das, was sie von all den anderen berufstätigen Frauen in dunkelgrauen oder schwarzen Anzügen unterschied. Cal erwiderte dann regelmäßig, dass sie sich nicht durch ihre Schuhe von ihnen unterschied, aber sie wollte ihn lieber nicht fragen, wie er das wohl meinte. Vielleicht, so überlegte Sophie, während sie sich auf die Lippe biss und ihre Zehen streckte, waren es ja ihre Schuhe, die Jake Flynn dazu veranlasst hatten, sie zum Mittagessen einzuladen - sofern es dabei tatsächlich um ein Mittagessen, nicht aber um ein »Mittagessen« ging.
Sie stutzte. Jetzt war es ihr tatsächlich gelungen, sich selbst zu verwirren. Zum Glück kam in dem Moment Cal herein und riss sie aus ihren Gedanken. »Die Deutschen kommen«, sagte er, nachdem er ohne anzuklopfen die Tür geöffnet und ihr Büro betreten hatte. Klammheimlich ließ Sophie ihr ausgestrecktes Bein wieder unter dem Schreibtisch verschwinden. »Sie sind auf dem Weg nach oben.
Willst du sie am Aufzug in Empfang nehmen ?« »Ja«, sagte sie und gestattete sich ein flüchtiges Lächeln. »Lass uns auf dem Weg zum Lift noch etwas Deutsch üben.« »Guten Tag, Herr Manners«, sprach Cal langsam und betont. Dass er mehrere Sprachen beherrschte, machte ihn zu einem wertvollen Mitarbeiter, und das rieb er ihr oft genug unter die Nase. »Guten Tag, Herr Manners.« Als Sophie diese Worte in der für sie fremden Sprache wiederholte, klang es eher so, als würde ihre Katze Artemis ein Fellknäuel auswürgen. »Hmm«, machte Cal. »Noch mal, und jetzt mit mehr Gefühl.« »Guten Tack ... ach, Kacke !« Sophie hasste es wie die Pest, wenn sie eine Sache nicht bis zur Perfektion beherrschte, und das Schlimmste war für sie, dass Fremdsprachen so gar nicht ihr Ding waren. Es waren weniger die eigentlichen Worte - auch wenn sie sowieso nur die kannte, die Cal ihr beigebracht hatte -, es war vielmehr die Betonung. Sie wurde einfach nicht locker genug, um die Betonung richtig zu treffen. »Ich glaube nicht, dass dieser Satz in Deutschland als Begrüßung benutzt wird«, meinte Cal sarkastisch. »Vielleicht solltest du ja doch weiter Englisch reden. Die Deutschen sprechen ein sehr gutes Englisch, so wie die meisten Nationen der Welt, und auch wenn ich zu schätzen weiß, was du damit zu erreichen versuchst, halte ich es in diesem Fall für besser, diesen Umstand zu nutzen.« »Vermutlich hast du recht«, sagte sie. »Ich lege eben nur viel Wert ...« »... aufs Detail.« Cal beherrschte ihr Mantra auf eine erschreckend akkurate Weise. Sie musste lachen. Sie konnte Cal wirklich gut leiden. Seit fast fünf Jahren arbeiteten sie jetzt zusammen, länger als jede Beziehung, die sie mit einem Mann gehabt hatte, und sie wusste, dass sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte. Er war der beste persönliche Assistent auf dieser Etage. Zu Beginn ihrer Arbeitsbeziehung war sie fast drei Monate lang in ihn verliebt gewesen und hatte sich gewünscht, er wäre hetero. Aber dann war ihr klar geworden, dass sie ihn dann vermutlich überhaupt nicht hätte leiden können - denn wer mag schon einen Heteromann, der so viel Zeit damit verbringt, Frauenzeitschriften zu lesen ? Seit dieser Erkenntnis war ihre Freundschaft enger und enger geworden, und Sophie hatte sich schließlich in einen anonymen Risikobewerter im Gebäude auf der anderen Straßenseite verliebt. Mit Freundinnen oder mit Cal hatte sie oftmals spät abends und mit schleppender Stimme darüber diskutiert, ob ihre Bewunderung aus der Ferne tatsächlich »Liebe« im eigentlichen Wortsinn sein konnte. Sophie war fest davon überzeugt, dass es reine, unverfälschte Liebe war, eine moderne Version jener Liebe aus dem Mittelalter, als von den Liebenden nicht zwangsläufig erwartet wurde, dass sie miteinander redeten. Das bedeutete nämlich, dass keine falschen Versprechungen gemacht wurden, dass niemand belogen wurde, dass niemand verlassen wurde und dass damit auch niemand - in diesem speziellen Fall Sophie - gezwungen war, vorzutäuschen, dass er nicht im Mindesten traurig oder verletzt war. »Hört sich für mich nach Stalking an«, hatte Cal dazu gesagt. Abrupt konzentrierte sich Sophie wieder auf das Treffen mit den Deutschen. »Übrigens, wo ist Lisa ? Sie weiß, dass wir um elf ein Meeting haben.« Sophie suchte das Büro nach ihrer Auszubildenden ab, dem dritten und mutmaßlich wichtigen Mitglied ihres Teams, auch wenn Cal sie üblicherweise fröhlich als »Ballast« bezeichnete. »Sie hat alle Kalkulationen für dieses Meeting, und die Leute werden jeden Moment hier auftauchen. Wenn sie wieder auf dem Klo sitzt und heult, dann schwöre ich bei Gott, ich werde ...« »... nett zu ihr sein und ihr sagen, dass das alles nicht so schlimm ist ?«, ging Cal energisch dazwischen. Er machte keinen Hehl daraus, wie nützlich Lisa seiner Meinung nach für das Team war. »Du solltest sie abschießen. Sie taugt nichts.« »Es ist ihr erster Job«, wandte Sophie ein. »Jeder baut am Anfang mal Mist. Sie braucht nur ein wenig Zeit, um sich einzugewöhnen.« »Sie hatte acht Monate Zeit.« »Such sie einfach, okay ?«, ging Sophie im Boss-Tonfall über seinen Kommentar hinweg. Cal salutierte und ging zielstrebig zu den Damentoiletten. Sophie sah seufzend auf die Liftanzeige, die Zahl näherte sich unbeirrbar ihrer Etage. Fast ein Jahr lang hatte sie Lisa mittlerweile eingearbeitet. Sie konnte sie gut leiden, und sie besaß auch Potenzial, doch Lisa schien einfach nicht in der Lage, Herz und Verstand voneinander zu trennen. Es war so, als wären ihr Gehirn und ihr Herz zu einem einzigen wirren Organ verschmolzen. Lisas dramatisches Liebesleben wäre in einen Roman verpackt von jedem Verleger als maßlos überzogen und völlig unglaubwürdig abgelehnt worden. Immer wieder hatte Sophie versuchte, ihr Mut zu machen und ihr ins Gewissen zu reden, und bei der letzten Krise hatte Sophie ihr die Tränen weggewischt und behutsam vorgeschlagen, sie sollte doch vielleicht versuchen, mit weniger Männern auszugehen, oder für eine Weile eine vollständige Männerpause einlegen, zumal sie ja nun wirklich kein glückliches Händchen zu haben schien. »Du meinst, ich soll den Männern ganz abschwören ? So wie du ?«, hatte sie mit dem typischen Takt einer Einundzwanzigjährigen gefragt. »Und was ist mit Sex ? Fehlt dir das Vögeln nicht ?« Sophie wusste noch genau, wie ihre Wangen rot wurden und wie sie sich dagegen entschieden hatte, Lisa anzuvertrauen, dass sie in den achtzehn Monaten, seit ihr Freund Alex per E-Mail mit ihr Schluss gemacht hatte, keinen Sex mehr gehabt hatte. Es war nicht so, als würde er ihr nicht fehlen. Sie vermisste Sex - auf eine abstrakte, verklärt romantische Art. Aber sie vermisste ihn nicht mit jemand bestimmtem. Nicht mal mit Alex - und ihn hatte sie nahezu geliebt - hatte für sie die Erde gebebt. Vermutlich bebte die Erde für überhaupt keine Frau, und in Wahrheit war das Ganze nur eine gigantische Verschwörung, ausgeheckt von Frauenzeitschriften und Männern, um alle Frauen zu verunsichern. Aber dann gab es wiederum Frauen wie Lisa, die diese Theorie gleich wieder über den Haufen warfen. Ihr machte Sex ganz eindeutig sehr viel Spaß, auch wenn es in Sachen Gefühlen jedes Mal in einer Enttäuschung endete. »Ich habe den Männern nicht abgeschworen«, hatte Sophie klargestellt. »Für mich hat nur meine Arbeit im Moment Vorrang vor allem anderen, und ich finde, so solltest du das auch handhaben. Wir befinden uns in einer sehr wichtigen Phase. Wenn Gillian ihre Arbeit wirklich aufgeben sollte, dann muss jemand ihren Job übernehmen. Hier eröffnen sich Möglichkeiten. Ich will aus meiner Karriere das Beste herausholen, und das solltest du auch machen. Ich biete dir hier eine wirklich große Chance, Lisa, und es wird Zeit, dass du sie anpackst. Enttäusch mich nicht.« »Das werde ich nicht«, hatte Lisa ihr voller Überzeugung versprochen, doch auf dem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch hatte sie sich dann prompt in den Mann verliebt, der die Flaschen für die Wasserspender lieferte. Als er sie zwei Wochen später abservierte, war Lisa wieder genau an dem Punkt, wo sie schon zwei Wochen zuvor gewesen war. Der Aufzug hielt eine Etage tiefer. »Hier ist sie.« Cal stieß Lisa förmlich in Sophies Richtung. Die musterte ihre Auszubildende kritisch. Das Make-up war aufgefrischt worden, aber Lisas Augen waren gerötet und geschwollen, und sie schniefte leise. Sie hatte wieder mal geweint. »Hat Dave dich verlassen ?«, fragte Sophie, als es bis zur Ankunft des Lifts nur noch Sekunden waren. Lisa schaute sie betrübt an. »Dabei habe ich ihn nur gebeten, ihn meiner Mum vorstellen zu dürfen. War das zu anhänglich ?« Sophie seufzte. Hätte es eine Weltmeisterschaft im Anhänglichsein gegeben, dann wäre Lisa mit einem riesigen Vorsprung auf dem ersten Platz gelandet. Aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses Thema zur Sprache zu bringen.
»Wir reden später darüber«, sagte sie. »Jetzt konzentrier dich, und denk immer daran, warum du hier bist.« Dann öffneten sich die Aufzugtüren. Als Sophie und Lisa vom Meeting zurückkamen, war Sophie sehr mit sich zufrieden. Das Ganze war außerordentlich gut gelaufen, und Lisa hatte es zurück an ihren Schreibtisch geschafft, ohne sich unterwegs mit irgendwem zu verloben. Alles sah sehr gut aus. Ihr blieb sogar noch etwas Zeit, um vor ihrem Mittagessen mit Jake ein wenig Papierkram zu erledigen. Oder sie konnte bei Eve reinschauen, ihr von dem neuen Auftrag erzählen, ihr die neuen Stiefel zeigen und alles versuchen, um ihr den Tag zu verderben. »Du musst mir gar nicht erst erzählen, dass es gut gelaufen ist«, meinte Cal, der sie über den Rand der neuen OK ! hinweg
anschaute. »Du strahlst wie Sophie Mills, die siegreiche Kriegerkönigin unter den Partyplanern.« Vor seinem Schreibtisch blieb sie stehen und nahm ihm das Heft aus der Hand. »Mach dich nützlich«, forderte sie ihn auf. »Ich habe ein paar Minuten Luft, und die will ich nutzen, um ...« »... den neuesten Promiklatsch zu lesen ?«, fragte er und betrachtete geknickt seine Zeitschrift, die sie in der Hand hielt. »... die Ablage auf den neuesten Stand zu bringen«, behauptete sie.
Sie war gerade bei den exklusiven Fotos von irgendeiner Promi-Hochzeit angelangt, da unterbrach Cal sie. »Es gibt da ein kleines Problem, was deine Ablage angeht«, sagte er und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, dann senkte er die Stimme und fuhr fort : »Ein Problem von der unerwarteten Sorte. Elastischer Hosenbund. Kopftuch.« Als Sophie ihn ratlos ansah, ergänzte er : »Da ist eine ›Lady‹, die dich sprechen will.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er seine vorangegangene Beschreibung für mehr als ausreichend hielt. »Muss dein Zwölf-Uhr-Termin sein. TA. Oder besser gesagt : Tess Andrew.« Sophie musste an Jake denken, der jeden Moment hier auftauchen konnte, um sie zum Essen abzuholen, und ein wenig war sie sogar erleichtert darüber, dass sich so plötzlich ein Hindernis aufgetan hatte, das sie vor dem Treffen mit Jake bewahren konnte. »Kannst du sie wegschicken ? Kannst du ihr sagen, dass sich zwei Termine überschnitten haben, oder so was in der Art ?«, fragte Sophie, da sie nur zu gut wusste, dass Cal die meisten Leute dazu bringen konnte, fast alles zu tun, was er sagte. Er folgte ihr in ihr Büro und schloss die Tür, dann stellte er sich so dicht neben sie, dass Sophie Chanel Allure riechen konnte. Sie wusste nur nicht so genau, ob es pour homme oder pour femme war. Er hielt ihr eine abgegriffene Visitenkarte mit deutlichen Eselsohren hin. »Das hier hat sie mir gegeben und darum gebeten, dass sie die Karte zurückbekommt, weil sie nur die eine hat. Irgendwas wegen Budgetkürzungen oder so.« Sie nahm die Karte an sich und las den Text vor : »Tess Andrew. Sozialamt Highbury und Islington.« Sie sah verwundert auf. »Aber wir bekommen doch nur Aufträge von Privatunternehmen.« »Das habe ich ihr auch gesagt«, meinte Cal mit einem Schulterzucken. »Aber sie sagt, es sei was Persönliches. Und sie sagt, sie muss dich sprechen, und zwar jetzt.« Cal ließ eine kurze Pause folgen. »Hör zu, Sophie, es tut mir leid, aber sie steht in deinem Terminkalender. Sie sagt, sie hat heute Morgen angerufen, und eine nette junge Dame hat ihr den Termin gegeben und erklärt, das sei überhaupt kein Problem. Und sie hat gesagt, dass es wirklich dringend ist.« Von Cals üblichem Humor oder Sarkasmus war nichts zu entdecken. »Dringend ?«, wiederholte Sophie ein wenig beunruhigt. Was sollte eine Sozialarbeiterin mit ihr Dringendes besprechen wollen ? Oh Gott ! Sie stöhnte stumm auf. Hoffentlich hatten sich nicht wieder die Nachbarn über die Hunde ihrer Mutter beschwert, auch wenn sie ihnen das nicht verübeln konnte. Immerhin war ein Haus auf dem Markt nicht mehr viel wert,
wenn es gleich neben einem Quasi-Tierheim lag. Aber Sophie war nicht die Babysitterin ihrer Mutter, und selbst wenn sie es gewollt hätte, konnte sie ihr nicht verbieten, Hunde zu züchten. Die Tiere waren alle gut versorgt, und der Tierschutz hatte ebenfalls sein Okay gegeben. Das wusste Sophie aus eigener Erfahrung. Immerhin war sie in diesem Hundechaos aufgewachsen, und mehr als einmal hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter den Tieren den Vorzug vor ihr gab. Nachdem ihr Dad vor sechzehn Jahren gestorben war, hatte ihre Mum begonnen, neben der Zucht auch noch Streuner und ausgesetzte Tiere aufzunehmen. Was sie brauchte, war ein Bauernhof in Surrey, aber kein viktorianisches Reihenhaus in Highbury. Einen anderen Grund konnte sich Sophie für den Besuch einer Sozialarbeiterin nicht vorstellen, und darauf konnte sie nun wirklich verzichten. Aber wenn schon Cal diese Tess Andrew nicht zum Gehen bewegen konnte, dann war auch niemand sonst dazu in der Lage. »Okay, wenn's unbedingt sein muss«, sagte sie und ging die Situation mit ihrer gewohnt souveränen Art an. »Vielleicht kann ich das ja schnell hinter mich bringen, damit sie weg ist, bevor Jake herkommt.« »Jake kommt her, um dich zu abzuholen ?« Cal zog interessiert eine Augenbraue hoch. »Er ist ja so in dich verliebt.« Tess Andrew saß auf Cals Stuhl, als Sophie hereinkam, und hielt eine große bestickte Tasche fest umklammert. »Miss Andrew ?« Sophie lächelte der gefällig aussehenden Frau zu, die vermutlich Mitte fünfzig war, füllig und leicht unsortiert bis chaotisch, was durch ihren Zigeunerlook noch betont wurde. »Was kann ich für Sie tun ? Also, wenn es um meine Mum und ihre Hunde geht - da ist ihr mit Vernunft nicht beizukommen.
Sie sieht in deren ›kleine Gesichter‹, und dann setzt der Verstand aus. Ich kapier das selbst nicht. Ich bin ein Katzenmensch, müssen Sie wissen.« »Ähm, Miss Mills ? Es geht nicht um Hunde. Oder ... Katzen.« Die Frau folgte ihr in ihr Büro. »Sophie - Sie können ruhig Sophie sagen. Wenn's nicht um
Hunde geht, um was dann ? Um die Abflüsse ?« Sie war sich nicht so ganz sicher, was eine Sozialarbeiterin so alles machte, aber die Abflüsse im Erdgeschoss waren schon ein bisschen zickig.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Ralph Sander
Sophie dachte über die Frage nach, die Jake Flynn ihr gerade eben gestellt hatte. Es war keine schwierige Frage, man musste keinen Abschluss in irgendetwas haben und auch nicht über besondere Fähigkeiten auf dem Gebiet der Semantik verfügen. Nein, es war viel kniffliger, denn Jake Flynn hatte sie gefragt, ob sie mit ihm zu Mittag essen wollte. Aber das war nicht die Frage, die sie beschäftigte, ihr ging es vielmehr um einen anderen Punkt : Welche Art von Essen sollte das sein ?
Während Jake am anderen Ende der Leitung auf ihre Antwort wartete, lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und drehte sich so, dass sie aus dem Fenster ihres Büros hinunter auf den Platz sehen konnte. Eine Böe trieb ein buntes Stück Abfall kreuz und quer über die fast menschenleere Fläche. Eine der wesentlichen Schwierigkeiten in Sophies Leben (aber kein Problem - sie weigerte sich beharrlich, zuzugeben, dass sie ein Problem hatte, auch wenn ihr persönlicher Assistent Cal ihr immer wieder das Gegenteil versicherte) bestand darin, dass sie nicht wusste, wann sich ein Mann von ihr angezogen fühlte.
Andere Frauen und die meisten ihrer Freundinnen ... okay, alle ihre Freundinnen besaßen so etwas wie einen siebten Sinn, der sich mindestens einen Monat früher zu Wort meldete, als das bei Sophie der Fall war. Während ihre Freundinnen schon nach dreißig Sekunden Blickkontakt in einem Nachtklub wussten, ob sie mit einer kurzen Verlobungszeit und einer langen Ehe rechnen konnten, hatte Sophie einfach viel zu viel Angst davor, die Signale falsch zu deuten. Stattdessen wartete sie lieber auf nichts Geringeres als riesige Blumensträuße, die ihr von Boten ins Büro gebracht wurden, und auf eine Einladung zu einem Kurztrip nach Venedig, bevor sie die Möglichkeit in Erwägung zog, ein Mann könnte an ihr Interesse haben. Und da in den letzten zehn Jahren nur ein Mann so etwas gemacht hatte - nämlich ihr Ex-Freund Alex -, beschränkten sich ihre Erfahrungen auf ihn sowie auf eine Handvoll hoffnungsvoller Kandidaten, die ihre Freundinnen und Kolleginnen für sie angeschleppt hatten. Alle hatten sie bei der ersten Hürde kapituliert. Und diese Hürde war Sophie selbst. Ihre Verunsicherung angesichts Jake Flynns Einladung wurde noch durch die Tatsache gesteigert, dass er ein Kunde war, ihr neuester und wichtigster Kunde seit Wochen. Er war derjenige, auf dem ihre Hoffnungen ruhten, endlich den Vorsprung für die heiß begehrte Beförderung herauszuholen. Sie würde ihre Chefin Gillian mit einem lukrativen, langfristigen Vertrag beeindrucken, den sie mit Jakes Firma, der Madison Corporation, aushandeln wollte. Cal war nach dem ersten Treffen vor fast drei Monaten bereits davon überzeugt gewesen, dass Jake an ihr interessiert war.
»Ist er nicht«, hatte sie abgestritten. »Er ist nur freundlich. Er ist Amerikaner, und du weißt genau, dass Amerikaner immer sehr freundlich sind.« »Aber nicht so freundlich«, hatte Cal beharrt. »Außer, er will Sophies erste Reaktion darauf war ein energischer Blick gewesen, der ihn zum Verstummen brachte, danach hatte sie ihm klar gemacht, worauf es einzig und allein ankam : nämlich Jake Flynn davon zu überzeugen, dass McCarthy Hughes die beste Wahl war, um das erste Event seines Unternehmens in Großbritannien zu einem unvergesslichen Ereignis zu machen. Und ihm zu beweisen, dass ihre Ideen, Pläne und Budgetvorstellungen der Konkurrenz gleich um ein paar Nasenlängen voraus waren. Und genau das war Sophie auch gelungen. »Ich habe noch nie einen Partyplaner erlebt, der seine Arbeit so ernsthaft angeht wie Sie«, hatte Jake gleich nach dem ersten Meeting zu ihr gesagt. »Sie haben das Zeug zum General bei der Armee !« Sophie hatte höflich gelacht und seine Hand geschüttelt (während sie sich fragte, ob diese Bemerkung wohl etwas damit zu tun hatte, dass sie am Abend zuvor die Haarwachsbehandlung für ihre Oberlippe vergessen hatte), dann war sie mit ihm bis zum Aufzug gegangen.
»Er hat mit dir geflirtet«, ließ Cal sie wissen, als sie vom Aufzug an ihren Schreibtisch zurückkehrte. »Cal«, warnte sie ihn. »Er hat nicht mit mir geflirtet, und selbst wenn, würde ich mich nicht mit ihm verabreden, weil er mein Kunde ist.« »Du bist Partyplanerin, keine Anwältin«, hielt Cal dagegen. »Ich glaube, es gibt keine Regeln, gegen die du damit verstoßen könntest.« »Ich verstoße damit gegen meine Regeln«, sagte sie. »Alles verstößt gegen deine Regeln«, hatte Cal zurückgegeben und danach das Thema auf sich beruhen lassen. Da Sophie ein so hoffnungsloser Fall war, wenn es darum ging, einem Mann anzumerken, ob er sich für sie interessierte oder nicht, vermied sie es normalerweise völlig, über solche Dinge nachzudenken. Aber jetzt konnte sie einfach nicht anders,
als darüber zu spekulieren, ob Cal recht hatte, was Jake betraf. Es war wie der Teil eines Kreuzworträtsels, bei dem sie einfach nicht auf die Lösung kam. Ihr wollte nicht aus dem Kopf gehen, dass Jake Flynn mit seinem kantigen Kinn und seinem adretten Erscheinungsbild ein gut aussehender Mann war. Und er war überaus höflich, und - das war ihr auch aufgefallen - er hatte immer sehr frischen Atem. Es wäre fatal, wenn sie gute Manieren und gute Mundhygiene als Zeichen dafür missdeutete, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Eine solche Fehleinschätzung würde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen. Aber Jake war wirklich tabu, was ihn umso faszinierender machte. Nicht weil Sophie eine von den Frauen war, die sämtliche Vorsicht über Bord warfen und sich gegen jede Vernunft auf eine Affäre einließen, sondern weil sie es bevorzugte, wenn die Männer, die ihr gefielen, für sie tabu waren. Das machte das Ganze viel einfacher, und vor allem sparte sie auf diese Weise eine Menge Zeit. Gut fünf Sekunden waren vergangen, seit Jake die Frage nach dem Mittagessen gestellt hatte, und sie war damit beschäftigt, in dieser kurzen Zeit alle verfügbaren Fakten abzurufen und zu analysieren.
Die Party war in Planung, der Termin stand fest, und alle notwendigen Vorbereitungen waren getroffen worden. Also gab es für Jake Flynn keinen zwingenden Grund, sich jetzt, lange vor dem Ereignis, mit Sophie in Verbindung zu setzen. Immerhin war es bis dahin noch fast ein Monat. Trotzdem wusste
Sophie beim besten Willen nicht, welche Art von Mittagessen Jake vorschwebte. Aber als sie für einen Moment einen klaren Kopf hatte, wurde ihr bewusst, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als zuzusagen. Immerhin war er ihr wichtigster Kunde. »Entschuldigen Sie bitte, Jake«, sagte sie und überspielte geschickt die lange Pause. »Ich habe nur in meinen Terminplan gesehen, und da ist um zwölf Uhr nichts vermerkt, also ... Ähm ... Augenblick ... was ist denn das ?« Mit lila Tinte waren die Initialen »TA« um Punkt zwölf eingetragen worden. Das war nicht Cals Werk, schließlich war er viel zu ordentlich, als dass er ihren Kalender auf eine so schludrige Art verunstaltet hätte. Dafür war ihre Auszubildende Lisa verantwortlich. Sophie seufzte. Da standen nur die Initialen »TA« in einer mädchenhaften Schrift, irgendeine Art von Erklärung suchte sie vergeblich. Wie oft musste sie Lisa denn noch sagen, dass sie Cal bitten sollte, neue Termine für sie einzutragen ? Das Problem war, dass Lisa Angst vor Cal hatte, und obwohl er genau genommen auch Lisas Assistent war, hätte sie sich lieber mit einem rostigen Nagel die Augen ausgekratzt, bevor sie ihn um einen Gefallen bat.
»Egal, was das ist, es lässt sich verschieben«, sagte sie und fühlte sich einen Moment lang völlig untypisch leichtsinnig, ehe sich ihr Magen sorgenvoll verkrampfte. So wichtig konnte der Termin nicht sein, sagte sie sich. Ansonsten hätte Lisa sie zweifellos rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht.
»Großartig«, rief Jake, als hätte er bis gerade eben gebannt den Atem angehalten. »Okay, dann komme ich vorbei und hole Sie um zwölf ab.« »Oh, das müssen Sie nicht tun, Jake ...«, begann Sophie, unterbrach sich dann aber und dachte kurz darüber nach, dass der Sinn dieser Einladung nicht eindeutig zu bestimmen war. »Aber wenn Sie es gerne möchten, dann bitte«, brachte sie ihre Antwort ein wenig ungelenk zu Ende. »Ja, das möchte ich«, erklärte er lachend. »Dann bis um zwölf.« »Super«, erwiderte Sophie. Jake legte auf, und sie saß da und starrte den Hörer an. Das war definitiv nicht der geeignete Augenblick, um über die Tatsache nachzudenken, dass sie seit über einem Jahr keinen Sex mehr gehabt hatte. Denn dann würde sie sich als Nächstes Sorgen
darüber machen, dass sie sich, sollte sie je wieder mit einem Mann im Bett landen, schrecklich blamieren könnte. Da ihr noch fünf Minuten vor der anstehenden Besprechung mit der Deutschen Bank blieben, warf sie einen Blick auf die auffälligen Spitzen ihrer neuen roséfarbenen Wildlederstiefel
und musste lächeln. Am Morgen hatte sie gut zehn Minuten länger benötigt, um ins Büro zu kommen, denn damit das Wildleder keine Flecken bekam, war sie gezwungen gewesen, einen Bogen um alle Pfützen zu machen, die der halbherzige Schneefall der vergangenen Nacht hinterlassen hatte. Und da
war natürlich noch die Sache mit den Absätzen. Es war knifflig und vermutlich sogar riskant, mit ihnen eine nasse und überfüllte Rolltreppe hinunterzugehen, aber als Sophie jetzt abwechselnd die Füße anhob, um ihre Stiefel zu betrachten, fand sie, dass es dieses Risiko wert gewesen war. Natürlich hätte sie sie in eine Tüte stecken, den Weg ins Büro in ausgelatschten Turnschuhen zurücklegen und sich dann am Schreibtisch umziehen können. Der Haken war nur, dass sie gar keine ausgelatschten
Turnschuhe besaß. Und Turnschuhe unter dem Schreibtisch gegen solche Stiefel zu tauschen war etwas für Weicheier. Außerdem fand sie, dass das Beste an ihren neuen Stiefeln darin bestand, sie zu tragen. Sophie war ganz sicher nicht der abenteuerlustigste oder spontanste Mensch der Welt, aber wenn es eine Sache gab, bei der sie eisernen Willen bewies, dann waren es ihre Schuhe - bei allen achtundvierzig Paar. Cal hatte mal gesagt, ihre extravagante Vorliebe für Schuhe stehe für die Diva in ihr, die sich aus der puritanischen, sexuell unterdrückten Hülle zu befreien versuche. Sophie war dem Vorwurf entgegengetreten, indem sie ihn darauf hinwies, dass sie oft Röcke trug, die nicht mal knielang waren, also konnte sie wohl kaum puritanisch und sexuell unterdrückt sein. Cal schnaubte daraufhin und warf ihr vor, wenn Heteros sich auch erst outen müssten, hätte sie das bis heute nicht getan. Außerdem würde sie mit ihren auffälligen Schuhen nur davon ablenken, dass es ihr an jeglicher Sexualität fehle. Sophie entgegnete, dass er damit völlig danebenlag. Es waren nur Schuhe, weiter nichts. Schuhe und Stiefel und Pumps. Sie liebte Schuhe in allen Farben, Formen und Größen, und ihre Reaktion, wenn sie in der Vogue oder der Glamour ein neues Paar entdeckte, war nahezu überwältigend. Es war ein herzzerreißendes Verlangen, das erst nachließ, wenn diese Schuhe in einem Karton lagen, der in einer teuren Tragetasche aus gewachstem Papier an Sophies Hand baumelte. Und dann folgten der Augenblick himmlischer Befriedigung und die anschließende
Vorfreude darauf, den »Schuh-down« des Tages mit ihrer Bürorivalin und Allround-Nemesis Eve McQueen zu gewinnen.
Cal sprach oft davon, dass es für Leute von ihrem Schlag spezielle Hilfeseiten im Internet gab, aber sie ließ seine Bemerkungen von sich abprallen und erklärte ihm, das liege nur daran, dass ihre Mutter sie gezwungen habe, bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag schwere, klobige Schuhe zu tragen, während ihre Freundinnen ihre grauen Lackschuhe mit Riemchen um den Knöchel präsentierten. Ihre Schuhsammlung war nach ihren Worten der kleine Teil ihrer Persönlichkeit, dem Freiheit und Kreativität vergönnt waren. Ihre Schuhe waren das, was sie von all den anderen berufstätigen Frauen in dunkelgrauen oder schwarzen Anzügen unterschied. Cal erwiderte dann regelmäßig, dass sie sich nicht durch ihre Schuhe von ihnen unterschied, aber sie wollte ihn lieber nicht fragen, wie er das wohl meinte. Vielleicht, so überlegte Sophie, während sie sich auf die Lippe biss und ihre Zehen streckte, waren es ja ihre Schuhe, die Jake Flynn dazu veranlasst hatten, sie zum Mittagessen einzuladen - sofern es dabei tatsächlich um ein Mittagessen, nicht aber um ein »Mittagessen« ging.
Sie stutzte. Jetzt war es ihr tatsächlich gelungen, sich selbst zu verwirren. Zum Glück kam in dem Moment Cal herein und riss sie aus ihren Gedanken. »Die Deutschen kommen«, sagte er, nachdem er ohne anzuklopfen die Tür geöffnet und ihr Büro betreten hatte. Klammheimlich ließ Sophie ihr ausgestrecktes Bein wieder unter dem Schreibtisch verschwinden. »Sie sind auf dem Weg nach oben.
Willst du sie am Aufzug in Empfang nehmen ?« »Ja«, sagte sie und gestattete sich ein flüchtiges Lächeln. »Lass uns auf dem Weg zum Lift noch etwas Deutsch üben.« »Guten Tag, Herr Manners«, sprach Cal langsam und betont. Dass er mehrere Sprachen beherrschte, machte ihn zu einem wertvollen Mitarbeiter, und das rieb er ihr oft genug unter die Nase. »Guten Tag, Herr Manners.« Als Sophie diese Worte in der für sie fremden Sprache wiederholte, klang es eher so, als würde ihre Katze Artemis ein Fellknäuel auswürgen. »Hmm«, machte Cal. »Noch mal, und jetzt mit mehr Gefühl.« »Guten Tack ... ach, Kacke !« Sophie hasste es wie die Pest, wenn sie eine Sache nicht bis zur Perfektion beherrschte, und das Schlimmste war für sie, dass Fremdsprachen so gar nicht ihr Ding waren. Es waren weniger die eigentlichen Worte - auch wenn sie sowieso nur die kannte, die Cal ihr beigebracht hatte -, es war vielmehr die Betonung. Sie wurde einfach nicht locker genug, um die Betonung richtig zu treffen. »Ich glaube nicht, dass dieser Satz in Deutschland als Begrüßung benutzt wird«, meinte Cal sarkastisch. »Vielleicht solltest du ja doch weiter Englisch reden. Die Deutschen sprechen ein sehr gutes Englisch, so wie die meisten Nationen der Welt, und auch wenn ich zu schätzen weiß, was du damit zu erreichen versuchst, halte ich es in diesem Fall für besser, diesen Umstand zu nutzen.« »Vermutlich hast du recht«, sagte sie. »Ich lege eben nur viel Wert ...« »... aufs Detail.« Cal beherrschte ihr Mantra auf eine erschreckend akkurate Weise. Sie musste lachen. Sie konnte Cal wirklich gut leiden. Seit fast fünf Jahren arbeiteten sie jetzt zusammen, länger als jede Beziehung, die sie mit einem Mann gehabt hatte, und sie wusste, dass sie sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte. Er war der beste persönliche Assistent auf dieser Etage. Zu Beginn ihrer Arbeitsbeziehung war sie fast drei Monate lang in ihn verliebt gewesen und hatte sich gewünscht, er wäre hetero. Aber dann war ihr klar geworden, dass sie ihn dann vermutlich überhaupt nicht hätte leiden können - denn wer mag schon einen Heteromann, der so viel Zeit damit verbringt, Frauenzeitschriften zu lesen ? Seit dieser Erkenntnis war ihre Freundschaft enger und enger geworden, und Sophie hatte sich schließlich in einen anonymen Risikobewerter im Gebäude auf der anderen Straßenseite verliebt. Mit Freundinnen oder mit Cal hatte sie oftmals spät abends und mit schleppender Stimme darüber diskutiert, ob ihre Bewunderung aus der Ferne tatsächlich »Liebe« im eigentlichen Wortsinn sein konnte. Sophie war fest davon überzeugt, dass es reine, unverfälschte Liebe war, eine moderne Version jener Liebe aus dem Mittelalter, als von den Liebenden nicht zwangsläufig erwartet wurde, dass sie miteinander redeten. Das bedeutete nämlich, dass keine falschen Versprechungen gemacht wurden, dass niemand belogen wurde, dass niemand verlassen wurde und dass damit auch niemand - in diesem speziellen Fall Sophie - gezwungen war, vorzutäuschen, dass er nicht im Mindesten traurig oder verletzt war. »Hört sich für mich nach Stalking an«, hatte Cal dazu gesagt. Abrupt konzentrierte sich Sophie wieder auf das Treffen mit den Deutschen. »Übrigens, wo ist Lisa ? Sie weiß, dass wir um elf ein Meeting haben.« Sophie suchte das Büro nach ihrer Auszubildenden ab, dem dritten und mutmaßlich wichtigen Mitglied ihres Teams, auch wenn Cal sie üblicherweise fröhlich als »Ballast« bezeichnete. »Sie hat alle Kalkulationen für dieses Meeting, und die Leute werden jeden Moment hier auftauchen. Wenn sie wieder auf dem Klo sitzt und heult, dann schwöre ich bei Gott, ich werde ...« »... nett zu ihr sein und ihr sagen, dass das alles nicht so schlimm ist ?«, ging Cal energisch dazwischen. Er machte keinen Hehl daraus, wie nützlich Lisa seiner Meinung nach für das Team war. »Du solltest sie abschießen. Sie taugt nichts.« »Es ist ihr erster Job«, wandte Sophie ein. »Jeder baut am Anfang mal Mist. Sie braucht nur ein wenig Zeit, um sich einzugewöhnen.« »Sie hatte acht Monate Zeit.« »Such sie einfach, okay ?«, ging Sophie im Boss-Tonfall über seinen Kommentar hinweg. Cal salutierte und ging zielstrebig zu den Damentoiletten. Sophie sah seufzend auf die Liftanzeige, die Zahl näherte sich unbeirrbar ihrer Etage. Fast ein Jahr lang hatte sie Lisa mittlerweile eingearbeitet. Sie konnte sie gut leiden, und sie besaß auch Potenzial, doch Lisa schien einfach nicht in der Lage, Herz und Verstand voneinander zu trennen. Es war so, als wären ihr Gehirn und ihr Herz zu einem einzigen wirren Organ verschmolzen. Lisas dramatisches Liebesleben wäre in einen Roman verpackt von jedem Verleger als maßlos überzogen und völlig unglaubwürdig abgelehnt worden. Immer wieder hatte Sophie versuchte, ihr Mut zu machen und ihr ins Gewissen zu reden, und bei der letzten Krise hatte Sophie ihr die Tränen weggewischt und behutsam vorgeschlagen, sie sollte doch vielleicht versuchen, mit weniger Männern auszugehen, oder für eine Weile eine vollständige Männerpause einlegen, zumal sie ja nun wirklich kein glückliches Händchen zu haben schien. »Du meinst, ich soll den Männern ganz abschwören ? So wie du ?«, hatte sie mit dem typischen Takt einer Einundzwanzigjährigen gefragt. »Und was ist mit Sex ? Fehlt dir das Vögeln nicht ?« Sophie wusste noch genau, wie ihre Wangen rot wurden und wie sie sich dagegen entschieden hatte, Lisa anzuvertrauen, dass sie in den achtzehn Monaten, seit ihr Freund Alex per E-Mail mit ihr Schluss gemacht hatte, keinen Sex mehr gehabt hatte. Es war nicht so, als würde er ihr nicht fehlen. Sie vermisste Sex - auf eine abstrakte, verklärt romantische Art. Aber sie vermisste ihn nicht mit jemand bestimmtem. Nicht mal mit Alex - und ihn hatte sie nahezu geliebt - hatte für sie die Erde gebebt. Vermutlich bebte die Erde für überhaupt keine Frau, und in Wahrheit war das Ganze nur eine gigantische Verschwörung, ausgeheckt von Frauenzeitschriften und Männern, um alle Frauen zu verunsichern. Aber dann gab es wiederum Frauen wie Lisa, die diese Theorie gleich wieder über den Haufen warfen. Ihr machte Sex ganz eindeutig sehr viel Spaß, auch wenn es in Sachen Gefühlen jedes Mal in einer Enttäuschung endete. »Ich habe den Männern nicht abgeschworen«, hatte Sophie klargestellt. »Für mich hat nur meine Arbeit im Moment Vorrang vor allem anderen, und ich finde, so solltest du das auch handhaben. Wir befinden uns in einer sehr wichtigen Phase. Wenn Gillian ihre Arbeit wirklich aufgeben sollte, dann muss jemand ihren Job übernehmen. Hier eröffnen sich Möglichkeiten. Ich will aus meiner Karriere das Beste herausholen, und das solltest du auch machen. Ich biete dir hier eine wirklich große Chance, Lisa, und es wird Zeit, dass du sie anpackst. Enttäusch mich nicht.« »Das werde ich nicht«, hatte Lisa ihr voller Überzeugung versprochen, doch auf dem Weg zurück zu ihrem Schreibtisch hatte sie sich dann prompt in den Mann verliebt, der die Flaschen für die Wasserspender lieferte. Als er sie zwei Wochen später abservierte, war Lisa wieder genau an dem Punkt, wo sie schon zwei Wochen zuvor gewesen war. Der Aufzug hielt eine Etage tiefer. »Hier ist sie.« Cal stieß Lisa förmlich in Sophies Richtung. Die musterte ihre Auszubildende kritisch. Das Make-up war aufgefrischt worden, aber Lisas Augen waren gerötet und geschwollen, und sie schniefte leise. Sie hatte wieder mal geweint. »Hat Dave dich verlassen ?«, fragte Sophie, als es bis zur Ankunft des Lifts nur noch Sekunden waren. Lisa schaute sie betrübt an. »Dabei habe ich ihn nur gebeten, ihn meiner Mum vorstellen zu dürfen. War das zu anhänglich ?« Sophie seufzte. Hätte es eine Weltmeisterschaft im Anhänglichsein gegeben, dann wäre Lisa mit einem riesigen Vorsprung auf dem ersten Platz gelandet. Aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses Thema zur Sprache zu bringen.
»Wir reden später darüber«, sagte sie. »Jetzt konzentrier dich, und denk immer daran, warum du hier bist.« Dann öffneten sich die Aufzugtüren. Als Sophie und Lisa vom Meeting zurückkamen, war Sophie sehr mit sich zufrieden. Das Ganze war außerordentlich gut gelaufen, und Lisa hatte es zurück an ihren Schreibtisch geschafft, ohne sich unterwegs mit irgendwem zu verloben. Alles sah sehr gut aus. Ihr blieb sogar noch etwas Zeit, um vor ihrem Mittagessen mit Jake ein wenig Papierkram zu erledigen. Oder sie konnte bei Eve reinschauen, ihr von dem neuen Auftrag erzählen, ihr die neuen Stiefel zeigen und alles versuchen, um ihr den Tag zu verderben. »Du musst mir gar nicht erst erzählen, dass es gut gelaufen ist«, meinte Cal, der sie über den Rand der neuen OK ! hinweg
anschaute. »Du strahlst wie Sophie Mills, die siegreiche Kriegerkönigin unter den Partyplanern.« Vor seinem Schreibtisch blieb sie stehen und nahm ihm das Heft aus der Hand. »Mach dich nützlich«, forderte sie ihn auf. »Ich habe ein paar Minuten Luft, und die will ich nutzen, um ...« »... den neuesten Promiklatsch zu lesen ?«, fragte er und betrachtete geknickt seine Zeitschrift, die sie in der Hand hielt. »... die Ablage auf den neuesten Stand zu bringen«, behauptete sie.
Sie war gerade bei den exklusiven Fotos von irgendeiner Promi-Hochzeit angelangt, da unterbrach Cal sie. »Es gibt da ein kleines Problem, was deine Ablage angeht«, sagte er und warf einen flüchtigen Blick über die Schulter, dann senkte er die Stimme und fuhr fort : »Ein Problem von der unerwarteten Sorte. Elastischer Hosenbund. Kopftuch.« Als Sophie ihn ratlos ansah, ergänzte er : »Da ist eine ›Lady‹, die dich sprechen will.« Sein Tonfall ließ erkennen, dass er seine vorangegangene Beschreibung für mehr als ausreichend hielt. »Muss dein Zwölf-Uhr-Termin sein. TA. Oder besser gesagt : Tess Andrew.« Sophie musste an Jake denken, der jeden Moment hier auftauchen konnte, um sie zum Essen abzuholen, und ein wenig war sie sogar erleichtert darüber, dass sich so plötzlich ein Hindernis aufgetan hatte, das sie vor dem Treffen mit Jake bewahren konnte. »Kannst du sie wegschicken ? Kannst du ihr sagen, dass sich zwei Termine überschnitten haben, oder so was in der Art ?«, fragte Sophie, da sie nur zu gut wusste, dass Cal die meisten Leute dazu bringen konnte, fast alles zu tun, was er sagte. Er folgte ihr in ihr Büro und schloss die Tür, dann stellte er sich so dicht neben sie, dass Sophie Chanel Allure riechen konnte. Sie wusste nur nicht so genau, ob es pour homme oder pour femme war. Er hielt ihr eine abgegriffene Visitenkarte mit deutlichen Eselsohren hin. »Das hier hat sie mir gegeben und darum gebeten, dass sie die Karte zurückbekommt, weil sie nur die eine hat. Irgendwas wegen Budgetkürzungen oder so.« Sie nahm die Karte an sich und las den Text vor : »Tess Andrew. Sozialamt Highbury und Islington.« Sie sah verwundert auf. »Aber wir bekommen doch nur Aufträge von Privatunternehmen.« »Das habe ich ihr auch gesagt«, meinte Cal mit einem Schulterzucken. »Aber sie sagt, es sei was Persönliches. Und sie sagt, sie muss dich sprechen, und zwar jetzt.« Cal ließ eine kurze Pause folgen. »Hör zu, Sophie, es tut mir leid, aber sie steht in deinem Terminkalender. Sie sagt, sie hat heute Morgen angerufen, und eine nette junge Dame hat ihr den Termin gegeben und erklärt, das sei überhaupt kein Problem. Und sie hat gesagt, dass es wirklich dringend ist.« Von Cals üblichem Humor oder Sarkasmus war nichts zu entdecken. »Dringend ?«, wiederholte Sophie ein wenig beunruhigt. Was sollte eine Sozialarbeiterin mit ihr Dringendes besprechen wollen ? Oh Gott ! Sie stöhnte stumm auf. Hoffentlich hatten sich nicht wieder die Nachbarn über die Hunde ihrer Mutter beschwert, auch wenn sie ihnen das nicht verübeln konnte. Immerhin war ein Haus auf dem Markt nicht mehr viel wert,
wenn es gleich neben einem Quasi-Tierheim lag. Aber Sophie war nicht die Babysitterin ihrer Mutter, und selbst wenn sie es gewollt hätte, konnte sie ihr nicht verbieten, Hunde zu züchten. Die Tiere waren alle gut versorgt, und der Tierschutz hatte ebenfalls sein Okay gegeben. Das wusste Sophie aus eigener Erfahrung. Immerhin war sie in diesem Hundechaos aufgewachsen, und mehr als einmal hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter den Tieren den Vorzug vor ihr gab. Nachdem ihr Dad vor sechzehn Jahren gestorben war, hatte ihre Mum begonnen, neben der Zucht auch noch Streuner und ausgesetzte Tiere aufzunehmen. Was sie brauchte, war ein Bauernhof in Surrey, aber kein viktorianisches Reihenhaus in Highbury. Einen anderen Grund konnte sich Sophie für den Besuch einer Sozialarbeiterin nicht vorstellen, und darauf konnte sie nun wirklich verzichten. Aber wenn schon Cal diese Tess Andrew nicht zum Gehen bewegen konnte, dann war auch niemand sonst dazu in der Lage. »Okay, wenn's unbedingt sein muss«, sagte sie und ging die Situation mit ihrer gewohnt souveränen Art an. »Vielleicht kann ich das ja schnell hinter mich bringen, damit sie weg ist, bevor Jake herkommt.« »Jake kommt her, um dich zu abzuholen ?« Cal zog interessiert eine Augenbraue hoch. »Er ist ja so in dich verliebt.« Tess Andrew saß auf Cals Stuhl, als Sophie hereinkam, und hielt eine große bestickte Tasche fest umklammert. »Miss Andrew ?« Sophie lächelte der gefällig aussehenden Frau zu, die vermutlich Mitte fünfzig war, füllig und leicht unsortiert bis chaotisch, was durch ihren Zigeunerlook noch betont wurde. »Was kann ich für Sie tun ? Also, wenn es um meine Mum und ihre Hunde geht - da ist ihr mit Vernunft nicht beizukommen.
Sie sieht in deren ›kleine Gesichter‹, und dann setzt der Verstand aus. Ich kapier das selbst nicht. Ich bin ein Katzenmensch, müssen Sie wissen.« »Ähm, Miss Mills ? Es geht nicht um Hunde. Oder ... Katzen.« Die Frau folgte ihr in ihr Büro. »Sophie - Sie können ruhig Sophie sagen. Wenn's nicht um
Hunde geht, um was dann ? Um die Abflüsse ?« Sie war sich nicht so ganz sicher, was eine Sozialarbeiterin so alles machte, aber die Abflüsse im Erdgeschoss waren schon ein bisschen zickig.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Ralph Sander
... weniger
Autoren-Porträt von Rowan Coleman
Rowan Coleman wuchs im englischen Hertfordshire auf und wollte eigentlich immer schon Schriftstellerin werden. Nach ihrem Studium arbeitete sie sieben Jahre lang in einem Verlag und als Buchhändlerin, bis sie 2001 in einem Zeitschriftenwettbewerb als Autorin entdeckt wurde. Ihr erster Roman erschien 2002. Seitdem hat sie eine ganze Reihe von erfolgreichen Romanen und Jugendbüchern geschrieben. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hertfordshire.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rowan Coleman
- 2011, 1, 432 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007857
- ISBN-13: 9783868007855
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