Himmelstraße
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Dass sie die glückliche Mutter ihres ersten Kindes war, hatte sie zu diesem Zeitpunkt vergessen. Doch die Fotos von damals lügen nicht. Sie zeigen eine strahlende junge Frau im schmalen Garten des Reihenhauses, das wir mit einem anderen Emigranten bewohnten, die kleine Tochter in braunen Sandalen und weißen Söckchen stolz der Kamera entgegengeschoben. Erst als sie mit Paul schwanger war, bald nach dem Krieg, sickerte das Grauen der Schoah allmählich in ihr Bewusstsein. An den Schwiegervater schreibt sie, dass sie oft verdrossen sei und nicht mehr so jung wie früher. Die Schwangerschaft mache sie müde, undder fürchterliche Tod ihrer Eltern werde ihr nie wieder aus dem Kopf gehen. Es stand schlecht um Paul, schon vor seiner Geburt."
Der Bericht einer "Davongekommenen" - Erica Fischer, die Autorin von "Aimee & Jaguar", erzählt die ergreifende Geschichte ihrer Familie.
Himmelstraße vonErica Fischer
LESEPROBE
DER SCHMERZ sticht zu wie einMesser, ein Korsett umklammert Nacken und rechte Schulter. Ich kann den Kopfnicht mehr drehen, Zurückschauen ist aussichtslos. Sogar das Atmen tut weh.
Zu spät. Das Telefon schrillt inPauls Wohnung sechshundert Kilometer entfernt, fünfmal, zehnmal, zwanzigmal.Die Wohnung ist klein, bis zum zweiten Klingelton ist der Flur von jeder Stelleaus zu erreichen. Dort steht das Telefon, auf einem niedrigen Schränkchengleich neben der Eingangstür. Man kann sich, wenn man spricht, im Spiegelsehen. Drei Schritte nach rechts das Bad mit dem Klo.Daneben die Kammer für den Staubsauger und die Urlaubskoffer.
Die Wohnung muss leer sein, ich kannes förmlich hören, der Klang der Klingel hohl. Dieses widerwärtige schwarzeTelefon mit dem Schmutz unter der Wählscheibe, der Hörer schwer und unhandlich.Wie oft habe ich ihnen gesagt, sie sollen bei der Post ein neues Gerätbestellen, es kostet nichts. Ein Tastentelefon, mit dem man telefonieren kann,ohne sich den Finger zu verstauchen, neu, leicht und sauber. Doch alles Neuemacht ihnen Angst.
Oder: Mein Bruder liegt auf demBett, röchelnd, hebt nicht ab, auch wenn er noch könnte. So ist es schon einmalgewesen, vor zwanzig Jahren.
«Um Gottes willen, Paul röchelt!»Die Stimme der Mutter am Telefon klang hysterisch. Sie hatte über Nachtwegbleiben wollen und war überraschend zurückgekommen. Er lag auf dem schmalenJugendbett im Kabinett, über ihm die Regale seiner Bibliothek. Die Dichter undDenker schauten teilnahmslos hinunter.
«Mach kein Theater», schnauzte ichdie Mutter am Telefon an. Wenn sie Gefühle zeigte, wurde ich zu Eis. Dass siees damals alleine schaffte, die Rettung zu rufen, wundert mich heute noch.Wohin er gebracht wurde, sagte sie mir nicht. Das hatte ich davon.
Ich wohnte damals in Wien nicht weitvon ihr entfernt und fand es selbst heraus. Im Spital klang Pauls Atem wiedurch einen Lautsprecher verstärkt, Plastikschläuche überall, der Magen bereitsausgepumpt. Er warf den Kopf hin und her, und wenn sich seine Augen einenSchlitz weit öffneten, sah man nur das Weiße.
Es ist tief in der Nacht undplötzlich lautloser als sonst. Meine Wohnung liegt in Berlin an einerKopfsteinstraße. Wenn ein Auto vorüberfährt, höre iches rumpeln. Doch jetzt ist die Welt rundherum erstarrt. Meine Stimme am Telefonklingt fremd, wie eine automatische Ansage. Die Cousine. Merkwürdig, denke ich,dass ich in Wien tatsächlich eine Cousine habe.
«Warten wir bis morgen», bittet sie.Sie sei erkältet, und draußen türme sich der Schnee. Aber warten kann ichnicht.
«Ich melde mich wieder», sagt sienach einer Pause.
Das Kreischen des Telefonsdurchschneidet die Stille. «Ja?» Das Wort bleibt tonlos. Die Feuerwehr sei überdie Balkontür eingestiegen, berichtet die Cousine, sogar krank und um drei Uhrfrüh noch effizient. «Wir werden ein neues Glas in die Balkontür einsetzen lassenmüssen.» Sie denkt immer an alles.
Die Wohnung sei leer, sagt sie,mustergültig auf- geräumt. Auf dem Couchtisch ein Schlüsselbund, der Schlüsselpasse in die Wohnungstür. Daneben drei beschriftete Kuverts. Sie habe nichtsangerührt. Sie klingt erleichtert, eine aufgeräumte Wohnung ist ein Zeichen vonNormalität. Sicher ist sie froh, keine Blutlache vor- gefunden zu haben, keinenam Fensterkreuz hängen- den Paul, ja nicht einmal einen röchelnden Paul. Eine aufgeräumteWohnung beruhigt.
Ich rufe eine andere Cousine an, inSydney. Vorher überlege ich, welche Tageszeit dort ist. Auf keinen Fall will ichsie wegen einer Frage wecken, deren Antwort ich schon kenne. Meine englischeStimme klingt noch fremder. Noch nie habe ich mit Australien telefoniert. Wennman in Wien aufgewachsen ist, telefoniert man nicht mit dem Ausland.
«Nein, Paul ist nicht hier», meldetdie australische Cousine, als ob meine Frage sie nicht überrascht. «Machtnichts», sage ich, «war nur so ein Gedanke.»
Ein neues Leben in Australienbeginnen, Pauls Traum. Oder in New York. Die Emigranten von damals hätten esauch geschafft, sagte er. Sie kamen mit nichts und haben sich ein neues Lebenaufgebaut.
«Damals gab es Hilfsorganisationen, dubist kein Flüchtling. Die Schoah ist vorüber, unddas Leben in den Vereinigten Staaten ist hart. Wenn du es schon hier nichtschaffst, wie erst dort?»
Das war gemein, das hätte ich nichtsagen sollen. «Überleg dir, was du sagst! Du weißt nicht, mit wem du es zu tunhast!», blaffte er.
Ich verstand. Immer diese Drohung,seit Jahrzehnten schon.
Als die australische Cousine und ihrMann ein Jahr zuvor in Wien gewesen waren, hatte ich mit Paul das Nachtmahleingekauft. «Meinl am Graben», das vornehmsteGeschäft der Stadt. Er suchte die teuersten Sachen aus, Käse, Schinken, Lachs,Wein. Ich wollte ihn mäßigen. Die Familie hat immer sparsam gelebt, große Sprüngekonnten sich unsere Eltern nicht erlauben. Nach dem Tod des Vaters schaffte esdie Mutter, mit der kleinen Witwenpension so zu haushalten, dass immer nochGeld für den Urlaub blieb. Der Urlaub musste sein, seit den Fünfzigern fuhr dieFamilie jedes Jahr für ein paar Wochen nach Italien, Jugoslawien, Griechen- land:der Höhepunkt des Jahres, dafür musste man sich im Alltag einschränken. Undjetzt «Meinl am Graben». Paul war wie im Rausch.Aufgeregt packte er immer mehr Köstlichkeiten in den Einkaufswagen.
«Es ist ja nur dieses eine Mal»,sagte er.
Er sagte nicht «das letzte Mal», dasnicht. Aber es klang so.
Wie oft schon habe ich denSchlafwagen von Berlin nach Wien genommen. Eine wohlige Lebenspause zwischengebügelten Betttüchern. Solange der Zug unter mir dahingleitet,bin ich sicher. Ich reise inner- halb der Europäischen Union, ich muss keinebarschen Zollkontrollen befürchten, keine schweren Schritte auf dem Gang,niemand reißt mitten in der Nacht die Abteiltür auf, sodass sich meinHerzschlag beschleunigt, obwohl mein Pass nicht abgelaufen ist, ich kein illegalerFlüchtling bin und auch keine Schmuggelware mit mir führe.
Am 24. Oktober 1938, mehr als einhalbes Jahr nach dem sogenannten Anschluss,durchquerte meine Mutter ganz Deutschland, das Visum für Großbritannien inihren Pass mit dem «J» gestempelt, in panischer Angst, doch noch in letzterMinute aus dem Zug gezerrt zu werden. Sie trug ihr zweireihiges Maßkostüm mitdem breiten Revers und schräg auf dem Kopf ein Hütchenmit schmaler Krempe, eine elegante, zierliche Erscheinung. Sie wollte einenguten Eindruck machen bei ihrer Ankunft in London. Die Brosche mit der roten Koralle,die an ihrem Hals die Bluse zusammenhielt, war von ihr selbst angefertigt. IhrStudium an der Akademie für Angewandte Künste hatte sie nach dem Ein- marschHitlers nicht abschließen können, sie durfte die Schule nicht mehr betreten. IhreAbschlussarbeit wäre eine getriebene Teekanne aus Silber gewesen.
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© RowohltBerlin Verlag
- Autor: Erica Fischer
- 2007, 256 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871345849
- ISBN-13: 9783871345845
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