Hitzefrei
Wenn Elisa Sellmayer eines auf die Nerven geht, dann als alleinerziehend bezeichnet zu werden. Dafür hat sie nicht studiert und beschlossen, das Leben mit Haltung zu meistern. Ebenso wenig mag sie Sommerferien mit ihrer unmoralischen Schwägerin Mimi. Doch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Hitzefrei “
Wenn Elisa Sellmayer eines auf die Nerven geht, dann als alleinerziehend bezeichnet zu werden. Dafür hat sie nicht studiert und beschlossen, das Leben mit Haltung zu meistern. Ebenso wenig mag sie Sommerferien mit ihrer unmoralischen Schwägerin Mimi. Doch dann trifft an einem drückend heißen Julitag Leo aus London zusammen mit einer Hitzewelle ein. Erotische, familiäre und existenzielle Verwicklungen nehmen ihren Lauf...
Klappentext zu „Hitzefrei “
Elisa, erfolgreiche TV-Produzentin, ist nicht gut auf Männer zu sprechen. Lieber bleibt sie allein mit ihrer Tochter und bewahrt sich ihre Würde. Von ihrer Mutter zu den traditionellen großen Ferien im Gebirge gezwungen, trifft sie auf Leo, Ziehsohn der Familie, und verfällt ihm in der erdrückenden Hitze des Sommers. Doch auch ihre Schwägerin Mimi, deren haltlose Sitten Elisa schon immer verachtet hat, findet Gefallen an Leo. Von beiden Frauen umschwärmt, gerät der schöne Leo selbst in Zweifel über sein Talent. Als mit der Hitzewelle auch noch der finanzielle Bankrott der Sellmayerschen Familie droht, scheint Mimis Ehe endgültig zu zerbrechen und Elisas Glauben an die Liebe für immer zu verschwinden.Die turbulenten Verstrickungen, denen die Familie Sellmayer zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Opfer fällt, beschreibt Kristin Rübesamen mit ebenso viel Wärme wie Komik, voller Sinn für die gesellschaftlichen und emotionalen Tücken unserer Zeit.
Lese-Probe zu „Hitzefrei “
Ein Kinderspiel f r ElisaAm Badesee
Es war der Sommer, in dem nur f nf Prozent der Aale im Rhein die Tatsache berlebten, dass das els ssische Atomkraftwerk Fessenheim mit seinem warmen K hlwasser den Fluss auf Badewannentemperatur aufheizte. Mitte Juni schnellten die Temperaturen auf einmal in die H he.
Elisa sah aus wie ein Junge, als sie ihr Fahrrad im Schatten vor dem Freibad absperrte, von ihren langen braunen Haaren abgesehen, die sie nicht sehr berzeugend unter eine Baseballkappe gestopft hatte. F r Samstagmorgen war der Fahrradst nder noch erstaunlich leer, aber im Gegensatz zu ihr hatten sich die meisten Stammg ste vielleicht am Abend vorher am siert und schliefen aus. Von der halben Stunde, die sie am Alsterdorfer Kanal entlang aus Hamburg herausgeradelt war, war sie von Schwei berstr mt, obwohl es erst halb zehn war. In der Zwischenzeit war es unm glich geworden, das Thema Wetter zu ignorieren. Nachdem sie einmal eine Runde Eis in der Redaktion spendiert hatte, interpretierte die ganze Mannschaft die Geste als Aufforderung zum Rumgammeln und hing nachmittags um den Kicker herum, der ja neuerdings in keiner Redaktion fehlen durfte, anstatt die drei Doppelsendungen vorzubereiten, die sie noch vor der Sommerpause aufzeichnen mussten.
"Na, was denn? Keine Saisonkarte?", fragte sie der alte Mann gem tlich, den sie - da merkte man, wie sie auf dem Zahnfleisch ging - gleich um seinen Job beneidete.
"Nein danke", antwortete Elisa entschiedener, als sie sich f hlte. Mit einer Saisonkarte, diesem kleinen blauen St ck festem Papier, auf dem in Druckbuchstaben ihr Name und die Jahreszahl vermerkt werden w rden und das all die anderen Damen, die bereits auf ihren wild gemusterten Schlecker-Handt chern im perfekten Einfallswinkel zur Sonne ausgebreitet lagen, jeden Morgen aus ihren Badetaschen zogen, h tte Elisa n mlich eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Und zwar, die Ferien in Hamburg zu verbringen. So l ste sie lediglich eine Tageskarte und
... mehr
nahm den langen Marsch zum u ersten Ende der Anlage auf sich, vorbei an eben diesen Damen, deren K rperf lle ihre Adresse am Rande der Stadt verriet. Viele Kilometer weg von den G rten, in denen Frauen mit halb so gro en Bikinis im Halbschatten auf Teakholzliegen d sten. Dabei konnten einen die Lager, auf denen es sich die Dicken bequem gemacht hatten, richtig neidisch machen. Sie waren geradezu Kunstwerke an Perfektion. Eine Nackenrolle erh hte den Kopf derer, die lasen, gegen die aufgestellten Beine eine Illustrierte gelehnt, durchaus auch ein Buch, neben sich in Griffweite sauber geschnittenes Gem se, eine Flasche Di tlimonade und Nachschub ohne Ende, den sie aus rosafarbenen Plastikk rben zogen. Unendlich praktische K rbe, in die sich kein Sandkorn verirrte und die nach Ablauf der Saisonkarte eine gr ndliche Dusche mit hei em Seifenwasser in der Badewanne anstandslos ertrugen. Nur selten hoben die Frauen den Blick und sahen Elisa wie ein verirrtes Huhn ber den k nstlichen Sandstrand hatschen. Eher rollten sie sich zur Seite, und wenn ihnen nach kurzer Zeit die Augen zufielen und ein d nner Spuckefaden aus dem Mund lief, str mten sie eine zufriedene Weiblichkeit aus. Elisa sah sofort die blitzende Sp le ihrer K chen vor sich, die sie in der Gewissheit verlie en, ihr Leben am Abend genauso wiederzufinden, wie sie es am Morgen verlassen hatten. Als Zeitvertreib gen gte ihnen eine Wolke, die sich vor die Sonne schob. Oder planten sie heimlich ein Verbrechen?
Vielleicht sollte sie sich doch eine Saisonkarte kaufen? Ihre Tochter Fritzi, die vermutlich gerade vollgestopft mit Schokopops bei ihrer Kita-Freundin vor dem Fernseher hing, war noch zu klein, um Ferien zu Hause zu beanstanden.
W hrend sie ihr Handtuch ausbreitete, beschloss sie erstens, noch heute den Friseurtermin auszumachen, vor dem sie sich seit Wochen dr ckte, und zweitens ihr Sozialleben, das den Namen nicht mal ansatzweise verdiente, anzukurbeln.
Genau so wollte sie es jetzt ihrer Freundin Jasmin unter die Nase reiben, aber nat rlich war besetzt. Bei Jasmin war immer entweder besetzt oder die Mailbox sprang an. Es hatte keinen Sinn, sich dar ber aufzuregen. Trotzdem sah sie verstimmt auf die gelangweilt an Land schwappenden kleinen Wellen, w hrend ber ihr Flugzeuge in alle Richtungen davondr hnten. Statt in dieses unscheinbare Strandbad zu gehen, das inmitten eines W ldchens jenseits der Schnellstra e zum Flughafen Fuhlsb ttel lag, h tte Elisa sich nat rlich wie all die Jahre zuvor an der Seite ihrer Freundin in den feinen "Club an der Alster" schmuggeln k nnen, aber Jasmins Job war unberechenbar und lie keine festen Verabredungen zu. Au erdem schwamm Jasmin nicht gerne. Sie, der eines der wenigen erstklassigen Restaurants in der Stadt geh rte, besa neben einer Reihe von wertvollen Kontakten zur Unterwelt und zu einem Wandsbeker Autohaus, das sie jedes neue Modell umsonst Probe fahren lie , eine klare Abneigung gegen Sport. Triumphierend hatte sie Elisa neulich, als diese sie mal wieder zum Schwimmen berreden wollte, das Etikett in ihrem La-Perla-Bikini gezeigt, auf dem stand: "Keep dry."
Elisa sah auf ihren wei en Bauch, in dessen Mitte sich winzige Schwei tropfen sammelten und langsam an den Seiten herunterliefen. Sie beschloss, eine Runde schwimmen zu gehen, und ging an den Ruinen der Sandburgen vom Vortag vorbei ins Wasser. Das Wasser war, wie bef rchtet, lau und bot wenig Erfrischung. W hrend sie langsam und gleichm ig auf eine kleine Betoninsel in der Mitte des Sees zuschwamm, dachte sie: und wenn es jetzt so bleibt bis zum Herbst? Das Betondeck war wei von Taubenschei e. Sie kehrte um.
Neben ihr hatte ein t rkisches P rchen sein Lager aufgeschlagen. Das M dchen war pummelig und hatte trotz der Hitze die Jeans angelassen. Sie lag mit dem Kopf auf dem Bauch des Jungen, der noch sehr jung aussah und mit lauter Stimme ein paar Tricks auf seinem Handy vorf hrte. Das M dchen kicherte und kreischte, als der Junge ihr Sand auf den Bauch rieseln lie . Die beiden schienen nicht zu bemerken, dass der ganze Strand sie h ren konnte. Der t rkische Akzent tat dem Deutschen gut, dachte Elisa. Selbst "Schei e" h rt sich freundlich an. Irgendwann wurden ihre Stimmen leise und Elisa beobachtete zwei ineinander verhakte Libellen, die wie besoffen durch die Luft flogen.
Fr her hatte sie immer darauf bestanden, im Hochsommer zu arbeiten, wie jeder, der nicht auf den Kopf gefallen war. Denn die, die so taten, als br chten sie den Familienv tern in der Redaktion zuliebe ein Riesenopfer, wussten in Wahrheit, dass die Arbeitsstunden im August auf ein l cherliches Pensum zusammenschmolzen und einem netten sommerlichen Rahmenprogramm in keiner Weise im Wege standen. Doch der neue Kindergarten sperrte f r vier Wochen zu, und Elisa sah eine endlose Reihe in sich zusammensinkender Strandburgen vor einem farblosen Hamburger Himmel vor sich, wenn sie an die n chsten Wochen dachte.
"Endlich." Elisa hatte ein Freizeichen erwischt.
"Was, endlich? Ich bin auf der anderen Leitung. Was gibt's?"
"Mir graust es vor dem Sommer."
"Fahr weg."
"Alleine?"
"Klar. Ich w nschte, ich w re mal alleine. Hey, ich ruf dich gleich zur ck."
Elisa sah Jasmins Boyfriend vor sich, der sicher noch schlief, mit seiner Hand auf ihrem Bein.
"Ich wei nicht", berlegte sie, aber da hatte Jasmin schon aufgelegt.
Dabei wusste sie es genau. Das letzte Mal, als sie alleine mit Fritzi in ein f rchterlich teures Clubhotel mit tollem Kinderprogramm gefahren war, war Fritzi zwar tats chlich den ganzen Tag untergebracht, sodass sie lesen und sich ausruhen konnte. Abends war sie dann hellwach gewesen und musste bei miserabler Beleuchtung weiterlesen, w hrend berall Paare rumknutschten. Kein Buch war gut genug f r Ferien dieser Art.
"Elisa?" Fragend sprach ihre Mutter den Namen aus, als habe sie nicht gerade die Nummer ihrer Tochter gew hlt.
"Mama?" Elisa sah g hnend auf den See. Noch zwei Stunden, dann musste sie Fritzi abholen. Pr fend besah sie sich eine Schramme auf ihrem Bein. Ihre Mutter jammerte. Sie habe schlecht geschlafen, das Wetter sei gr lich, kaum dass man noch Luft bek me. Wie jeden Morgen aufgepeitscht von einem Liter schwarzen Tee, bereitete sie sich darauf vor, nach Elisa das Heer der Finanzberater, Versicherungsvertreter, Sprechstundenhilfen und Verwandten zu terrorisieren, die so nachl ssig gewesen waren, ihre Telefonnummern herauszur cken.
Elisa lie sie reden. Vorsichtig verteilte sie etwas Retinolsalbe auf dem Oberschenkel. Gestern war sie in ihrer Mittagspause praktisch aus dem Stand die Rolltreppe bei H&M hinuntergesegelt, nachdem sie einen grauen Faltenmini, den sie kurz nach dem Kauf an zwei vierzehnj hrigen Sch lerinnen auf der Stra e gesehen hatte, umgetauscht hatte. Ihre Mutter redete eine Weile ins Leere und brach dann ab. Es hatte etwas gedauert, bis sich Elisa zu dieser Radikalma nahme durchgerungen hatte. Seitdem allerdings wandte sie sie ohne Gewissensbisse an und bildete sich sogar einen Teilerfolg ein. Hatte ihre Mutter fr her nicht doppelt so lang ber Quellwolken und rzte geschimpft?
"Und du, mein Schatz?", fragte ihre Mutter auf einmal liebevoll.
"Ach, ich sitze hier in der Sonne. Fritzi ist bei ihrer Freundin."
"Bist du eingeschmiert? Du wei t, dass du einen Sunblocker brauchst? Die besten hat angeblich Lidl. Soll ich dir einen besorgen?"
"Nein, Mama, danke, ich ..."
"Ich finde das gar nicht gut, dass du so viel arbeitest. Ich kann es an deiner Stimme h ren. Bist du krank?"
"Nein."
"Also ...", wieder wechselte sie das Thema, "wie sehen denn jetzt eure Sommerpl ne aus?"
"Nun ja, was hast du erwartet?", fragte ihre Mutter streng, als sie von Elisas tr ben Sommeraussichten erfuhr. Was so viel hie wie: Warum hast du auch nicht geheiratet wie die Kinder meiner Freunde, dann k nntet ihr ein Haus in der Toskana mieten und ich w rde euch besuchen.
Die Retinolsalbe schmolz unter der Sonne auf ihrem Bein. Elisa h tte nichts gegen eine Narbe einzuwenden. Ihre Beine waren d rr und ohne Fleisch, wie die eines zu schnell wachsenden Jungen in der Pubert t. Beine interessieren doch keine Sau mehr, war Jasmins Meinung dazu. Hintern, Bauch, Busen, das musste sitzen.
"H r mal, schick mir doch Fritzi. Sie k nnte so sch n hier mit mir im Garten sein. Der Garten ist herrlich. Du solltest die Rosen sehen. Aber wenn ich die nicht jeden Abend ... du hast ja keine Ahnung, wie viel Arbeit der Garten macht ... kannst du sie nicht einfach ins Flugzeug setzen und mir nach M nchen schicken? Dann k me sie wenigstens mal raus aus der Stadt."
Immer tat ihre Mutter so, als lebten sie im Slum und nicht in der reichsten Stadt Deutschlands. St ndig diagnostizierte sie bei Fritzi Eisenmangel, Keuchhusten, Unterern hrung. Zu viel Dickens-Lekt re, zu viel Langeweile lie en sie in der Beschw rung, die Lebensumst nde ihrer Tochter und Enkeltochter seien von unfassbarer H rte, geradezu aufleben.
"Und du? Wann fahrt ihr auf die Burg?" Elisa versuchte vergeblich, das Thema ins Angenehme zu wenden.
"Deswegen rufe ich ja an. Wirklich, ich mach mir Sorgen. Ich finde ganz im Ernst, du solltest auch mitfahren. Martin, Mimi und die Kinder kommen auch. Die haben sich total bernommen mit ...", ein Flugzeug bert nte ihre Worte, "... au erdem hat Martin einen steifen Hals ..." Als Elisa nichts sagte, schickte sie ein letztes Argument hinterher: "Die Kinder w rden sich so freuen."
Was nun wirklich gelogen war, auch wenn Elisa den Kindern ihres Bruders, Amelie und David, keinen Vorwurf machte. Sie waren einfach aus dem Alter heraus, in dem sie sich mit ihrer Cousine f r Insekten, Blumen und alles, was die sonst so in ihre Hosentasche steckte, interessiert h tten.
"Mama, ehrlich gesagt ... ich wei nicht."
Wie jeden Sommer versuchte ihre Mutter, die Familie mit einer unangemessen gro z gigen Einladung in ein gro es Hotel am Rande der Alpen an ihre Seite zu zwingen, ein Unternehmen, das sie wer wei wovon finanzierte. Sie liebte dieses einfach nur "Burg" genannte Hotel, das mit seinem ehrgeizigen Kulturprogramm, dem einzigartigen Blick auf die Nordwand der Riefenspitze, einem historisch auf die Freimaurer zur ckgehenden philosophischen Spirit und nat rlich tollem B fett seit Jahren dieselben Leute anzog. Hier Ferien zu machen war eine Charakterfrage. Auch wenn die Preise flott anzogen und von der urspr nglichen Idee, auch mittelst ndischen Familien mit vielen Kindern Ferien zu erm glichen, nur noch ein im Keller untergebrachter Bastelraum brig geblieben war.
Elisa berlegte, w hrend ihre Mutter ihr die Highlights der diesj hrigen Kammermusikreihe vorlas, ob Martin sich den Hals verrenkt hatte. Er war jetzt vierundvierzig und deprimiert. Bei ihrem letzten Besuch in Berlin hatte sie eine Flasche "Jazzing - Gentle Shiny Bold Brown" im Bad gesehen, mit einer leichten Staubschicht, wohl von seiner letzten Vortragsreise nach Manchester, die noch auf ihren Einsatz wartete. Hatte er sich etwa die Haare im Alleingang gef rbt?
"... und jetzt kommt's. Ein Schumann-Abend mit Joachim Kaiser!"
"Ja, toll, aber wei t du ...", sagte Elisa lahm und dachte nach.
Ein ereignisloser Sommer im Kreise der Familie war nicht das, was ihr vorschwebte. Es kamen keine Rollerfahrten ans Meer darin vor, an einen breiten, sonnenverbrannten R cken gepresst, keine Fensterl den, die die Mittagssonne f r Stunden aus einem schlichten Zimmer verbannten. Ihr Traum vom Sommer w rde auch dieses Jahr wie eine Zimmerpflanze verwelken, w hrend derjenige ihrer Mutter sie alle wieder in Kinder verwandelte. Sie holte Luft.
"Da sitze ich dann mit dir und den anderen, so als ltliche Tante. Ich werde bald vierzig."
"Noch einen Monat!"
"Egal, jedenfalls habe ich nicht mehr so viel Zeit. Du bist siebzig. F r dich ist Garmisch in Ordnung."
"Erst mal bin ich erst neunundsechzig. Mach mich nicht lter, als ich bin. Zweitens ist dort immer ein sehr gutes Publikum. Viele geschiedene M nner. Fast alle lesen die Zeit. Wer, glaubst du, wartet noch auf dich mit vierzig? Da ist doch keiner ein unbeschriebenes Blatt mehr."
Sie unterbrach sich, um eine weitere Tasse zu lange gezogenen Tee hinunterzuschl rfen. Elisa sah den S stoffspender vor sich, aus dem sie ungeduldig mehrere winzige Tabletten in die Tasse kippte. (Eine langt, Mama, das entspricht einem L ffel Zucker!)
"Trotzdem", sagte ihre Mutter ohne jeden Anlass und verfehlte, wie Elisa sich einbildete zu h ren, mit ihrer Tasse knapp die dazugeh rige Untertasse. Sicher sa sie wie jeden Morgen am K chenfenster der in der Nachkriegszeit zu schnell gebauten Villa in der Kachelstra e, in der sie wie eine berfl ssig gewordene, leicht verwilderte Hausangestellte lebte. Nach dem Tod des Vaters war sie in das kleine K mmerchen im Erdgeschoss gezogen, hatte in den K hlschrank neben die Steinh gerflaschen und bretonischen Senft pfe Di tjoghurts und Weizenkleie gestellt, vor dem Fernseher in der Bibliothek ein Trimmrad postiert. Die R ume im oberen Geschoss betrat sie nur noch in Begleitung ihrer Kinder, wenn sie von einer Klappleiter aus, die die Kinder festhalten mussten, aus irgendeinem Schrank einen in Plastik geh llten Wintermantel herunterholte, der zur Reinigung musste.
Vielleicht sollte sie ja doch fahren? Mit Martin k nnte sie lange Bergtouren unternehmen, auf denen kein berfl ssiges Wort fallen w rde und trotzdem niemals der Eindruck aufk me, es ginge tats chlich um etwas Ernstes. Den Rest der Familie w rden sie im Tal lassen, unten in der Burg am Schwimmbecken, die Kinder unter der Aufsicht von Gro mutter und Tante Mimi, Martins Frau, die Elisa, freundlicher konnte man es wirklich nicht ausdr cken, nicht ausstehen konnte.
Mimi, eine, wie Elisas Mutter sagte, "aparte Erscheinung", hielt nie still. Als die Kinder noch kleiner waren, hatte sie sich zu ihnen auf den Boden geworfen, um zu demonstrieren, wie unkompliziert sie war. Heute missbrauchte sie jede Umgebung, selbst den unschuldigsten Flecken Natur, als Background f r eine erotische Centerfold-Inszenierung: Mimi beim Kopfstand auf dem Tennisplatz, Mimi, sportlich ber einen Gebirgsbach setzend, Mimi, wie sie auf eine Eiche klettert. Elisa sah die gesammelten Motive vor der Burgkulisse bereits vor sich. Dabei musste man f r diese Anf lle dankbar sein. War Mimi n mlich schlechter Laune, dann schubste sie ihre Kinder und zog sie an den Haaren. "Also?"
Ihre Mutter wirkte ersch pft, ihre Stimme hatte w hrend des langen Monologs an Schwung eingeb t. Elisa hatte auf einmal den Verdacht, dass sie keine Lust hatte, alleine auf die Burg zu fahren und Mimis Vortr gen ber Erziehung, kaltes Wasser und frische Luft zuh ren zu m ssen. Vielleicht tat sie auch nur so. Es gen gte jedenfalls, damit Elisa ein schlechtes Gewissen bekam. Aber nur kurz.
"Ich w rde irre gerne, ehrlich. Aber ich glaube, ich bleibe jetzt einfach mal hier. Gehe mit Jasmin auf all die schicken Jachtclubpartys ...", zu sp t merkte sie, wie ihre Stimme einen schneidenden Ton annahm, "... und lerne einen netten Million r kennen."
Sie schloss die Augen. Seit sie ein junges M dchen war, erstaunte sie jedes Mal die Erkenntnis, wie schnell die Wut in ihr verschwand, sobald sie sie in Worte packte. Spott und Ironie wurden zu ihrer ersten Waffe, mit der sie dann auch ohne R cksicht auf Verluste herumballerte.
"Na gut", sagte ihre Mutter knapp, nicht gerade ersch ttert angesichts der Riesenkrater, die die Geschosse ihrer Tochter sonst hinterlie en, "ich geh jetzt in den Garten. Sonst sterben mir die Rosen noch alle weg."
Nichts ist f r die Ewigkeit
Elisa stand an die Hauswand eines lang gezogenen Bungalows gepresst und kniff die Augen zusammen. Es war f nf Uhr nachmittags, und die Sonne brannte unverdrossen auf die hellgr nen Baracken des Fernsehstudios am u ersten Rand der Stadt, wo Hamburg wie Kassel aussieht. An der Stra e verzweifelter Einzelhandel im aussichtslosen Kampf gegen M bellager und Autoh user, ein chinesisches Restaurant, ein paar Pilsstuben, dahinter Siedlungen verbissener Eigenheime und Wege, die in giftig gelbe Felder m ndeten. Ausgerechnet hier drau en, wo sich Deutschland von seiner tristesten Seite zeigte, wurde ein Bildungsauftrag durchgef hrt, der auf Niveau und kulturelles Interesse seiner Zuschauer setzte.
Elisa dr ckte sich in die schmale Zone, die der Schatten der Baracke warf, und sah auf die Uhr. Hinter dem hohen Sicherheitszaun war das ungeduldige Rauschen des Feierabendverkehrs zu h ren, das wie jeden Freitag voller Vorfreude aufs Wochenende vibrierte. Alle wollten irgendwohin, raus aus der Stadt, an den See, in die n chste gro e Stadt. Hauptsache, weg von zu Hause. Wenn nicht endlich ein Gewitter k me, w rde die Quote heute genauso abschmieren wie letzte Woche. Automatisch hob Elisa ihr Kleid, in der vergeblichen Hoffnung auf einen k hlen Windsto .
Wieder einmal hatte sie das Gef hl, dass da drau en die reale Welt an ihr vorbeifloss, w hrend sie hier hinter Gittern ein der Realit t irgendwie verwandtes, auf jeden Fall sehr teures Produkt herstellten, an dem die Wirklichkeit ihrerseits nur wenig Interesse zeigte. Sie sah bereits das Gesicht der zust ndigen Redakteurin vor sich, auf deren Quoten-Meckern sie antworten w rde: "Wir machen eine gute Sendung, sorgen Sie f r schlechtes Wetter."In Wahrheit war die geplante Vers hnung des hessischen Ministerpr sidenten mit seiner langj hrigen Frau in der letzten Sendung ein Flop gewesen. Die beiden hatten sich l ngst geeinigt. Am Finger der Frau blitzte ein fetter Vers hnungsring, ihr von Kummer und Aerobic abgezehrter K rper steckte stolz in einem neuen Kost m in Kindergr e. Von der ersten Minute an trieften beide vor Selbstgerechtigkeit (die Krise als Chance, auch wir sind Menschen ...). Nur als sich der Politiker, hingerissen von seiner Verlogenheit, mit der er die langj hrige Aff re mit dem Kinderm dchen auf einen einmaligen Ausrutscher reduzierte, zu seiner Frau hin berlehnte, um ihre h ngende Schulter zu t tscheln, und sie das Gesicht voll Ekel verzog, h tte Hagen einhaken k nnen - w re er der Moderator, als der er sich gerne sah. Investigativ, mit einem traumwandlerischen Gef hl f r Timing und dem Gesp r f r die Wahrheit hinter dem Gesicht ... so hatte es einmal in der H rzu gestanden. Aber weil die Kamera ihn nicht im Bild hatte, studierte er gerade seinen Fragenzettel. Im Regieraum hatte Elisa leise geflucht und sich geschworen, ihn nie wieder ohne Ohrknopf auf Sendung zu lassen, egal was f r eine Ausrede (Allergie) er das n chste Mal anbringen w rde.
Vielleicht sollte sie sich doch eine Saisonkarte kaufen? Ihre Tochter Fritzi, die vermutlich gerade vollgestopft mit Schokopops bei ihrer Kita-Freundin vor dem Fernseher hing, war noch zu klein, um Ferien zu Hause zu beanstanden.
W hrend sie ihr Handtuch ausbreitete, beschloss sie erstens, noch heute den Friseurtermin auszumachen, vor dem sie sich seit Wochen dr ckte, und zweitens ihr Sozialleben, das den Namen nicht mal ansatzweise verdiente, anzukurbeln.
Genau so wollte sie es jetzt ihrer Freundin Jasmin unter die Nase reiben, aber nat rlich war besetzt. Bei Jasmin war immer entweder besetzt oder die Mailbox sprang an. Es hatte keinen Sinn, sich dar ber aufzuregen. Trotzdem sah sie verstimmt auf die gelangweilt an Land schwappenden kleinen Wellen, w hrend ber ihr Flugzeuge in alle Richtungen davondr hnten. Statt in dieses unscheinbare Strandbad zu gehen, das inmitten eines W ldchens jenseits der Schnellstra e zum Flughafen Fuhlsb ttel lag, h tte Elisa sich nat rlich wie all die Jahre zuvor an der Seite ihrer Freundin in den feinen "Club an der Alster" schmuggeln k nnen, aber Jasmins Job war unberechenbar und lie keine festen Verabredungen zu. Au erdem schwamm Jasmin nicht gerne. Sie, der eines der wenigen erstklassigen Restaurants in der Stadt geh rte, besa neben einer Reihe von wertvollen Kontakten zur Unterwelt und zu einem Wandsbeker Autohaus, das sie jedes neue Modell umsonst Probe fahren lie , eine klare Abneigung gegen Sport. Triumphierend hatte sie Elisa neulich, als diese sie mal wieder zum Schwimmen berreden wollte, das Etikett in ihrem La-Perla-Bikini gezeigt, auf dem stand: "Keep dry."
Elisa sah auf ihren wei en Bauch, in dessen Mitte sich winzige Schwei tropfen sammelten und langsam an den Seiten herunterliefen. Sie beschloss, eine Runde schwimmen zu gehen, und ging an den Ruinen der Sandburgen vom Vortag vorbei ins Wasser. Das Wasser war, wie bef rchtet, lau und bot wenig Erfrischung. W hrend sie langsam und gleichm ig auf eine kleine Betoninsel in der Mitte des Sees zuschwamm, dachte sie: und wenn es jetzt so bleibt bis zum Herbst? Das Betondeck war wei von Taubenschei e. Sie kehrte um.
Neben ihr hatte ein t rkisches P rchen sein Lager aufgeschlagen. Das M dchen war pummelig und hatte trotz der Hitze die Jeans angelassen. Sie lag mit dem Kopf auf dem Bauch des Jungen, der noch sehr jung aussah und mit lauter Stimme ein paar Tricks auf seinem Handy vorf hrte. Das M dchen kicherte und kreischte, als der Junge ihr Sand auf den Bauch rieseln lie . Die beiden schienen nicht zu bemerken, dass der ganze Strand sie h ren konnte. Der t rkische Akzent tat dem Deutschen gut, dachte Elisa. Selbst "Schei e" h rt sich freundlich an. Irgendwann wurden ihre Stimmen leise und Elisa beobachtete zwei ineinander verhakte Libellen, die wie besoffen durch die Luft flogen.
Fr her hatte sie immer darauf bestanden, im Hochsommer zu arbeiten, wie jeder, der nicht auf den Kopf gefallen war. Denn die, die so taten, als br chten sie den Familienv tern in der Redaktion zuliebe ein Riesenopfer, wussten in Wahrheit, dass die Arbeitsstunden im August auf ein l cherliches Pensum zusammenschmolzen und einem netten sommerlichen Rahmenprogramm in keiner Weise im Wege standen. Doch der neue Kindergarten sperrte f r vier Wochen zu, und Elisa sah eine endlose Reihe in sich zusammensinkender Strandburgen vor einem farblosen Hamburger Himmel vor sich, wenn sie an die n chsten Wochen dachte.
"Endlich." Elisa hatte ein Freizeichen erwischt.
"Was, endlich? Ich bin auf der anderen Leitung. Was gibt's?"
"Mir graust es vor dem Sommer."
"Fahr weg."
"Alleine?"
"Klar. Ich w nschte, ich w re mal alleine. Hey, ich ruf dich gleich zur ck."
Elisa sah Jasmins Boyfriend vor sich, der sicher noch schlief, mit seiner Hand auf ihrem Bein.
"Ich wei nicht", berlegte sie, aber da hatte Jasmin schon aufgelegt.
Dabei wusste sie es genau. Das letzte Mal, als sie alleine mit Fritzi in ein f rchterlich teures Clubhotel mit tollem Kinderprogramm gefahren war, war Fritzi zwar tats chlich den ganzen Tag untergebracht, sodass sie lesen und sich ausruhen konnte. Abends war sie dann hellwach gewesen und musste bei miserabler Beleuchtung weiterlesen, w hrend berall Paare rumknutschten. Kein Buch war gut genug f r Ferien dieser Art.
"Elisa?" Fragend sprach ihre Mutter den Namen aus, als habe sie nicht gerade die Nummer ihrer Tochter gew hlt.
"Mama?" Elisa sah g hnend auf den See. Noch zwei Stunden, dann musste sie Fritzi abholen. Pr fend besah sie sich eine Schramme auf ihrem Bein. Ihre Mutter jammerte. Sie habe schlecht geschlafen, das Wetter sei gr lich, kaum dass man noch Luft bek me. Wie jeden Morgen aufgepeitscht von einem Liter schwarzen Tee, bereitete sie sich darauf vor, nach Elisa das Heer der Finanzberater, Versicherungsvertreter, Sprechstundenhilfen und Verwandten zu terrorisieren, die so nachl ssig gewesen waren, ihre Telefonnummern herauszur cken.
Elisa lie sie reden. Vorsichtig verteilte sie etwas Retinolsalbe auf dem Oberschenkel. Gestern war sie in ihrer Mittagspause praktisch aus dem Stand die Rolltreppe bei H&M hinuntergesegelt, nachdem sie einen grauen Faltenmini, den sie kurz nach dem Kauf an zwei vierzehnj hrigen Sch lerinnen auf der Stra e gesehen hatte, umgetauscht hatte. Ihre Mutter redete eine Weile ins Leere und brach dann ab. Es hatte etwas gedauert, bis sich Elisa zu dieser Radikalma nahme durchgerungen hatte. Seitdem allerdings wandte sie sie ohne Gewissensbisse an und bildete sich sogar einen Teilerfolg ein. Hatte ihre Mutter fr her nicht doppelt so lang ber Quellwolken und rzte geschimpft?
"Und du, mein Schatz?", fragte ihre Mutter auf einmal liebevoll.
"Ach, ich sitze hier in der Sonne. Fritzi ist bei ihrer Freundin."
"Bist du eingeschmiert? Du wei t, dass du einen Sunblocker brauchst? Die besten hat angeblich Lidl. Soll ich dir einen besorgen?"
"Nein, Mama, danke, ich ..."
"Ich finde das gar nicht gut, dass du so viel arbeitest. Ich kann es an deiner Stimme h ren. Bist du krank?"
"Nein."
"Also ...", wieder wechselte sie das Thema, "wie sehen denn jetzt eure Sommerpl ne aus?"
"Nun ja, was hast du erwartet?", fragte ihre Mutter streng, als sie von Elisas tr ben Sommeraussichten erfuhr. Was so viel hie wie: Warum hast du auch nicht geheiratet wie die Kinder meiner Freunde, dann k nntet ihr ein Haus in der Toskana mieten und ich w rde euch besuchen.
Die Retinolsalbe schmolz unter der Sonne auf ihrem Bein. Elisa h tte nichts gegen eine Narbe einzuwenden. Ihre Beine waren d rr und ohne Fleisch, wie die eines zu schnell wachsenden Jungen in der Pubert t. Beine interessieren doch keine Sau mehr, war Jasmins Meinung dazu. Hintern, Bauch, Busen, das musste sitzen.
"H r mal, schick mir doch Fritzi. Sie k nnte so sch n hier mit mir im Garten sein. Der Garten ist herrlich. Du solltest die Rosen sehen. Aber wenn ich die nicht jeden Abend ... du hast ja keine Ahnung, wie viel Arbeit der Garten macht ... kannst du sie nicht einfach ins Flugzeug setzen und mir nach M nchen schicken? Dann k me sie wenigstens mal raus aus der Stadt."
Immer tat ihre Mutter so, als lebten sie im Slum und nicht in der reichsten Stadt Deutschlands. St ndig diagnostizierte sie bei Fritzi Eisenmangel, Keuchhusten, Unterern hrung. Zu viel Dickens-Lekt re, zu viel Langeweile lie en sie in der Beschw rung, die Lebensumst nde ihrer Tochter und Enkeltochter seien von unfassbarer H rte, geradezu aufleben.
"Und du? Wann fahrt ihr auf die Burg?" Elisa versuchte vergeblich, das Thema ins Angenehme zu wenden.
"Deswegen rufe ich ja an. Wirklich, ich mach mir Sorgen. Ich finde ganz im Ernst, du solltest auch mitfahren. Martin, Mimi und die Kinder kommen auch. Die haben sich total bernommen mit ...", ein Flugzeug bert nte ihre Worte, "... au erdem hat Martin einen steifen Hals ..." Als Elisa nichts sagte, schickte sie ein letztes Argument hinterher: "Die Kinder w rden sich so freuen."
Was nun wirklich gelogen war, auch wenn Elisa den Kindern ihres Bruders, Amelie und David, keinen Vorwurf machte. Sie waren einfach aus dem Alter heraus, in dem sie sich mit ihrer Cousine f r Insekten, Blumen und alles, was die sonst so in ihre Hosentasche steckte, interessiert h tten.
"Mama, ehrlich gesagt ... ich wei nicht."
Wie jeden Sommer versuchte ihre Mutter, die Familie mit einer unangemessen gro z gigen Einladung in ein gro es Hotel am Rande der Alpen an ihre Seite zu zwingen, ein Unternehmen, das sie wer wei wovon finanzierte. Sie liebte dieses einfach nur "Burg" genannte Hotel, das mit seinem ehrgeizigen Kulturprogramm, dem einzigartigen Blick auf die Nordwand der Riefenspitze, einem historisch auf die Freimaurer zur ckgehenden philosophischen Spirit und nat rlich tollem B fett seit Jahren dieselben Leute anzog. Hier Ferien zu machen war eine Charakterfrage. Auch wenn die Preise flott anzogen und von der urspr nglichen Idee, auch mittelst ndischen Familien mit vielen Kindern Ferien zu erm glichen, nur noch ein im Keller untergebrachter Bastelraum brig geblieben war.
Elisa berlegte, w hrend ihre Mutter ihr die Highlights der diesj hrigen Kammermusikreihe vorlas, ob Martin sich den Hals verrenkt hatte. Er war jetzt vierundvierzig und deprimiert. Bei ihrem letzten Besuch in Berlin hatte sie eine Flasche "Jazzing - Gentle Shiny Bold Brown" im Bad gesehen, mit einer leichten Staubschicht, wohl von seiner letzten Vortragsreise nach Manchester, die noch auf ihren Einsatz wartete. Hatte er sich etwa die Haare im Alleingang gef rbt?
"... und jetzt kommt's. Ein Schumann-Abend mit Joachim Kaiser!"
"Ja, toll, aber wei t du ...", sagte Elisa lahm und dachte nach.
Ein ereignisloser Sommer im Kreise der Familie war nicht das, was ihr vorschwebte. Es kamen keine Rollerfahrten ans Meer darin vor, an einen breiten, sonnenverbrannten R cken gepresst, keine Fensterl den, die die Mittagssonne f r Stunden aus einem schlichten Zimmer verbannten. Ihr Traum vom Sommer w rde auch dieses Jahr wie eine Zimmerpflanze verwelken, w hrend derjenige ihrer Mutter sie alle wieder in Kinder verwandelte. Sie holte Luft.
"Da sitze ich dann mit dir und den anderen, so als ltliche Tante. Ich werde bald vierzig."
"Noch einen Monat!"
"Egal, jedenfalls habe ich nicht mehr so viel Zeit. Du bist siebzig. F r dich ist Garmisch in Ordnung."
"Erst mal bin ich erst neunundsechzig. Mach mich nicht lter, als ich bin. Zweitens ist dort immer ein sehr gutes Publikum. Viele geschiedene M nner. Fast alle lesen die Zeit. Wer, glaubst du, wartet noch auf dich mit vierzig? Da ist doch keiner ein unbeschriebenes Blatt mehr."
Sie unterbrach sich, um eine weitere Tasse zu lange gezogenen Tee hinunterzuschl rfen. Elisa sah den S stoffspender vor sich, aus dem sie ungeduldig mehrere winzige Tabletten in die Tasse kippte. (Eine langt, Mama, das entspricht einem L ffel Zucker!)
"Trotzdem", sagte ihre Mutter ohne jeden Anlass und verfehlte, wie Elisa sich einbildete zu h ren, mit ihrer Tasse knapp die dazugeh rige Untertasse. Sicher sa sie wie jeden Morgen am K chenfenster der in der Nachkriegszeit zu schnell gebauten Villa in der Kachelstra e, in der sie wie eine berfl ssig gewordene, leicht verwilderte Hausangestellte lebte. Nach dem Tod des Vaters war sie in das kleine K mmerchen im Erdgeschoss gezogen, hatte in den K hlschrank neben die Steinh gerflaschen und bretonischen Senft pfe Di tjoghurts und Weizenkleie gestellt, vor dem Fernseher in der Bibliothek ein Trimmrad postiert. Die R ume im oberen Geschoss betrat sie nur noch in Begleitung ihrer Kinder, wenn sie von einer Klappleiter aus, die die Kinder festhalten mussten, aus irgendeinem Schrank einen in Plastik geh llten Wintermantel herunterholte, der zur Reinigung musste.
Vielleicht sollte sie ja doch fahren? Mit Martin k nnte sie lange Bergtouren unternehmen, auf denen kein berfl ssiges Wort fallen w rde und trotzdem niemals der Eindruck aufk me, es ginge tats chlich um etwas Ernstes. Den Rest der Familie w rden sie im Tal lassen, unten in der Burg am Schwimmbecken, die Kinder unter der Aufsicht von Gro mutter und Tante Mimi, Martins Frau, die Elisa, freundlicher konnte man es wirklich nicht ausdr cken, nicht ausstehen konnte.
Mimi, eine, wie Elisas Mutter sagte, "aparte Erscheinung", hielt nie still. Als die Kinder noch kleiner waren, hatte sie sich zu ihnen auf den Boden geworfen, um zu demonstrieren, wie unkompliziert sie war. Heute missbrauchte sie jede Umgebung, selbst den unschuldigsten Flecken Natur, als Background f r eine erotische Centerfold-Inszenierung: Mimi beim Kopfstand auf dem Tennisplatz, Mimi, sportlich ber einen Gebirgsbach setzend, Mimi, wie sie auf eine Eiche klettert. Elisa sah die gesammelten Motive vor der Burgkulisse bereits vor sich. Dabei musste man f r diese Anf lle dankbar sein. War Mimi n mlich schlechter Laune, dann schubste sie ihre Kinder und zog sie an den Haaren. "Also?"
Ihre Mutter wirkte ersch pft, ihre Stimme hatte w hrend des langen Monologs an Schwung eingeb t. Elisa hatte auf einmal den Verdacht, dass sie keine Lust hatte, alleine auf die Burg zu fahren und Mimis Vortr gen ber Erziehung, kaltes Wasser und frische Luft zuh ren zu m ssen. Vielleicht tat sie auch nur so. Es gen gte jedenfalls, damit Elisa ein schlechtes Gewissen bekam. Aber nur kurz.
"Ich w rde irre gerne, ehrlich. Aber ich glaube, ich bleibe jetzt einfach mal hier. Gehe mit Jasmin auf all die schicken Jachtclubpartys ...", zu sp t merkte sie, wie ihre Stimme einen schneidenden Ton annahm, "... und lerne einen netten Million r kennen."
Sie schloss die Augen. Seit sie ein junges M dchen war, erstaunte sie jedes Mal die Erkenntnis, wie schnell die Wut in ihr verschwand, sobald sie sie in Worte packte. Spott und Ironie wurden zu ihrer ersten Waffe, mit der sie dann auch ohne R cksicht auf Verluste herumballerte.
"Na gut", sagte ihre Mutter knapp, nicht gerade ersch ttert angesichts der Riesenkrater, die die Geschosse ihrer Tochter sonst hinterlie en, "ich geh jetzt in den Garten. Sonst sterben mir die Rosen noch alle weg."
Nichts ist f r die Ewigkeit
Elisa stand an die Hauswand eines lang gezogenen Bungalows gepresst und kniff die Augen zusammen. Es war f nf Uhr nachmittags, und die Sonne brannte unverdrossen auf die hellgr nen Baracken des Fernsehstudios am u ersten Rand der Stadt, wo Hamburg wie Kassel aussieht. An der Stra e verzweifelter Einzelhandel im aussichtslosen Kampf gegen M bellager und Autoh user, ein chinesisches Restaurant, ein paar Pilsstuben, dahinter Siedlungen verbissener Eigenheime und Wege, die in giftig gelbe Felder m ndeten. Ausgerechnet hier drau en, wo sich Deutschland von seiner tristesten Seite zeigte, wurde ein Bildungsauftrag durchgef hrt, der auf Niveau und kulturelles Interesse seiner Zuschauer setzte.
Elisa dr ckte sich in die schmale Zone, die der Schatten der Baracke warf, und sah auf die Uhr. Hinter dem hohen Sicherheitszaun war das ungeduldige Rauschen des Feierabendverkehrs zu h ren, das wie jeden Freitag voller Vorfreude aufs Wochenende vibrierte. Alle wollten irgendwohin, raus aus der Stadt, an den See, in die n chste gro e Stadt. Hauptsache, weg von zu Hause. Wenn nicht endlich ein Gewitter k me, w rde die Quote heute genauso abschmieren wie letzte Woche. Automatisch hob Elisa ihr Kleid, in der vergeblichen Hoffnung auf einen k hlen Windsto .
Wieder einmal hatte sie das Gef hl, dass da drau en die reale Welt an ihr vorbeifloss, w hrend sie hier hinter Gittern ein der Realit t irgendwie verwandtes, auf jeden Fall sehr teures Produkt herstellten, an dem die Wirklichkeit ihrerseits nur wenig Interesse zeigte. Sie sah bereits das Gesicht der zust ndigen Redakteurin vor sich, auf deren Quoten-Meckern sie antworten w rde: "Wir machen eine gute Sendung, sorgen Sie f r schlechtes Wetter."In Wahrheit war die geplante Vers hnung des hessischen Ministerpr sidenten mit seiner langj hrigen Frau in der letzten Sendung ein Flop gewesen. Die beiden hatten sich l ngst geeinigt. Am Finger der Frau blitzte ein fetter Vers hnungsring, ihr von Kummer und Aerobic abgezehrter K rper steckte stolz in einem neuen Kost m in Kindergr e. Von der ersten Minute an trieften beide vor Selbstgerechtigkeit (die Krise als Chance, auch wir sind Menschen ...). Nur als sich der Politiker, hingerissen von seiner Verlogenheit, mit der er die langj hrige Aff re mit dem Kinderm dchen auf einen einmaligen Ausrutscher reduzierte, zu seiner Frau hin berlehnte, um ihre h ngende Schulter zu t tscheln, und sie das Gesicht voll Ekel verzog, h tte Hagen einhaken k nnen - w re er der Moderator, als der er sich gerne sah. Investigativ, mit einem traumwandlerischen Gef hl f r Timing und dem Gesp r f r die Wahrheit hinter dem Gesicht ... so hatte es einmal in der H rzu gestanden. Aber weil die Kamera ihn nicht im Bild hatte, studierte er gerade seinen Fragenzettel. Im Regieraum hatte Elisa leise geflucht und sich geschworen, ihn nie wieder ohne Ohrknopf auf Sendung zu lassen, egal was f r eine Ausrede (Allergie) er das n chste Mal anbringen w rde.
... weniger
Autoren-Porträt von Kristin Rübesamen
Kristin Rübesamen, geboren in München, studierte deutsche und russische Literatur und arbeitete für Spiegel-TV, ARD, ZDF und das SZ-Magazin. Sie lebte lange mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in New York, wo sie sich zur Yogalehrerin ausbilden ließ. Seit sie mit ihrer Familie nach Berlin umgezogen ist, unterrichtet sie Yoga und schreibt für Fernsehen und Printmedien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristin Rübesamen
- 2007, 395 Seiten, Maße: 12,5 x 20 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453290054
- ISBN-13: 9783453290051
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