Hinter dem Vorhang
Ein Krimi aus Echo Falls
Es ist mal wieder einiges faul in Echo Falls, der äußerlich so idyllischen Kleinstadt. Höchste Zeit, dass Ingrid, die unerschrockene Heldin aus dem Bestseller Was geschah in Echo Falls, die Ermittlungen in die Hand nimmt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hinter dem Vorhang “
Es ist mal wieder einiges faul in Echo Falls, der äußerlich so idyllischen Kleinstadt. Höchste Zeit, dass Ingrid, die unerschrockene Heldin aus dem Bestseller Was geschah in Echo Falls, die Ermittlungen in die Hand nimmt.
Klappentext zu „Hinter dem Vorhang “
In Echo Falls weiß man nie, was als Nächstes passiert - und jeder scheint sein Geheimnis zu haben. Gerade war es ein bisschen ruhiger geworden in der Maple Lane 99, als sich die Ereignisse auf einmal überschlagen: Ingrids Dad hat Probleme im Job, möchte aber offensichtlich nicht darüber sprechen. Ingrids Bruder Ty ist plötzlich ein richtiger Muskelprotz, doch als er gleichzeitig immer aggressiver wird, fragt sich Ingrid, ob mehr dahinter steckt als nur sein beinhartes Krafttraining. Und Ingrids neue Fußballtrainerin ist eigentlich viel zu cool für eine Kleinstadt wie Echo Falls. Ingrid beschließt, mit Hilfe ihres Vorbildes Sherlock Holmes den Sachen auf den Grund zu gehen. Da wird sie eines Morgens gekidnappt.
In Echo Falls weiß man nie, was als Nächstes passiert - und jeder scheint sein Geheimnis zu haben. Gerade war es ein bisschen ruhiger geworden in der Maple Lane 99, als sich die Ereignisse auf einmal überschlagen: Ingrids Dad hat Probleme im Job, möchte aber offensichtlich nicht darüber sprechen. Ingrids Bruder Ty ist plötzlich ein richtiger Muskelprotz, doch als er gleichzeitig immer aggressiver wird, fragt sich Ingrid, ob mehr dahinter steckt als nur sein beinhartes Krafttraining. Und Ingrids neue Fußballtrainerin ist eigentlich viel zu cool für eine Kleinstadt wie Echo Falls. Ingrid beschließt, mit Hilfe ihres Vorbildes Sherlock Holmes den Sachen auf den Grund zu gehen. Da wird sie eines Morgens gekidnappt.
Lese-Probe zu „Hinter dem Vorhang “
Hinter dem Vorhang von Peter Abrahams LESEPROBE Eins Ingrid Levin-Hill saß im Mathe-Unterricht, und ihre Gedanken schweiften angenehm umher. Sie hatte den besten Platz im ganzen Haus – in der Außenreihe ganz hinten an den Fenstern, so weit wie nur möglich entfernt von der Lehrerin, Miss Groome. Die Ferrand Middle School stand auf einem Hügel am Fluss, etwa eine Meile stromaufwärts vom Wasserfall. Immer gab es irgendetwas Interessantes auf dem Fluss zu sehen, insbesondere wenn man die Angewohnheit hatte, auf kleine Details zu achten. Kleine Details, wie beispielsweise das Kräuseln des Wassers, wenn es um einen Stein herumfloss, oder der große schwarze Vogel, der mit unters Kinn geklemmten Flügeln auf dem Strom trieb, oder …»Ingrid? Ich gehe davon aus, dass ich deine Aufmerksamkeit habe?« Ingrid schnellte herum. Miss Groome beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, und ihre Augen waren sowieso schon schmal. »Zu einhundert Prozent«, sagte Ingrid in der schwachen Hoffnung, Miss Groome mit einer mathematischen Formulierung zu besänftigen. »Dann bin ich mir sicher, dass du dich schon sehr auf das Mathe-Fest freust.«Mathe-Fest? Wovon sprach Miss Groome überhaupt? Das Wort ergab ja nicht einmal irgendeinen Sinn, es war einer von diesen Widersprüchen in sich selbst.
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»Und wie ich mich freue«, sagte Ingrid. »Nur für den Fall, dass Ingrid zufällig irgendetwas nicht ganz mitbekommen hat«, sagte Miss Groome. »Wer möchte die Angelegenheit mit dem Mathe-Fest für sie zusammenfassen? « Niemand. »Bruce?«, fragte Miss Groome. Brucie Berman, mittlere Reihe, Platz ganz vorn, Klassenclown. Sein Bein durchfuhr das übliche Zucken. »Mathe-Fest – Schülerpest«, sagte Brucie. »Wie bitte?« Brucie versuchte unschuldig auszusehen, aber er war schon mit einem schuldigen Gesicht zur Welt gekommen. »Drei Glückspilze aus unserer Klasse dürfen zum Mathe- Fest gehen«, sagte er. »Und beim Mathe-Fest handelt es sich um …« »So ein extra fettes Mathe-Spektakel, das morgen steigt«, sagte Brucie. »Nicht morgen«, sagte Miss Groome. »Am Samstagvormittag um halb neun in der High School.« »Noch besser«, sagte Brucie. Miss Groome schürzte die Lippen und war jetzt ganz auf Brucie konzentriert. Es hatte schon Vorteile, Brucie in der Klasse zu haben. Ingrid schaltete ab, gerade noch rechtzeitig, um mitzubekommen, wie der große schwarze Vogel um eine Biegung des Flusses verschwand. Das konnte ja auf gar keinen Fall etwas mit ihr zu tun haben, auf gar keinen Fall würde sie zu den drei Auserwählten gehören. Sie hätte sowieso nicht in diesem Kurs sein dürfen, Algebra II. Es gab vier Mathe-Kurse für die achte Klassenstufe: Algebra I für die Genies, Algebra II für gute Mathe- Schüler, die es nicht bis zur Genie-Ebene brachten, den Algebra-Vorbereitungskurs, wo Ingrid hingehört hätte und wo sie gerne gewesen wäre, wenn ihre Eltern nicht auf allen vieren zu Miss Groome gekrochen wären, und Mathe I, früher Mathe-Nachhilfe genannt, für die Schüler, die sozusagen nur auf Bewährung draußen waren. Mathe-Spektakel am Samstagvormittag. Wer denkt sich so was aus? Erwachsene natürlich, und zwar solche mit einem Humor, wie ihn der Wärter aus Flucht von Alcatraz hatte. Ingrid nahm halbwegs wahr, dass Miss Groome lange Zahlenreihen an die Tafel kritzelte, alles unscharf und verschwommen. Sie schrieb einen Zettel – Wie heißt der Ausdruck für Sachen wie Riesiger Zwerg oder Mathe- Fest? –, knüllte ihn zusammen und warf ihn unauffällig zu Mias Pult in die Nebenreihe. Mia war die klügste Schülerin in der Klasse, hätte eigentlich in Algebra I sein müssen, aber sie und ihre Mutter waren erst letztes Jahr aus New York hierhergezogen, und die Schule hatte Mist gebaut. Mia strich den Zettel glatt, las ihn und schrieb eine Antwort. Die Sonne, eine kleine Herbstsonne, eher silbern als golden, schien auf Mias Hand – ihre Finger, ihre Haut: Alles an ihr war so zart. Sie rollte den Zettel wieder zusammen und flippte ihn über den Gang. Ingrid griff danach, aber aus heiterem Himmel, so plötzlich, dass sie sich einen Moment lang nicht einmal sicher war, ob es sich wirklich ereignet hatte, schoss eine andere Hand ins Bild und schnappte sich den Zettel aus der Luft. Nichts Zartes war an dieser Hand: Schuppige Haut, geschwollene Knöchel. »Was kann wohl derartig wichtig sein?«, fragte Miss Groome und faltete den Zettel auseinander. »Ich brenne darauf, es zu erfahren.« Die Sonne ließ auf ihrer Brille Fingerabdrücke aufleuchten, die ihre Augen verdeckten. Sie las den Zettel und steckte ihn sich in die Tasche. Ihr Mund öffnete sich zu einem dünnen, haiartigen Schlitz. Irgendeine vernichtende Bemerkung war unterwegs, aber genau in diesem Moment – als wäre es ein Zeichen von oben – klingelte es. Die Stunde war vorbei! Vom Klingeln gerettet! Im ganzen Raum schoben die Schüler quietschend ihre Stühle zurück und standen auf. Es war ein ziemliches Getöse. Die Ferien konnten gar nicht früh genug kommen. »Nur noch einen Moment«, sagte Miss Groome, und es schien weniger so, als würde sie ihre Stimme über den ganzen Radau erheben, sondern eher, als würde sie ihn mit einem Eispickel durchstechen. Alle erstarrten. »Wir haben immer noch nicht unser Mathe-Fest-Team gewählt.« Brucie meldete sich. »Danke, Bruce. Herzlichen Glückwunsch.« »Oh, nein«, sagte Brucie. »Warten Sie. Ich wollte doch bloß sagen, dass wir das morgen machen können.« Mrs Groome schien das nicht zu hören. »Gibt es irgendwelche Freiwilligen für die zwei anderen freien Plätze?« Es gab keine. »Dann liegt das Vergnügen also bei mir«, sagte Miss Groome. Sie lächelte – wenn man unter lächeln versteht, dass sich die Mundwinkel heben und die Zähne kurz zum Vorschein kommen. »Mia. Ingrid. Wünscht unserem Team viel Glück, alle miteinander.« »Viel Glück!«, sagten alle in bester Laune, weil es sie nicht getroffen hatte. »Aber, warten Sie …«, sagte Brucie. »Ich könnte ja krank werden«, sagte Brucie auf der Busfahrt nach Hause. Irgendjemand kicherte. »Wie wär’s, wenn ich eine Entschuldigung fälschen würde? «, sagte Brucie. »Mit Photoshop könnte ich sie genauso aussehen lassen wie ein ärztliches …« »Mund zu, Junge, aber zacki«, sagte der Fahrer, Mr Sidney, dem seine Schlacht-in-der-Korallensee-Kappe tief über die Augen hing, wie bei einem Schiffskapitän in stürmischer See. Brucie machte den Mund zu, da die Alternative darin bestand, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen, eine Erfahrung, die Brucie letztes Jahr am ersten Schultag machen durfte und erst vergangene Woche hatte auffrischen müssen. Mr Sidney hielt bei Ingrid vor der Tür. »Bis dann, Petunie«, sagte er. Mädchen hießen bei Mr Sidney Petunien, Jungs Jungs. Alles musste ganz anders gewesen sein, damals, als er aufgewachsen war. Ingrid stieg aus dem Bus und ging über den Ziegelsteinweg zum Haus. Die Maple Lane Nummer 99 war der einzige Ort, an dem sie je gelebt hatte. Nicht das größte, neueste oder eleganteste Haus in der Nachbarschaft, dem Riverbend-Viertel, aber es hatte eine Menge Vorteile zu bieten. Wie die Frühstücksecke in der Küche zum Beispiel, die auf drei Seiten von Fenstern umgeben war und in der die Familie – Mom, Dad, Ingrid und ihr Bruder Ty, ein Neuntklässler an der Echo Falls High (an der die Red Raiders zu Hause waren) – so ziemlich alle Mahlzeiten einnahm; und der Wohnzimmerkamin, an dem die Ziegelsteine in einem Zickzack gesetzt waren, das zum Muster des Schornsteins und zum Ziegelsteinweg vorm Haus passte – ein hübscher Zug, wie Ingrid fand –, und, vielleicht an erster Stelle, ihr Zimmer auf der Rückseite, von dem aus man auf den Stadtwald hinunterblickte: Der kleinste Raum des Hauses, abgesehen von den Badezimmern, und der friedlichste von allen. Ingrid ging halb ums Haus herum und schloss die Tür zum Durchgangszimmer auf. Nigel kam herausgeschlendert. »Hey, mein Junge«, sagte Ingrid und beugte sich hinunter, um ihn zu streicheln. Nigel liebte es, gestreichelt zu werden, es war wahrscheinlich seine zweitliebste Sache, nach dem Fressen. Aber jetzt änderte er seine Richtung, als würde er in Zeitlupe eine Art Haken schlagen, der ihn außer Reichweite ihrer Hand brachte. »Nigel?« Nigel, der den Rasen überquerte, schwenkte seinen Kopf zu ihr herüber, marschierte dadurch in die eine Richtung und schaute in die andere. Er hatte ein hängebackiges Gesicht und ein tweedartiges Fell, sah also genauso aus wie Nigel Bruce, der in den alten schwarz-weißen Sherlock- Holmes-Filmen Doktor Watson gespielt hatte. Ingrid, die ein großer Fan von Sherlock Holmes war, besaß sie alle auf DVD. Ihr Nigel konnte, genau wie Doktor Watson, etwas schwer von Begriff sein. Im Unterschied zu Doktor Watson aber war nicht immer auf ihn Verlass. Ein Beispiel dafür war, wie er jetzt den Augenkontakt vermied, seinen Marsch wieder aufnahm und sich in Richtung Straße aufmachte. Nigel durfte nicht auf die Straße. Mit dem Buch Wie man selbst den dümmsten Hund trainiert in der Hand, hatte Ingrid Stunden mit Nigel zugebracht und ihn gelehrt, nicht das Grundstück zu verlassen. Den letztendlichen Trainingserfolg hatte sie mit einem koscheren Hotdog ohne Schweinefleisch belohnt, seiner Lieblingssorte. Nigel verharrte an der Rasenkante, die rechte Vorderpfote ganz nach Art dieser klugen Jagdhunde erhoben, die Kommandos in verschiedenen Sprachen verstehen. Ob er sich an die Hotdogs erinnerte, vielleicht wenigstens ein bisschen? »Nigel?« Er trat mit einer anmutigen kleinen Bewegung auf die Straße – wie Zero Mostel in The Producers, einem von Ingrids Lieblingsfilmen –, die sie immer noch überraschte und nie etwas Gutes zu bedeuten hatte. Im nächsten Moment legte er einen schnelleren Gang ein, eine Art watschelndes Trotten, seine Höchstgeschwindigkeit. »Nigel!« Ingrid ließ ihren Rucksack fallen und eilte ihm hinterher. Nigel versuchte schneller zu laufen – sie konnte das an der ergrimmten Art erkennen, mit der sein zerzauster Schwanz wackelte, was ihn allerdings, wenn überhaupt, nur noch langsamer machte. Er erreichte die gegenüberliegende Seite der Maple Lane, schnüffelte am Rasen der Grunellos und begab sich dann auf direktem Weg zu der steinernen Engels-Vogeltränke, die vor deren Eingangstür stand. »Wag es ja nicht!«, sagte Ingrid und rannte über den Rasen. Zu spät. Nigel hob sein Bein an der Vogeltränke. Ingrid packte ihn an seinem Halsband und schleifte ihn weg, wobei sie auf dem gesamten Weg zurück zur Straße einen goldenen Bogen hinter sich herzog. Nigel mochte die Grunellos nicht, ein Paar in mittlerem Alter, das nett zu Tieren war, niemals jemanden störte und viel Zeit auswärts verbrachte. So wie auch jetzt, Gott sei Dank. Am Ende der Einfahrt schnappte er sich die Ausgabe des Echos der Grunellos. »Leg das hin.« Aber er hielt mit all seiner Kraft die zusammengerollte Zeitung fest, bis sie zurück im Vorflur waren. Dann ließ er sie auf lässige Weise fallen und kletterte durch die Hundetür. »Von den Hotdogs kannst du dich schon mal verabschieden «, sagte Ingrid. Sie konnte hören, wie er in der Küche hechelte, als hätte er gerade eine unglaubliche Heldentat vollbracht. Ingrid hob das Echo auf, das jetzt ziemlich vollgesabbert und ramponiert war. Sie würde einen Austausch vornehmen und ihre eigene Ausgabe auf den Rasen der Grunellos zurücklegen müssen. Aber der Zeitungsjunge hatte sie heute vergessen. Ingrid ging hinein, wobei sie einen Blick auf die erste Seite warf. Die Titelgeschichte lautete SENIOREN-ZENTRUM MIT PAUKENSCHLAG ERÖFFNET und wurde von einem Foto begleitet, auf dem irgendwelche weißhaarigen Leute um einen Blumentopf herumstanden und sich scheckig lachten. Darunter stand irgendwas über neue Vorschriften von der Naturschutz-Kommission, alles schon ziemlich durchgekaut, und darunter, unter einer Überschrift, die NEUZUGANG FÜR ECHO FALLS lautete, war ein Foto einer umwerfend aussehenden Frau abgedruckt, die offenbar ein bisschen jünger war als Mom. In der Tat ähnelte sie Mom – hatte dunkles Haar, große mandelförmige Augen –, aber wenn Mom auch hübsch war, konnte man sie doch nicht als umwerfend bezeichnen. Ingrid schaute genauer hin, sah die hohen Wangenknochen, die feine Kontur der Lippen: Alles vollkommen, wenn auch ein bisschen streng; also vielleicht doch nicht wie Mom. Miss Julia LeCaine ist aus Manhattan nach Echo Falls gezogen, um die Position einer Vizepräsidentin für operative Geschäftsplanung bei der Ferrand Gruppe zu bekleiden. Hey. Dad arbeitete für die Ferrand Gruppe. Und er war ebenfalls Vizepräsident. Miss LeCaine, Absolventin der Princeton University mit einem Abschluss als Master of Business Administration von der Wharton School of Business, war Gründerin einer eigenen Internetfirma. Als herausragende frühere Fußballspielerin saß sie 1992 sogar für die Nationalmannschaft der USA auf der Ersatzbank. Willkommen in Echo Falls, Miss LeCaine! Ingrid ging in die Küche und holte sich eine Fresca aus dem Kühlschrank. Glückseligkeit – in ihrer reinsten Form! Wer auch immer Fresca erfunden hatte, war ein Genie. Ob es das als echten Beruf gab: Softdrinks erfinden? Da zeichnete sich eine völlig neue Karrieremöglichkeit ab, eine willkommene Absicherung für den Fall, dass ihre erste Wahl, Schauspielerin oder Regisseurin bei Theater und Film, nicht durchschlagen würde. Ingrid leerte die Dose bis auf den letzten Tropfen und öffnete den Müllschrank unter der Spüle. »Ist ja komisch«, sagte sie. Oben auf der Mülltüte – die ausgetauscht werden musste, was Tys Job war – lag das Echo, das heutige Echo, immer noch zusammengerollt. Wie konnte das sein? Mom und Dad waren bei der Arbeit, würden frühestens in ein paar Stunden zurück sein, und Ty, der einzige Neuntklässler im High-School-Team, war beim Footballtraining. Ingrid blickte zu Nigel hinüber, der, wie es so seine Art war, mit einer Pfote über den Augen neben dem Waschbecken lag, als wolle er sich das Licht vom Leibe halten. Nigel – der aus dem verschlossenen Haus gelangt, die Zeitung herbeiholt, sie in den Müll wirft und selbst wieder hinter sich abschließt? Höchstens in einem Universum, in dem alles auf dem Kopf steht. Ingrid hörte Schritte irgendwo im oberen Stock. Oh mein Gott. Ihr fiel ein ähnlicher Moment ein, damals, als sie Polizeichef Strade geholfen hatte, den Müll-Katie-Fall zu lösen. Ein schauriger Moment, der zu allen möglichen beängstigenden Dingen geführt hatte. Bewegungslos stand sie am Spülbecken. Noch ein Schritt, direkt über ihr. Das kam aus dem Büro von Mom und Dad im ersten Stock, das gleichzeitig das Gästeschlafzimmer war. Und kam ihr an diesen Schritten irgendetwas bekannt vor? Hatten Schritte bei jedem Menschen einen einzigartigen Klang, wie Fingerabdrücke, nur viel schwieriger zu unterscheiden? Ingrid wusste es nicht, aber sie glaubte die Schritte wiederzuerkennen. Sie ging in die Eingangshalle, die Treppe hinauf, wandte sich links dem Büro zu. Die Tür war zur Hälfte geöffnet. Ingrid spähte hinein. Dad saß, mit dem Rücken zu ihr, am Schreibtisch. Der Computer war eingeschaltet, und er trug einen Anzug – Dads Anzüge sahen alle sehr gut aus, hatten Ärmelknöpfe, die man tatsächlich aufknöpfen konnte –, aber er arbeitete nicht. Stattdessen war er nach vorn zusammengesackt und lag mit dem Kopf auf der Tischplatte. »Dad? Geht’s dir gut?« Er setzte sich eilig auf und fuhr herum. Ingrid erhaschte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht, wie sie es selten zu sehen bekam – bleich und besorgt. Dann folgte ein Lächeln, und innerhalb einer Sekunde sah er wieder mehr wie er selbst aus, wie der bestaussehende Dad von Echo Falls. »Hi, Süße«, sagte er. »Was machst du hier?« »Ich?«, fragte Ingrid. »Ich bin grad von der Schule gekommen. « »Oh«, sagte Dad. »Richtig.« »Alles okay, Dad?« »Klar«, sagte Dad. Er warf einen Blick auf den Computer, schaltete ihn aus. »Bin nur ein bisschen k. o. heute. Bei Stress und Hektik ohne Schluss …« Er machte eine Pause und wartete darauf, dass sie den Satz zu Ende brachte. »… Dad bald in die Rente muss«, sagte Ingrid. Er lachte. Der Computermonitor war jetzt leer, aber Ingrid hatte schnelle Augen, und sie hatten die letzte, verschwindende Seite noch aufgeschnappt: Jobs.com. Zwei »Hat jemand das Echo gesehen?«, fragte Mom, während sie die Außer-Haus-Kartons von Ta Tung auf den Tisch stellte. »Ich muss die Annoncen durchgehen.« Mom war Maklerin bei Riverbend Immobilien und schrieb für die Firma auch alle Anzeigen, die das Echo nicht immer richtig hinbekam.Dad, der mit einem Glas in der Hand vom Wohnzimmer hereinkam, blieb für einen kurzen Moment stehen, und eine winzige Welle goldener Flüssigkeit schwappte über den Rand. Ingrid konzentrierte sich darauf, die Teller und das Besteck auszulegen, sowie die Essstäbchen für sich selbst. Ty, der mit der Gabel in der einen und dem Messer in der anderen Hand auf seinem Stuhl wartete, war der Einzige, der reagierte. »Hast du Mongolische Rippchen bekommen?«, fragte er. Das war nicht im eigentlichen Sinne eine Antwort, aber Ty liebte Mongolische Rippchen eben. Mom deutete auf einen der Kartons, schleuderte gleichzeitig ihre Hackenschuhe von den Füßen und schlüpfte in ihre Schafwollpantoffeln. Sie setzten sich zum Abendessen. »Und, wie war euer Tag?«, fragte sie. »Großartig«, sagte Ingrid. »Irgendwas Besonderes passiert?« »Nö.« »Was lest ihr gerade in Englisch?« »Nichts.« »Nichts?« »Wir nehmen Adverbien durch«, sagte Ingrid. »Wir sollen ganz viele Adverbien benutzen.« »Sollt ihr?« »Ununterbrochen«, sagte Ingrid. »Das wäre dann auch gleich schon mal eins.« Mom lachte. Dad nahm einen großen Schluck von seinem Drink. Ty sagte: »Gibt’s hier irgendwo knusprige Ente?« Mom reichte ihm einen Karton. »Wie war’s bei dir, Ty?« »Was – bei mir?«, fragte Ty, während er das größte Stück Ente aufspießte. »Dein Tag«, sagte Mom. Ty zuckte mit den Schultern. Dad schaute auf. »Wie war das Training?«, fragte er. »Nicht schlecht«, sagte Ty und schüttete Pflaumensoße über alles, was auf seinem Teller lag. »Gegen wen geht’s am Freitag?« »Rocky Hill.« »Mit dem Quarterback, hinter dem das B.C. her ist?«, fragte Dad. Ty, der sein Messer immer anpackte, als ob er damit zustechen wollte, ganz gleich, wie oft Mom ihn zurechtwies, schnitt sich etwas von der knusprigen Ente ab und begann zu kauen – mit offenem Mund. »B.C.?«, fragte er. »Boston College«, sagte Dad, und sein Ton wurde schärfer. »Eine Erstliga-Uni, falls du noch nichts davon gehört haben solltest. Der hat ’ne Feuerwaffe anstelle seines Arms. Hat euch der Coach das nicht erzählt?« »Möglich«, sagte Ty und spießte noch ein Stück auf. »Kann mich nicht erinnern.« Dad knallte seine Hand auf den Tisch, so unerwartet, dass Ingrid zusammenzuckte. »Verdammt«, sagte er. »Glaubst du, das ist gut genug?« »Häh?«, sagte Ty. »So läuft die Welt nämlich nicht, mein Freund.« Dad erhob sich, nahm seinen Drink und verließ den Raum. »Mark?«, sagte Mom. Er antwortete nicht. Ingrid hörte seine Schritte in der Eingangshalle, dann auf der Treppe nach oben. »Weswegen ist der denn so angefressen?«, fragte Ty. Mom hatte wunderschöne Haut, die dunkelste der ganzen Familie und sehr zart, deren einzigen Makel zwei senkrechte Falten auf der Stirn bildeten, direkt zwischen den Augen. Manchmal waren sie kaum sichtbar; bei anderen Gelegenheiten – jetzt zum Beispiel – vertieften sie sich. Für Ingrid waren sie ein Messgerät, wie ein Barometer, mit dem man die Wetterlage in Moms Welt vorhersagen konnte. »Entschuldigt mich«, sagte Mom und faltete ihre Serviette zusammen. Ihre Schritte verklangen schnell, denn die Schafwollpantoffeln machten so gut wie gar kein Geräusch. Ty und Ingrid schauten einander an. »Was macht Dad eigentlich genau beruflich?«, fragte Ingrid. »Häh?«, machte Ty. »Arbeitet für Mr Ferrand, weißt du doch. Schieb mal die Frühlingsrollen rüber.« »Wie viel willst du eigentlich essen?« »Muss mein Gewicht raufkriegen.« Ty biss die Hälfte einer Frühlingsrolle ab. »Die sind echt das Beste«, sagte er, oder irgendetwas in der Art – es war schwer, ihn zu verstehen, wenn sein Mund so voll war. »Das liegt an den Enden«, sagte Ingrid. »Den Enden?« »Die Frühlingsrollen bei Ta Tung haben diese gebräunten Enden«, sagte Ingrid. »Das macht sonst keiner so.« Ty untersuchte das übrig gebliebene Ende seiner Frühlingsrolle. »Gebräunt«, sagte er. »Cool.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Wie kommt’s, dass du so ’n Zeug weißt?« Durch Sherlock Holmes natürlich, der an die Wichtigkeit des Beobachtens von Kleinigkeiten glaubte. Aber eine der Kleinigkeiten, die Ingrid beobachtet hatte, war die Art und Weise, wie die Leute leere Blicke bekamen, wenn sie mit Holmes anfing. So zuckte sie einfach mit den Schultern und fragte: »Was macht Dad denn für Mr Ferrand?« »Sie entwickeln Sachen«, sagte Ty. »Investieren. Dad ist der Mann an zweiter Stelle, Vizepräsident.« »Wie viele Vizepräsidenten gibt es?« »Bloß Dad. Isst du die letzte da noch?« Ingrid reichte Ty die letzte Frühlingsrolle. Irgendwo oben ging eine Tür zu. Dads Stimme wurde einen Moment lang laut. Dann sagte Mom etwas, und Dad wurde leiser. Im ganzen Haus wurde es leise, abgesehen von Tys Kaugeräuschen. Zeit, aufzuräumen. »Schere, Stein, Papier«, sagte Ingrid. Ty nickte. Sie ballten die Fäuste. Ihre Blicke trafen sich. Sie versuchten, die Gedanken des anderen zu lesen. »Eins, zwei, drei«, sagte Ty. Sie schwenkten die Hände hin und her. Er würde den Stein nehmen, ohne jeden Zweifel. Es gab niemanden, den Ingrid besser kannte als Ty. Sie ließ ihre flach ausgestreckten Finger vorschnellen – Papier. Und Ty: Schere. Schere? Er nahm nie die Schere. »Vergiss die Arbeitsplatte nicht«, sagte er, während er hinausging. Ingrid räumte auf. Zuerst wurden die Teller leer gekratzt. Das hieß, den Müllschrank zu öffnen und einen erneuten Blick auf das Echo zu werfen – jetzt auf zwei Ausgaben, ihre und die von den Grunellos. Miss Julia LeCaine ist aus Manhattan blabla … Vizepräsidentin für operative Geschäftsplanung. Hieß das, Dad war Vizepräsident von allem anderen? Vielleicht war das etwas Gutes. Je reicher die Firma war, desto mehr Vizepräsidenten gab es vielleicht. Microsoft hatte wahrscheinlich Tausende, und bei allen stapelte sich das Geld schneller, als sie es zählen konnten. Wenn sie reich werden würden, sie alle vier, ihre Familie, was würde sie sich dann als Erstes kaufen … Ja, was eigentlich? Ingrid räumte den Geschirrspüler ein und versuchte dabei gerade, auf die perfekte Spitzen-Anschaffung zu kommen, als es an der Tür klingelte. Ingrid ging in die Halle, schaltete die Außenbeleuchtung an und öffnete die Tür. Sean Rubino? Sean war der ältere Bruder ihrer besten Freundin Stacy und hatte Stacy schon ein, zwei Mal bei ihnen abgesetzt, aber er war noch nie bis zur Tür gekommen. »Yo«, sagte er. Ingrid spähte an ihm vorbei. Sein Auto, ein verbeulter alter Firebird mit einem HÖLLE AUF RÄDERN-Sticker auf der Stoßstange, parkte auf der Straße. Niemand saß darin. »Hi«, sagte Ingrid. War er gekommen, um Stacy abzuholen? »Sie ist nicht da.« »Wer?«, fragte Sean. »Stacy.« Und wo man schon mal beim Thema war, hatte man ihm nicht den Führerschein abgenommen, wegen dieser Trunkenheitsgeschichte am Labor Day? »Ich will zu Ty«, sagte Sean. »Ty?« Sean und Ty waren nicht befreundet. Erst mal war Sean zwei Jahre älter, ein Elftklässler an der Echo Falls High School, und außerdem hatte er mit Sport nichts am Hut, auch wenn er ziemlich kräftig war. »Isser da?«, fragte Sean. Ingrid blickte zu ihm auf. Sean sah seiner Schwester sehr ähnlich: Das gleiche breite Gesicht, die gleiche Haarfarbe – auch wenn Stacys Haar nicht so aufgegelt war –, aber der Eindruck, den beide hinterließen, war völlig verschieden. »Ich hol ihn«, sagte sie. Er kam herein, stellte sich in die Eingangshalle und ließ den Blick schweifen. Ingrid ging nach oben. Die Tür von Mom und Dad war geschlossen, die von Ty geöffnet. Er hatte einen Stapel Bücher auf seinem Tisch liegen, spielte aber ein Videospiel. »Sean Rubino ist da und will zu dir«, sagte Ingrid. Ty wandte sich von einem explodierenden Wurmwesen ab. »Ja? Sag ihm, er soll raufkommen.« Ingrid blieb stehen. »Du willst, dass Sean Rubino raufkommt? « Tys Augen nahmen den gereizten Blick an, den sie so gut kannte. »Wo liegt dein Problem?« Ingrid ging nach unten. Dads Golfsachen standen in der Ecke neben der Tür. Sean untersuchte gerade den Putter. »Er sagt, du sollst raufkommen«, sagte Ingrid. »Zweite Tür rechts.« Sean ließ den Putter zurück in Dads Tasche gleiten und ging nach oben. Ihr gefiel die Art nicht, wie er seine Hand aufs Geländer legte, was natürlich verrückt war. Ingrid holte sich ihren Rucksack und setzte sich an den Küchentisch, ihren absoluten Lieblingsplatz für Hausaufgaben. Sie schloss die Augen, zog ein Heft hervor. Was immer es war, sie würde es als Erstes erledigen. Es sei denn, es stellte sich als Mathe heraus. Sie versuchte es noch mal. Englisch. Das war besser. Die Aufgabe: Schreib zehn grammatisch korrekte Sätze, in denen jeweils zwei Adverbien vorkommen. Ingrid ging zum Kühlschrank und ließ eine Fresca aufschnappen. Ahh. 1. »Diese Leiche ist kürzlich erfroren«, sagte Sherlock Holmes eisig. 2. Elegant stieg Holmes in die elegante Kutsche, als das Pferd nasal wieherte. 3. Dr. Watson räusperte sich hustend, als die Dame in Rot … Ingrid hörte, wie Schritte die Treppe hinunterkamen. Die Eingangstür öffnete und schloss sich wieder. Sie ging in die Eingangshalle und schaute gerade noch rechtzeitig aus dem Fenster, um zu sehen, wie Sean im Firebird, dem ein Rücklicht fehlte, davonfuhr. Er bog rechts in die Avondale Road ein und verschwand. Ingrid wollte eben zu ihren Hausaufgaben zurückkehren, als unten auf der Straße Scheinwerfer aufleuchteten. Ein zweiter Wagen fuhr vorbei, der ebenfalls rechts in die Avondale Road einbog. Bei diesem stand POLIZEI ECHO FALLS auf der Fahrertür, und in kleineren Buchstaben POLIZEICHEF. Aber Ingrid hätte Chief Gilbert L. Strade ohnehin erkannt – einfach an der massiven Silhouette hinterm Steuer. Hausaufgaben komplett erledigt, zumindest zu ihrer Zufriedenheit. Manchmal war Ingrid leicht zufrieden zu stellen. Oben auf ihrem Zimmer ging sie online und schickte im Chat eine Nachricht an Stacy. Gridster 22: sean war hier Powerup 77: ??? Gridster 22: wollte zu ty Powerup 77: sean mein blöder bruder? Gridster 22: yep Powerup 77: warum? Gridster 22: frag ich dich Powerup 77: keine ahnung – willst du nach dem spiel zu uns kommen? Gridster 22: klingt guuuuuuuuuut – ich werd Ty steckte seinen Kopf zur Tür rein. »Haste mal ’n Moment Zeit?«, fragte er. Gridster 22: melde mich später nochmal »Was denn?«, fragte Ingrid. »Brauche wen zum Absichern«, sagte er. »Was ist mit Dad?« »Die sind schlafen gegangen.« »Warum denn so früh?« »Seh ich aus wie ’ne Suchmaschine?«, fragte Ty. »Hilfst du mir oder nicht?« Ingrid ging mit Ty in den Keller. Sie hatten praktisch ein komplettes Fitnessstudio da unten: Stair-Master- Heimtrainer, Laufband, Slant Board, Hantelbank und Geräte fürs Bein-Beugen, -Strecken und -Pressen, für Sit ups, Brust- und Deltamuskeltraining, von denen Ingrid aber nie eines benutzte. Sie hatte in einem Magazin gelesen – genau genommen auf der Seite mit den Leserbriefen, in einem Brief von jemandem, der nicht mal Mediziner war, den man aber trotzdem abgedruckt hatte –, dass man mit dreizehn zu jung für Gewichtstraining war. Es hatte ja keinen Sinn, unnötige Risiken einzugehen. Ty ging zur Hantelbank, schob eine Zwanzig-Kilo- Scheibe auf jede Seite der Stange, dann fügte er noch zwei Zehner hinzu. Zwanzig plus zwanzig waren vierzig, plus zwanzig waren sechzig, und dann durfte man das Gewicht der Stange selbst nicht vergessen – noch mal zwanzig: achtzig Kilo. Wow. Das meiste, was sie ihn je hatte stemmen sehen, waren jeweils zwei Zehner auf jeder Seite: Sechzig – und das war erst vor ein paar Wochen gewesen. Diese Eisenplatten – sie waren so riesig. »Was guckst du so?«, fragte er. »Nichts.« Ty legte sich auf die Bank. Ingrid stand hinter dem Kopfteil, bereit zu helfen, wenn er Schwierigkeiten bekommen sollte, die Stange zurück auf die Halterung zu bringen. Aber was für eine Hilfe konnte sie schon sein bei achtzig Kilo? Ingrid wog dreiundvierzig Kilo. Ty umfasste die Stange, und seine Finger tasteten nach der Stelle, die sich richtig anfühlte. Er stellte seine Füße fest auf den Boden, tastete auch mit ihnen zuerst ein wenig herum. Dann holte er tief Luft, riss das Gewicht aus der Halterung, ließ es auf seine Brust herab und stemmte es wieder hoch. »Eins«, sagte Ingrid. Runter. Rauf. »Zwei.« Er grunzte. »Drei.« Die Grunzer wurden lauter. Sein Gesicht lief rot an. Seine Augen traten hervor. Er sah aus wie ein Freak. Aber er schaffte zehn. Zehnmal achtzig, und ohne Hilfe brachte er die Stange auf die Halterung hinauf. »Hey«, sagte Ingrid. Ty lag auf der Bank, seine Brust hob und senkte sich und seine Muskeln spannten das T-Shirt. RED RAIDER FOOTBALL stand vorn darauf. GRÖSSER, SCHNELLER, STÄRKER. »Was wollte Sean eigentlich hier?«, fragte Ingrid. »Nichts«, sagte Ty und griff nach der Stange. Er holte einige Male tief Luft. »Fertig«, sagte er und stemmte beim letzten Ausatmen. »Eins«, sagte Ingrid. So musste es wohl für einen Sklaventreiber auf einer römischen Galeere gewesen sein: Leichte Arbeit, allerdings langweilig und ein wenig miefig, was den Geruch betraf. Ty grunzte lauter, lief noch weiter rot an, die Augen traten noch weiter hervor, er schaffte aber weitere zehn. »Gute Arbeit«, sagte sie. Er richtete sich auf, rieb sich die Schulter. Ingrid wandte sich ab, um wegzugehen. »Noch ein Set«, sagte er. Er nahm zwei Fünfer vom Gewichtstapel herunter und schob sie auf die Stange. Achtzig plus zehn? Das waren … »Was machst du denn?«, fragte Ingrid. »Nur drei Mal«, sagte Ty. »Also echt …«, sagte Ingrid. »Hab ich dich nach deiner Meinung gefragt?«, fauchte Ty. Er lag auf der Bank, griff sich die Stange, stellte seine Füße fest auf, holte gewaltig tief Luft, stemmte. Die Stange hob sich von der Halterung. Ty ließ sie auf seine Brust hinab, grunzte, versuchte, das Gewicht wieder hinaufzuhieven, wobei eine Ader, ganz blau und pochend, an seinem Hals hervortrat. Langsam, furchtbar langsam hob sich die Stange. Ingrid hörte, wie seine Zähne knirschten, machte sich bereit, um »Eins« zu sagen. Doch in diesem Moment – die Stange war immer noch vielleicht fünfzehn Zentimeter von der Halterung entfernt – fingen Tys Arme an zu zittern, und die Stange kam ins Stocken. »Ein bisschen Hilfe«, sagte er, mit beinahe ganz normaler Stimme. Hilfe? Was sollte sie denn … »Hilfe!« Diesmal ganz und gar nicht normal. Ingrid trat vor, packte an der Stange zu, ihre Hände zwischen seinen – sein auf dem Kopf stehendes Gesicht, das jetzt lila war, direkt unter alldem Eisen. Sie ging in die Knie, kam mit all ihrer Kraft hoch. Die Stange rührte sich nicht, abgesehen von dem Beben, das von Tys zitternden Armen ausging. »Verdammt«, sagte Ty. »Stemm!« Ingrid mobilisierte noch mal etwas neue Kraft. Jetzt grunzte auch sie. Sie grunzten gemeinsam, während sie gegen das Gewicht dieser Stange kämpften. Sie hob sich, Zentimeter um Zentimeter, bis auf die Höhe der Halterung und schepperte an ihren Platz. Für eine Sekunde fühlte sich Ingrid, als wäre sie leichter als Luft, als könnte sie bis zur Decke schweben. »Glück gehabt«, sagte sie. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst, zum Teufel«, sagte Ty. »Was?« Er setzte sich auf, zog sich sein T-Shirt aus, wischte sich übers Gesicht. »Ich bin so verdammt schwach.« »Vielleicht mental«, sagte Ingrid. Seine Stimme wurde lauter, diese tiefe Männerstimme, die er jetzt manchmal hatte. »Du bist so ätzend«, sagte er und warf mit seinem T-Shirt nach ihr. Ingrid duckte sich. Eine Sekunde, eine beängstigende Sekunde lang dachte sie, er würde sie vielleicht schlagen. In der Vergangenheit hatten sie bereits ein oder zwei solcher Vorfälle miteinander gehabt. Stattdessen drehte er sich um und stieß seine Faust auf die gepolsterte Bank, sehr hart, so dass das Geräusch durchs ganze Haus knallte. Er benahm sich so merkwürdig. Was stimmte nicht mit ihm? Und sein Rücken: Ty war immer einer von diesen glücklichen Akne-freien Jungen gewesen, und sein Gesicht war immer noch glatt und makellos. Aber unter der Deckenbeleuchtung konnte sie überall auf seinen Schulterblättern dunkelrote Pickel sehen. Er stand auf und begann die Gewichte abzuziehen. Als Ingrid am Morgen die Treppe hinunterkam, waren Mom und Ty bereits weg. Die Echo Falls High fing eine halbe Stunde vor der Ferrand Middle an, und Mom fuhr auf dem Weg zur Arbeit direkt an ihr vorbei. Das bedeutete, dass Ingrid und Dad sehr oft zusammen frühstückten, da Dad nie vor seinem Neun-Uhr-Meeting mit Mr Ferrand vor Ort sein musste. Dad las ihr dann kleine Ausschnitte aus dem Wall Street Journal vor, und Ingrid aß die Dinge, die sie immer aß, wenn niemand aufpasste. Aber heute steckte das Wall Street Journal immer noch in seiner Plastikhülle, und Dad hatte sich bereits seine Krawatte umgebunden, war fix und fertig angezogen und packte seine Aktentasche. »Morgen, Dad.« »Morgen«, sagte er, ohne aufzuschauen. »Muss heute ein bisschen früher los.« »Irgendwas Besonderes passiert?« »Werde wohl in absehbarer Zukunft immer etwas früher losmüssen.« »Wieso das?« »Globalisierung, wenn du es in einem Wort zusammenfassen willst.« Ein Wort, das in der Luft lag, auch wenn Ingrid es nicht wirklich verstand. »Was bedeutet das eigentlich?« »Es bedeutet, dass wir alle härter werden arbeiten müssen «, sagte Dad. »Und das schließt dich mit ein.« »Mich?« »Nicht bloß dich«, sagte Dad. »Die Kinder im Allgemeinen. « »Kinder müssen härter arbeiten?« »In der Zukunft. Große Kräfte sind im Anmarsch.« »Was für Kräfte?« »Das wird die Geschichte entscheiden.« Dad goss sich Kaffee in eine Thermoskanne – er tat das nie, genehmigte sich seine zweite Tasse sonst immer zu Hause – und machte sich zur Tür auf, die von der Küche in die Garage führte. »Schönes Hemd hast du an, Dad.« Ein wunderschönes blaues mit weißem Kragen und Manschetten, aber Dad, der bereits zur Tür hinaus war, hörte sie nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Ingrid ein wenig nostalgisch. Die Geschichte würde entscheiden, wie hart sie arbeiten musste? Die Zukunft klang finster. © Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher Übersetzung: André Mumot
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Autoren-Porträt von Peter Abrahams
Peter Abrahams ist der Autor zahlreicher Thrillerbestseller für Erwachsene. Er lebt mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Falmouth, Massachusetts.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter Abrahams
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2008, 331 Seiten, Maße: 14,6 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Mumot, André
- Übersetzer: André Mumot
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827051738
- ISBN-13: 9783827051738
Rezension zu „Hinter dem Vorhang “
Dieser Krimi ist ungeheuer spannend erzählt, weil verschiedene Handlungsstränge, die im Prinzip raffiniert ineinander verwoben sind, erst dann auseinander laufen, wenn die Leser dringend eine Verschnaufpause brauchen. Ganz normale Familien oder Schulalltagssituationen werden fast harmlos erzählt und verraten viel über die einzelnen Figuren. Doch der Fokus liegt auf einer inzwischen scheinbar alltäglichen Verhaltensweise von jüngeren Leuten: Man benutzt Steroide oder Anabolika, und man kann ganz leicht sein Taschengeld aufbessern, wenn man damit handelt. Ingrid, eine junge Detektivin, die Sherlock Holmes so sehr verehrt, dass sie seine Erkenntnisse per unerschöpflichem Zitatenschatz in den geeigneten Situationen aus dem Ärmel zaubern kann, ist solchen Straftaten auf der Spur, als deutlich wird, dass es sich um einen gefährlichen Verbrecherring handelt. Das prekäre Problem dabei ist, dass auch ihr Bruder in diese Machenschaften involviert ist... Weil sie natürlich versucht, ihn aus ihren Ermittlungen herauszuhalten, geht es ihr dann beinahe selbst an den Kragen, und weil man Ingrid als Leser ziemlich ins Herz geschlossen hat, ist das alles ziemlich aufregend, zumal dann auch noch alles anders kommt, als Ingrid das zunächst erwartet hat. Allerdings soll es so auch sein, sonst wäre die Geschichte ja gar nicht spannend. (Rezension von Gabriele Hoffmann aus dem LibriFachkatalog Harry & Pooh 2009/2010)
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